Fischer, wie tief ist das Wasser
Ein Küsten-Krimi
Für meine Mutter
Seine Mutter rannte voraus. Er versuchte sie einzuholen, doch die Abdrücke ihrer Schuhe im Sand hatten sich bereits mit Wasser gefüllt und die scharfen Konturen verloren, mit denen sie in den feuchten Boden gedrückt worden waren.
Seine kleinen Füße versanken in den schmalen Salzseen, die die Mutter hinterließ, er bemühte sich, den Schritten nachzueifern, wollte keine Spuren zwischen den ihren hinterlassen. Doch meist waren seine Beine zu kurz und er verfehlte sein Ziel, stolperte sogar und rieb seine Jeanshose in den harten Sand, sodass sich an den Knien dunkle Flecken in den blauen Stoff sogen.
Sie waren schon viel zu weit gelaufen. Die roten Dächer hinter der faserigen Mauer aus Dünen waren verschwunden und er musste Acht geben, dass er nicht über irgendein fremdartiges, verwaschenes Stück Treibholz fiel, da man an diesem Ende der Insel nicht jeden Morgen den Spülsaum nach Strandgut absuchte.
Er schaute der wehenden Gestalt seiner Mutter hinterher oder auf die riesigen Abstände zwischen ihren Fußabdrücken, doch als er nun stehen blieb, weil er einfach nicht mehr konnte, weil sein aufgeregtes Herz den trockenen Hals hinaufschlug, da blickte er zu den wild bewachsenen Hügeln zu seiner Rechten. Und er erschrak.
Sie waren nicht nur viel zu weit gerannt, sie hatten sich auch von der Dünenkette entfernt, statt parallel zu ihr zu laufen. Zwischen ihnen und dem sicheren Strand breitete sich ein Wassergraben aus, der so breit war wie eine Straße auf dem Festland und in dem das Wasser nicht ruhig und sinnig dahinfloss. Nein, der Graben nahm bereitwillig das rasch herbeieilende Meerwasser in sich auf, um sich noch mehr auszudehnen und an Tiefe zu gewinnen.
Sie waren auf einer Sandbank gelandet.
«Gehe nie unachtsam bei auflaufend Wasser an der Meereskante entlang, es könnte sein, dass die Flut dir den Rückweg versperrt», hatte Oma ihm immer als Mahnung mit auf den Weg gegeben, wenn er nach den lästigen Hausaufgaben an den Strand hinunter wollte.
Ihm lief es kalt den Rücken hinunter. Langsam drehte er sich um und als er ein paar hundert Schritte entfernt den plätschernden Priel erkannte, den er eben noch mühelos hätte überspringen können, der nun aber ein unüberwindbarer Strom geworden war, da schrie er.
«Mama.»
Sie hörte sein Rufen nicht, ging weiter in Richtung Osten, wo die Silhouette der Nachbarinsel bereits näher zu sein schien als die letzten Häuser und der breite Wasserturm ihres Dorfes. Dabei hätte sie doch auf ihn aufpassen müssen. Stattdessen lief seine unvernünftige Mutter in ihrem albernen rostroten Umhang rastlos ans Ende ihrer kleinen Welt und schaute nicht einmal zurück, wie es ihm ging. Er wusste, sie rannte sich die Trauer und den Schmerz aus dem Leib, weil sie das erste Mal auf der Insel war, seitdem Oma tot war. Heute Morgen beim Frühstück war sie von einer Sekunde auf die andere in Tränen ausgebrochen, nur weil er gesagt hatte, Omas Tee hätte irgendwie anders geschmeckt.
Aber er wusste ja auch, dass sie Angst hatte. Angst vor der Zukunft.
Wenn die Osterferien vorüber waren, würde er mit ihr weggehen. Sie würden das erste Mal zusammenleben wie Mutter und Sohn, in einer Wohnung in der Stadt, an demselben Esstisch sitzen, über demselben Waschbecken die Zähne putzen. Von nun an würde sie und nicht Oma ihm die Pausenbrote schmieren und ein Pflaster auf die Wunde kleben, wenn er sich geschnitten hatte. Sie war nun keine Sonntagsmutter mehr, die ihren Sohn für besser hielt, als er wirklich war. Sobald sie das erste Mal die Hausaufgaben mit ihm machte, würde sie schnell begreifen, dass er eben überhaupt kein Genie war und die Vier in Mathe tatsächlich verdient hatte.
Er schaute ihr nach. Sie hätte auf ihn aufpassen müssen.
Er wünschte für einen kurzen Moment, Oma hätte ihn heute Morgen mit sorgenvollem Gesicht vor dem auflaufenden Wasser gewarnt. Vielleicht wäre er dann nicht so weit gegangen.
Der Sand unter seinen Füßen brach in sich zusammen, die Flut hatte die Stelle, auf der er eben noch so sicher gestanden hatte, unterspült, wie ein wütendes Tier weggefressen, und in Sekundenschnelle umfasste das eiskalte Seewasser seinen Unterleib. «Mama», schrie er verzweifelt, «Mama.»
Er konnte sie nicht mehr ausmachen, die feste Sandbank lag einen halben Meter über ihm, er konnte nur hoffen, dass sie ihn gehört hatte und sich endlich, endlich nach ihm umsah.
Die übermächtige Strömung riss den Sand fort, an dem er sich festzukrallen versuchte. Es gab keinen Halt mehr und schließlich musste er schwimmen, der weiche, bewegte Boden unter ihm gab immer wieder unter den heranströmenden Fluten nach. Sein kleiner Körper wirbelte wie von starken Männerhänden geworfen mal über und mal unter die schäumende Wasseroberfläche. Das Salz brannte in seinen Augen, doch er wollte sie nicht schließen, um nicht ganz blind zu sein. Sie musste doch endlich kommen. Er wollte die Hand seiner Mutter nicht übersehen, wenn sie sich ihm rettend entgegenstreckte. «Mama», schrie er wieder, aber es war nicht mehr als ein Gurgeln.
Das Meer zog ihn immer weiter hinaus, fort von der Sandbank, fort von der Zuversicht, dass sie sein Rufen hören konnte.
Ich ertrinke, schoss es ihm durch den Kopf, und der Schreck lähmte seine inzwischen kraftlosen Arme und Beine noch mehr als die Kälte der Nordsee im frühen April. Ich ertrinke vor den Augen meiner Mutter, sie ist eine schlechte Mutter. Bin ich ihr denn gar nichts wert? Sie werden mit den Fingern auf sie zeigen und untereinander tuscheln, was für ein liebenswerter Kerl ich doch war und dass das nicht passiert wäre, wenn Oma noch lebte.
Seine Gedanken sprudelten mehr und mehr durcheinander, es gab kein Oben und kein Unten, ab und zu griffen seine fast starren Hände in einen Brei aus zermahlenen Muscheln und Sand, es war eine Quälerei, denn jedes Mal, wenn die winzigen Stücke festen Bodens zwischen seinen Fingern hindurchglitten, fühlte er eine Sekunde lang so etwas wie Hoffnung, dass alles gut gehen würde, dass alles gut gehen würde, dass … Und dann wurde dieser Gedanke von der Kraft mitgerissen, die ihn zum Spielball des Meeres gemacht hatte. Ich ertrinke …
«Oma!», schrie oder flüsterte er nun, er wusste es selbst nicht, da alles in ihm schrie, doch seine Lippen zusammengepresst waren, damit er nicht noch mehr schlucken musste von dieser dunkelgrünen Masse, die in seine Ohren, seine Nase, seine Augen eindrang. «Oma!» Er hatte immer nach ihr und nicht nach seiner Mutter gerufen. Wo war sie?
Dann umschloss eine feste Hand seinen Arm. Konnte er ihre hellbraunen Altersflecken darauf erkennen? Die durchscheinenden Adern und hervorstechenden Knochen der Hand, die er so gut kannte? Er spürte, wie er quer zur wütenden Strömung fortgezogen wurde, eine zweite Hand packte ihn unter seinem hilflosen Arm. «Oma?»
Der Sand legte sich unter das nass klebende T-Shirt auf seinen Rücken, als er an Land gezogen wurde. Er rührte sich nicht, lag einfach nur da. War er jetzt tot? Ein eisiger Wind streifte über seine nackten Arme, wie kleine Nadeln peitschten sandige Körner in seine Seite, es tat weh, und erst jetzt schluchzte er auf. Als er nun sein eigenes singendes Jammern hörte, wurde ihm bewusst, dass er gar nicht tot war, dass er lebte, dass er nur steif, aber in Sicherheit auf festem Boden lag.
«Alles in Ordnung, mein Junge», sagte eine angenehm dunkle Stimme und im selben Moment wurden seine Arme, sein ganzer Oberkörper von einem warmen Stück weichen Stoffs zugedeckt. Als er die Augen endlich öffnete, erwartete er beinahe, seine Oma über ihn gebeugt zu erblicken, doch den jungen Mann mit fast weißem Haar hatte er noch nie gesehen. «Dir kann jetzt nichts mehr passieren!»
Er schloss die Augen wieder, spürte, wie der Fremde seinen nassen Kopf im Schoß bettete, hörte, wie er mit tiefer, ruhiger Stimme auf ihn einredete.
«Hat dir denn nie jemand gesagt, dass du nicht unachtsam bei auflaufend Wasser an der Meereskante entlanggehen sollst?»