Suchers Welt: THEATER

C. Bernd Sucher

Suchers Welt:
THEATER

49 leidenschaftliche Empfehlungen

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über C. Bernd Sucher

C. Bernd Sucher ist seit 1996 Professor an der Hochschule für Fernsehen und Film in München und leitet an der Theaterakademie August Everding den Ergänzungsstudiengang Theater-, Film- und Fernsehkritik. Er ist PEN-Mitglied und hat zahlreiche Bücher verfasst. Mit seiner Veranstaltungsreihe Suchers Leidenschaften begeistert er seit fast 20 Jahren das kulturinteressierte Publikum in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Zuletzt erschienen: Suchers Welt: Musik, Suchers Welt: Film undSuchers Welt: Literatur.

Impressum

© 2018 der eBook-Ausgabe Droemer eBook

© 2018 Droemer Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe

Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit

Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: © FinePic / shutterstock

ISBN 978-3-426-45071-0

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Für A.

 

 

 

Das Theater ist die tätige Reflexion

des Menschen über sich selbst.

 

Novalis

Fragmente

Vorwort

Ich war vier Jahre alt, als ich für mich das Theaterspielen entdeckte. Es wurde mir lustvolle Beschäftigung und Einnahmequelle zugleich. Im Garten baute ich ein Kasperletheater auf, das ich zu meinem vierten Geburtstag am Anfang des Sommers geschenkt bekommen hatte. Mit nur vier Puppen – Kasperl, Prinzessin, Schupo, Krokodil. Die Köpfe waren aus Holz, die Körper aus Stoff. Ich musste mir eine Geschichte einfallen lassen für die vier. Ich brauchte einen zweiten Spieler – kein Mensch hat vier Hände. Ein Nachbarjunge machte mit. Die Geschichte ging so: Kasperl findet auf der Straße ein Krokodil, ruft den Polizisten. Mit ihm zusammen erschlägt er das Tier. Und kaum war das grüne Monster vom Bühnenrand gefallen, kam die Prinzessin zum Vorschein. Klar, ich hatte eine Frosch-Prinz-Variante erfunden. Ich verlangte 10 Pfennig Eintritt, wofür sich meine Mutter schämte und deshalb Säfte und Kuchen anbot, was mich wiederum ärgerte. Gezahlt werden sollte für Kunst, nicht für den Pausensnack.

Das Theater wurde mein Beruf. Mein Versuch, als Opernregisseur zu reüssieren, gelang mir nach eigener Einschätzung weniger, als wohlmeinende Lokalredakteure in Ulm meinten. Ich wurde Kritiker. Es ist einer der spannendsten Berufe. Ein Kritiker sieht und hört die schönsten (und manchmal die schlimmsten) Aufführungen, aber er ist abends weg von der Straße und bekommt Geld für Erlebnisse, für die andere viel zahlen müssen.

Meine 49 Theater-Highlights: Dramatiker, Regisseure, Schauspieler, Bühnen- und Kostümbildner, Aufführungen, Szenen, Häuser. Diese Theaterkünstler und die Glücksmomente, mit denen sie von der Bühne herab verzauberten, haben mein Leben verändert und mir Maßstäbe geliefert für Beurteilungen – auch des ganz normalen Lebens.

Ich würde mir wünschen, dass meine leidenschaftlichen Empfehlungen die Leser neugierig machen auf die Künstler, die noch arbeiten, spielen, präsent sind auf europäischen Bühnen; man kann ihnen bei ihrer wunderbaren Arbeit zusehen. Ich würde mir wünschen, dass meine Begeisterung für die Theaterstücke ansteckt und verführt zur Lektüre. Viele der Inszenierungen, viele Arbeiten der Regisseure und Schauspieler, die mich prägten, sind auf DVDs dokumentiert, auf die im Anhang verwiesen wird.

Diese Auswahl ist radikal subjektiv und ohne einen Verriss: Dafür ist das Leben zu kurz! Und ich habe mich auf 49 Empfehlungen beschränkt, weil mir eine Auswahl von 50 eher konventionell erschien. Die Quersumme von 49 ist obendrein 13 – »a jiddische Glückszahl«, wie meine Mutter meinte.

 

München, August 2018

Bibiana Beglau

Ich kenne keine Schauspielerin, die sich so hemmungslos in ihre Rollen stürzt wie Bibiana Beglau. Sie nimmt sie ein. Sie werden ihr Besitz. Mit Furor spielt sie Männer und Frauen. In beiden Geschlechtern begehrenswert – begehrt von Frauen und Männern. Sie hat damit keine Probleme. Ob Mephisto oder König Kreon, ob Seher Teiresias oder der Soldat und Armenarzt Bardamu in Frank Castorfs Inszenierung des Romans Reise ans Ende der Nacht von Louis-Ferdinand Céline; ob Martha in Wer hat Angst vor Virginia Woolf oder Rainer Werner Fassbinders Petra von Kant: In jeder Rolle wirkt sie authentisch; sie (ver)wandelt sich gern. Mann, Frau und alles dazwischen – egal: »Ich bin ein Kind der Neunzigerjahre, in denen man mit denen zusammen war, die man gernhatte.« Recht hat sie: Nirgendwo steht geschrieben, dass Mephisto ein Mann ist. Die Beglau, die Berserkerin unter den jüngeren deutschsprachigen Schauspielerinnen, schont sich nie – und ihr Publikum auch nicht. Wer auch immer die lange Castorf-Nacht vorzeitig verlassen wollte, er wurde von ihr zurückgepfiffen: »Hiergeblieben – Sie haben bezahlt dafür, dass ich für Sie spiele.«

Richtig stark ist sie, wenn sie spricht oder schreit oder grölt oder in den düstersten Alttiefen ihre immer leicht heisere Stimme vorführt. Damit fesselt sie die Zuhörer. Sie kann gurren, sie kann winseln, schrill und scharf. Sie kann poltern und posaunen und im nächsten Moment so sanft trauern, dass wir das Los der leidenden Frauen beweinen. Die Beglau rührt zu Tränen, und sie erregt die abenteuerlichsten Emotionen. Wenn sie den Teufel im Leib hat – dann wünsche ich ihn mir auch.

Diese Künstlerin, die von sich, ohne zu zögern, behauptet, sie sei eine »Intensitätssau«, kann alles im Leben und auf der Bühne erleiden, nur nicht Stillstand, Ruhe, Wellness. Bei ihr muss es immer knallen. Sie will entertained werden, so sagte sie mehrfach, und sie will entertainen, aber eben nicht auf die einfache, schon gar nicht auf die seichte Weise: »Ich will keine Unterhaltung, ich will die große, schwere Kunst.« Dafür ist sie bereit, Schmerzen hinzunehmen und sich auszuliefern, auch den Kritikern, die zuweilen nölten, dass sie manchmal überziehe. Sie hält mit ihren Frauen- und Männergestalten dagegen. Als wollte sie die »zwangssedierte Gesellschaft« aufwecken, wachspielen, zwingt sie den Zuschauern ihre Figuren auf. Es gibt kein Entkommen, es sei denn, man verlässt das Theater. Aber wer macht das schon, wenn sie der Figuren, die sie dann ihr Eigen nennt, habhaft wird.

Auf Nummer sicher geht diese Schauspielerin nie. Gefahrenzonen meidet sie nicht – und auch nicht Fettnäpfchen. Sie verausgabt sich immer, körperlich, stimmlich, emotional. Physisch gewiss, psychisch – vielleicht. Deshalb liebten und lieben sie die Regisseure; Einar Schleef genauso wie Christoph Marthaler, wie Christoph Schlingensief und Martin Kušej, an dessen Haus in München sie mit wunderbaren Rollen beschenkt wurde. Nein, Bibiana Beglau ist kein Chinaböller, aber sie lässt es krachen – wahnwitzig, todesmutig. Ist sie nicht von dieser Theaterwelt? Sie spiele, so Kušej, »in einer Jenseitskategorie«. Deshalb war ihr Mephisto, dieses androgyne Wesen, sowohl Vamp als auch Vampir, animalisch und menschlich. Megäre und Metzger. Gretchen hätte sie nie spielen wollen, Mephisto sei ihr tausendmal lieber. Doch dieser Faust-Verführer ist, wenn sie ihn spielt, eben auch ein zauberhaftes Weib, nicht zuletzt dank ihrer wilden dunklen Haare, sie nennt die Nicht-Frisur ihren »Afro-Dingsda«. Sie mag es nicht, wenn man über ihren Körper schreibt, also lass ich es. Nur so viel: Sie trainiert ihn nicht. »Wenn ich Sport machen würde, sähe ich sofort aus wie Popeye.« Die Frage, woher sie ihre Kraft nimmt, mag sie auch nicht. Doch ihre Antwort offenbart, warum Bibiana Beglau spielt, wie sie spielt. Sie wolle sich nicht schonen, denn sie spiele unentwegt gegen die eigene Müdigkeit an. Genau deshalb ist sie selbst als hilfloses Häufchen Elend, namens Martha, stark.

Luc Bondy

Luc Bondy, ich habe ihn nicht nur geschätzt; ich habe ihn sehr gemocht. Als Regisseur, als Autor, als Menschen. Er, der am 17. Juli 1948 in Zürich geboren wurde und in dieser Stadt viel zu jung starb, am 28. November 2015, war ein Universaltalent. Als Sohn des österreichisch-ungarischen Publizisten und Essayisten François Bondy, als Enkel des Autors und Dramaturgen N. O. Scarpi, musste er sich wohl auf allen künstlerischen Bühnen beweisen. Er schrieb Erzählungen, Gedichte und einen Roman, der 2009 erschien: Am Fenster. Er leitete Theater und Festivals, 2012 übernahm er die Leitung des Pariser Théâtre de l’Odéon; zuvor, von 1997 an, bestimmte er zusammen mit Marie Zimmermann (20022007) und Stefanie Carp (20082013) das Programm der Wiener Festwochen; und von 1985 bis 1988 war er Co-Direktor der Berliner Schaubühne.

Als Intendant war er erfolgreich. Als Regisseur war er genial – spielerischer, leichter, lebensnaher, lebensfreudiger als Peter Stein, Peter Zadek, Claus Peymann und Klaus Michael Grüber; und Luc Bondy war besessen von der Liebe in all ihren erlaubten und unerlaubten Spielarten. Was er schuf, war, mit sehr wenigen Ausnahmen, faszinierend. Ganz gleich ob er ein Schauspiel oder ein Musikdrama inszenierte, eine Farce, eine Tragödie oder eine große Oper: Wer einige seiner Arbeiten kannte, erkannte eine Handschrift, eine écriture, eine Art der Herstellung von Spannung, von Rhythmus, von Gestik, von Harmonie und von Schönheit; nahm also Ähnlichkeiten wahr.

Aber – und das hatte er mit anderen großen Regisseuren gemein – den Luc-Bondy-Stil, den gab es nicht. Den Stil hatte das Stück oder die Oper. Ihm gelang, was er als Ziel seiner künstlerischen Arbeit formulierte: »Was einem von einem Kunstwerk bleibt, ist nicht eine Ideologie, sondern Poesie. Eine Aufführung muss eine Lebenserfahrung assimilieren, auf die man sich beziehen kann, auch wenn man weiß, dass es sich um Kunst handelt.«

Das bedeutet: Luc Bondy war kein Konzeptionist, keiner, der mit einem Interpretationsziel an die Arbeit ging. Er ließ sich ein auf das, was ihm als Vorlage angeboten wurde oder er sich von Dramatikern gewünscht hatte; er ließ sich ein auf die Menschen, die mit ihm arbeiten wollten. Meist suchte er sie sich aus. Schauspieler, Sänger, Bühnen- und Kostümbildner. (Ich glaube nicht, dass ihm Dramaturgen eine wirkliche Hilfe waren; er bedurfte ihrer wohl nur im Notfall.) Die Leichtigkeit, die seine Aufführungen auszeichnete, war Ergebnis eines Denk- und Gestaltungssystems. Bondy stemmte nichts auf die Bühne, er hievte nichts auf die Bühne: Er spielte Gedanken, Gesten, Gefahren; er spielte mit Darstellern, Sängern und Tänzern. Er tat, was man nicht tun sollte, glaubt man Alfred de Musset: On ne badine pas avec l’amour. Luc Bondy spielte mit der Liebe. Immer. Jedes Mal wieder begeistert. Jedes Mal mit Furor – also auch mit Wahnwitz.

Regisseure haben viele Möglichkeiten, Schauspieler und Sänger zu veranlassen, das zu tun, was sie sich wünschen. Es gibt den Tyrannen, der befiehlt und Gehorsam fordert; den Dompteur, der trainiert und triezt; den Diskurs-Intellektuellen, der diskutiert (womöglich basisdemokratisch); den Chaoten, der alles ausprobieren lässt; den Faulenzer, der hofft, die ihm anvertrauten Künstler helfen ihm mit Angeboten; und es gibt den Verführer. Luc Bondy war ein Verführer wie kein anderer.

Bondy war kein Theaterzauberer, kein Magier. Er war ein Liebender, der nicht müde wurde zu begehren, der sich unablässig freute – wie ein kleiner Junge –, wenn er begehrt wurde. Sein Credo: »Man muss die Schauspieler und Sänger mehr lieben als sich selber!« Das bedeutete aber keineswegs, dass er von diesen nicht ebenso geliebt werden wollte. Die gemeinsame Arbeit war ein Buhlen um Zuneigung und Vertrauen. Letztlich einte ein Luc-Bondy-Ensemble die gemeinsame Freude am Spielen: Ils badinent tous avec l’amour.

Wie muss man sich eine Bondy-Probe vorstellen: Pirandello-lustig, nach dem Motto: Heute Abend wird aus dem Stegreif gespielt! Dieses Erproben, das nur funktionieren kann, wenn keiner keinem misstraut, war jedoch kein albernes, hirnloses Ausprobieren, sondern ein freudiges, durchaus auch fröhliches Erkunden von Spiel. Spiel verheißt Glück noch im ärgsten Unglück. Bondy verspielte nichts, verspielte nichts unter den Tisch oder unter den Teppich. Der Tod war allgegenwärtig in seinen Arbeiten. Luc Bondy war – selbst in den heitersten Momenten seiner Inszenierungen, selbst bei den Liebeständeleien, den Versteckspielen von Liebenden, Begehrenden, Betrügenden – ein Moralist. Aber in dieser wichtigen theatralen Funktion ein gewitzter Spötter und kein miesepetriger Lehrmeister.

»Das Thema aller meiner Stücke heißt: désir«, erklärte Bondy und unterschlug, dass er diesen désir selbst in Stücke einzuschleusen, einzuschummeln vermochte, die davon eigentlich nicht und nichts erzählten. Aus jeder intellektuellen, jeder literarischen Provokation machte Bondy eine theatrale. Luc Bondy hat mich als Kritiker die Lust gelehrt an Spielen. Am Spielen. Er hat mir spielerisch erklärt, dass intellektuelle Griesgrame arme Wichte sind. Und dass Kritiker das Theater und die Menschen lieben müssen, wollen sie vor sich und der Welt bestehen als Menschen mit Hirn – und Herz!

David Bösch

David Bösch, der im Gespräch und in Diskussionen immer ein wenig abwesend wirkt, immer ein bisschen verschlafen, immer gerade aus dem Bett gestiegen zu sein scheint, wenn man ihm begegnet, schummelt ein bisschen. Er, der, wenn er nicht gleich was zu antworten weiß, sich durch das Wuschelhaar streicht und die breiten Strähnen mit den glitschigen, glänzenden Produkten noch mehr ins Gesicht zieht, er will ganz bescheiden und – auf alle Fälle – ganz unkarrieristisch rüberkommen. Er blufft. Sehr zielstrebig ging und geht Bösch seinen Weg. Er arbeitet fleißig und stilisiert sich, nebenbei, ebenso entschieden als genialischer Faulenzer, der mehr Glück hat als Verstand und Talent. Auch das ist Bluff. Diesen Bluff hält er auch noch durch, wenn er sich nach den Premierenvorstellungen verbeugt.

Im Sommer 2004 zeigte Bösch Simon Stephens Sozialdrama Port bei den Salzburger Festspielen in Jürgen Flimms Programm Young Directors Project – als Koproduktion mit dem Thalia Theater. Bösch wurde gefeiert, weil er das pädagogische, gut gemeinte Stücklein auf eine andere Ebene gehoben hatte. Er machte aus dem Sozialkitsch eine starke Medienkritik. Es war eine konsequente, handwerklich gelungene Arbeit, aber vielleicht war es doch das falsche Stück für Bösch. Richtig gut ist er, wenn er von der Liebe erzählen kann, von jugendlichem Sturm und Drang.

Mit dem Salzburg-Auftritt war Bösch zum »Jung-Star« (Die Welt) avanciert, und Intendanten wünschten sich ihn an ihre Häuser. Einer davon war Matthias Hartmann in Bochum, ein anderer Anselm Weber in Essen; er gab dem jungen Bösch gleich einen Vertrag als Hausregisseur. Doch zunächst Bochum und Shakespeares Romeo und Julia. Ein Konzept hatte Bösch nicht, aber eine unbändige Lust auf die Liebesgeschichte. Hartmann hatte ihm diese Begehrenstragödie nahegelegt – es konnte nicht viel schiefgehen. Die ganze Aufführung war Sturm und Drang, Bewegung, Musik. Durchaus laut, durchaus aufgemotzt mit Gags und ganz gewiss sentimental, also: nah am Kitsch. Wie viele andere junge Regisseure nutzte Bösch die Musik und den Film. Er arbeitete aber nicht mit Einspielungen von Bildsequenzen, er ließ sie auf der Bühne spielen, darauf spekulierend, dass die Zuschauer sie erkennen und damit auch den Ulk des jeweiligen Zitats. In der Balkonszene – war’s die Nachtigall, war’s die Lerche? – planschten Romeo und Julia, bis auf die Unterwäsche entkleidet, in Wasserbecken. Sie herzten einander, sie spritzten sich nass, sie machten Bauchlandungen; und sie spielten die Liebesszenen alter Hollywood-Filme nach: Vom Winde verweht …

Das Besondere an allen Arbeiten Böschs, an allen, die folgten (am Wiener Burgtheater, am Stadttheater Bern, in Essen, Frankfurt und Zürich): Sie haben meist ein ungeheures Tempo. Körperliche Aktionen entwickeln sich stets aus dem Text. Diese Spiellust, diese Neugier, dieser ungebremste Wunsch, in alten Texten sich selbst zu finden, die eigenen Gefühle, Sehnsüchte, Begierden, die eigenen Ängste, zeichnen Bösch aus. Was Bösch kann, wenn er sich Liebesstücken widmet, entdeckten auch die Intendanten der Opernhäuser. Vor allem Nikolaus Bachler traute Bösch viel zu. An der Bayerischen Staatsoper in München inszenierte er witzig und mit vielen bunten Lämpchen 2009 L’elisir d’amore von Gaetano Donizetti und 2014 L’Orfeo von Claudio Monteverdi und zwei Jahre später Die Meistersinger von Nürnberg von Richard Wagner.

Bei den Meistersingern ging es Bösch, der, 1978 in Lübeck geboren, kein Jungregisseur mehr ist, wieder um Liebessehnsüchte. Dieser Abend für liebende Jugendliche konnte nur gelingen, weil Stolzing und seine Eva, gesungen und gespielt von Jonas Kaufmann und Sara Jakubiak, jung und agil und hübsch waren. Bösch sparte an nichts: Videoeinspielungen, Transparente, Hebebühne. Eine rockige, kunterbunte und sehr opulente Show. David Bösch ist Spieler mehr denn Denker. Seine Inszenierungen können Kritiker seicht, konzeptionslos, geistlos finden – nur eines kann man diesem Künstler nicht absprechen: ein untrügliches Gefühl für Gefühle.

Peter Brook

Ich habe gezögert, überlegt, abgewogen und mich entschieden: Der Theatermacher, der mir die meisten Glücksmomente geschenkt hat – mit seinen Inszenierungen, mit seinen Büchern und mit den Gesprächen, die ich mit ihm führen durfte –, ist Peter Brook. Der Theaterkünstler, der wie kein anderer vor ihm und schon gar nicht einer nach ihm ausschließlich dem Schauspieler vertraut: »Entscheidend ist nur das Individuum auf der Bühne.«

Peter Brook wurde am 21. März 1925 als Peter Stephen Paul Brook in London geboren. Seine jüdischen Eltern stammten aus Lettland, also aus Russland, und waren kurz vor der deutschen Invasion aus Belgien geflohen, wohin sie eingewandert waren. Peter war der zweite Sohn von Simon Brook und seiner Frau Ida. Der junge Brook wuchs in England und der Schweiz auf, besuchte Schulen in beiden Ländern. In London war er zunächst auf der Westminster School, wechselte dann zur Gresham’s School in Norfolk, bevor sein Studium am Magdalen College in Oxford begann. Noch während des Studiums gründete er die Oxford University Society. Schon 1942 – er war 17 Jahre jung! – inszenierte er am Torch Theatre in London Christopher Marlowes Dr. Faustus. Nach dem Abschluss seines Studiums arbeitete er zunächst noch einmal für eine Londoner Filmgesellschaft – aber das Theater ließ ihn nicht los. Er war fleißig, talentiert; und offensichtlich konnte er Menschen überzeugen, ihm Projekte anzuvertrauen. Nach mehreren kleinen Produktionen an eher unbedeutenden Theatern stellte ihn das Birmingham Repertory Theatre an. 1946 der Durchbruch – er war 21: Peter Brook inszenierte am Shakespeare Memorial Theatre in Stratford-upon-Avon Shakespeares Verlorene Liebesmüh. Er war der jüngste Regisseur in der Geschichte des Stratford-upon-Avon-Festivals.

Peter Brook war auf Anhieb ein Star, der nicht aufhörte zu leuchten. Heller und immer heller. Er inszenierte Schauspiele und Opern – überall auf der Welt, bis er 1970 nach Frankreich ging und in Paris das Centre international de recherche théâtrale (CIRT) gründete, zusammen mit Micheline Rozan. 1974 eröffneten sie das Théâtre des Bouffes du Nord, eine zuvor heruntergekommene Bühne aus dem 19. Jahrhundert im 10. Arrondissement, einem Arbeiterviertel. Von hier aus – einem Zauberort, mit drei Rängen und einer Spielfläche, die, zu Füßen der Zuschauer, umrahmt wird von rot gestrichenen Wänden – brach Brook auf zu seinen Entdeckungsreisen. Er machte uns bekannt mit neuen Techniken, alten Texten, die er für uns entfesselte, mit Schauspielern aus aller Herren Länder, mit leeren Räumen, mit nie zuvor gehörten Geräuschen und Musik. Von hier aus unternahm er mit seiner Truppe weite Reisen, spielte in Europa, Afrika, in den USA und beim Shiraz-Kunstfestival im Iran vor den Ruinen des antiken Persepolis. Immer kehrte er in die Bouffes zurück. Diese Bühne wurde seine Heimat, Keimzelle seines sich stetig erneuernden Theateruniversums.

Ich war nicht unvorbereitet, als ich die erste Brook-Arbeit erlebte. Ich hatte sein Buch Der leere Raum, 1969 in deutscher Übersetzung erschienen, während meines Studiums gelesen; ich war begeistert gewesen von seinen Filmen, vor allem von Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspieltruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade – Brook hatte seine Inszenierung des Stückes von Peter Weiss mit der Royal Shakespeare Company 1967 verfilmt. Ich wusste also, dass ich im Sommer 1985 etwas ganz Besonderes erleben würde. Aber ich ahnte nicht, dass diese Aufführung, gezeigt im Programm des 39. Theaterfestivals von Avignon, mir zum Maßstab werden würde für alle Aufführungen, die ich danach sehen durfte.

Zehn Jahre lang hatten Peter Brook und Jean-Claude Carrière daran gearbeitet, das große indische Sanskrit-Epos Mahabharata, das in seiner heutigen Form bereits im 5. Jahrhundert v. Chr. vollendet wurde, für das Theater zu bearbeiten. Carrière, Drehbuchautor von Buñuel, Godard und anderen Regisseuren, hatte das Mahabharata nicht nur dramatisiert, sondern, was wohl noch schwieriger war, sich vom allergrößten Teil des Werks, von vielen Hundert Episoden und philosophischen Auseinandersetzungen trennen müssen.

Auf einer schmalen Straße entlang der Rhône erreichte man den abgelegenen Ort, der zuvor nie für Aufführungen genutzt worden war: den Steinbruch von Boulbon. Hatte man eine Billettkontrolle passiert und jene vielen Hoffnungsvollen enttäuscht, die einem ihre mit großen Lettern geschriebenen Kartenwünsche entgegenstreckten, so gelangte man auf einem steinigen Sandweg zu einem Parkplatz. Von dort führte ein schmaler Pfad zu Brooks neuem Ort der Magie. Es duftete nach Rosmarin, nach Thymian, die Rhône floss schwer und schwarz in der Tiefe, umsäumt von Weinfeldern und Pfirsichhainen. Endlich: la carrière. Eine riesige, beinahe halbrunde Felsenmauer, mit einem karg bewachsenen Vorsprung auf halber Höhe. Heller, lehmiger Sand am Boden. Und zwei Rinnsale: ein schmales niedriges Flüsschen, über das ein Brett gelegt war wie eine Brücke, und eine Pfütze, ein kleiner See. Hier in der Einsamkeit, an einem kargen, baumlosen Ort, zeigte Brook sein Mahabharata. Vor ungefähr tausend Zuschauern, die auf einer steil ansteigenden, halbrund angelegten Tribüne saßen.

Mahabharata erzählt die Geschichte der Bharata-Dynastie; erzählt vom Kampf der verwandten, aber verfeindeten Königsgeschlechter, der Kauravas und der Pandavas, um das Reich, um die Weltherrschaft überhaupt; erzählt vom Streit, der endet mit der Vernichtung aller. Doch, wie nah war uns das Schicksal dieser Menschen! Carrières Texteinrichtung, Brooks Inszenierung suggerierten Indien, aber gemeint war die Welt; wir sahen einen sehr heutigen, einen modernen Zwist.

Peter Brook verzauberte mit seinen fünf Musikern und 22 Schauspielern vom Centre international de créations théâtrales den Ort – und uns Zuschauer – bis zum frühen Morgen Es war eine Inszenierung, die ritualisierend, zurückgenommen, den Realismus westlichen Theaters mied und erst durch die Kraft der Darsteller, die aus sechzehn Ländern zusammengekommen waren und mit sehr verschiedenen Akzenten Französisch sprachen, Menschheitsgeschichte erzählte und von Menschheitselend kündete. Brook verzichtete auf alle Dekorationen, er abstrahierte; wenige Andeutungen genügten ihm. Der Zauber und die Gewalt dieser Aufführung beruhten in der Verweigerung von Realismus. Brook lieferte Assoziationsmaterial, Zeichen: den Fels, das Feuer, das Wasser; er bot Licht und Farben, Töne, Gesang, Gesten, Sprache, Tanz (selbst der Krieg ereignete sich als choreografiertes Ritual). Wort, Musik und die Szene, gleichberechtigt, gleich stark, sie wurden eins im Spiel – und in der Fantasie der Zuschauer entstanden Bilder, entstanden Ideen. Wundervolles, märchengleiches, rätselhaftes Theater. Vielleicht die schönste Theaternacht, die ich je erlebt habe.

Frank Castorf

E2021