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Impressum

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel «Redemption».

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juni 2020

Copyright © 2020 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«Redemption» Copyright © 2017 by Kelly Moran

Redaktion Stefanie Kruschandl

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung Shutterstock

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

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Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-40612-4

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

ISBN 978-3-644-40612-4

Olivia Cattenach kniete auf dem Privatfriedhof der Wildflower Ranch neben der letzten Ruhestätte ihres Bruders. Mit einer Hand wischte sie einige Grashalme von dem flachen Grabstein. Sechs Monate war es her, seit Justin im Einsatz getötet worden war. Schwer zu glauben. Die Trauer war immer noch so frisch wie an dem Tag, an dem die zwei Soldaten mit seiner Erkennungsmarke und Beileidsbekundungen vor ihrer Tür gestanden hatten.

Doch noch schlimmer als ihren Bruder – ihren besten Freund – zu verlieren, war die Tatsache, dass sein Leben zu früh beendet worden war. Mit nur achtundzwanzig Jahren. Das Wort «Tragödie» reichte bei weitem nicht aus, um diesen Umstand zu beschreiben. Ein Sprengsatz, ein falscher Schritt, und Justin war verschwunden gewesen. Ausgelöscht, als hätte er nie existiert.

Da sie wusste, dass Tante Mae hinter ihr am schmiedeeisernen Tor stand und darauf wartete, endlich den Tag zu beginnen, seufzte Olivia tief, nahm einen Schluck Kaffee aus der mitgebrachten Blechtasse und beendete ihren morgendlichen Besuch früher als gewöhnlich. Aber verdammt. Sie spürte einen scharfen Stich der Einsamkeit im Herzen.

Sie sah an Justins Grab und dem ihrer Eltern vorbei in Richtung der nördlichen Felder. Dort wiegten sich gelbe Halme im Wind, so weit das Auge reichte. «In einem Monat können wir den Winterweizen ernten und die Felder neu bepflanzen.»

Die letzten Tage seines Lebens hatte er allerdings in einer ganz anderen Umgebung verbracht. Er hatte ein zerstörtes Gebäude in der trockenen Wüste erkundet, umgeben von bröckelndem Beton. Waffen, Explosionen, Schreie …

Olivia schüttelte den Kopf und warf einen Blick zu ihrem Haus, das linker Hand stand, hinter dem Hügel, auf dem der Friedhof lag. So nah. Justin war immer mit ihr um die Wette gelaufen: von der Pappel am schmiedeeisernen Zaun den sanften Abhang hinunter, über die Wiese, die sich im Sommer in ein Meer aus Wildblumen verwandelte, und hinein in das dreistöckige Holzhaus, das sie ihr Zuhause nannten. Als zwei Jahre ältere Schwester hatte sie ihn natürlich gewinnen lassen. Bis ihr Bruder kurz nach seinem zehnten Geburtstag einen Wachstumsschub gemacht hatte und plötzlich fünfzehn Zentimeter größer gewesen war als sie.

Ein schneidender Wind pfiff über den Hügel und trug den Geruch von Schnee aus den Laramie-Bergen im Süden heran. Rechts von Olivia brannte die Sonne auf das Präriegras, strahlend hell am Himmel über den östlichen Pässen. Für einen Tag Mitte April in dieser Ecke von Wyoming schien es warm zu werden. Nachts hatte es gerade mal um die vier Grad gehabt, aber bis zum Mittag sollten es um die sechzehn Grad werden. Kein schlechter Wochenstart.

Sie hörte, wie Mae ungeduldig das Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerte, was Olivia daran erinnerte, dass sie nicht länger hier herumsitzen sollte, um mit einem Geist

Die Redewendung sorgte dafür, dass ihre Augen brannten, als sie aufstand und sich zum Tor umdrehte. Denn sie würde Justin morgen nicht sehen. Dank eines befehlshabenden Offiziers, der eine schlechte Entscheidung getroffen hatte, würde sie ihren Bruder niemals wiedersehen.

Tante Mae wartete geduldig, eine Hand auf den Zaun gestemmt, in der anderen Hand ihr eigener Becher mit Kaffee. Das Sonnenlicht glänzte auf den zu einem Bob geschnittenen weißen Haaren und umspielte ihre breiten Schultern. Ihr markantes Gesicht hatte etliche harte Winter gesehen, und die vielen feinen Falten schienen ihren Willen zu zeigen, sich nicht unterkriegen zu lassen. Doch ihre strahlend blauen Augen waren so warm wie ihre Seele.

Tante Mae war auf der Wildflower Ranch aufgewachsen, hatte sie jedoch verlassen, um dann vor zwanzig Jahren zurückzukehren, als Olivias Vater und Mutter gestorben waren. Olivia konnte sich kaum entsinnen, wie ihre Eltern ausgesehen hatten. Eigentlich gab es in ihrer Erinnerung nur ein paar schemenhafte Bilder – aber Tante Mae ähnelte Olivias Vater bis hin zu dem kantigen Kinn und dem kräftigen Körperbau.

Olivia rückte ihr rotes Flanellhemd unter der Canvasjacke zurecht und trat zu Tante Mae, um sie kurz zu umarmen. Das Rascheln ihrer Kleidung erfüllte die Luft, als sie sich wieder voneinander trennten, dann gingen sie Richtung Haus, Tante Maes Arm über Olivias Schultern.

Olivia sog tief die frische Bergluft ein, die geschwängert war mit dem Duft von Erde und fernem Frost. «Schöner Morgen.»

«Du musst mich nicht begleiten.» Tante Mae leistete Olivia auf ihrem allmorgendlichen Ausflug nicht oft Gesellschaft – doch an den Tagen, wo sie allein unterwegs war, fiel es Olivia schwerer, zurückzukommen und sich den Pflichten zu widmen, die sie erwarteten.

«Macht mir nichts aus. Meine alten Knochen brauchen die Bewegung.» Tante Mae ließ ihren Arm sinken und unterbrach so den Körperkontakt, den Blick nach vorne gerichtet. «Ich würde mein Bison-Stew-Rezept verwetten, dass ein gewisser Vorarbeiter vor der Scheune auf dich wartet.»

Olivia wusste genau, dass sie diese Wette verlieren würde. «Zweifellos.» Nakos wartete immer hinter der Kurve des Friedhofswegs auf sie. Für gewöhnlich hatte er schon eine Stunde lang Aufgaben verteilt, bevor sie auch nur von ihrer Veranda getreten war.

«Er würde keinen schlechten Ehemann abgeben, Kleine.»

Stimmt, dachte Olivia. Nakos Hunt wäre bestimmt keine schlechte Wahl. Mit seiner dunklen Haut und dem typischen schwarzen Haar des Arapaho-Stamms, kombiniert mit einem muskulösen Körper und einem attraktiven Gesicht, hatte er bei der Genpool-Lotterie definitiv gewonnen. Außerdem arbeitete er hart, war freundlich und hatte einen ausgeprägten Beschützerinstinkt. Manchmal ein wenig zu ausgeprägt, doch solche Anwandlungen tat Olivia mit einem Achselzucken ab.

Die Sache war nur: Zwischen ihnen knisterte es nicht. Sie schätzte Nakos, natürlich. Aber Anziehung? Nein. Trotzdem, sie war dreißig Jahre alt und lebte am Rande einer Stadt mit

«Ich werde darüber nachdenken.» Sie nippte an ihrem Kaffee.

«Du denkst schon seit Monaten darüber nach.» Tante Mae zog die Augenbrauen hoch. «Der Junge steht auf dich, seitdem du sechzehn bist. Wie lange willst du ihn noch warten lassen?»

Und noch eine Schippe auf den Schuldgefühl-Haufen. «Das stimmt doch gar nicht.»

«Da hast du recht. Er steht wahrscheinlich schon auf dich, seitdem seine Familie angefangen hat, für unsere zu arbeiten. Also ungefähr seit du neun Jahre alt warst.»

Olivia lachte. «Okay, hör auf.» Sie stieß ihre Tante mit der Schulter an. «Er hat nichts in dieser Richtung unternommen.» Nicht dass sie wüsste, was sie mit einem Flirtversuch anfangen sollte, wenn er es täte. Nakos hatte seinen Platz immer in der Was-wäre-wenn-Akte ihres gedanklichen Archivs gehabt. Trotz ihrer tickenden biologischen Uhr spürte Olivia kein Verlangen, diese Akte herauszuholen und abzustauben.

«Wer sagt, dass der Mann die ganze Arbeit machen muss? Ergreif selbst die Initiative.»

Jaja.

Den Rest des Weges legten sie schweigend zurück. Kurz bevor Olivia und ihre Tante sich trennten, trat Nakos mit einem Klemmbrett in der Hand aus der dritten Scheune.

«Was für eine Überraschung.» Tante Mae zwinkerte. «Hab

Olivia lachte, winkte ihrer Tante zum Abschied zu und beobachtete dann, wie Mae den langen gewundenen Pfad zum Haus entlangging. Als sie sich umdrehte, merkte sie, wie Nakos sie aus seinen dunklen Augen ansah. Er kam näher. «Hebe, Olivia.»

Jeden Morgen begrüßte er sie mit dem Äquivalent des Wortes Hallo in seiner Muttersprache Arapaho, und irgendetwas daran beruhigte den Aufruhr in Olivias Brust. Nicht dass ihr Veränderung etwas ausgemacht hätte, doch manche Dinge – die wertvollen – sollten gleich bleiben.

Einer seiner Mundwinkel hob sich. «Das Lächeln steht dir gut. Ist eine Weile her, dass ich das gesehen habe.»

«Danke. Was liegt heute an?»

«Du und ich müssen diese Woche die Frühjahrsschur machen. Der Wollkäufer kommt am Freitag zum Abholen. Die ersten Schafe sind seit gestern im Stall. Ich habe vier Jungs darauf angesetzt, die restlichen zu zählen und auf der Ostweide zusammenzutreiben. Zwei Männer auf Pferden kontrollieren die südliche Zaungrenze, und drei tun dasselbe auf den nördlichen Höhenrücken. Wir hatten einige Probleme mit Gabelböcken, die unsere Ernte fressen.»

Damit waren alle Männer verplant. Mit Nakos waren es zehn. Sie heuerten bei Bedarf Saisonarbeiter an, doch bis zur Weizenernte war das nicht nötig.

Während Nakos sein Klemmbrett konsultierte, musterte Olivia ihren Vorarbeiter. Genau wie sie trug er Jeans und ein Flanellhemd, doch seine Jacke bestand aus Leder, und auf seinem Kopf thronte ein schwarzer Cowboyhut. Aufgrund seiner Körpergröße von einem Meter achtzig musste sie den Kopf in

Doch warum zur Hölle nicht? Sie würde es nie erfahren, wenn sie es nicht probierte. «Tante Mae sagt, ich soll mal ein bisschen Spaß haben.»

Nakos warf ihr einen kurzen Blick zu. «Nun, du könntest die Schafe Schafe sein lassen und in die Stadt fahren. Wir können auch morgen noch mit dem Scheren anfangen.»

Seufz. «Sie meinte die nackte Art von Spaß.» Olivia konnte ihm nicht übelnehmen, dass er nicht verstand, worauf sie hinauswollte. Es war ja nicht so, als hätte sie schon einmal mit ihm geflirtet. Sie war sich nicht mal sicher, ob sie das gerade tat. In dieser Gegend ging man eher direkt vor: ein Bier in der einzigen Kneipe der Stadt zu spendieren, entsprach einem eindeutigen Angebot.

Nakos erstarrte, dann glitt sein Blick wie in Zeitlupe von seinem Klemmbrett zu ihr. Harte schwarze Augen nagelten sie fest und musterten sie, als könnte er sie verstehen, wenn er nur genau genug hinsah.

Sie fühlte sich verunsichert und mehr als nur ein bisschen dumm, also verschränkte sie die Arme. «Hast du je darüber nachgedacht? Du, ich, Klamotten auf dem Boden?» Igitt. Direkter konnte sie wirklich nicht mehr werden. Sie würde Tante Mae umbringen.

Er atmete scharf ein, dann richtete er seinen Blick auf die Berge in der Ferne. Sein Adamsapfel hüpfte, als Nakos schwer schluckte, dann schloss er für einen Augenblick die Augen, bevor er sie erneut ansah. In seinen Augen brannte Interesse, doch sie entdeckte ebenso viel Unsicherheit.

Er nannte sie nur Little Red – eine Anspielung auf ihre Körpergröße und ihre Haarfarbe –, wenn er sauer war oder wenn sie etwas tat, was er niedlich fand. Sie konnte nicht erkennen, welchem Extrem er gerade zuneigte. Seine Miene bot keinerlei Hinweise.

Sie zuckte mit den Achseln. «Wir werden nicht jünger, und wir sind beide solo.» Wunderbar. Wahrscheinlich würde sie an zu viel Romantik sterben.

«Das ist nicht gerade ein guter Grund, mit jemandem auszugehen.»

Himmel. Sie wünschte sich inständig, sie hätte das Thema nie angesprochen. «Ich habe nichts von Ausgehen gesagt.» Als er nur blinzelte, seufzte sie tief. «Ach, ist auch egal. Waren die Schafe die ganze Nacht in der Scheune?» Sie konnten die Tiere nicht scheren, wenn die Wolle durch die Elemente nass geworden war.

Nakos schob sich das Klemmbrett unter den Arm und stemmte eine Hand in die Hüfte. «Ja.»

«Und sie haben seit gestern nichts gefressen?» Damit verhinderte man übermäßige Ausscheidungen, um Wolle und Boden sauber zu halten. Außerdem war es für die Schafe mit vollem Magen noch unangenehmer, wenn sie auf den Rücken gerollt wurden.

Nicht dass Nakos das alles nicht gewusst hätte, doch ein Themenwechsel war dringend nötig. Langsam fragte Olivia sich, ob sie mit ihren Instinkten und Tante Mae mit ihren Annahmen über Nakos’ Gefühle nicht vollkommen danebenlagen. So oder so hatte Olivia die Situation zwischen ihr und

«Ja.» Er beäugte sie mit einer Mischung aus Verwirrung und Frust. «Das erste Viertel der Herde ist zusammengetrieben und im Pferch. Das ist nicht mein erstes Rodeo.»

«Klar.» Manchmal fragte sie sich, was sie nur ohne Nakos anfangen würde. Er war immer ihr Fels in der Brandung gewesen – still, stark, unnachgiebig. «Du leistest tolle Arbeit. Tut mir leid. Ich stehe heute neben mir.» Heute? Wohl eher das gesamte Jahr.

In seinem Blick mischte sich Skepsis mit Sorge. Olivia setzte sich in Bewegung. Ihr Plan war, um Nakos herum in Richtung Scheune zu gehen, doch er packte sie sanft am Arm, um ihre Flucht zu stoppen.

Sein Gesicht war halb im Schatten des Huts verborgen, aber Olivia sah, wie er tief Luft holte. «Tun wir das wirklich? Reden wir darüber, diese Grenze zu überschreiten?»

«Ich weiß es nicht.» Trotz der kühlen Luft brannten ihre Wangen. «Vielleicht sollten wir diese Diskussion verschieben und erst mal darüber nachdenken.»

Er starrte sie an. «Warum jetzt? Ich hatte nie den Eindruck, dass du dich von mir angezogen fühlst.»

«Du bist sehr attraktiv.» Das war nicht das Problem. Oh Mann. Sie würde ihren Hintern darauf verwetten, dass dies hier das dämlichste Gespräch war, das sie beide je geführt hatten. «Ich bin rastlos, nehme ich an. Tante Mae hat darüber geredet, sich niederzulassen und, na ja … Bla, bla, bla.»

Nach einem unendlichen Augenblick nickte er langsam, dann ließ er ihren Arm los. «Lass uns mit dem Scheren loslegen. Die Schafe werden unruhig.» Steif drehte er sich zur offenen Scheunentür um.

Er hielt inne, den Rücken ihr zugewandt «Nein.» Über die Schulter hinweg musterte er sie. «Ich verarbeite. Du machst mich aus dem Nichts heraus an, dann behauptest du, es wäre nur aus Langeweile passiert.»

Mist! Sie trat vor ihn, während ihr Magen sich vor Schuldgefühlen verkrampfte. Genau, was sich jeder Kerl wünschte – einen Tritt in sein Ego. «Tut mir leid. Und ich habe nicht gesagt, dass ich gelangweilt bin. Ich habe rastlos gesagt. Das ist ein Unterschied. Wenn du nicht interessiert bist, können wir gerne so tun, als wären die letzten zehn Minuten nie passiert.»

«Mein Interesse steht nicht zur Diskussion, und das weißt du auch, sonst hättest du das Thema gar nicht erst angesprochen. Aber ich habe meine Gefühle immer für mich behalten, Little Red.» Er trat näher an sie heran, bis sie sich fast berührten, dann sah er auf sie herab. «Und rate mal, warum? Weil du nicht interessiert bist.»

«Woher weißt du das? Wir haben uns nie geküsst. Wir haben es nie mit einer Beziehung versucht.» Tatsächlich konnte sie die Male, wo er sie berührt hatte, quasi an einer Hand abzählen – und dann blieben noch Finger übrig. Nakos stand immer neben ihr und schützte sie, aber es war keine berührungsintensive Freundschaft.

«Man fühlt es, oder man fühlt es nicht. So einfach ist das.» Er schüttelte den Kopf. «Mach nur. Verschieb die Diskussion, wie du vorgeschlagen hast. Denk darüber nach. Ich werde hier sein, genauso wie in den letzten zwanzig Jahren. Also, können wir uns jetzt an die Arbeit machen, oder willst du mir noch einen Tiefschlag verpassen?»

Olivias Schultern sackten nach unten, und sie schloss die

«Es tut mir leid.» Sie würde es tausendmal wiederholen. Fast widerwillig sah er sie an. «Du bedeutest mir etwas, Nakos, aber ich habe nicht über den Moment hinausgedacht.» Was für sie ziemlich ungewöhnlich war.

Offensichtlich empfand er mehr für sie als bloße Anziehung. Sie hätte niemals mit seinen Gefühlen spielen dürfen. Zum Teil war Olivia froh, dass sie etwas gesagt hatte – weil sie jetzt Klarheit hatte, statt nur Vermutungen anzustellen. Wenn sie sich küssten und sie ein Knistern empfand, konnten sie vielleicht darauf aufbauen, nachdem die Idee jetzt schon einmal zwischen ihnen schwebte. Doch in ihrem Kopf schrillten sämtliche Warnglocken. Denn Nakos hatte recht. Es war nicht so, als hätte sie leidenschaftliches Interesse an ihm. Was sie empfand, war nicht das alles verzehrende Verlangen, das es wert wäre, diese solide Freundschaft zu riskieren, um einfach mal zu schauen, was geschah.

Hin und her gerissen rieb sie sich das Ohrläppchen – ein nervöser Tick, den sie schon seit Kindheitstagen hatte.

«Betrachte das Gespräch als vergessen.» Nakos deutete Richtung Scheune. «Arbeit zuerst. Reden später.»

Aber sie würden nicht darüber sprechen. So lief das zwischen ihnen nicht. Nakos besaß die Fähigkeit, in ihr zu lesen wie in einem offenen Buch, und andersherum war es meist genauso, sodass Worte unnötig waren. Nicht dass sie nicht

Sie folgte ihm in die Scheune und verschaffte sich einen Überblick. Mäah-mäah-Geräusche ertönten von allen Seiten, und die Luft war erfüllt vom Duft nach Stroh und Erde. Nakos hatte ein Viertel der Herde zusammengetrieben. Einige der Schafe waren auf einer Seite des großen Innenraums eingepfercht, der Rest befand sich im äußeren Pferch jenseits des offenen Tors. Ungefähr hundert Schafe trotteten herum, während ihr treuer braun-weißer Sheltie, Bones, in der Mitte des Raums saß und auf Befehle wartete. Rechts von ihr stand ein stabiler Holztisch, auf dem sie die Wolle rollen konnten, und eine große Kiste, die für den einfacheren Transport bereits auf Kufen stand.

Nakos hatte heute Morgen, während er auf sie gewartet hatte, alles perfekt vorbereitet. Eilig zog Olivia ihre Canvasjacke aus und hängte sie an einen Haken hinter der Tür. Da jedes Schaf acht bis zehn Pfund Wolle liefern konnte und das Scheren einiges an Übung erforderte, war es nicht so einfach, wie viele vermuteten. Glücklicherweise hatten sie und ihr Vorarbeiter den Ablauf inzwischen perfektioniert.

Olivia schor die Schafe, während Nakos die Tiere in der richtigen Position festhielt. Er holte die neuen Tiere und schickte die fertigen nach draußen, während sie die Wolle rollte und verstaute. Sie arbeiteten in kameradschaftlichem Schweigen, präzise wie ein Uhrwerk, die gesamte Mittagszeit

Sobald die Scheune verriegelt und die Herde auf der Weide stand, wanderten sie im dämmrigen Licht des Sonnenuntergangs den gewundenen Pfad zum Haus hinauf. Grillen zirpten, während ihre Stiefel auf dem Kies knirschten. Bones trottete neben ihr, wobei seine Zunge schief aus dem Maul hing.

Olivia wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn. Jetzt, wo die Sonne sank, wurde ihr kühl. Ihre Nackenmuskeln protestierten, als sie den Kopf drehte und Nakos ansah. «Bleibst du zum Abendessen?»

«Nein. Ich habe noch Reste. Aber ich bringe dich zum Haus.»

Er hatte eine eigene Hütte auf dem Gelände der Ranch, in Richtung des südlichen Höhenrückens, vielleicht zehn Minuten Fahrt entfernt. Sein Truck, mit dem er nach Hause fahren würde, stand in der Einfahrt, also war es nicht ungewöhnlich, dass er sie noch bis zur Tür brachte. Doch sein kühler Tonfall hielt die Distanz zwischen ihnen aufrecht, die er nach ihrem Gespräch errichtet hatte. Olivias Magen verkrampfte sich vor Unbehagen, als sie um eine Kurve bogen, doch sie beschloss, ihm ein paar Tage Zeit zu geben, bevor sie sich noch mal entschuldigte. Hoffentlich würde dann alles wieder normal werden.

Nakos hielt abrupt an, den Blick nach vorne gerichtet. «Erwartest du Besuch?»

«Nein.» Sie folgte seinem Blick zu seinem blauen Pick-up, der halb verborgen hinter der Hausecke parkte. Dahinter, direkt neben den Kiefern, die die Zufahrt säumten, stand ein Motorrad.

Sie kannte nur eine Handvoll Leute in der Stadt, die ein

«Oh nein. Glaubst du, es hat etwas mit Justin zu tun?» Doch er war seit sechs Monaten tot. Wer könnte sie jetzt noch seinetwegen besuchen?

Mit zusammengebissenen Zähnen sah Nakos von dem Motorrad zu ihr, dann zu dem dreistöckigen Haus aus Zedernholz, als suche er nach Anzeichen für Ärger.

Die Lampen im Erdgeschoss brannten, gelbes Licht drang aus den Fenstern. Auf der überdachten Veranda schien nichts in Unordnung zu sein. Die Schaukelstühle und Töpfe voller Ringelblumen standen, wo sie immer standen, und die schwere Eingangstür war geschlossen. Alles war ruhig.

«Ich komme noch mit rein.» Er deutete mit dem Kinn voraus, um ihr zu sagen, dass sie vorgehen sollte.

Sie ging um das Haus herum zur Hintertür und betrat die Waschküche dahinter, wo sie beide ihre Stiefel auszogen und ihre Jacken aufhängten. Mit verkrampftem Magen öffnete Olivia die Tür zu Küche und ließ Bones ins Haus. Dann folgte sie ihm, Nakos direkt auf ihren Fersen.

Nichts köchelte auf dem großen Herd mit den sechs Gaskochstellen. Die Arbeitsflächen aus Schiefer waren frei von Küchenutensilien, doch in der Luft hing der Duft von italienischem Essen.

Tante Mae erhob sich von dem verkratzten Kiefernholztisch in der Mitte des Raums, eine Teetasse in der Hand, während Bones ins andere Zimmer trottete. «Da bist du ja. Du hast einen Gast.»

Heilige Scheiße. Ihr Atem stockte. Groß war nicht das richtige Wort, um den Mann zu beschreiben, der in ihrer Küche stand. Riesig traf es vermutlich eher. Sie konnte nur starren, gefangen zwischen Verwirrung, Neugier, wer er wohl sein mochte, und Faszination.

Mit seinen mindestens ein Meter neunzig ragte er hoch über ihr auf, selbst mit dem Tisch und einigen Quadratmetern sandsteingefliestem Boden zwischen ihnen. Sein Kopf war glattrasiert, doch auf seinem Kinn erkannte sie Bartstoppeln, die ihr einen Hinweis auf seine Haarfarbe gaben. Beide Arme waren von Tätowierungen überzogen, die unter den Ärmeln eines weißen T-Shirts verschwanden, das absolut nichts der Phantasie überließ, weil es so eng anlag. Feste Muskeln, deutlich sichtbare Venen und … Testosteron. Dieser Kerl verströmte Testosteron aus sämtlichen Poren.

Er stopfte seine großen Hände in die Taschen seiner abgetragenen Jeans, was seinen Bizeps betonte. Der Mann musste Autos gestemmt haben, um solche Muskeln zu bekommen. «Mein Name ist Nathan Roldan, aber ich werde Nate genannt.»

Lieber Gott, seine Stimme. Tief, kehlig und mit einem Echo, das durch ihren Körper lief. Sie kaute auf dem Namen herum, weil er vertraut erschien. Doch wenn sie diesem Mann schon mal begegnet wäre, hätte sie das auf keinen Fall vergessen.

«Kenne ich Sie?» Sie vermutete, dass er ungefähr in ihrem Alter war, vielleicht ein Jahr älter oder jünger.

Nakos schob sich dichter an sie heran, als rechne er mit einem Problem. Dann warf er ihr einen Blick zu, der klar sagte: Ich lasse dich mit diesem Kerl nicht allein.

Erneut musterte sie den Neuankömmling. Dessen Blick glitt zwischen ihnen beiden hin und her, bevor er verständnisvoll nickte. Damit verstand zumindest einer hier irgendwas.

«Ich bin nicht gekommen, um Ärger zu machen.» Er zog einen Geldbeutel aus der hinteren Hosentasche und kam um den Tisch herum.

Seine Bewegungen hatten die Eleganz eines Raubtiers. Und jetzt, wo er direkt vor ihr stand, konnte sie die Details seines Gesichts betrachten. Leichte, kaum wahrnehmbare Falten zogen sich über seine Stirn. Seine olivfarbene Haut deutete eher auf Jahre in der Sonne hin als auf ein südländisches Erbe – ein leichter goldener Schein, wie Bronze. Seine zurückhaltend gesenkten Lider standen in Kontrast zu den harschen Linien seiner Brauen. Und dasselbe galt für das Verhältnis seines vollen Mundes zu seinem harten Kinn.

Verdammt. Er war wirklich ein schönes Exemplar von Mann. Ein wenig einschüchternd und rau, aber, wow! Das war ein Mann, mit dem man sich besser nicht anlegte – vorausgesetzt, das ließ sich überhaupt verhindern –, doch zugleich zog seine Bad-Boy-Ausstrahlung sie unwiderstehlich an.

Leg-dich-nicht-mit-mir-an kombiniert mit Ich-fordere-dich-heraus,-mir-zu-widerstehen.

«Ich habe mit Justin gedient.»

Als sie den Namen ihres Bruders hörte, schnappte Olivia nach Luft und riss sich zusammen. Mit zitternder Hand nahm sie das Foto und sah es an.

Justin stand in Tarnkleidung und mit einem Gewehr in der Hand neben dem Mann, der sich jetzt in ihrer Küche aufhielt. Die beiden posierten vor einem Army-Jeep, Nates Arm auf den Schultern ihres Bruders. Justins Grinsen und das Funkeln seiner blauen Augen sorgten dafür, dass Olivias Kehle eng wurde und Sehnsucht ihr Herz erfüllte. Bevor sie zu emotional werden konnte, gab sie Nate das Bild zurück und räusperte sich.

Als Nächstes zog er einen Führerschein heraus, ausgestellt in Illinois, und zeigte ihn erst ihr, dann Nakos, der sowohl die kleine Plastikkarte als auch den Mann vor sich beäugte, als wäre er nur noch eine Sekunde davon entfernt auszurasten. Dann verschränkte Nakos die Arme, in einer klaren Was-willst-du-Pose.

Nate warf einen unsicheren Blick zu Tante Mae. Als diese aufmunternd nickte, sah er wieder Olivia an. «Ich möchte nur reden. Wenn du willst, werde ich danach gehen.» Sein Blick bohrte sich in ihren, bis sie den Eindruck gewann, er sähe tief in sie hinein und erkenne einen Teil von ihr, von dem sie selbst gar nichts wusste. «Bevor er gestorben ist, hat Justin mir eine Nachricht für dich hinterlassen.»

Ein Versprechen. Das war es, was Nate nach der ehrenhaften Entlassung aus medizinischen Gründen von Chicago nach Meadowlark, Wyoming, geführt hatte. Wobei ehrenhaft eher ein schlechter Witz war. Aber was nicht war, konnte ja noch kommen – an diese Hoffnung klammerte er sich. Auch wenn ihm irgendetwas sagte, dass er immer noch nach Absolution suchen würde, wenn er eines fernen Tages seinen letzten Atemzug tat.

Eigentlich hätte er derjenige sein sollen, der unter der Erde lag, während Justin die Ehrenwache bei der Beerdigung hielt. Nicht andersherum. Und er würde für den Rest seines jämmerlichen Lebens dafür büßen. Hier war er nun, wie Justin ihn gebeten hatte … doch es gab keine Wiedergutmachung dafür, den Tod eines Freundes verursacht zu haben.

Nate starrte aus dem riesigen Wohnzimmerfenster der dunklen Wildflower Ranch, während er darauf wartete, dass Olivia aus dem oberen Stockwerk zurückkehrte. Justin hatte oft über seine Familie und ihr Land geredet. Zum Beispiel über die unzähligen Wildblumen, die der Farm ihren Namen gegeben hatten. Im Sommer wuchsen sie so zahlreich, dass das gesamte Land bis zum Horizont mit einem Blütenteppich in den schönsten Gelb-, Orange-, Pink- und Weißtönen bedeckt war. Und doch – irgendwie war es Justin nicht gelungen, der Ranch in seinen Beschreibungen wirklich gerecht zu werden. Nate hatte sich ein kleines Farmhaus in der Mitte des

Es hatte ihn fünf Minuten auf seiner Maschine gekostet, um von der Straße aus das Haus zu erreichen. Er hätte die Abzweigung vielleicht verpasst, wäre das schmiedeeiserne Schild nicht so offensichtlich gewesen. Auf der einen Seite von Kiefern, auf der anderen von Solarlampen gesäumt, zog sich die Einfahrt kilometerlang hin, bis er fast gedacht hatte, er würde sein Ziel nie erreichen.

Das dreistöckige Blockhaus erinnerte fast an ein Herrenhaus, wenn auch im rustikalen Stil. Zedernholz und Glas von außen, Stein und Holzakzente im Inneren. Breite Balken zogen sich unter hohen Decken entlang. An einer Wand erhob sich ein massiver gemauerter Kamin. Die Sofas und Sessel waren mit marineblauem Cord bezogen. Die Art von Sofa, in die man sich an einem verschneiten Tag sinken ließ, nur um nie wieder aufstehen zu wollen. Familienfotos und Landschaftsbilder hingen an den holzverkleideten Wänden. Nate hatte bisher nur Wohnzimmer und Küche zu Gesicht bekommen, doch er war bereits beeindruckt. Auch die Küche war riesig, luftig und modern, mit Geräten aus rostfreiem Stahl.

Für einen Stadtjungen, der an Wolkenkratzer und Sirenen gewöhnt war – der Essen hatte horten müssen, um gerade so durchzukommen –, war das hier ein echter Kulturschock. Zur Hölle, selbst der Irak hatte weniger Anpassung erfordert.

Schritte erklangen auf der Treppe, und er drehte sich um. Der kalte Knoten aus Angst in seinem Bauch wuchs zu einem ganzen Knäuel heran. Sie war die größte Überraschung gewesen. Olivia Cattenach. Er hatte ein paar Fotos von ihr gesehen, dank ihres Bruders, doch ihr gegenüberzustehen, hatte ihn vorhin getroffen wie ein Schlag gegen den Kopf.

Wie ihr Bruder hatte sie einen schlanken Körperbau, in ihrem Fall mit unglaublich langen Beinen. Vielleicht wäre «dürr» das richtige Wort gewesen, hätte sie nicht diese sanft geschwungenen Hüften und die perfekt proportionierten Brüste. Und dieses Haar? Verdammt. In seinen wildesten Phantasien hätte er sich kein solch lebhaftes Rotbraun vorstellen können. Es fiel seidenweich und glatt über ihre Schultern nach unten, was dafür sorgte, dass er sofort das Verlangen verspürte, seine Finger darin zu vergraben.

Sie betrat den Raum und wich seinem Blick aus. «Tut mir leid, dass du warten musstest. Wir haben heute geschoren, und ich war dreckig. Ich brauchte eine Dusche.»

Er hatte nicht den blassesten Schimmer, wovon sie sprach, nickte aber trotzdem. «Kein Problem.» Als ihr Blick wieder durch den Raum huschte, setzte er sich vorsichtig in einen der Sessel, um nicht so bedrohlich vor ihr aufzuragen. Seine Größe konnte einschüchternd wirken, und er wollte ihr auf keinen Fall Angst einjagen. «Deine Tante hat gesagt, sie wäre in ihrem Zimmer, falls du sie brauchst. Und der Mann, der bei dir war … Nick? Er ist gegangen.» Unter Protest, obwohl Olivias Tante ihm versichert hatte, dass ihre Nichte schon klarkommen würde.

«Nakos», korrigierte sie ihn mit einem höflichen Lächeln. «Er ist unser Vorarbeiter und ein guter Freund.»

Nate fragte sich, ob dieser Nakos wohl wusste, dass er nur

Nach kurzem Zögern setzte Olivia sich auf den Sessel ihm gegenüber und zog die Beine unter den Körper. «Wann bist du in die Stadt gekommen?»

Smalltalk sorgte normalerweise dafür, dass er Pickel bekam, doch er mochte den Klang ihrer Stimme. So melodisch, fast singend. «Vor ungefähr einer Stunde. Ich bin direkt aus Chicago hergefahren.»

«Stammst du von dort?» Sie zog an ihrem Ohrläppchen, den Blick auf den Schoß gerichtet. Sie hatte es bisher vermieden, ihm wirklich in die Augen zu sehen. Er hatte noch nicht mal ihre Farbe erkennen können, und im Augenblick wollte er nichts mehr als das.

«Ja. Aus der Southside.» Er ließ seinen Blick über die hellen Sommersprossen auf ihren Schultern gleiten. Ihre Haut war unglaublich. Nicht wirklich hell, aber auch nicht dunkel genug, um als braun bezeichnet zu werden. Als sie bei der Erwähnung von Chicagos Problemviertel blinzelte, lehnte er sich ein wenig vor. «Bitte hab keine Angst vor mir. Ich mag gebaut sein wie ein Bär, aber ich bin harmlos.» Tatsächlich konnte er einen Mann auf fünfzig verschiedene Arten mit bloßen Händen umbringen, aber das brauchte sie nicht zu erfahren.

Schließlich richtete sie ihren Blick auf ihn. Jegliche Luft schien den Raum zu verlassen. Kornblumenblau – blauer als alles, was er bisher in seinem Leben gesehen hatte. Die Augen ihres Bruders waren auch strahlend blau gewesen, doch ihre waren … unglaublich. Die sanfte Wölbung der Brauen und ihre langen Wimpern ließen die Augen in ihrem hübschen ovalen Gesicht noch größer wirken.

Um sie darüber zu informieren, dass Justin gestorben war. Daran hätte Nate denken müssen.

Er zwang sich dazu, die Hände nicht zu Fäusten zu ballen, als er ihr mit einem Brummen zu verstehen gab, dass er begriff. «Ich möchte mich dafür entschuldigen, dass ich die Beerdigung verpasst habe. Ich war verletzt und lag in einem Krankenhaus in Deutschland. Ich bin erst vor ein paar Wochen in die Staaten zurückgekehrt.» Er war gerade lang genug in Chicago geblieben, um ein paar Sachen von Jim abzuholen und auf seine Harley zu springen.

«Oh.» Ihr Blick glitt über seinen Körper, als suche sie nach Hinweisen auf seine Wunden. «Ich wusste nicht, dass noch jemand verletzt wurde. Ist es auch bei … bei dieser Explosion passiert? Geht es dir wieder gut?»

Es würde ihm nie wieder gut gehen. «Es war dieselbe Explosion, und ich bin wieder ganz gesund. Ich hatte ein paar Splitter im Bein und in der Hüfte, die herausoperiert werden mussten.» Er wünschte sich nur, sie hätten ihm auch eine Lobotomie verpasst. Die Narben und die verbliebenen Schmerzen in seinem Bein waren einfach nicht ausreichend als Strafe.

«Also warst du bei Justin, als er gestorben ist?»

Drei Meter entfernt. «Ja.» Er spürte, dass sie mehr Details brauchte, selbst wenn sie sie nicht unbedingt hören wollte. «Was weißt du über das, was passiert ist?»

Sie schluckte schwer und wandte den Blick ab. «Nur, was sie mir gesagt haben, was nicht allzu viel ist. Er wurde in ein Gebäude geschickt, und ein Sprengsatz ist explodiert. Sie haben angedeutet, dass die Mission deswegen schiefgelaufen

Manchmal war es schlimmer, die ganze Wahrheit zu kennen, als nur ein paar Informationsfetzen zu besitzen. Entweder die Army hatte sie beruhigen wollen, oder sie hatte etwas missverstanden. Auf jeden Fall stimmte kaum etwas von dem, was sie gesagt hatte. Bis auf eine Sache. Justins befehlshabender Offizier hatte Mist gebaut. Und dieser Mann war Nate. Als First Lieutenant war er Justin übergeordnet gewesen, der nur den Rang eines Second Lieutenant gehabt hatte. Es war Nates Aufgabe gewesen, auf Justin aufzupassen. Und er hatte versagt.

Bei Olivia würde er nicht versagen. Sie durfte nie erfahren, welche Rolle er beim Tod ihres Bruders gespielt hatte, dachte Nate. Damit er Justins Bitte erfüllen konnte, musste Olivia ihm vertrauen. Daher wappnete er sich, um die Geschichte zu erzählen, ohne sie gleichzeitig erneut zu durchleben.

«Wir wurden in ein winziges Dorf geschickt, um nach Flüchtlingen und Waffen zu suchen. Die meisten Gebäude waren zerstört, und wir hatten nicht vor, dort länger als einen Tag zu bleiben. Justin und ich haben uns zusammen ein Gebäude vorgenommen, während der Rest unserer Einheit sich um die anderen kümmerte.»

Der Ort war eine Geisterstadt gewesen, also war Nate davon ausgegangen, dass Justin sich geirrt hatte, als er behauptete, einen kleinen Jungen gesehen zu haben. Er hätte es besser wissen müssen, als Justin zuerst in das Gebäude zu schicken, während er selbst ein Update an die Basis funkte. Es hatte sich herausgestellt, dass der Junge keine Fata Morgana gewesen war. Sondern ein echter Achtjähriger mit einem Sprengstoffgürtel um den hageren Brustkorb.

Olivia holte zitternd Luft. Ihr Blick wirkte verschleiert. «Hat er … gelitten?»

«Nein. Es ging schnell.» Manchmal waren Lügen einfach notwendig. Justin hatte schreckliche Schmerzen erlitten. Unendliche Pein. Es hatte eine Viertelstunde gedauert, bis er gestorben war. Angefühlt hatte es sich wie fünfzehn Jahre, als Justin auf dem verdammten Boden gelegen hatte – sein Körper gebrochen und blutüberströmt. Er hatte Nates Hand umklammert, während sie auf das Evakuierungsteam gewartet hatten. Die Erinnerung daran würde Nate niemals auslöschen können. «Er hat nichts gespürt.»

Olivia schloss die Augen und schien sich einen Moment Zeit zu nehmen, um sich zu sammeln. Ihre Schultern sackten erleichtert nach unten. «Danke.» Während in Nates Magen Säure brannte, veränderte sie ihre Position im Sessel, um dann wieder ganz still dazusitzen. «Du hast gesagt, Justin hätte dir eine Nachricht für mich gegeben?»

«Ja.» Er zog den Wenn-du-diese-Zeilen-liest-Brief aus seiner hinteren Hosentasche und entfaltete den Umschlag. «Wir haben Briefe ausgetauscht, für den Fall, dass uns etwas zustößt.» Er gab ihr die Nachricht.

Sie starrte den einfachen weißen Umschlag an, dem die Elemente zugesetzt hatten, seit er geschrieben worden war. «Hat er noch etwas gesagt, bevor er gestorben ist?»

«Scheiße, es tut weh, Nate. Mir ist so … kalt. Kümmere dich um meine Schwester. Versprich mir, dass du dich … um … Olivia kümmern wirst.»

«Dafür blieb keine Zeit.» Nate biss die Zähne zusammen, um nicht zu schreien. Er wollte weglaufen. Seinen Kopf

Er konnte nicht abschätzen, was in den nächsten Minuten passieren würde. Aber er sollte ihr etwas Raum geben.

«Ich habe noch ein paar Sachen von Justin auf meinem Motorrad.» Nate stand auf. «Ich werde sie holen. Du findest mich auf der Veranda, wenn du bereit bist.»

Ihr Blick hob sich. Niemals zuvor hatte er sich dringender gewünscht, jemand anderes zu sein. Ein Mann, der Trost spendete, statt Kummer zu bereiten. Ein Mann, der die Dankbarkeit in ihren Augen wert war. Aber leider war er einfach nur ein Arschloch erster Güte.

«Weißt du, was drinsteht?» Ihre leise Stimme schien sich um seine Kehle zu schlingen und sie zusammenzupressen.

«Nein. Wir haben den Brief des anderen nicht gelesen.» Mit zugeschnürter Brust trat er aus der Tür und in die kühle Nachtluft hinaus.

Seine Schuhe knirschten auf dem Kies, als er zu seiner Harley in der Einfahrt ging. Über ihm funkelten unendlich viele Sterne. Zu viele, um sie zu zählen, und mehr, als er je zuvor gesehen hatte. In diesem Drecksloch von Wüste hatte es jede Menge Sterne gegeben, aber nicht wie hier. Hier draußen im Niemandsland, ungestört von den Lichtern der Stadt oder Smog – oder Explosionen und Rauch –, erstreckte sich der Himmel scheinbar bis in die Unendlichkeit.

Und es war still. Nur das Rascheln von trockenem Gras hier, das Zirpen einer Grille dort. Der gelegentliche Ruf einer Eule vollendete die Symphonie. Die Stille war fast ohrenbetäubend, wenn man bedachte, woran er gewöhnt war.

Nach ein paar Minuten hörte er das leise Geräusch von Krallen, dann umrundete ein Hund die Hausecke. Das Tier ließ sich ungefähr zwei Meter entfernt von ihm nieder und starrte ihn an. Vorhin hatte Nates ganze Aufmerksamkeit Olivia gegolten, doch er meinte sich zu erinnern, dass ihr ein Hund in die Küche gefolgt war.

«Hey, Junge.» Oder Mädchen?

Nate klopfte sich auf den Oberschenkel, und der Hund trottete heran. Vorsichtig hielt Nate ihm die Hand hin, dann ließ er sie sanft über das braun-weiße Fell gleiten, bis der Hund mit der Schnauze gegen sein Knie stupste, als bäte er um eine richtige Krauleinheit. Mit einem Lachen, das in seinen eigenen Ohren rau und ungeübt klang, kratzte er den Hund hinter den Ohren.

«Ich nehme an, du gehörst Olivia. Wie heißt du?»

«Bones.» Besagte Besitzerin trat auf die Veranda und schloss die Schiebetür hinter sich. «Als er noch ein Welpe war, hat er mir ständig Knochenreste von jedem Kadaver gebracht, den er finden konnte. Daher der Name.» Sie setzte sich in den Stuhl neben ihm und ließ ihren Kopf nach hinten sinken. Ihre Augen wirkten verdächtig rot und geschwollen. Sie hatte sich ein Sweatshirt übergezogen, als Schutz gegen die Kälte der Nacht.

«Sieht aus, als hättest du bereits einen Freund gefunden.» Sie drehte den Kopf und schenkte ihm ein trauriges Lächeln.

Er sah erneut auf Bones herunter. Ein guter Name. «Ich wollte immer einen Hund haben.» Stirnrunzelnd klappte er den Mund wieder zu, weil er nicht verstand, wieso er ihr das erzählt hatte.

«Deine Eltern haben dir kein Haustier erlaubt?»

Angesichts der Tatsache, dass seine Pflegefamilien schon Essen zum Privileg erklärt hatten – und das waren die anständigen gewesen –, antwortete er nicht.

«Wartet in Illinois irgendetwas auf dich? Ein Job? Familie?»

Er besaß nicht mehr Dinge als das, was er auf seiner Harley unterbringen konnte. «Ein paar Freunde.» Nur Jim, um genau zu sein. Und da Jim sein ehemaliger Bewährungshelfer war, sollte er ihn wahrscheinlich nicht als Freund einordnen. Aber wenn es ihn nicht gegeben hätte, wäre Nate wahrscheinlich entweder in einer Gangschießerei gestorben oder nach dem Jugendknast sofort wieder im Gefängnis gelandet. «Ich habe darüber nachgedacht, eine Weile in Meadowlark zu bleiben.»

«Bist du je auf einem Pferd geritten oder hast einen Traktor gefahren?»

Zur Hölle, nein. Die Frage hätte ihn fast zum Lachen gebracht. «Nein. Ich bin ein Stadtkind. Warum?»

Sie holte tief Luft und setzte ihren Schaukelstuhl in Bewegung, den Blick in die Ferne gerichtet. «Nun, wenn du hier

Er erstarrte, den Blick auf ihr Profil gerichtet. Tja … Er hatte immer gedacht, einen Mann wie ihn könnte nichts mehr überraschen. Aber da hatte er sich wohl geirrt. Sein Plan hatte gelautet, in der Nähe zu bleiben, in der Stadt, um dort einen Job und ein Dach über dem Kopf zu finden. Für den Rest ihres Lebens – oder seines – wollte er aus akzeptabler Distanz über sie wachen.

Olivia sah ihn mit einem Lächeln an, das ihm fast den Boden unter den Füßen wegzog. «Also nur, falls du interessiert bist?»

«Ich kann einen Motor auseinanderbauen und wieder zusammensetzen. Im Notfall komme ich mit Holzarbeiten klar. Ich kann Sachen reparieren. Aber ich weiß nicht das Geringste über die Arbeit auf einer Ranch, Olivia.»

Sie zuckte mit den Achseln, als spiele das keine Rolle. «Wie gesagt: Ich kann es dir beibringen. Einen Mann für alles könnte ich gut gebrauchen.» Sie schluckte, und eine winzige Falte bildete sich zwischen ihren Brauen. «Ich fände es wirklich schön, wenn du bleibst.»

Was zum Teufel hatte Justin seiner Schwester in dem Brief geschrieben? Olivias gesamtes Verhalten hatte sich um hundertachtzig Grad gedreht. Sie war nicht länger zurückhaltend, sondern sah ihn direkt an, ohne eine Spur von Unbehagen oder Anspannung. Sowohl ihr Äußeres als auch ihr Verhalten erinnerten so sehr an Justin, dass Nates Herz wegen des seltsamen Déjà-vu-Gefühls wie wild schlug.

Nachdenklich senkte er den Blick auf den Hund. Ihr Angebot löste sein Jobproblem. Und wenn er auf der Ranch arbeitete, konnte er sie genauer im Auge behalten. Doch er hasste

«Du weißt nichts über mich.» Denn wenn sie das täte, würde sie anders handeln. «Ich könnte ein Serienvergewaltiger oder ein Juwelendieb sein.»

«Bist du das?» Ihre Lippen verzogen sich zu einem amüsierten Lächeln.

«Nein.» Durch furchtbare Umstände ein Mörder, ein ehemaliges Gang-Mitglied aus der Southside und insgesamt ein Loser, aber er hatte noch nie in seinem Leben etwas gestohlen. Und er würde sich niemals einer Frau aufzwingen. «Trotzdem. Du hast mich gerade erst getroffen.»

«Du hast gesagt, du hättest darüber nachgedacht, in der Stadt zu bleiben. Meadowlark ist eine Farmgemeinde. Die Stadt hat nur dreihundert Einwohner. Es dürfte dir schwerfallen, einen anderen Job zu finden.»

Und die nächstgelegene Stadt war Casper, hundertsechzig Kilometer westlich, mal abgesehen von weiteren winzigen Ortschaften auf dem Weg. Er seufzte und starrte ins Leere, während er seine Optionen abwog. Es war eine Sache, in der Nähe zu bleiben, aber etwas ganz anderes, ihr so dicht auf den Pelz zu rücken. Noch schlimmer, sie würde ihm beibringen müssen, wie er seine verdammte Arbeit machen konnte.

«Justin hat gesagt, ich könne dir vertrauen. Dass du ein guter Kerl bist.»

Himmel, sie war atemberaubend. Nicht wie diese Frauen, die man auf Laufstegen oder in Hollywood fand. Nein, ihre Schönheit war hundertprozentig natürlich und daher umso kostbarer. So etwas Schönes hatte keinen Platz in seinem Leben.