H.G. Wells
Der Krieg der Welten
Roman
Aus dem Englischen von Hans Ulrich Möhring
FISCHER E-Books
Mit einem Nachwort von Elmar Schenkel
Herbert George Wells (1866-1946) gilt, neben Jules Verne, als »Vater der Science-Fiction«. Ihm verdanken wir die grundlegende Ausarbeitung zahlreicher Motive, die das Genre bis heute maßgeblich prägen: Zeitreise, Unsichtbarkeit, außerirdische Invasion und viele mehr. Darüber hinaus hat er sich als Historiker und Verfasser gesellschaftskritischer Werke einen Namen gemacht.
Hans-Ulrich Möhring, geboren 1953, hat so unterschiedliche Autoren wie Zora Neale Hurston, J.R.R. Tolkien, James Hamilton-Paterson und William Blake übersetzt. 2008 erschien sein Roman ›Vom Schweigen meines Übersetzers‹, 2014 die Novelle ›Ausgetickt – Ein Exzess‹.
Elmar Schenkel, geboren 1953, ist Professor für englische Literatur an der Universität Leipzig und leitete von 2005 bis 2015 das dortige Studium universale. Er ist freier Mitarbeiter bei der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« und war Mitherausgeber der Literaturzeitschrift »Nachtcafé«. Neben Büchern über das Fahrrad in der Literatur, über Exzentriker der Wissenschaft und Biographien von H.G. Wells Wells und Joseph Conrad hat er Erzählungen, Gedichte und Reisebücher veröffentlicht. Für seine literarischen Arbeiten erhielt er u.a. den Förderpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung und den Hermann-Hesse-Förderpreis.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.dee
Von Wasser und Rohstoffmangel getrieben, fliegen die Marisaner zur Erde, um den Nachbarplaneten zu erobern. Ihren Raumschiffen, die im Vereinigten Königreich landen, entsteigen dreibeinige Kampfmaschinen, deren Todesstrahl niemand etwas entgegenzusetzen hat. Die Militärs müssen hilflos mitansehen, wie die Städte in Schutt und Asche gelegt werden. Voller Verzweiflung flieht die Bevölkerung auf Schiffe, um sich auf das Festland zu retten.
Doch da kommt den Menschen die Natur zu Hilfe: Das Immunsystem der Marsianer ist den irdischen Bakterien nicht gewachsen, und nach und nach verstummt ihr Kriegsgeheul, bis sie alle dem unsichtbaren Gegner zum Opfer gefallen sind ...
H. G. Wells' großer Klassiker zum ersten Mal in vollständiger Neuübersetzung, ergänzt um drei exemplarische Erzählungen, welche die ganze Meisterschaft des »Vaters der Science Fiction« zeigen.
Mit einem Nachwort des ausgewiesenen Wells-Experten Elmar Schenkel über Leben und Werk.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die englische Originalausgabe ›The War of the Worlds‹ erschien in Buchform erstmals 1898.
Für die Übersetzung:
© Hans-Ulrich Möhring 2017
Für das Nachwort:
© Elmar Schenkel 2017
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2017 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: buxdesign, München
Coverabbildung: Shutterstock
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403670-0
»Wer aber wird in diesen Welten wohnen, so sie denn bewohnt seien? … Sind wir oder sie die Herren der Welt? … Und wie soll alles des Menschen wegen da sein?«
Kepler (Zitiert in Robert Burton, The Anatomy of Melancholy)
Für meinen Bruder Frank Wells
diese Ausführung seiner Idee
Niemand hätte im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert geglaubt, dass das Treiben auf der Erde scharf und genau von Wesen beobachtet wurde, die intelligenter waren als die Menschen und doch nicht minder sterblich; dass die Menschen bei allem, was sie so emsig betrieben, akribisch überwacht und erforscht wurden, vielleicht fast genauso akribisch, wie ein Mensch mit einem Mikroskop die kurzlebigen Kreaturen erforscht, die in einem Tropfen Wasser wimmeln und sich mehren. Mit unendlicher Selbstzufriedenheit gingen die Menschen überall auf diesem Erdball ihren kleinen Geschäften nach, in dem festen Glauben an ihre Herrschaft über die Materie durch nichts zu erschüttern. Gut möglich, dass es den Infusorien unterm Mikroskop nicht anders ergeht. Niemand dachte im Traum daran, die älteren Welten im Universum könnten die Menschen gefährden, und die Vorstellung, es könnte Leben auf ihnen geben, wurde allgemein als unmöglich oder unwahrscheinlich abgetan. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, an das gewohnte Weltbild dieser verflossenen Zeit zurückzudenken. Im äußersten Fall malten die Erdenmenschen sich aus, es könnte auf dem Mars andere Menschen geben, die wohl auf einer niedrigeren Stufe ständen und eine Weltraummission freudig begrüßen würden. Doch über den Abgrund des Alls hinweg beobachteten Wesen, die geistig zu uns stehen wie wir zum lieben Vieh, ungeheure Intellekte, kalt und teilnahmslos, diese Erde mit missgünstigen Augen und schmiedeten langsam und sicher ihre Pläne gegen uns. Und am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts erfolgte die große Desillusionierung.
Der Planet Mars, das muss ich dem Leser wohl kaum ins Gedächtnis rufen, umkreist die Sonne in einer mittleren Entfernung von 140000000 Meilen, und was er von der Sonne an Licht und Wärme empfängt, ist kaum die Hälfte dessen, was diese Welt empfängt. Er muss, sofern an der Nebularhypothese etwas dran ist, älter als unsere Welt sein, und lange bevor diese Erde ihren Schmelzzustand hinter sich gelassen hatte, muss auf seiner Oberfläche das Leben schon seinen Lauf angetreten haben. Die Tatsache, dass er nur knapp ein Siebtel des Erdumfangs besitzt, muss die Abkühlung auf die Temperatur, bei der Leben beginnen konnte, beschleunigt haben. Er hat Luft und Wasser und alles, was ein lebendiges Dasein zu seinem Unterhalt benötigt.
Jedoch so eitel ist der Mensch und so verblendet von seiner Eitelkeit, dass bis kurz vor dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts kein Autor irgendwie den Gedanken äußerte, intelligentes Leben könnte sich dort weit – oder überhaupt – über das irdische Niveau hinausentwickelt haben. Ferner wird daraus, dass der Mars älter ist als unsere Erde, kaum ein Viertel der Oberfläche hat und weiter von der Sonne entfernt ist, nicht der notwendige Schluss gezogen, dass auf ihm nicht nur der Anfang des Lebens ferner, sondern auch sein Ende näher ist.
Die langfristig zu erwartende Abkühlung, die unseren Planeten eines Tages ereilen muss, ist bei unserem Nachbarn in der Tat schon weit fortgeschritten. Die physikalischen Bedingungen dort sind größtenteils noch ein Rätsel, doch wir wissen heute, dass selbst in seiner Äquatorialzone die Mittagstemperatur kaum unsere kältesten Wintertemperaturen erreicht. Die Luft ist viel dünner als bei uns, die Ozeane sind zurückgegangen, so dass sie nur noch ein Drittel seiner Oberfläche bedecken, und im langsamen Lauf seiner Jahreszeiten bilden sich und schmelzen an beiden Polen gewaltige Eiskappen und überschwemmen periodisch die gemäßigten Zonen. Das letzte Erschöpfungsstadium, das für uns noch in unvorstellbarer Ferne liegt, ist für die Bewohner des Mars zu einem brandaktuellen Problem geworden. Der unmittelbare Druck der Notwendigkeit hat ihren Verstand geschärft, ihre Fähigkeiten vergrößert und ihre Herzen verhärtet. Und wenn sie mit Instrumenten und einer Intelligenz, die wir noch kaum erträumen, durch den Weltraum schauen, erblicken sie in nächster Entfernung, nur 35000000 Meilen sonnenwärts, einen Morgenstern der Hoffnung, unseren wärmeren Planeten, pflanzengrün und wassergrau, mit einer Fruchtbarkeit verheißenden Wolkenatmosphäre, und hinter den treibenden Wolkenfetzen Ahnungen von ausgedehnten, dichtbevölkerten Landmassen und vielbefahrenen Meeren und Engen.
Und wir Menschen, die Geschöpfe, die diese Erde bewohnen, müssen für sie mindestens so fremdartig und niedrigstehend sein wie für uns die Affen und Halbaffen. Theoretisch erkennen die Menschen bereits an, dass das Leben ein unablässiger Kampf ums Dasein ist, und wie es scheint, ist dies auch die Auffassung der Marsbewohner. In ihrer Welt ist die Abkühlung schon weit vorangeschritten, und unsere Welt wimmelt noch von Leben, aber was da wimmelt sind in ihren Augen niedere Tiere. Ein Feldzug in Richtung Sonne wäre in der Tat das Einzige, was die Vernichtung abwenden könnte, die ihnen mit jeder Generation näher rückt.
Und bevor wir zu hart über sie urteilen, sollten wir uns daran erinnern, welche gnadenlose und totale Vernichtung unsere Spezies nicht nur über Tiere wie den dahingeschwundenen Bison und den Dodo gebracht hat, sondern auch über ihre eigenen niedriger stehenden Rassen. In einem Ausrottungskrieg der europäischen Einwanderer wurden die Tasmanier trotz ihrer Zugehörigkeit zur Menschheit im Zeitraum von fünfzig Jahren vollständig vom Antlitz der Erde getilgt. Sind wir solche Apostel der Barmherzigkeit, dass wir uns beklagen dürften, wenn die Marsianer uns im selben Geiste bekriegten?
Die Marsianer, deren mathematische Bildung unserer augenscheinlich weit überlegen ist, scheinen ihren Anflug mit erstaunlicher Präzision berechnet und ihre Vorbereitungen mit nachgerade vollkommener Einmütigkeit getroffen zu haben. Hätten unsere Instrumente es gestattet, hätten wir die Bedrohung im neunzehnten Jahrhundert vielleicht schon längst aufziehen sehen. Männer wie Schiaparelli beobachteten den roten Planeten – merkwürdig übrigens, dass der Mars seit zahllosen Jahrhunderten als Kriegsstern gilt –, versäumten es aber, die Veränderlichkeit der Geländemerkmale zu deuten, die sie so gut kartierten. In dieser ganzen Zeit müssen die Marsianer sich gerüstet haben.
Während der Opposition von 1894 wurde auf dem beleuchteten Teil der Marsscheibe ein großes Licht gesichtet, zuerst im Lick-Observatorium, dann von Perrotin in Nizza und danach noch von anderen Beobachtern. Englische Leser erfuhren erstmals in der Nature vom 2. August davon. Meines Erachtens könnte diese Lichterscheinung daher rühren, dass in der ungeheuer großen und tiefen Grube in ihrem Planeten, aus der sie ihre Schüsse auf uns abgaben, die riesige Kanone gegossen wurde. Eigenartige, bis jetzt noch unerklärte Geländemerkmale wurden während der nächsten beiden Oppositionen nahe dem Ursprungsort dieses Ausbruchs gesichtet.
Der Sturm brach vor sechs Jahren über uns herein. Während der Mars sich der Gegenstellung näherte, brachte Lavelle aus Java die Telegraphenleitungen der Astronomischen Gesellschaften mit der erstaunlichen Meldung einer gewaltigen Leuchtgasexplosion auf dem Planeten zum Sirren. Sie sei gegen Mitternacht des zwölften erfolgt, und das Spektroskop, zu dem er sofort gegriffen habe, habe eine Masse flammender Gase angezeigt, hauptsächlich Wasserstoff, die sich mit enormer Geschwindigkeit auf die Erde zubewegte. Dieser Feuerstrahl sei ungefähr um Viertel nach zwölf unsichtbar geworden. Er verglich ihn mit einer kolossalen Stichflamme, die mit jäher Heftigkeit aus dem Planeten geschossen sei »wie brennendes Gas aus einer Kanone«.
Dies erwies sich als singulär zutreffende Beschreibung. Am nächsten Tag jedoch stand nichts davon in den Zeitungen außer einer kleinen Notiz im Daily Telegraph, und die Welt blieb in Unkenntnis über eine der größten Gefahren, die der Menschheit jemals drohten. Ich hätte von der Eruption möglicherweise gar nichts erfahren, wäre mir nicht in Ottershaw Ogilvy begegnet, der bekannte Astronom. Er zeigte sich ungemein erregt von der Nachricht, und im Überschwang der Gefühle lud er mich ein, die Nacht im Wechsel mit ihm mit der Beobachtung des roten Planeten zu verbringen.
Trotz allem, was seither geschehen ist, ist mir diese Nachtwache noch sehr deutlich in Erinnerung: das stille schwarze Observatorium, der schwache Schein, den die Schirmlampe in der Ecke auf den Boden warf, das stetige Klicken des Teleskopräderwerks, der kleine Schlitz im Dach – ein rechteckiger Ausschnitt der Weltraumtiefe, darüber die Schlieren des Sternennebels. Es war nicht zu sehen, aber gut zu hören, wie Ogilvy umherging. Beim Blick durch das Teleskop sah man einen dunkelblauen Kreis und in dem Feld den kleinen runden Planeten schwimmen. Er wirkte so zwergenhaft, so hell und winzig und still, schwach mit Querstreifen gezeichnet, die Rundung leicht abgeplattet. Aber wie winzig er war, wie silbrig warm, ein Stecknadelkopf aus Licht! Es war, als zitterte er ein wenig, in Wirklichkeit aber vibrierte das Teleskop von dem Räderwerk, durch dessen Justiertätigkeit der Planet im Blick blieb.
Während ich schaute, schien der Stern größer und kleiner zu werden, näher und ferner zu rücken, doch das lag schlicht daran, dass mein Auge ermüdete. Vierzig Millionen Meilen war er von uns entfernt – mehr als vierzig Millionen Meilen mit nichts darin. Nur wenige Menschen machen sich die ungeheure Weite der Leere klar, in welcher der Staub des materiellen Universums schwimmt.
Direkt neben ihm im Feld schimmerten drei schwache Lichtpunkte, wie ich mich erinnere, drei unendlich ferne, vom Teleskop sichtbar gemachte Sterne, und ringsherum war die unermessliche Dunkelheit des leeren Weltraums. Man weiß ja, wie diese Schwärze in einer sternenklaren Frostnacht aussieht. In einem Teleskop erscheint sie viel tiefer. Und von mir nicht zu sehen, weil noch so fern und klein, kam indes über diese unglaubliche Distanz, schnell und stetig und mit jeder Minute viele tausend Meilen zurücklegend, das Ding auf mich zugeflogen, das sie uns schickten, das Ding, das so viel Kampf und Elend und Tod auf die Erde bringen sollte. Ich ahnte beim Zuschauen nichts davon; niemand auf Erden ahnte etwas von dieser treffsicheren Rakete.
In jener Nacht gab es noch einen anderen Gasausstoß auf dem fernen Planeten. Ich sah ihn. Ein rötliches Aufflammen am Rand, eine kaum merkliche Ausstülpung der Umrisslinie, gerade als das Chronometer Mitternacht schlug, und rasch sagte ich Ogilvy Bescheid, und er nahm meinen Platz ein. Die Nacht war warm, und ich hatte Durst, und unbeholfen die gestreckten Beine vorsetzend tastete ich mich in der Dunkelheit voran zu dem kleinen Tisch, auf dem die Siphonflasche stand, während Ogilvy beim Anblick des Gasstreifens aufschrie, der direkt auf uns zukam.
In jener Nacht machte sich eine weitere unsichtbare Rakete auf den Weg vom Mars zur Erde, fast auf die Sekunde genau vierundzwanzig Stunden nach der ersten. Ich weiß noch, wie ich dort am Tisch in der Schwärze saß und grüne und rote Flecken mir vor den Augen schwammen. Ich wünschte mir, ich hätte mir zum Rauchen Licht machen können, und hatte dabei keinen Schimmer von der Bedeutung des kurzen Aufleuchtens, das ich gesehen hatte, und von den Konsequenzen, die es bald schon für mich haben würde. Ogilvy hielt weiter bis eins Ausschau und gab es dann auf, und wir zündeten die Laterne an und gingen zu ihm nach Hause. Unter uns in der Dunkelheit lagen Ottershaw und Chertsey mit ihren Hunderten friedlich schlafender Bewohner.
Er erging sich in jener Nacht in Spekulationen über die Bedingungen auf dem Mars und rümpfte die Nase über die banausische Vorstellung, es gäbe auf ihm Bewohner, die uns Signale sendeten. Seiner Meinung nach konnte es sein, dass ein heftiger Meteoritenschauer auf dem Planeten niederging oder dass ein gewaltiger Vulkanausbruch im Gange war. Er legte mir dar, wie unwahrscheinlich es sei, dass die organische Evolution auf zwei benachbarten Planeten dieselbe Richtung eingeschlagen hatte.
»Die Chancen, dass es auf dem Mars so etwas wie menschenähnliches Leben gibt, stehen eins zu eine Million«, sagte er.
Gegen Mitternacht sahen Hunderte von Beobachtern in jener Nacht die Flamme und auch in der nächsten Nacht und in der übernächsten Nacht desgleichen, zehn Nächte lang, jede Nacht eine Flamme. Warum die Schüsse nach dem zehnten Mal aufhörten, hat niemand auf Erden zu erklären unternommen. Möglicherweise bereiteten die dabei freiwerdenden Gase den Marsianern Unannehmlichkeiten. Dichte Rauch- oder Staubwolken, auf der Erde durch ein starkes Teleskop als kleine graue, wabernde Flecken zu erkennen, verbreiteten sich in der klaren Atmosphäre des Planeten und verdunkelten sein eher vertrautes Erscheinungsbild.
Selbst die Tageszeitungen wurden schließlich auf die Störungen aufmerksam, und allüberall erschienen populäre Artikel über die Vulkane auf dem Mars. Die ernst-heitere Wochenschrift Punch schlachtete sie, wie ich mich erinnere, fröhlich für politische Karikaturen aus. Derweil steuerten diese Raketen, die die Marsianer auf uns abgefeuert hatten, die Erde an, ohne dass jemand es ahnte, und sausten jetzt mit einer Geschwindigkeit von vielen Meilen in der Sekunde durch den leeren Abgrund des Alls, Stunde um Stunde und Tag um Tag, näher und näher. Es kommt mir heute geradezu unglaublich verblüffend vor, dass die Menschen im Angesicht dieses schnell auf sie zukommenden Schicksals einfach weiter ihren nichtigen Beschäftigungen nachgehen konnten. Ich weiß noch, wie Markham jubelte, als er für die Illustrierte, die er damals herausgab, eine neue Photographie des Planeten auftrieb. In der heutigen Zeit macht man sich die Vielzahl und die Rührigkeit unserer Zeitungen im neunzehnten Jahrhundert kaum noch klar. Was mich betrifft, so war ich sehr davon in Anspruch genommen, Zweirad fahren zu lernen, und mit einer Reihe von Aufsätzen beschäftigt, welche die wahrscheinliche Entwicklung der sittlichen Vorstellungen im Fortgang der Zivilisation erörterten.
Eines Abends (die erste Rakete konnte da kaum noch zehn Millionen Meilen entfernt gewesen sein) unternahm ich mit meiner Frau einen Spaziergang. Es war sternenklar, und ich erläuterte ihr die Tierkreiszeichen und zeigte ihr den Mars, einen hellen Lichtpunkt nahe dem Zenit, auf den zu dem Zeitpunkt so viele Teleskope gerichtet waren. Es war ein warmer Abend. Auf dem Heimweg zog ein Trupp Ausflügler aus Chertsey oder Isleworth singend und musizierend an uns vorüber. In den Obergeschossfenstern der Häuser brannte Licht, man begab sich zu Bett. Vom fernen Bahnhof ertönten klirrende und rumpelnde Rangiergeräusche, die durch die Entfernung beinahe etwas Melodisches bekamen. Meine Frau machte mich auf die roten, grünen und gelben Lichter einer Signaltafel aufmerksam, die hell vom Himmel abstachen. Alles machte so einen sicheren und friedlichen Eindruck.
Dann kam die Nacht des ersten stürzenden Sterns. Er wurde früh morgens gesichtet, wie er über Winchester nach Osten sauste, ein Flammenstrich hoch in der Atmosphäre. Hunderte müssen ihn gesehen und für eine gewöhnliche Sternschnuppe gehalten haben. Albin zufolge zog er einen grünlichen Streifen hinter sich her, der sekundenlang nachglühte. Denning, als Fachmann für Meteoriten unübertroffen, gab an, erstmals erschienen sei er in einer Höhe von ungefähr neunzig oder einhundert Meilen. Nach seinem Eindruck sei er ungefähr einhundert Meilen östlich von ihm eingeschlagen.
Ich saß zu der Stunde zu Hause in meinem Arbeitszimmer und schrieb, und obwohl mein Fenster nach Ottershaw blickt und das Rouleau hochgezogen war (denn ich schaute in jener Zeit gern zum Nachthimmel auf), bekam ich nichts davon mit. Und doch muss dieses seltsamste aller Objekte, das jemals aus dem Weltraum auf die Erde gelangte, niedergegangen sein, während ich dort saß. Wenn ich in dem Moment aufgeblickt hätte, wäre es für mich sichtbar gewesen. Von denen, die es fallen sahen, meinten einige, es habe dabei ein zischendes Geräusch gemacht. Ich hörte nichts dergleichen. Viele Leute in Berkshire, Surrey und Middlesex müssen seinen Einschlag mitbekommen und sich höchstens gedacht haben, es sei wieder mal ein Meteorit niedergegangen. Niemand scheint sich die Mühe gemacht zu haben, noch in derselben Nacht nach dem herabgefallenen Brocken zu schauen.
Aber sehr früh am Morgen stand der arme Ogilvy, der die »Sternschnuppe« gesehen hatte, mit dem Vorsatz auf, den Meteoriten zu suchen, der seiner Überzeugung nach irgendwo auf dem Horsell Common liegen musste, dem Gemeindeland zwischen Horsell, Ottershaw und Woking. Er fand ihn kurz nach Tagesanbruch, nicht weit von den Sandgruben entfernt. Durch den Einschlag war ein gewaltiges Loch entstanden, und Sand und Kies waren in sämtlichen Richtungen wild über die Heide geschleudert worden, wo sie hohe Haufen bildeten, die aus anderthalb Meilen Entfernung zu sehen waren. Im Osten brannte das Heidekraut, und vor dem Morgengrauen stieg dünner blauer Rauch auf.
Das Ding selbst lag fast gänzlich in den Sand eingewühlt zwischen den verstreuten Splittern einer Fichte, die es beim Aufprall zerschmettert hatte. Der freiliegende Teil hatte das Aussehen eines riesigen Zylinders und war von einer dicken, schuppigen graubraunen Kruste überzogen, die seine Konturen weicher erscheinen ließ. Es hatte einen Durchmesser von ungefähr dreißig Yards. Ogilvy ging darauf zu, erstaunt von der Größe und mehr noch von der Form, da die meisten Meteoriten weitgehend abgerundet sind. Es war jedoch vom Flug durch die Luft noch so heiß, dass er nicht näher herankonnte. Geräusche im Inneren schrieb er der ungleichmäßigen Abkühlung der Oberfläche zu, denn zu dem Zeitpunkt war ihm der Gedanke, der Zylinder könnte hohl sein, noch nicht gekommen.
Er blieb am Rand des Kraters stehen, den das Ding sich gebohrt hatte, starrte das seltsame Äußere an und staunte hauptsächlich über die ungewöhnliche Form und Farbe, wobei er da schon den unbestimmten Eindruck hatte, die Landung müsse irgendwie geplant gewesen sein. Der frühe Morgen war wunderbar still, und die Sonne, die soeben über die Kiefern bei Weybridge hinausstieg, war schon warm. Er erinnerte sich später nicht, an dem Morgen Vögel gehört zu haben. Ganz gewiss ging kein Windhauch, und die einzigen Geräusche kamen von den leisen Regungen in dem ausglühenden Zylinder. Er war ganz allein auf dem Gemeindeland.
Da fiel ihm plötzlich mit einem jähen Schreck auf, dass die ascheartige graue Schlacke, von der der Meteorit überkrustet war, am kreisrunden Rand des Endes zu bröckeln begann. Sie blätterte ab und rieselte auf den Sand. Plötzlich ging ein großes Stück ab und fiel mit einem Knall herunter, bei dem ihm das Herz bis zum Hals schlug.
Im ersten Moment begriff er nicht, was das zu bedeuten hatte, und obwohl die Hitze extrem war, kletterte er in die Grube hinunter und ging nahe heran, um sich das Ding genauer anzusehen. Selbst an dem Punkt wollte er sich noch einreden, die Sache ließe sich mit der Abkühlung des Körpers erklären, doch störend dabei war die Tatsache, dass die Schlacke nur am Ende des Zylinder abfiel.
Da bemerkte er, dass der kreisrunde Deckel des Zylinders sich ganz langsam drehte. Die Bewegung ging so allmählich vonstatten, dass sie ihm erst bewusst wurde, als ihm auffiel, dass ein schwarzer Fleck, der fünf Minuten zuvor in seiner Nähe gewesen war, sich jetzt auf der anderen Seite des Kreisumfangs befand. Selbst da verstand er noch nicht, was das zu bedeuten hatte, bis er ein gedämpftes Knirschen vernahm und den schwarzen Fleck ungefähr einen Zoll vorrücken sah. Mit einem Mal sah er klar. Der Zylinder war künstlich, er war hohl, und er hatte ein abschraubbares Ende! Irgendetwas in dem Zylinder schraubte den Deckel ab!
»Lieber Himmel!«, sagte sich Ogilvy. »Da ist jemand drin – da sind Menschen drin! Halb zu Tode gebraten! Die wollen raus!«
Mit einem raschen Gedankensprung stellte er sofort einen Zusammenhang zwischen dem Ding und dem Aufleuchten auf dem Mars her.
Die Vorstellung der armen Eingesperrten war ihm so grauenhaft, dass er die Hitze vergaß und auf den Zylinder zutrat, um drehen zu helfen. Zum Glück aber hielt ihn die dumpfe Wärmestrahlung auf, bevor er sich an dem noch glühenden Metall die Hände verbrennen konnte. Er blieb einen Moment unschlüssig stehen, dann drehte er sich um, kraxelte aus der Grube und rannte Hals über Kopf nach Woking. Zu dem Zeitpunkt muss es um sechs Uhr herum gewesen sein. Er begegnete einem Fuhrmann und versuchte, ihm die Sache begreiflich zu machen, aber seine Geschichte und sein Aufzug waren so wild – der Hut war ihm in der Grube heruntergefallen –, dass der Mann einfach weiterfuhr. Genauso wenig Glück hatte er bei dem Schankburschen, der gerade das Wirtshaus an der Horsell Bridge aufschloss. Der Mann hielt ihn für einen entlaufenen Irren und unternahm einen erfolglosen Versuch, ihn in der Schankstube einzusperren. Das brachte ihn ein wenig zur Besinnung, und als er Henderson, den Londoner Journalisten, im Garten sah, drückte er sich verständlich aus, als er über den Zaun rief.
»Henderson!«, rief er. »Haben Sie gestern Abend diese Sternschnuppe gesehen?«
»Und?«, sagte Henderson.
»Die liegt jetzt da draußen auf dem Horsell Common.«
»Alle Wetter«, sagte Henderson. »Ein Meteorit. Nicht übel.«
»Das ist aber was anderes als ein Meteorit. Es ist ein Zylinder – ein künstlicher Zylinder, Menschenskind! Und irgendwas ist da drin.«
Henderson richtete sich auf, den Spaten in der Hand.
»Wie war das?«, sagte er. Er war auf einem Ohr taub.
Ogilvy erzählte ihm alles, was er gesehen hatte. Henderson brauchte einen Moment, um es zu verarbeiten. Dann ließ er den Spaten fallen, schnappte sich seine Jacke und kam auf die Straße. Die beiden Männer eilten unverzüglich zum Common, wo der Zylinder noch so lag, wie Ogilvy ihn verlassen hatte. Jetzt aber hatten die Geräusche im Innern aufgehört, und zwischen Deckel und Korpus war ein dünner Ring hellen Metalls zu sehen. Mit leisem Zischen trat am Rand Luft entweder ein oder aus.
Sie lauschten, klopften mit einem Stock auf das schuppige verbrannte Metall, und da sie keine Antwort erhielten, kamen sie beide zu dem Schluss, der Mensch oder die Menschen im Innern müssten bewusstlos oder tot sein.
Selbstverständlich waren sie zu zweit außerstande, etwas zu unternehmen. Sie schrien Beruhigungen und Versprechungen und eilten wieder in die Stadt, um Hilfe zu holen. Man kann sich die beiden gut vorstellen, wie sie sandbeschmutzt, aufgeregt und konfus im hellen Sonnenschein durch die kleine Straße liefen, wo die Verkäufer gerade die Vorsetzläden von den Türen nahmen und die Leute ihre Schlafzimmerfenster aufmachten. Henderson begab sich sofort zum Bahnhof, um die Nachricht nach London zu telegraphieren. Die Zeitungsartikel hatten die Menschen für die Vorstellung zugänglich gemacht.
Als es acht Uhr schlug, hatten sich etliche Jungen und Arbeitslose schon auf den Weg zum Common gemacht, um sich »die toten Menschen vom Mars« anzusehen. In dieser Form machte die Geschichte die Runde. Ich hörte sie erstmals gegen Viertel vor neun von meinem Zeitungsjungen, als ich mir den Daily Chronicle holen ging. Ich staunte natürlich nicht schlecht und machte mich unverzüglich auf den Weg über die Brücke nach Ottershaw zu den Sandgruben.
Als ich eintraf, umstand eine kleine Ansammlung von vielleicht zwanzig Personen das gewaltige Loch, in dem der Zylinder steckte. Wie dieser Metallkoloss aussah, der sich da in den Boden gebohrt hatte, habe ich ja bereits beschrieben. Gras und Erde ringsherum waren verkohlt wie von einer Explosion. Zweifellos hatte der Aufprall eine Stichflamme verursacht. Henderson und Ogilvy waren nicht da. Ich glaube, sie hatten erkannt, dass man fürs Erste nichts tun konnte, und waren zu Henderson frühstücken gegangen.
Vier oder fünf Jungen saßen am Rand des Kraters, ließen die Beine baumeln und warfen aus Jux Steine auf das Riesending, bis ich ihnen Einhalt gebot. Nachdem ich sie zurechtgewiesen hatte, begannen sie, zwischen den Umstehenden Fangen zu spielen.
Unter diesen befanden sich zwei Radfahrer, ein Aushilfsgärtner, den ich zuweilen beschäftigte, eine junge Frau mit einem kleinen Kind auf dem Arm, der Schlachter Gregg und sein kleiner Sohn sowie zwei oder drei Herumtreiber, die sich bei Golfern als Schlägerträger verdingten und meistens am Bahnhof herumlungerten. Es wurde kaum geredet. Damals hatten nur wenige einfache Leute in England astronomische Kenntnisse, die mehr als ausgesprochen vage waren. Die meisten blickten stumm auf das große tischartige Ende des Zylinders, das sich nicht verändert hatte, seit Ogilvy und Henderson gegangen waren. Ich wage zu vermuten, dass die sensationslüsterne Erwartung eines Haufens verkohlter Leichen von diesem leblosen Klotz im Boden enttäuscht wurde. Einige gingen, während ich dort war, andere kamen. Ich stieg in die Grube hinunter und hatte den Eindruck, ein leises Rumoren unter meinen Füßen zu hören. Der Deckel hatte auf jeden Fall aufgehört, sich zu drehen.
Erst aus dieser Nähe ging mir überhaupt die Fremdartigkeit des Objekts auf. Auf den ersten Blick erregte es im Grunde nicht mehr Aufsehen als ein umgekippter Wagen oder ein über die Straße gestürzter Baum. Eigentlich eher weniger. Am ehesten sah es noch nach einer halbvergrabenen rostigen Gasboje aus. Es bedurfte einer gewissen wissenschaftlichen Bildung zu erkennen, dass die graue Schicht auf dem Ding kein gewöhnliches Oxid war, dass das gelblich weiße Metall, das in dem Spalt zwischen Deckel und Zylinder glänzte, einen unbekannten Farbton hatte. »Außerirdisch« war für die meisten der Gaffer ein nichtssagender Begriff.
Schon zu dem Zeitpunkt war mir völlig klar, dass das Ding vom Planeten Mars gekommen war, doch ich hielt es für unwahrscheinlich, dass sich Lebewesen darin befanden. Meines Erachtens geschah das Aufschrauben wohl automatisch. Ogilvy zum Trotz glaubte ich weiterhin, dass es auf dem Mars Menschen gab. Ich erging mich in lebhaften Phantasien über die womöglich mitgeführten Schriftstücke, über die vermutlich auftretenden Übersetzungsschwierigkeiten, über Münzen und Modelle, die sich vielleicht darin fanden, und so weiter. Doch sicher war ich mir dessen nicht, dafür war das Ding ein wenig zu groß. Ich konnte es kaum erwarten, dass es geöffnet wurde. Als gegen elf immer noch nichts geschah, ging ich, in solche und ähnliche Gedanken versunken, zu mir nach Hause in Maybury zurück. Aber es fiel mir schwer, weiter meiner abstrakten Geistesarbeit nachzugehen.
Am Nachmittag hatte sich die Szene auf dem Gemeindeland gründlich verändert. Die Frühausgaben der Abendzeitungen hatten London mit riesigen Schlagzeilen aufgerüttelt:
BOTSCHAFT VOM MARS
MERKWÜRDIGE MELDUNG AUS WOKING
und dergleichen mehr. Darüber hinaus hatte Ogilvys Telegramm an die Astronomischen Gesellschaften sämtliche Observatorien in den drei Königreichen alarmiert.
An der Chaussee bei den Sandgruben standen ein gutes halbes Dutzend Droschken vom Bahnhof Woking, eine Korbchaise aus Chobham und eine recht herrschaftliche Kutsche. Hinzu kam noch eine ziemliche Menge Zweiräder. Außerdem mussten trotz der Hitze an dem Tag recht viele Leute zu Fuß aus Woking und Chertsey gekommen sein, so dass alles in allem eine ansehnliche Menschenmenge versammelt war, darunter auch ein oder zwei modisch aufgeputzte Damen.
Es war glühend heiß, keine Wolke am Himmel, kein Lüftchen regte sich, und den einzigen Schatten warfen die wenigen verstreuten Kiefern. Die brennende Heide war gelöscht worden, doch das flache Gelände gegen Ottershaw war schwarz, so weit das Auge reichte, und immer noch stiegen Rauchsäulen in die Höhe. Ein geschäftstüchtiger Süßwarenhändler aus der Chobham Road hatte seinen Sohn mit einem Handwagen voll grüner Äpfel und Ingwerbier hergeschickt.
Als ich an den Rand des Kraters trat, erblickte ich darin eine kleine Gruppe Männer, Henderson, Ogilvy und einen hochgewachsenen Blondschopf, bei dem es sich um den Hofastronomen Stent handelte, wie ich später erfuhr, dazu mehrere Arbeiter mit Spaten und Spitzhacken. Stent gab mit klarer, hoher Stimme Anweisungen. Er stand auf dem Zylinder, der jetzt offenkundig viel kühler war. Sein Gesicht war gerötet und schweißüberströmt, und er schien sich über irgendetwas zu ärgern.
Einen großen Teil des Zylinders hatte man ausgegraben, das untere Ende steckte aber noch in der Erde. Als Ogilvy mich in der gaffenden Menge am Grubenrand erblickte, rief er mich sogleich zu sich hinunter und fragte mich, ob ich so gut wäre, Lord Hilton aufzusuchen, den zuständigen Gutsherrn.
Der wachsende Andrang, sagte er, werde für ihre Ausgrabungen langsam zu einer ernsten Behinderung, besonders die herumtollenden Jungen. Sie bäten um Aufstellung eines leichten Geländers und um Helfer, die die Leute zurückhielten. Gelegentlich, erzählte er mir, sei noch ein leises Rumoren in dem Gehäuse zu hören, den Arbeitern sei es jedoch nicht gelungen, den Deckel abzuschrauben, da sie nirgendwo anpacken könnten. Das Gehäuse mache den Eindruck, außerordentlich dick zu sein, und es sei denkbar, dass die leisen Geräusche, die wir hörten, ein lautes Lärmen im Inneren darstellten.
Ich tat ihm den Gefallen sehr gern, denn das verschaffte mir das Recht, innerhalb der geplanten Absperrung weiter aus nächster Nähe zuzuschauen. Ich traf Lord Hilton nicht zu Hause an, bekam aber die Auskunft, er werde mit dem Sechs-Uhr-Zug von Waterloo aus London zurückerwartet, und da es Viertel nach fünf war, ging ich nach Hause, trank eine Tasse Tee und begab mich dann zum Bahnhof, um ihn dort abzupassen.
Als ich an den Ort des Geschehens zurückkehrte, ging gerade die Sonne unter. Vereinzelte Grüppchen eilten von Woking herbei, und der eine oder andere machte sich auf den Heimweg. Die um die Grube versammelte Menge war angewachsen und zeichnete sich schwarz gegen das Zitronengelb des Himmels ab, etwa zweihundert Personen, schätzte ich. Erhobene Stimmen waren zu hören, und um die Grube herum schien es Rangeleien zu geben. Allerlei Phantasien zogen mir durch den Kopf. Als ich näher kam, hörte ich Stents Stimme:
»Zurück! Zurück!«
Ein Junge kam mir entgegengeeilt.
»Es dreht sich und bewegt sich«, rief er mir im Vorbeilaufen zu, »immer rum und num. Gefällt mir gar nicht. Ich verzieh mich lieber.«
Ich ging weiter und gesellte mich zu dem allgemeinen Gedränge und Geschiebe. Es waren bestimmt zwei-, wenn nicht dreihundert Leute, wollte mir jetzt scheinen, unter denen die wenigen Damen durchaus nicht die Zurückhaltendsten waren.
»Er ist in die Grube gefallen!«, rief einer.
»Zurück!«, forderten mehrere.
Die Menge geriet ein wenig ins Wanken, und ich drängelte mich durch die Reihen. Alle wirkten sehr aufgeregt. Aus der Grube tönte ein eigenartiges Brummen.
»Bitte«, rief Ogilvy, »seien Sie so gut und helfen Sie, diese Idioten zurückzuhalten! Wir wissen doch nicht, was in dem verdammten Ding drin ist, herrje!«
Ein junger Mann – ich glaube, er arbeitete in einem Geschäft in Woking – stand auf dem Zylinder und bemühte sich, wieder aus dem Loch hinauszuklettern. Die Menge hatte ihn hineingeschoben.
Das Ende des Zylinder wurde weiter von innen aufgeschraubt. Fast zwei Fuß des glänzenden Gewindes waren sichtbar. Jemand rempelte mich an, und um ein Haar hätte er mich auf den kreisenden Schraubdeckel gestoßen. Ich drehte mich um, und just in dem Moment musste das Gewinde ans Ende gelangt sein, denn der Deckel des Zylinders fiel mit einem dröhnenden Schlag auf den Kies. Ich rammte meinen Ellbogen in den hinter mir Stehenden und wandte den Kopf wieder dem Ding zu. Einen Moment lang war die kreisrunde Öffnung vollkommen schwarz. Die untergehende Sonne blendete mich.
Ich nehme an, alle erwarteten, einen Menschen hervorkommen zu sehen – im Aussehen vielleicht ein wenig anders als wir Erdenmenschen, aber in allen Wesenszügen ein Mensch. Ich erwartete es gewiss. Was ich jedoch wahrnahm, als ich hinschaute, waren so etwas wie graue Wellenbewegungen im Dunkel, eine über der anderen, und dann zwei augenähnliche schimmernde Scheiben. Darauf entwand sich der wimmelnden Mitte etwas wie eine kleine graue Schlange, ungefähr spazierstockdick, und ringelte sich in der Luft in meine Richtung. Dann noch eine.
Ein eiskalter Schauder überlief mich. Eine Frau weiter hinten stieß einen lauten Schrei aus. Ich drehte mich halb um, die Augen weiter auf den Zylinder gerichtet, aus dem jetzt noch mehr Tentakel quollen, und drängte vom Rand der Grube fort. Auf den Gesichtern der Leute ringsum wich das Erstaunen dem Grauen. Von allen Seiten erschollen unartikulierte Ausrufe. Eine allgemeine Rückwärtsbewegung begann. Der junge Mann mühte sich immer noch, über den Rand der Grube zu gelangen, und auf einmal stand ich allein da. Ich sah die Leute auf der anderen Seite der Grube davonlaufen, Stent darunter. Abermals schaute ich auf den Zylinder, und maßloses Entsetzen erfasste mich. Ich erstarrte zur Salzsäule.
Ein graues Etwas ungefähr von der Größe eines Bären stieg langsam und qualvoll aus dem Zylinder. Als es sich über den Rand erhob und vom Licht getroffen wurde, glänzte es wie feuchtes Leder. Zwei große dunkle Augen betrachteten mich unverwandt. Es war rundlich und hatte, könnte man sagen, ein Gesicht. Unter den Augen befand sich ein Mund, dessen lippenloser Rand zitterte und von Speichel troff. Der Rumpf hob und senkte sich mit krampfartigem Keuchen. Ein dünner tentakelartiger Fortsatz packte den Rand des Zylinders, ein anderer wedelte in der Luft.
Wer noch nie einen lebenden Marsianer gesehen hat, kann sich die Scheußlichkeit der Erscheinung kaum vorstellen. Der V-förmige Mund mit dem spitz zulaufenden Oberrand, das Fehlen von Augenbrauenwülsten, das Fehlen des Kinns unter dem keilförmigen Unterrand, das unablässige Zittern dieses Mundes, die gorgonenhaften Tentakelbüschel, das Rasseln der Lungen in der fremden Atmosphäre, die augenfällige Mühseligkeit und Schmerzhaftigkeit der Bewegungen wegen der größeren Gravitationskraft der Erde, vor allem aber die außerordentliche Intensität der übergroßen Augen – dies alles zusammen hatte eine regelrecht Übelkeit erregende Wirkung. Die ölig braune Haut hatte etwas Pilziges und die schwerfällige Bedächtigkeit der trägen Bewegungen etwas unsagbar Widerliches. Schon bei dieser ersten Begegnung, diesem ersten Anblick ergriffen mich Abscheu und Entsetzen.
Mit einem Mal verschwand das Monster. Es war über den Rand des Zylinders gekippt und schwer aufschlagend wie ein großer Klumpen Leder in die Grube gestürzt. Ich hörte, wie es einen eigentümlichen dumpfen Schrei ausstieß, und sogleich erschien ein zweites dieser Wesen schattenhaft in der dunklen Öffnung.
Da löste sich meine Schreckensstarre. Ich drehte mich um und lief wie von Sinnen vielleicht hundert Yards bis zur ersten Baumgruppe, doch ich lief seitlich verdreht und stolpernd, denn ich konnte den Blick nicht von diesen Wesen abwenden.
Zwischen jungen Kiefern und Ginstersträuchern blieb ich keuchend stehen und wartete die weiteren Entwicklungen ab. Das Gelände um die Sandgruben herum war mit Menschen übersät, die wie ich gebannt und erschrocken diese Kreaturen anstarrten oder vielmehr die Kieshaufen am Rand der Grube, in der sie lagen. Da erblickte ich mit neu aufflammendem Entsetzen etwas Rundes und Schwarzes, das immer wieder über den Rand der Grube lugte. Es war der Kopf des hineingefallenen jungen Mannes, zu sehen nur als ein kleiner schwarzer Umriss vor dem heißen Westhimmel. Jetzt war er mit Schulter und Knie über der Kante, doch abermals rutschte er ab, wie es aussah, und wieder war nur noch der Kopf zu sehen. Plötzlich verschwand er, und mir war fast, als wäre ein schwacher Schrei an mein Ohr gedrungen. Mein erster Impuls war, zurückzueilen und ihm zu helfen, doch meine Furcht war stärker.
Was dort vor sich ging, war nicht zu erkennen, denn die tiefe Grube und der durch den Einschlag des Zylinders aufgeworfene Sand verbargen alles. Wer von Chobham oder Woking die Straße hinunterkam, den musste der Anblick erstaunen: vielleicht noch etwas mehr als hundert verbliebene Personen, die in einem großen unregelmäßigen Kreis in Gräben, hinter Büschen, hinter Pforten und Hecken standen, außer kurzen erregten Rufen kaum etwas zueinander sagten und angestrengt auf ein paar Sandhaufen starrten. Der Handwagen mit Ingwerbier stach als herrenloses Kuriosum schwarz von dem brennenden Himmel ab, und an den Sandgruben stand eine Reihe verlassener Wagen, deren Pferde aus Futtersäcken fraßen oder mit den Hufen scharrten.
Nach meinem kurzen Eindruck davon, wie die Marsianer den Zylinder verließen, in dem sie von ihrem Planeten zur Erde gekommen waren, war ich wie gelähmt und gänzlich handlungsunfähig. Ich blieb knietief im Heidekraut stehen und starrte den Erdhaufen an, der sie verbarg. Furcht und Neugier kämpften in mir.
Ich traute mich nicht, wieder zur Grube zurückzugehen, doch ich hätte für mein Leben gern hineingespäht. Ich ging daher in einem weiten Bogen um sie herum und suchte einen günstigen Blickwinkel, wobei ich ständig auf die Sandhaufen schaute, die diese Neuankömmlinge auf unserer Erde vor uns abschirmten. Einmal zuckten mehrere dünne schwarze Stränge, die an Krakenarme erinnerten, peitschenartig über den Abendhimmel und wurden sofort zurückgezogen, und danach stieg Gelenk für Gelenk eine dünne Stange auf, an der Spitze eine kreisrunde Scheibe, die sich flatternd drehte. Was mochte dort vor sich gehen?
Die meisten Zuschauer hatten sich einer von zwei Gruppen angeschlossen, einer kleinen Ansammlung in Richtung Woking oder einem Menschenknäuel in Richtung Chobham. Offensichtlich waren sie in demselben inneren Zwiespalt wie ich. Nur wenige standen in meiner Nähe. An einen trat ich heran – es war ein Nachbar von mir, wie ich erkannte – und sprach ihn an, obwohl ich nicht wusste, wie er hieß. Doch ein richtiges Gespräch war unter den Umständen kaum möglich.
»Was für hässliche Missgeburten!«, sagte er. »Lieber Himmel! Was für hässliche Missgeburten!« Er wiederholte das mehrmals.
»Haben Sie einen Mann in der Grube gesehen?«, fragte ich, doch er gab keine Antwort darauf. Wir verstummten und blieben eine Weile Ausschau haltend nebeneinander stehen, wohl weil unsere Gesellschaft, nehme ich an, für uns beide etwas Erleichterndes hatte. Dann wechselte ich den Standort und stieg auf eine kleine Erhebung, auf der ich ein gutes Yard höher stand, und als ich mich nach ihm umschaute, hatte er sich auf den Weg nach Woking gemacht.
Das Abendrot verdämmerte, bevor noch mehr geschah. Die weiter weg gegen Woking stehende Menge zur Linken schien zu wachsen, und ein leises Raunen war jetzt von ihr zu hören. Das andere kleine Menschenknäuel zerstreute sich gegen Chobham. Nichts deutete darauf hin, dass sich in der Grube etwas bewegte.
Dieser Umstand vor allem flößte den Leuten Mut ein, und vermutlich trugen auch die Neuankömmlinge aus Woking dazu bei, dass die Zuversicht zurückkehrte. Auf jeden Fall setzte mit zunehmender Dämmerung ein langsamer, stockender Zug zu den Sandgruben ein, der anscheinend an Entschlossenheit gewann, je länger die Abendstille um den Zylinder anhielt. Aufrechte schwarze Gestalten rückten zu zweit und zu dritt vor, blieben stehen, schauten und rückten abermals vor, wobei sie sich zu einem unregelmäßigen Halbkreis auseinanderzogen, der mit seinen schmalen Enden die Grube in die Zange zu nehmen verhieß. Auch ich auf meiner Seite bewegte mich auf die Grube zu.
Ich sah, dass einige Kutscher und andere sich kühn auf das Grubengelände vorwagten, und hörte Hufe klappern und Räder knirschen. Ich sah einen jungen Burschen mit dem Apfelkarren abziehen. Auf einmal bemerkte ich ein kleines schwarzes Menschenknäuel, das aus der Richtung von Horsell näherrückte und noch dreißig Yards von der Grube entfernt war. Der Mann an der Spitze schwenkte eine weiße Fahne.
Das war die Abordnung. Es hatte eine hastige Beratung gegeben, und da die Marsianer trotz ihres widerwärtigen Äußeren offensichtlich intelligente Wesen waren, hatte man beschlossen, ihnen durch die Annäherung mit Friedenssignalen zu zeigen, dass auch wir intelligent waren.
Sie ließen die Fahne flattern, schwenkten sie nach rechts und nach links. Ich war zu weit entfernt, um jemanden zu erkennen, erfuhr aber hinterher, dass Ogilvy, Stent und Henderson mit anderen zusammen diesen Verständigungsversuch unternahmen. Diese kleine Gruppe hatte mit ihrem Vormarsch das Rund des inzwischen beinahe vollständig geschlossenen Menschenkreises sozusagen eingedellt, und etliche schattenhafte schwarze Gestalten folgten ihr in einem gewissen Sicherheitsabstand.
Plötzlich zuckte ein heller Blitz auf, und aus der Grube kam leuchtender grünlicher Rauch in drei deutlich abgesetzten kleinen Wolken, die nacheinander ganz gerade in die stille Luft stiegen.
Dieser Rauch (oder vielleicht sollte man besser diese Flamme sagen) war so hell, dass der dunkelblaue Himmel und die nur noch zu ahnenden braunen Heideflächen und schwarzen Kiefern Richtung Chertsey sich mit dem Aufsteigen der Wolken jäh verfinsterten und nach ihrer Auflösung auch so finster blieben. Gleichzeitig war ein leises Zischen zu hören.
Auf der anderen Seite der Grube geriet der kleine Menschenkeil mit der weißen Fahne an der Spitze durch diese Vorgänge ins Stocken, ein Häuflein kleiner aufrechter schwarzer Gestalten auf der schwarzen Erde. Als der grüne Rauch emporstieg, leuchteten ihre Gesichter blassgrün auf und verdunkelten sich wieder, als er sich verzog.
Dann ging das Zischen nach und nach in ein Brummen über, einen langgezogenen, lauten Basston. Langsam erhob sich eine Art Buckel aus der Grube, und ein dünner Lichtstrahl ging davon aus.
Im nächsten Moment sprangen in der verstreuten Menschengruppe Flammen gleißend hell von einem zum anderen. Es war, als ob ein unsichtbarer Strahl sie träfe und dabei weiß aufloderte. Es war, als ob jeder Einzelne schlagartig in Brand geriete.
Im Licht ihrer eigenen Verbrennung sah ich sie taumeln und stürzen und ihre Unterstützer sich zur Flucht wenden.
Fassungslos starrend begriff ich noch nicht, dass, was da in jener fernen Schar nacheinander auf alle übersprang, der Tod war. Ich merkte nur, dass es etwas Seltsames war. Ein nahezu geräuschloser blendender Lichtblitz, und ein Mann fiel der Länge nach zu Boden und blieb liegen. Der unsichtbare Hitzestrahl ging darüber hinweg, und schon brannten Kiefern lichterloh und wurde aus jedem trockenen Ginsterstrauch mit einem dumpfen Knall ein loderndes Feuer. Selbst weit entfernt gegen Knaphill gingen auf einmal Bäume, Hecken und Holzhäuser in Flammen auf.