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Impressum

Die Originalausgabe erschien 1989 unter dem Titel «Seeing Voices: A Journey into the World of the Deaf» im Verlag University of California Press, Berkeley/Los Angeles

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2019

Copyright © 1990 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«Seeing Voices» Copyright © 1989, 1990 by Oliver Sacks

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Covergestaltung any.way, Hamburg

Coverabbildung Umschlagillustration: Heidi Sorg

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ISBN 978-3-644-00089-6

www.rowohlt.de

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

ISBN 978-3-644-00089-6

Fußnoten

Obwohl mit dem Ausdruck «Gebärdensprache» in Amerika meist nur die Amerikanische Gebärdensprache ASL (= American Sign Language) bezeichnet wird, gebrauche ich ihn in diesem Buch für alle früheren und heutigen echten Gebärdensprachen (zum Beispiel die Amerikanische, die Französische, die Deutsche, die Jiddische und die «Old Kentish»-Gebärdensprache). Er bezieht sich jedoch nicht auf die in eine Gebärdenform übersetzten Lautsprachen (zum Beispiel eine englische Zeichensprache, «signed English» = «manuelles Englisch»), die lediglich Übertragungen und, was die Struktur betrifft, keine echten Gebärdensprachen sind.

Es liegen drei deutsche Übersetzungen dieser Fassung vor, veröffentlicht im Freibeuter 38, in Das Zeichen 5/88 und in Lettre international 10. Anm. d. Red.

Die vielen (zuweilen recht langen) Marginalien sollten als Exkurse des Denkens oder der Phantasie betrachtet und vom Leser, dem Mitreisenden, nach Belieben gelesen oder übergangen werden.

Diese Kollegin, Lucy K., beherrscht das Sprechen und Lippenlesen so hervorragend, daß ich ihre Gehörlosigkeit zunächst gar nicht bemerkt hatte. Erst als ich eines Tages, während wir uns unterhielten, zufällig den Kopf wandte und so unabsichtlich den Kommunikationsfluß unterbrach, wurde mir klar, daß sie mich nicht hörte, sondern mir von den Lippen ablas. (Diese komplexe Kunst der Beobachtung, der Ableitung und des intuitiven Ratens wird mit der Bezeichnung «Lippenlesen» nur äußerst unzureichend umschrieben.) Als bei ihr im Alter von zwölf Monaten die Diagnose «Taubheit» gestellt wurde, waren Lucys Eltern sich sofort darüber einig, daß ihre Tochter unbedingt sprechen lernen und Zugang zur Welt der Hörenden haben sollte, und ihre Mutter widmete sich jeden Tag einige Stunden lang einem intensiven Einzel-Sprechunterricht – eine mühsame, zwölf Jahre währende Arbeit. Erst dann (mit vierzehn Jahren) begann Lucy, die Gebärdensprache zu lernen; sie ist immer ihre zweite Sprache geblieben, eine Sprache, in der sie sich «nicht ganz zu Hause» fühlt. Da sie im Lippenlesen sehr geübt war und starke Hörgeräte trug, konnte sie auf der High School und am College am «normalen» Unterricht (für Hörende) teilnehmen und arbeitet jetzt mit hörenden Patienten in unserer Klinik. Sie selbst sieht ihre Situation mit gemischten Gefühlen: «Manchmal», sagte sie einmal, «fühle ich mich wie jemand, der zwischen zwei Welten steht und zu keiner von beiden wirklich gehört.»

Vor der Lektüre von Lanes Buch hatte ich meine wenigen gehörlosen Patienten unter rein medizinischen Gesichtspunkten betrachtet – als «Hörgeschädigte», als «Fälle für den Otologen». Nachdem ich es gelesen hatte, begann ich, sie in einem anderen Licht zu sehen, besonders wenn ich gewahr wurde, wie sich drei oder vier von ihnen intensiv und angeregt in der Gebärdensprache unterhielten, was mir zuvor nie aufgefallen war. Erst da fing ich an, sie nicht als Behinderte, sondern als Gehörlose, als Mitglieder einer anderen Sprachgemeinschaft zu betrachten.

Seit «Voices from Silent Hands» (Horizon, 1980) ist in England mindestens ein halbes Dutzend längerer Fernsehfilme über die Probleme Gehörloser gedreht worden. Auch in den Vereinigten Staaten sind viele solcher Filme entstanden (insbesondere einige von der Gallaudet University produzierte, zum Beispiel «Hands Full of Words»); der neueste und wichtigste von ihnen ist Frederick Wisemans breit angelegte, vierteilige Dokumentation «Deaf and Blind», die 1988 ausgestrahlt wurde. Auch in Spielfilmen kommen immer mehr Gehörlose vor. So war 1989 in der Januar-Folge von «Star Trek», die den Titel «Louder than a Whisper» trug, der gehörlose Schauspieler Howie Seago zu sehen, und zwar in der Rolle eines gehörlosen Botschafters von einem anderen Stern, der sich der Gebärdensprache bedient.

Als Wrights Buch 1969 erschien, traf dies in der Tat zu. Seitdem sind zahlreiche Bücher von Gehörlosen über die Gehörlosigkeit veröffentlicht worden. Das bemerkenswerteste ist das von den beiden gehörlosen Linguisten Carol Padden und Tom Humphries verfaßte «Gehörlose: Eine Kultur bringt sich zur Sprache». Es sind auch von Gehörlosen geschriebene Romane über Gehörlose erschienen, so zum Beispiel «Islay» von Douglas Bullard, das versucht, die besondere Wahrnehmungsweise, den Gedankenfluß, die innere Sprache jener wiederzugeben, die sich der Gebärdensprache bedienen.

Wright verwendet zur Bezeichnung derartiger Erfahrungen Wordsworths Ausdruck «Augenmusik», auch wenn sich diesen Erfahrungen keine auditiven Phantasmen beimischen. Ähnlich drücken sich verschiedene gehörlose Schriftsteller aus, wenn sie ihren Sinn für Gestalt und für Schönheit metaphorisch umschreiben. Der Ausdruck «Augenmusik» tritt besonders im Zusammenhang wiederkehrender Motive («Rhythmen», «Konsonanzen» usw.) der Gebärdendichtung auf.

Es gibt natürlich einen «Konsens» der Sinne – man hört, sieht, fühlt, riecht Objekte, und zwar gleichzeitig, im selben Augenblick; Hören, Sehen, Riechen, Fühlen gehören zusammen. Zu dieser Korrespondenz kommt es durch Erfahrung und Assoziation. Normalerweise ist dies etwas, dessen wir uns gar nicht bewußt sind; sehr überrascht wären wir hingegen, wenn sich etwas nicht so anhören würde, wie es aussieht, wenn unsere Sinne uns unvereinbare Eindrücke übermittelten. Es kann jedoch geschehen, daß uns die Korrespondenz unserer Sinne sehr unvermittelt und überraschend bewußtgemacht wird, wenn wir plötzlich einen Sinn verlieren oder einen hinzugewinnen. So «hörte» David Wright Sprache, als er das Gehör verlor; ein an Anosmie leidender Patient von mir «roch» Blumen, wenn er welche sah; ein von Richard Gregory beschriebener Patient (in «Recovery from Early Blindness : A Case Study» ; Nachdruck in Gregory 1974) konnte nach einer Operation, die ihm das Augenlicht zurückgab, sofort die Uhr lesen: Vorher hatte er die Uhrzeit an den Zeigern einer Uhr ohne Glas abgetastet, aber nun, da er sehen konnte, war er in der Lage, eine sofortige «transmodale» Übertragung vom taktilen zum visuellen Eindruck vorzunehmen.

Das Hören (das heißt Imaginieren) «geisterhafter» Stimmen beim Lippenlesen ist recht charakteristisch für die nach dem Spracherwerb Ertaubten, für die Sprache (und «innere Sprache») einst eine auditive Erfahrung gewesen ist. Daher handelt es sich hierbei nicht um eine Einbildung im gewöhnlichen Sinn des Wortes, sondern vielmehr um eine (auf Erfahrung und Assoziation basierende) sofortige und automatische «Umsetzung» des visuellen Eindrucks in sein auditives Pendant–eine Umsetzung, die vermutlich in den visuell-auditiven Schaltungen, die entstanden sind, als das Gehör noch funktionierte, ihreneurologische Grundlage hat. Bei den Taubgeborenen oder vor dem Spracherwerb Ertaubten, die auf keine auditiven Erfahrungen oder Vorstellungen zurückgreifen können, ist dies natürlich nicht der Fall. Für sie ist Lippenlesen – und auch normales Lesen – eine gänzlich visuelle Erfahrung; sie sehen die Stimme, hören sie aber nicht. So schwer es für uns als Sprechende und Hörende ist, uns auch nur eine Vorstellung von einer solchen visuellen Stimme zu machen, so ist es für die, welche nie etwas gehört haben, fast unmöglich, sich eine vernehmbare Stimme vorzustellen.

Ich möchte hinzufügen, daß Taubgeborene ein hochentwickeltes Gefühl für die geschriebene Sprache haben können, obwohl sie nicht über das Gehör zu ihnen «spricht». Sie spricht zu ihnen, so muß man annehmen, auf eine ganz und gar visuelle Art: Die «Stimme» der Worte wird von ihnen nicht gehört, sondern gesehen.

Wenn wir lesen oder uns vorstellen, daß uns jemand anspricht, «hören» wir mit dem inneren Ohr eine Stimme. Wie aber verhält es sich bei Gehörlosen? Wie stellen sie sich Stimmen vor? Clayton Valli, ein taubgeborener Gebärdendichter, spürt, wie sein Körper winzige Gebärden von sich gibt, wenn ein Gedicht in ihm entsteht. Er spricht gleichsam mit eigener «Stimme» zu sich. Was aber geschieht, wenn die Stimme anderer Menschen in der Vorstellung, einer Halluzination oder im Traum erklingt? Verrückte «hören» oft anklagende, schimpfende, schmeichelnde «Stimmen» anderer Menschen. Können Gehörlose, wenn sie verrückt werden, auch «Stimmen sehen»? Und, wenn ja: Wie werden diese Stimmen gesehen? Als gebärdende Hände irgendwo in der Luft oder als vorgestellte Menschenkörper, die Gebärden hervorbringen? Ich habe es als außerordentlich schwierig empfunden, eine klare Antwort auf diese Frage zu erhalten, so wie es mit Mühen verbunden ist, von einem Gehörlosen, der geträumt hat, zu erfahren, wie er denn träumt. Im Traum erfährt er etwas Sinnvolles. Aber ob sich der Trauminhalt ihm bildlich oder akustisch vermittelt und wie dies geschieht, kann er nicht angeben. Es gibt eben nur wenige Studien über Halluzinationen, Träume und Sprachvorstellungen bei Gehörlosen.

Die Frage, wie Gehörlose nach wie vor zu «hören» imstande sind, entspricht ungefähr der Frage, wie Erblindete im späteren Leben noch «sehen» und auf diese oder jene Weise, sei es im Traum, sei es im Wachzustand, in einer «visuellen Welt» leben. Das in dieser Hinsicht bemerkenswerteste autobiographische Zeugnis stammt von John Hull (1990) : «Während der ersten Jahre nach der Erblindung gehörten die Menschen, an die ich dachte, zwei Gruppen an. Auf der einen Seite befanden sich die Menschen mit Gesichtern, auf der anderen Seite die gesichtslosen Menschen … Jene, die ich vor der Erblindung gekannt hatte, besaßen Gesichter, und jene, die ich danach kennengelernt hatte, waren gesichtslos … mit der Zeit vergrößerte sich der Anteil der gesichtslosen Menschen.» Traf Hull Bekannte aus früheren Zeiten, drängten sich ihm im Gespräch deutliche Bilder der Gesichter auf. Allerdings beruhten diese Bilder auf den letzten Gesichtseindrücken vor der Erblindung. Deshalb waren sie bald überholt. Bei anderen Menschen, von denen er keine visuellen Gedächtnisspuren besaß, entwickelte er unbeherrschbare visuelle «Projektionen» (die man vielleicht mit Wrights Hör-«Phantasmen» oder mit den Phantomgliedern von Amputierten vergleichen kann: Derartige «Sinnesgespenster» entstehen, wenn das Gehirn vom normalen sensorischen Input schlagartig abgeschnitten wird).

Hull meint, daß er mit den Jahren zusehends in das abglitt, was er «Tiefenblindheit» nennt. Diese zeichnet sich durch immer weniger Erinnerungen an Bilder, durch schwächer werdende bildliche Vorstellungen und durch das abnehmende Bedürfnis nach Bildern aus. Statt dessen entwickelt sich der Sinn des «ganz sehenden Körpers», der in einer abgeschlossenen, eigengesetzlichen Welt leiblicher Empfindungen (Tasten, Geruch, Geschmack und natürlich Gehör) lebt, wobei diese Sinnesbereiche ineinandergreifen. Im Sprechen bedient er sich wie früher visueller Bilder und Vergleiche, doch nehmen diese für ihn zusehends die Rolle bloßer Metaphern ein. Es ist ebenso zu vermuten, daß jene, die in späteren Lebensjahren ertauben, nach und nach ihre akustischen Gedächtnisspuren und Vorstellungen verlieren, wenn sie in die ausschließlich visuelle Welt der «Tiefentaubheit» abgleiten. Als man Wright fragte, ob er in seinem jetzigen Taubheitszustand das Gehör zurückwünschte, verneinte er die Frage, denn er empfand seine Welt als vollkommen.

Dies ist die übliche Ansicht, die nicht ganz stimmt. Taubgeborene erleben weder eine völlige «Stille», noch klagen sie darüber (ebensowenig wie Blinde «Dunkelheit» erleben und beklagen). Das sind nur unsere Projektionen, unsere Metaphern für ihren Zustand. Darüber hinaus können absolut Gehörlose eine Wahrnehmung für die verschiedensten Geräusche ausbilden, ein überaus feines Gespür für Schwingungen aller Art besitzen. Diese Sensitivität für Schwingungen kann sich zu einer Art von zusätzlichem Sinn entwickeln: So ist Lucy K., obwohl sie völlig taub ist, in der Lage, einen Akkord sofort als «Quint» zu identifizieren, wenn sie die Hand auf das Klavier legt, und sie kann sehr verstärkte Telefonstimmen deuten. In beiden Fällen scheint sie nicht Geräusche, sondern Schwingungen wahrzunehmen. Die Entwicklung des sensitiven Wahrnehmens von Schwingungen zu einem zusätzlichen Sinn weist einige Analogien zur Entwicklung einer «Gesichtswahrnehmung» bei Blinden auf (wobei das Gesicht zum Empfang einer Art von sonaren Informationen dient).

Hörende nehmen im allgemeinen Schwingungen oder Schall wahr: So kann ein sehr tiefes C (unterhalb der Klaviatur) als ein tiefes C oder als ein tonloses Vibrieren von sechzehn Schwingungen pro Sekunde wahrgenommen werden. Noch eine Oktave tiefer würden wir nur ein Vibrieren, eine Oktave höher (32 Schwingungen pro Sekunde) einen sehr tiefen Ton ohne Vibration wahrnehmen. Die Wahrnehmung von «Tönen» innerhalb des Hörbereichs ist eine Art synthetischen Urteils, eine Art Konstrukt der normal entwickelten Hörbahn (vgl. Helmholtz, «Die Lehre von den Tonempfindungen», 1862). Wenn dieses Konstrukt, wie bei absolut Gehörlosen, nicht geschaffen werden kann, scheint es zu einer deutlichen Erweiterung der Vibrationsempfindung in Bereiche zu kommen, in denen Schwingungen von Hörenden als Töne wahrgenommen werden, und zwar selbst im mittleren Frequenzbereich, in dem wir Musik und Sprache hören.

Isabelle Rapin betrachtet Gehörlosigkeit als behandelbare oder vielmehr vermeidbare Form geistiger Zurückgebliebenheit (siehe Rapin 1979).

Zwischen Gehörlosen und Blinden (und zu normaler Wahrnehmung fähigen Menschen) lassen sich faszinierende Unterschiede im Wesen und in ihrem Verhältnis zur Welt feststellen. Vor allem blinde Kinder neigen dazu, «hyperverbal» zu werden, das heißt statt visueller Vorstellungen ausführliche verbale Beschreibungen zu verwenden und so die Visualität zu verleugnen und durch Verbalität zu ersetzen. Dadurch kommt es, so die Analytikerin Dorothy Burlingham, zum Aufbau eines pseudovisuellen «falschen Selbst», zu dem Anschein, das Kind könne sehen, auch wenn dies keineswegs der Fall ist (Burlingham 1972). Es sei, schreibt sie, von entscheidender Bedeutung zu sehen, daß blinde Kinder ein völlig anderes Profil und «Wesen» haben–eines, das eine völlig andere Erziehung und Sprache erfordert–, und sie nicht als behindert, sondern einfach als andere Menschen mit einer ganz eigenen Art zu betrachten. In den dreißiger Jahren, als ihre ersten Untersuchungen publiziert wurden, war das eine revolutionäre Einstellung. Es wäre gut, wenn es vergleichbare psychoanalytische Studien über gehörlos geborene Kinder gäbe–eine Aufgabe für jemanden, der, wenn er nicht selbst gehörlos ist, so doch die Gebärdensprache wenigstens fließend, am besten von Kindheit an, beherrscht.

Victor, das Wilde Kind, wurde 1799 in den Wäldern um Aveyron entdeckt. Er ging auf allen vieren, ernährte sich von Eicheln und lebte wie ein Tier. Als man ihn 1800 nach Paris brachte, erregte er unter Philosophen und Pädagogen enormes Interesse: Wie dachte er? Konnte man ihn erziehen? Der Arzt Jean Marc Gaspard Itard, bekannt auch – ob zu Recht, sei dahingestellt – als Sachverständiger in Fragen der Gehörlosigkeit, nahm den Jungen bei sich auf und versuchte, ihm Sprechen beizubringen und ihn zu erziehen. Itards erster Bericht über die Entwicklung Victors erschien 1801, der zweite 1807 (vgl. Itard 1972). Harlan Lane hat ihm ein Buch gewidmet, in dem er sich unter anderem Gedanken über den Unterschied zwischen «wilden» Kindern und Taubgeborenen macht (Lane 1985).

Das romantisierende Denken des 18. Jahrhunderts, für das Rousseaus Schriften ein so berühmtes Beispiel sind, lastete alle Ungleichheit, alles Unglück, alle Schuld, alle Beengungen der Zivilisation an und fand Unschuld und Freiheit nur in der Natur, im Naturzustand: «Der Mensch ist frei geboren und liegt doch überall in Ketten.» Das erschreckende Bild, das Victor bot, wirkte hier als eine Art Korrektiv und vermittelte die Erkenntnis, daß es, so Clifford Geertz, «eine von der Kultur losgelöste menschliche Natur nicht gibt. Menschen ohne Kultur wären nicht... der aus der Natur erwachsende Adel, der den Primitivisten der Aufklärung vorschwebte ... Sie wären unbewegliche Monstrositäten, die über sehr wenige nützliche Instinkte, noch weniger erkennbare Gefühle und keinen Intellekt verfügten – hoffnungslos geistig Zurückgebliebene ... Da unser zentrales Nervensystem - und ganz besonders sein krönender Fluch und Segen, der Neokortex – zum größten Teil in der Interaktion mit Kultur gewachsen ist, ist es nicht fähig, unser Verhalten zu steuern oder unsere Erfahrung zu organisieren, ohne auf die Führung durch Systeme bedeutungstragender Symbole zurückzugreifen... Kurz: Wir sind unvollkommene oder unvollendete Tiere, die sich durch Kultur vervollkommnen oder vollenden» (Geertz 1973, S. 49).

Schon im 16. Jahrhundert hatte man einigen gehörlosen Kindern adliger Familien in jahrelangem Privatunterricht Sprechen und Lesen beigebracht, damit sie vor dem Gesetz als Personen anerkannt wurden (Stumme galten nicht als Personen im juristischen Sinne) und Vermögen und Titel erben konnten. Pedro Ponce de León im Spanien des 16. Jahrhunderts, die Braidwoods in Großbritannien, Amman in Holland und Pereire und Deschamps in Frankreich – sie alle waren hörende Lehrer, die einigen Gehörlosen mit mehr oder weniger Erfolg Sprechen beibrachten. Lane betont, daß viele dieser Lehrer dabei auf Zeichen und ein Fingeralphabet zurückgriffen. In der Tat kannten und benutzten selbst die berühmtesten ihrer sprechenden gehörlosen Schüler eine Gebärdensprache. Ihre gesprochene Sprache war gewöhnlich nur schwer verständlich und verkümmerte meist, sobald die Schüler keinen intensiven Unterricht mehr erhielten. – Vor 1750 aber bestand für die große Mehrheit von 99,9 Prozent der Gehörlosen überhaupt keine Hoffnung auf Unterricht und Förderung.

Es hat allerdings auch ausschließlich Schriftsprachen gegeben, zum Beispiel die Gelehrtensprache, deren sich die chinesische Oberschicht mehr als tausend Jahre lang bediente und die nie gesprochen wurde und auch gar nicht gesprochen werden sollte.

Der Einfluß seines Zeitgenossen Rousseau ist bei de l'Epée, wie auch bei allen anderen im 18. Jahrhundert verfaßten Beschreibungen der Gebärdensprache, deutlich zu spüren. In seiner «Abhandlung über den Ursprung und die Gründe der Ungleichheit unter den Menschen» und seinem «Essay über den Ursprung der Sprache» formuliert Rousseau seine Vorstellung von einer ursprünglichen menschlichen Sprache, in der alles seinen wahren und natürlichen Namen hat, einer Sprache, die so konkret, so eigentümlich ist, daß sie die Essenz, die «Ist-heit» aller Dinge erfassen kann; sie müsse, so Rousseau, so spontan sein, daß sie alle Gefühle direkt auszudrücken vermag, und so transparent, daß man mit ihr unter keinen Umständen täuschen oder ausweichen kann. Eine solche Sprache würde weder Logik noch Grammatik, weder Metaphern noch Abstraktionen besitzen (und auch gar nicht brauchen) – sie würde keine mittelbare Sprache, kein symbolischer Ausdruck von Gedanken und Gefühlen, sondern, wie durch Zauberkraft, ein unmittelbares Medium sein. Vielleicht ist die Vorstellung einer solchen Sprache – einer Sprache des Herzens, einer Sprache von vollkommener Transparenz und Klarheit, einer Sprache, die alles ausdrücken kann, ohne uns zu täuschen oder zu verwirren (Wittgenstein sprach oft von Verzauberung durch Sprache), einer Sprache, die so rein und tief wie Musik ist – ein universaler Traum.

** Die Annahme, die Gebärdensprache sei überall gleich und universal und ermögliche es Gehörlosen aus aller Welt, problemlos miteinander zu kommunizieren, ist so weitverbreitet wie falsch. Es gibt Hunderte verschiedener Gebärdensprachen, die sich überall dort entwickelt haben, wo eine ausreichende Zahl von Gehörlosen miteinander in Kontakt stand. So gibt es eine Amerikanische Gebärdensprache, eine Britische Gebärdensprache, eine Französische Gebärdensprache, eine Deutsche Gebärdensprache, eine Chinesische Gebärdensprache, eine Maya-Gebärdensprache, wobei zwischen diesen und gesprochenem Englisch, Französisch, Chinesisch usw. keinerlei Verbindung besteht. (Mehr als fünfzig eigenständige Gebärdensprachen, von der Zeichensprache der australischen Eingeborenen bis zur Jugoslawischen Gebärdensprache, sind in Van Cleve 1987 beschrieben.)

Hughlings-Jacksons Schriften über Sprache und Aphasie sind in einem kurz nach seinem Tod erschienenen Band der Fachzeitschrift Brain übersichtlich zusammengefaßt (Hughlings-Jackson 1915). Die angemessenste Würdigung des Jacksonschen Begriffs «propositionales Denken» findet sich im dritten Kapitel von «Aphasia and Kindred Disorders of Speech» von Henry Head.

Tatsächlich verleiteten ihn sein Unwissen oder seine Skepsis in diesem Punkt dazu, sein gänzlich überflüssiges, ja absurdes System der «methodischen Gebärden» zu entwickeln und einzuführen, das die Bildung und Kommunikation der Gehörlosen in gewisser Weise hemmte. De l'Epées Einstellung zur Gebärdensprache war gleichermaßen von Begeisterung und Geringschätzung geprägt. Einerseits betrachtete er sie als «universale» Sprache, andererseits glaubte er, sie sei grammatikalisch unstrukturiert (weswegen eine Übertragung beispielsweise der französischen Grammatik erforderlich sei). Dieser Irrtum währte sechzig Jahre, bis Sicards Schüler Roch-Ambroise Bébian, der klar erkannte, daß die eingeführte Gebärdensprache vollständig und autonom war, die «methodischen Gebärden», die aufgesetzte Grammatik abschaffte.

In seinem Buch «Mit der Seele hören», das Harlan Lane als Romancier, Biograph und Historiker geschrieben hat, schlüpft der Autor in die Person von Clerc und erzählt die frühe Geschichte der Gehörlosen aus dessen Perspektive. Da die entscheidenden Entwicklungen, in denen Clerc eine bedeutende Rolle spielte, während seines langen und erfüllten Lebens stattfanden, ist seine «Autobiographie» eine wunderbare persönliche Geschichte der Gehörlosen.

Laurent Clercs Verpflichtung als Gehörlosenlehrer und seine Übersiedlung nach Amerika ist ein beliebter Bestandteil der Geschichte und Folklore der Gehörlosen. Es heißt, der Geistliche Thomas Gallaudet habe ein paar Kinder in seinem Garten spielen sehen, und dabei sei ihm aufgefallen, daß ein Mädchen sich nicht an den Spielen beteiligte. Gallaudet fand heraus, daß sie Alice Cogswell hieß – und taub war. Er versuchte selbst, sie zu unterrichten, und sprach mit ihrem Vater Mason Cogswell, einem Arzt aus Hartford, über die Gründung einer Schule für Taubstumme (es gab bis dahin keine Gehörlosenschulen in den Vereinigten Staaten).

Gallaudet fuhr nach Europa, um einen Lehrer zu suchen, jemanden, der eine Taubstummenschule in Hartford aufbauen oder dabei behilflich sein konnte. Zunächst begab er sich nach England und besuchte eine der Braidwood-Schulen, eine jener im 18. Jahrhundert gegründeten «Sprechschulen», wurde dort jedoch recht kühl empfangen: Man gab ihm zu verstehen, daß die «oralistische» Methode «geheim» sei. Nach diesen Erfahrungen in England reiste er nach Paris und lernte Laurent Clerc kennen, der am Institut für Taubstumme lehrte. Vor die Frage gestellt, ob er, der selbst taubstumm war und sein Geburtsland Frankreich nie verlassen, ja sich bis dahin kaum einmal aus dem Umkreis des Instituts entfernt hatte, bereit sei, mitzukommen und das Wort (die Gebärde) nach Amerika zu bringen, willigte Clerc ein, und gemeinsam brachen sie auf; während der 52 Tage dauernden Überfahrt nach Amerika lehrte er Gallaudet die Gebärdensprache, und Gallaudet brachte ihm Englisch bei. Bald nach ihrer Ankunft begannen sie damit, Spenden zu sammeln – sowohl die Öffentlichkeit als auch die Regierung zeigten sich begeistert und großzügig –, und im folgenden Jahr eröffneten sie mit Mason Cogswell die Lehranstalt in Hartford. Auf dem Gelände der Gallaudet University steht heute ein Denkmal, das Thomas Gallaudet und Alice beim Unterricht darstellt.

Diese Atmosphäre ist auf jeder Seite des anrührenden Buches «The Deaf and the Dumb» (Hitchcock 1836) zu spüren, dessen Verfasser, Edwin John Mann, ehemals Schüler in Hartford war.

** Wir haben zuwenig direkte Kenntnis von der Entstehung der ASL, besonders was die ersten fünfzig Jahre betrifft, als eine weitreichende Vermischung stattfand und die Französische Gebärdensprache amerikanisiert wurde (vgl. Fischer 1978 und Woodward 1978). 1867 bestand bereits eine breite Kluft zwischen der Französischen Gebärdensprache und der neuen Mischform ASL – Clerc hat selbst darauf hingewiesen –, und diese Kluft hat sich in den darauffolgenden hundertzwanzig Jahren noch vergrößert. Dennoch gibt es noch immer starke Ähnlichkeiten zwischen diesen beiden Sprachen – immerhin so viele, daß sich amerikanische Gehörlose in Paris einigermaßen zurechtfinden. Hingegen haben sie große Schwierigkeiten, die Britische Gebärdensprache, die sich aus völlig anderen, englischen, Ursprüngen entwickelt hat, zu verstehen.

Gewachsene regionale Gebärdensprachen können sich extrem voneinander unterscheiden; ein gehörloser Amerikaner, der vor 1817 durch die Vereinigten Staaten reiste, war mit Gebärdendialekten konfrontiert, die er nicht verstehen konnte. Und in England ging die Standardisierung so langsam vonstatten, daß bis vor recht kurzer Zeit vielfach selbst Gehörlose aus benachbarten Dörfern Verständigungsschwierigkeiten hatten.

Der alte Ausdruck «taubstumm» bezog sich auf die angebliche Unfähigkeit zu sprechen, die man den gehörlos Geborenen unterstellte. Dabei sind sie natürlich durchaus in der Lage zu sprechen – sie haben den gleichen Sprachapparat wie alle anderen; was ihnen fehlt, ist die Fähigkeit, sich selbst sprechen zu hören und so den Klang ihrer Sprache vermittels des Gehörs zu steuern. Ihre Aussprache mag daher in Lautstärke und Modulation von der Norm abweichen, und die Auslassung vieler Konsonanten und anderer Sprechlaute kann ein solches Ausmaß annehmen, daß ihre Äußerungen manchmal nicht zu verstehen sind. Da Gehörlose ihre Sprache nicht durch Hören steuern können, müssen sie lernen, sich dazu anderer Sinne zu bedienen – des Sehens, Fühlens, der Schwingungssensibilität und der Kinästhesie. Hinzu kommt, daß die Taubgeborenen oder vor dem Spracherwerb Ertaubten kein Hörbild besitzen, keine Vorstellung, wie sich Sprache wirklich anhört, keine Vorstellung von einer Verbindung zwischen Klang und Bedeutung. Ein seinem Wesen nach auditives Phänomen muß mit nichtauditiven Mitteln erfaßt und gesteuert werden. Das wirft enorme Probleme auf, und es kann Tausende Stunden individuellen Unterrichts erfordern, dieses Ziel zu erreichen.

Darin liegt der Grund, warum die Stimmen von präverbal und postverbal Gehörlosen gewöhnlich sehr unterschiedlich klingen und auf Anhieb voneinander zu unterscheiden sind; die Ertaubten erinnern sich, wie man spricht, während die Taubgeborenen es lernen müssen, ohne eine solche Erinnerung und einen Sinn dafür, wie Sprache klingt.

Obwohl Bell von den Gehörlosen als eine Art Menschenfresser betrachtet wurde (George Veditz, ehemaliger Präsident der National Association of the Deaf und Leitfigur der Gehörlosen, bezeichnete ihn als «den Feind, den die amerikanischen Gehörlosen am meisten zu fürchten haben»), sollte auch darauf hingewiesen werden, daß er einmal gesagt hat: «Ich glaube, wenn wir, ohne Rücksicht auf die Sprache, ausschließlich die geistige Verfassung des Kindes in Betracht ziehen, so werden wir zu dem Schluß kommen, daß keine Sprache so geeignet ist, diesen Geist anzusprechen, wie die Gebärdensprache; sie ist die Methode, mit der es gelingen kann, den Geist eines tauben Kindes zu erreichen.»

Auch war er, was die Gebärdensprache betrifft, keineswegs unwissend; im Gegenteil: «er beherrschte die Gebärdensprache fließend und so gut wie jeder Taubstumme...  [er] bewegte seine Finger mit zauberischer Eleganz und Leichtigkeit», schrieb sein gehörloser Freund Albert Ballin. Ballin bezeichnete Beils Interesse an den Gehörlosen auch als «Hobby» – es hat jedoch eher den Anschein, als habe es sich dabei um eine starke und konfliktreiche Fixierung gehandelt (vgl. Gannon 1981, S. 78f).

Heute sind viele Gehörlose praktisch Analphabeten. Eine 1972 vorgenommene Studie des Gallaudet College ergab, daß die durchschnittliche Lesefertigkeit eines achtzehnjährigen gehörlosen Schulabgängers in den Vereinigten Staaten der eines Viertkläßlers entsprach, und eine Untersuchung des britischen Psychologen R. Conrad deutet darauf hin, daß die Situation in England ähnlich ist: Beim Schulabgang weisen gehörlose Schüler im Lesen den Entwicklungsstand eines Neunjährigen auf (Conrad 1979).

Schicksale von Gehörlosen sind natürlich noch in anderen Romanen gestaltet worden, zum Beispiel in Carson McCullers' «Das Herz ist ein einsamer Jäger» (1940). Die Figur des Mr. Singer, eines einsamen tauben Mannes in einer Welt der Hörenden, unterscheidet sich jedoch deutlich von den Protagonisten in Hannah Greens Roman, die sich ihrer Identität als Gehörlose sehr bewußt sind. In den dreißig Jahren, die zwischen dem Erscheinen dieser beiden Bücher liegen, ist es zu gewaltigen gesellschaftlichen Veränderungen gekommen, zu Veränderungen der sozialen Lebensauffassung und, damit einhergehend, zur Entstehung eines neuen Selbstbewußtseins.

Es muß betont werden, daß sich diesen Kindern, auch wenn sie früh ein Gebärdenvokabular entwickeln, die Grammatik der Gebärdensprache im selben Alter und auf dieselbe Weise erschließt wie hörenden Kindern die Grammatik der Lautsprache. Die Sprachentwicklung nimmt also bei allen Kindern, bei gehörlosen wie bei solchen mit intaktem Gehör, den gleichen zeitlichen Verlauf. Wenn Gebärden früher in Erscheinung treten als Sprachlaute, dann deshalb, weil sie einfacher zu verwirklichen sind, denn sie setzen vergleichsweise einfache und langsame Muskelbewegungen voraus, wogegen die gesprochene Lautsprache auf der unmittelbaren Koordination unzähliger verschiedenartiger Strukturen beruht. Diese Koordination ist erst im zweiten Lebensjahr erreichbar. Es ist allerdings bemerkenswert, daß ein taubgeborenes Kind bereits im vierten Lebensmonat mit einer Gebärde «Milch» bezeichnen kann, während ein Kind mit Gehör in solchen Fällen nur schreit oder hilflos um sich blickt. Vielleicht wäre allen Kleinkindern geholfen, wenn sie einige Gebärden kennten!

Man mag durch Beobachtungen zu der Vermutung kommen, daß eine Gehörlosigkeit vorliegt; sie eindeutig nachzuweisen ist jedoch während des ersten Lebensjahres schwer. Wenn daher bei einem Kind Verdacht auf Taubheit besteht – etwa weil in der Familie bereits Fälle von Gehörlosigkeit aufgetreten sind oder weil es nicht auf unvermittelte Geräusche reagiert –, sollte man es bestimmten physiologischen Hörtests unterziehen (dabei werden die sogenannten akustisch evozierten Potentiale im Hirnstamm gemessen). Dieser relativ einfache Test kann bereits in der ersten Lebenswoche einen Verdacht auf Gehörlosigkeit ausschließen oder bestätigen.

Sicard hat sich ein solches Gemeinwesen vorgestellt: «Könnte es nicht in einem Winkel der Welt eine ganze Gesellschaft gehörloser Menschen geben? Wohlan! Würden wir diese Menschen für minderwertig halten, würden wir glauben, es mangele ihnen an Intelligenz und Verständigung? Gewiß hätten sie eine Gebärdensprache, vielleicht gar eine Sprache, die an Ausdrucksmitteln reicher wäre als unsere. Diese Sprache wäre wenigstens eindeutig und gäbe immer ein genaues Bild der Gemütsregungen. Warum also sollte dieses Volk als unzivilisiert gelten? Warum sollte es nicht über Gesetze, eine Verwaltung, eine Polizei verfügen, die sich weniger argwöhnisch zu den Menschen verhielten als die unseren? [Lane 1984, S. 89f]»

Eine ähnliche Vision hatte auch der ebenso zu Übertreibungen neigende Alexander Graham Bell, doch verkehrte sich in seiner Version die von Sicard gezeichnete Idylle zu einem Schreckensbild. Zu seiner 1883 verfaßten, von Furcht diktierten Denkschrift, die Vorschläge für drakonische Maßnahmen enthielt, wie man mit den Gehörlosen «fertig werden» könne, war er durch seine Erfahrungen auf Martha's Vineyard angeregt worden (siehe weiter unten). Beides – die Idylle wie der Schrecken – finden sich in H.G. Wells' grandioser Erzählung «Das Land der Blinden».

Die Gehörlosen selbst haben hin und wieder die Neigung zu einem Separatismus, einem «Gehörlosen-Zionismus» gezeigt. 1831 hat Edmund Booth die Gründung einer Stadt oder Gemeinschaft von Gehörlosen vorgeschlagen, und 1856 propagierte John James Flournoy einen Gehörlosen-Staat «im Wilden Westen». Solche Ideen beschäftigen noch immer die Phantasien. So träumt Lyson C. Sulla, der taube Held des Romans «Islay», davon, Gouverneur des Staates Islay zu werden und ihn zu einem Gemeinwesen von Gehörlosen für Gehörlose zu machen (Bullard 1986).

Es liegen auch Berichte über andere isolierte Gemeinwesen mit einem hohen Anteil von Gehörlosen und einer überaus positiven sozialen Haltung ihnen und ihrer Sprache gegenüber vor. Dies ist etwa auf Providence Island in der Karibik der Fall – James Woodward hat die Verhältnisse dort eingehend untersucht (Woodward 1982), und auch William Washabaugh hat diese Gemeinschaft beschrieben (Washabaugh 1986).

Vielleicht ist das Beispiel von Martha's Vineyard gar nicht so selten; vielleicht kann man sogar bei jeder Gemeinschaft mit einer signifikanten Zahl von Gehörlosen mit einer solchen Entwicklung rechnen. In einem abgelegenen Dorf in Yucatan (das von dem Ethnographen und Filmemacher Hubert Smith entdeckt und im Film festgehalten wurde und jetzt von Robert Johnson und Jane Norman von der Gallaudet University unter linguistischen und anthropologischen Gesichtspunkten untersucht wird) gibt es, bei einer Einwohnerzahl von etwa vierhundert, dreizehn Erwachsene und ein Kleinkind, die von Geburt an gehörlos sind. Auch hier benutzt das ganze Dorf die Gebärdensprache. In den umliegenden Dörfern leben weitere gehörlose Verwandte – Vettern und Cousinen ersten und zweiten Grades usw.

Die Gebärdensprache, deren sie sich bedienen, ist keine «hausgemachte», sondern eine Maya-Gestensprache, die offenbar eine lange Tradition hat, denn obwohl diese Gehörlosen über Hunderte von Quadratkilometern verstreut leben und praktisch keinen Kontakt miteinander haben, ist sie ihnen allen verständlich. Ganz anders verhält es sich mit der Zentralmexikanischen Gebärdensprache, die in Merida und anderen Städten benutzt wird – es ist erwiesen, daß keine Beziehung zwischen diesen beiden Sprachen besteht. Das erfüllte Leben der voll integrierten ländlichen Gehörlosen, die in Gemeinwesen leben, welche sie ganz und gar akzeptieren und sich durch das Erlernen der Gebärdensprache auf sie eingestellt haben, steht in krassem Gegensatz zu dem niedrigen sozialen und sprachlichen Niveau und dem dürftigen Bildungs- und Informationsstand der «Stadt»-Gehörlosen in Merida, die sich nach jahrelangem unangemessenem Unterricht nur als Straßenhändler und vielleicht als Fahrradtaxifahrer über Wasser halten können. Man sieht hier, wie gut ein Gemeinwesen oft funktioniert, während das «System» keine Hilfestellung bietet.

Neben einer vorbildlichen Gehörlosenschule bietet die Stadt Fremont in Kalifornien sowohl beispiellose Arbeitsmöglichkeiten für Gehörlose als auch ein seltenes Maß an Aufmerksamkeit und Rücksichtnahme von seiten der Öffentlichkeit und der Stadtverwaltung. Die Tatsache, daß in einem Teil von Fremont Tausende von Gehörlosen leben, hat eine faszinierende bikulturelle Situation der Zweisprachigkeit geschaffen, in der die Laut- und die Gebärdensprache gleichberechtigt nebeneinander stehen. In bestimmten Stadtvierteln kann man Cafés sehen, in denen die eine Hälfte der Gäste spricht und die andere sich der Gebärdensprache bedient, Fitness-Center, in denen Hörende und Gehörlose gemeinsam trainieren, Sportplätze, auf denen Hörende und Gehörlose in derselben Mannschaft spielen. Es findet hier nicht nur eine – von Freundlichkeit geprägte – Berührung statt, sondern vielmehr eine beträchtliche Vermischung und Verschmelzung der beiden Kulturen, so daß viele Hörende (besonders Kinder) begonnen haben, sich die Gebärdensprache anzueignen, und zwar meist ganz unbewußt, nicht durch mechanisches Lernen, sondern durch Nachahmung. Wie man sieht, kann also selbst in einer geschäftigen Industriestadt im Silicon Valley (und in Rochester, New York, wo mehrere tausend gehörlose Studenten die Technische Hochschule für Gehörlose besuchen und zum Teil mit ihren gehörlosen Familienangehörigen leben, ist die Situation ähnlich) auch in den achtziger Jahren unseres Jahrhunderts das günstige soziale Klima von Martha's Vineyard aufs neue entstehen.

Ich habe kürzlich eine junge Frau, Deborah H., kennengelernt, die als hörendes Kind gehörloser Eltern mit der Gebärdensprache aufgewachsen ist. Sie sagte mir, daß sie oft in die Gebärdensprache zurückfällt und «in Gebärden denkt», wenn sie ein komplexes Problem lösen muß. Sprache hat ebenso wie eine soziale eine intellektuelle Funktion, und für Deborah, die inzwischen als Hörende in der Welt der Hörenden lebt, ist die soziale Funktion völlig selbstverständlich mit der artikulierten und geschriebenen Lautsprache verknüpft, während die intellektuelle Funktion für sie offenbar noch immer von der Gebärdensprache besetzt ist.

Zusatz (1990) : Über eine interessante Dissoziation oder Synchronizität lautsprachlicher und motorischer Ausdrucksbildung berichtet Arlow (1976) in einer psychoanalytischen Studie über ein hörendes Kind gehörloser Eltern: «Verständigung mittels motorischen Verhaltens wurde zu einem wichtigen Bestandteil der Übertragung ...  Unwissentlich nahm ich Äußerungen auf zwei Kanälen auf: die einen verbal, das heißt in dem Medium, in dem der Patient üblicherweise mit mir kommunizierte; die anderen gestisch [gebärdensprachlich], das heißt in dem Medium, in dem der Patient mit seinem Vater kommunizierte. In anderen Momenten der Übertragung färbten die symbolhaften Gesten auf den vom Patienten mitgeteilten Text ab. Diese symbolhaften Gesten enthielten Zusatzinformationen, die entweder den Inhalt der lautsprachlichen Äußerungen ergänzten oder, was häufiger vorkam, diesem Inhalt widersprachen. In gewissem Sinne kehrten ‹unbewußte Inhalte› eher über motorische Zeichen als über lautsprachliche Äußerungen ins Bewußtsein zurück.»

Es kommt nur allzu oft vor, daß selbst intelligente und in anderen Bereichen aufmerksame Eltern die Gehörlosigkeit ihres Kleinkindes nicht bemerken und sie erst dann diagnostiziert wird, wenn das Kind keine Anstalten macht zu sprechen. Die zusätzliche Diagnose «stumm» oder «retardiert» wird ebenfalls nur allzu oft gestellt und kann diesen Menschen sein Leben lang begleiten. In vielen großen Krankenhäusern und Anstalten für «geistig Behinderte» gibt es im allgemeinen eine ganze Reihe von Patienten, die von Geburt an gehörlos sind. Man bezeichnet sie als «Retardierte» oder «Autisten», obwohl sie vielleicht weder das eine noch das andere sind. Sie sind lediglich als solche behandelt worden, und eine normale Entwicklung ist ihnen von frühester Kindheit an verwehrt gewesen.

Aber stimmt das? William James, der sich immer für den Zusammenhang zwischen Denken und Sprache interessierte, stand in Korrespondenz mit Theophilus d'Estrella, einem begabten gehörlosen Künstler und Fotografen, und veröffentlichte 1893, zusammen mit eigenen Überlegungen, einen autobiographischen Brief, den d'Estrella an ihn geschrieben hatte (James 1893). D'Estrella war von Geburt an taub und begann erst mit neun Jahren, eine formale Gebärdensprache zu erlernen (allerdings hatte er von frühester Kindheit an eine eigene, «hausgemachte» Gebärdensprache entwickelt, die er fließend beherrschte).

Zuerst schreibt er: «Bevor ich in die Schule kam, dachte ich in Bildern und Gebärden. Die Bilder waren nicht in allen Einzelheiten genau, sondern allgemein gehalten. Sie waren flüchtig und entzogen sich dem Blick meines geistigen Auges. Die [hausgemachten] Gebärden waren nicht umfassend, sondern eher konventionell [bildlich] im mexikanischen Stil ...  und hatten keinerlei Ähnlichkeit mit den Symbolen der Taubstummensprache.»

Trotz seiner Sprachlosigkeit war d'Estrella offenbar ein neugieriges, phantasiebegabtes, nachdenkliches, ja sogar zu Spekulationen neigendes Kind: Er dachte, das salzige Seewasser sei der Urin eines großen Meeresgottes und der Mond eine Göttin im Himmel. All das konnte er mitteilen, als er in seinem zehnten Lebensjahr auf die California School for the Deaf kam und die Gebärdensprache sowie Schreiben lernte. D'Estrella betont, selbstverständlich habe er auch vor dem Erlernen der formalen Sprache gedacht, seine Gedanken seien weitläufig, wenn auch in Bilder gekleidet gewesen, und Sprache diene ihm dazu, seine Gedanken «auszuarbeiten», ohne jedoch für das Denken wirklich erforderlich zu sein.

Auch James kommt zu diesem Schluß : «Seine kosmologischen und ethischen Reflexionen waren das Produkt seiner einsamen Gedanken … Gewiß verfügte er über keine konventionellen Gebärden für die kausalen und logischen Zusammenhänge, die beispielsweise zu seinem Induktionsschluß über den Mond führten. So weit also scheint seine Schilderung die Ansicht zu widerlegen, abstraktes Denken sei ohne Worte unmöglich. Hier haben zweifellos subtile, wissenschaftliche wie auch moralische Fragen berührende, abstrakte Denkvorgänge stattgefunden, bevor die Mittel zur Verfügung standen, sie anderen mitzuteilen» [Hervorhebung vom Verfasser],

James war der Meinung, das Studium solcher Gehörloser könnte wichtige Beiträge zur Erhellung des Zusammenhangs zwischen Denken und Sprache liefern. (Es sei angemerkt, daß Zweifel an der Verläßlichkeit von d'Estrellas autobiographischem Bericht geäußert wurden.)

Aber ist das Denken, jedes Denken, tatsächlich sprachabhängig? Es scheint doch so zu sein, als komme das mathematische Denken – wenn man Selbstbeobachtungen Glauben schenken kann – auch ohne Sprache aus (wenn es sich auch vermutlich um eine besondere Form des Denkens handelt). Roger Penrose, Mathematiker in Oxford, diskutiert dieses Problem recht ausführlich (siehe Penrose 1991, S. 413ff). Er beruft sich dabei auf eigene Erfahrungen und auf Selbstdarstellungen Poincarés, Einsteins, Galtons und anderer. Als Einstein einmal gefragt wurde, wie er denkt, antwortete er: «Die Worte oder die Sprache, ob in schriftlicher oder gesprochener Form, scheinen in meinem Denkmechanismus keine Rolle zu spielen. Die psychischen Komplexe, die anscheinend als Elemente des Denkens dienen, sind gewisse Zeichen und mehr oder weniger deutliche Bilder … visueller und motorischer Art. Nach herkömmlichen Worten und anderen Zeichen muß erst in einem zweiten Stadium mühsam gesucht werden ... »

Und Jacques Hadamard schreibt in seinem Buch «Psychology of Invention in the Mathematical Field» (Princeton 1945): «Ich bestehe darauf, daß Worte in meinem Geiste überhaupt nicht vorhanden sind, wenn ich wirklich denke … selbst nach dem Lesen oder Hören einer Frage [verschwindet] jedes Wort augenblicklich … sobald ich darüber nachzudenken beginne; und ich stimme Schopenhauer vollkommen zu, wenn er schreibt, daß ‹Gedanken in dem Moment sterben, da sie durch Worte verkörpert werden›.»

Penrose folgert, daß Worte für das mathematische Denken fast nutzlos seien, wenngleich sie andere Formen der Denktätigkeit befördern mögen. Zweifellos käme ein Schachspieler, ein Musiker, ein Schauspieler oder ein bildender Künstler zu einer ähnlichen Erkenntnis. Es steht fest, daß die Sprache im engeren Sinne nicht das einzige Vehikel oder Werkzeug des Denkens ist. Vielleicht müssen wir den Bereich der «Sprache» erweitern, und zwar derart, daß er die Mathematik, die Musik, die Schauspielkunst, die bildenden Künste usw., also jede Form eines repräsentierenden Systems umfaßt.

Aber denkt man tatsächlich in einem dieser repräsentierenden Systeme? Dachte der späte Beethoven in Musik? Das scheint unwahrscheinlich zu sein, obwohl sich sein Denken in Musik artikulierte und in dieser Gestalt annahm und obwohl es nur durch sie erahnt oder erfaßt zu werden vermag. (Er war stets ein großer Formalist und seinerzeit bereits seit fast zwanzig Jahren taub, das heißt akustisch deafferenziert.) Dachte Newton in Differentialgleichungen, als er «einsam über die fremden Meere des Denkens segelte»? Das erscheint mir auch unwahrscheinlich, aber sein Denken kann wohl nur durch diese Gleichungen begriffen werden. Letztlich denkt man weder in Musik noch in Gleichungen, noch vermutlich – wenn es um Sprachkünstler geht – in der Sprache. Schopenhauer und Wygotski waren beide große Sprachkünstler, deren Denken sich von ihren Worten nicht trennen läßt. Aber beide waren fest überzeugt, daß sich das Denken jenseits der Wörter ereignet. Schopenhauer meinte, daß die Gedanken sterben, sobald sie durch Worte verkörpert werden, und Wygotski schrieb: «Worte sterben, während sie Gedanken hervorbringen.»

Doch auch wenn das Denken die Sprache und überhaupt jede Darstellungsform transzendiert, erschafft es diese dennoch und ist in seiner Entfaltung auf sie angewiesen. So geschah es in der Menschheitsgeschichte, und so geschieht es bei jedem von uns. Das Denken ist nicht mit der Sprache, einem Zeichensystem, einem System von Vorstellungen oder mit der Musik gleichzusetzen. Doch ohne diese kann es im Kopf verstummen. Das ist es, was einen Joseph, einen d'Estrella, einen Massieu oder einen Ildefonso, jeden gehörlosen Menschen und jedes Kind, dem der Zugang zur Sprache und zu den anderen kulturellen Werkzeugen und Formen verwehrt ist, bedroht.