Moritz Matthies
Dumm gelaufen
Roman
FISCHER E-Books
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Erdmännchen Ray und Rufus haben eine neue Auftraggeberin: Angel Eye, eine nicht mehr ganz junge Rassestute, bittet Ray, den Tod ihres Geliebten Stardust zu untersuchen. Der ist beim Eröffnungsrennen in Berlin-Hoppegarten gestürzt und muss zum Pferdemetzger gebracht werden. Angel Eye ist sicher: Der Sturz hatte keine natürliche Ursache. Und tatsächlich. Ray, Rufus und Privatermittler Phil kommen einem Komplott auf die Spur …
»So ultracool wie komisch!«
Freundin zu VOLL SPEED
»Ich hab mich weggeschmissen!«
Christoph Maria Herbst zu VOLL SPEED
Erschienen bei FISCHERE-Books
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2014
Covergestaltung und -abbildung: bürosüd, München
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402952-8
Ray lebt mit seinem Erdmännchenclan im Berliner Zoo. Allerdings ist er etwas aus der Art geschlagen. Mit dem Graben hat er es nämlich nicht so. Dafür hat er seinen Traum erfüllt: Privatdetektiv zu sein. Mit seiner Spürnase ist er der perfekte Schnüffler. Und als es beim Eröffnungsrennen in Berlin-Hoppegarten einen tragischen Zwischenfall gibt, kann er dies auch beweisen.
Rufus– Rays Bruder – hat sich mit Hilfe der Zeitungen, die jeden Tag in dem Mülleimer am Gehegezaun landen, das Lesen beigebracht. Außerdem ist er ein genialer Tüftler. Er hat sich in den Server der Rennbahn eingehackt und festgestellt: Der Sturz von Stardust war kein unglücklicher Zufall.
Rocky – der Erstgeborene – ist Clanchef und frisch gebackener Vater. Seine vier Kinder Colin, Celina, Cindy und Chantal treiben ihn zur Weißglut. Und auch seine Frau Roxi geht ihm gewaltig auf den Senkel. Höchste Zeit, das Winterquartier zu verlassen – Frühling oder nicht. Doch das Leben im Freien ist voller Gefahren …
»Äähhh … dings!«, ruft Rocky von der Höhe der gemauerten Pyramide herab, die aus der Mitte unseres künstlich angelegten Amphitheaters emporragt.
Noch vor Tagesanbruch hat mein großer Bruder den gesamten Clan in »Sphäre 2« versammelt. So heißt der größte Raum in dem Steinhaus, das uns der Zoo als Winterquartier zur Verfügung stellt. Der Name ist übrigens nicht auf Rockys Mist gewachsen: Sphäre 2. Auf Rockys Mist wächst selten etwas, und wenn, dann mit maximal – sagen wir – vier Buchstaben. Möglicherweise fünf. So etwas wie »Äähhh … dings!« zum Beispiel. Jedenfalls hat Rocky uns alle zusammengetrommelt, weil er etwas verdammt Wichtiges zu … äh … verkünden hat. Dings eben.
Die gesamte Sippe sieht zu ihm auf und fragt sich, was sie sich immer fragt, wenn Rocky eine Rede hält: ob es das jetzt schon war, und wie um alles in der Welt Pa auf die Idee kommen konnte, ausgerechnet Rocky zu seinem Nachfolger als Clanchef zu bestimmen. Pa selbst sitzt derweil am äußeren Ende des steinernen Halbrunds, die gekreuzten Vorderbeine auf seinen Gehstock gestützt, und blickt ins Nichts. Ab und zu gibt seine Staublunge etwas von sich, das sich je zur Hälfte aus Keuchen und Husten zusammensetzt. Im Verlauf des Winters hat er sich zunehmend in seine eigene Welt zurückgezogen, und seit einiger Zeit kommt er nur noch auf Stippvisite bei uns vorbei. In schwachen Momenten frage ich mich, ob ich in Pas Welt wohl eine Rolle spiele, ob es mich da gibt. Sollte mich wundern.
»Frühlingsanfang!«, brüllt Rocky und reißt mich aus meinen Gedanken. Er ist sichtlich erleichtert, das richtige Wort gefunden zu haben.
Vorausgesetzt, es ist das richtige. Was eigentlich nicht sein kann. »Frühlingsanfang« bedeutet nämlich, dass wir gesammelt unser Winterquartier verlassen und zurück ins Freigehege ziehen. Raus aus dem stickigen, miefigen Muff des Steinhauses, rein ins Tageslicht, in die frische Luft, ins Leben. Ein großartiger Tag, den jedes im Zoo aufgewachsene Erdmännchen instinktiv herannahen fühlt. Das Problem ist: Außer Rocky hat hier niemand Frühlingsgefühle. An der Scheibe, durch die wir nach draußen gucken können, kleben noch Eisblumen.
»Ist der jetzt komplett bescheuert?«, raunt der neben mir stehende Kato aus dem zweiten Wurf.
Ich sage nichts. Erstens, weil das eine rhetorische Frage war, und zweitens, weil die Antwort ja sowieso klar ist.
»Du bist toll, Papa«, ruft Celina mit ausgebreiteten Armen.
»Danke, Papa«, quäkt auch Chantal, die immer so klingt, als würde ihr beim nächsten Satz der Kopf platzen.
Ungläubiges Gemurmel breitet sich aus. Rufus und ich sehen uns an. Wenn jemand weiß, wer hier nicht richtig tickt, dann mein allwissender Schlaumeierbruder. Er wirft einen beiläufigen Blick auf die rosa Herzchen-Armbanduhr, die von dem Klettband baumelt, das er um den Bauch trägt, checkt das Datum und stellt fest: »Mindestens zwei Wochen zu früh.«
Das bestätigt mir zwar, was ich bereits vorher wusste, nämlich dass Rockys Synapsen vor allem Kurzschlüsse produzieren, bringt mich aber auf der Suche nach einer Erklärung nicht weiter.
»Und was muss ich jetzt machen?«, nölt Marcia aus dem fünften Wurf.
Habe ich eben gesagt, dass alle im Zoo aufgewachsenen Erdmännchen instinktiv spüren, wenn Frühlingsanfang ist? Muss ich zurücknehmen. Alle außer Marcia. Und Mads. Und ziemlich sicher Colin. Wenn ich so darüber nachdenke: Für Nick und Nemo würde ich meine Klaue auch nicht ins Feuer legen. Eigentlich ist der gesamte vierte Wurf nicht wirklich zurechnungsfähig. Und auch beim dritten gibt’s ein paar Fragezeichen …
»Das bedeutet: Raus!«, ruft Rocky. »Alle Mann zurück ins Freigehege!«
Die Erklärung für den spontanen Frühlingsanfang erhalten Rufus und ich, nachdem Sphäre 2 sich geleert hat, Rocky von der Pyramide herabgestiegen ist und breitbeinig auf uns zueiert. Er ist im Winter nicht nur vierfacher Vater geworden, sondern hat auch um die Hüften herum ganz ordentlich zugelegt.
»Was steht ihr noch so blöd hier rum?«, blafft er uns an. »Habt ihr eure Lauscher nicht aufgestellt: Es ist Frühlingsanfang!«
Rufus versucht, einen unverfänglichen Einstieg zu finden. »Rocky?«
»Was’n das für ’ne Frage? Glaubst du, ich weiß meinen eigenen Namen nicht?«
»Doch, natürlich weißt du den. Schließlich bist du unser Clanchef …«
»Na siehste.«
»Ich wollte dir eine Information zukommen lassen …«
Rocky überlegt: »Ja, und?«
»Frühlingsanfang ist noch nicht«, erklärt Rufus so einfach wie möglich.
Rocky beim Denken zuzusehen ist ein schmerzhafter Prozess. »Hab ich nicht eben verkündet, dass Frühlingsanfang ist?«
»Hast du«, bestätigt Rufus.
»Und bin ich der Clanchef?«
»Ja, bist du.«
»Dann ist jetzt aber so was von Frühlingsanfang«, schlussfolgert Rocky.
Rufus seufzt. Sein Leben als intellektuell versiertes, philosophisch geschultes, der Schriftsprache mächtiges Erdmännchen ist für ihn ein niemals endendes »Steinerollen«. Sind seine Worte, nicht meine. Er hat mir erklärt, er fühle sich wie jemand, der jeden Tag aufs Neue einen riesigen Stein einen Berg hinaufrollt, der dann am nächsten Tag wieder im Tal liegt. Als ich ihn gefragt habe, warum er den Stein nicht einfach im Tal liegen lässt, meinte er nur: »Da siehst du es!«
»Rocky«, setzt er jetzt an, und ich bekomme eine Ahnung davon, dass einer aus unserem hübschen Trio am Ende dieser Unterredung eine Schelle kassieren wird. Es wird auf keinen Fall Rocky sein, und ich vermutlich auch nicht. »Nur weil du unser Clanchef bist«, fährt Rufus fort, »bedeutet das nicht automatisch, dass du auch bestimmst, wann Frühlingsanfang ist.«
»Hast du gerade nur gesagt?«, entgegnet Rocky.
»Was ich mit diesem nur«, Rufus setzt das Wort mit seinen Krallen in unsichtbare Anführungszeichen, »auszudrücken versuche, ist: Als Clanchef bestimmst du über den Clan, nicht aber über den Lauf der Jahreszeiten.«
Batz! Mit einem vertraut klingenden Stöhnen geht Rufus zu Boden. Was habe ich gesagt?
Als er wieder auf die Beine kommt, renkt er mit geübtem Griff seinen Hals ein und streicht sich das Fell über dem linken Auge in die richtige Richtung. »Du kannst mich hundert Mal schlagen, Rocky, doch auch das wird nichts am Lauf der Jahreszeiten ändern.«
Rocky beugt sich drohend vor: »Ach ja?«
Rufus zieht instinktiv den Kopf ein, bevor er antwortet: »Ja.« Steine den Berg hinaufrollen … Er kann es einfach nicht lassen.
Ich kneife die Augen zusammen, doch statt Rufus die nächste Schelle zu verpassen, wirkt Rocky plötzlich merkwürdig in sich gekehrt.
Er sieht sich um, als wolle er im Zooshop einen Glasdelphin mitgehen lassen. »Was ich euch jetzt sage, bleibt unter uns, klar?«
Ich nicke.
»Selbstverständlich«, bestätigt Rufus.
»Es ist …«, setzt Rocky an.
»Es ist«, ermuntert ihn Rufus.
Rocky kratzt sich an seinem Hüftring. »Wegen …«
»Wegen?«
»Quatsch mir weiter alles nach, und du fängst gleich noch eine«, warnt Rocky.
Wie ich unseren großen Bruder so dastehen sehe – mit hängenden Schultern und zerknitterten Augen – und ihn dabei beobachte, wie er um Worte ringt, da wird mir auf einmal klar, was los ist.
»Roxane«, sage ich.
Treffer. Rockys sonst so geschwellte Brust sinkt in sich ein.
»Es ist wegen Roxi, und es ist wegen der Kinder«, setze ich nach. Und weil ich nicht sicher bin, ob Rocky die Namen seiner Kinder auch alle auf dem Schirm hat, zähle ich sie ihm auf. »Wegen Colin und Celina und Cindy und Chantal.«
Jeder neue Name zwingt unseren Clanchef weiter in die Knie. »Die besonders«, gesteht er.
»Ihr Gezeter geht dir schwerpunktmäßig auf die Eier«, sage ich.
Er nickt und wirkt sehr müde: »Noch einen Tag länger in diesem Haus, und ich schlage mit dem Kopf die Scheibe ein.«
»So etwas kann aber mitunter üble Schnittwunden nach sich ziehen«, bemerkt Rufus.
Rocky hebt kurz die Schultern, um sie gleich darauf wieder sinken zu lassen. »Wär ja dein Kopf.« Er bemerkt das Entsetzen in Rufus’ Gesicht und erklärt: »Glaubt ihr etwa, ich würde meinen Kopf nehmen? Bin doch nicht bescheuert.«
Es wird sehr still.
»Klassischer Fall von Lagerkoller«, diagnostiziert Rufus.
»Red keinen Scheiß, Mann«, entgegnet Rocky, für den das Wort Lagerkoller ein schwarzer Kasten ohne Inhalt ist. »Es ist so, wie Ray gesagt hat: Die gehen mir einfach …«
»… schwerpunktmäßig …«
»… jedenfalls gehen sie mir auf die Eier.« Wieder schweigen wir einen Moment. Dann fügt Rocky hinzu: »Ihr mir übrigens auch.«
Wie auf Zuruf zwängt sich unsere Schwester Roxane durch die Klappe, die Sphäre 2 mit Sphäre 1 verbindet. An einer Klaue hält sie Cindy, an der anderen Chantal.
»Wo bleibst du denn?«, durchschneidet ihre Stimme den Raum. Rockys Körper richtet sich auf wie der einer Marionette. »Ich denke, du hilfst mir, die Sachen für die Kinder zu packen!«
Plötzlich ertönt von der anderen Seite des steinernen Halbrunds ein dünnes Stimmchen, das wie zu sich selbst spricht: »Komme schon, mein Liebling. Komme schon …«
Pa, der offenbar die ganze Zeit selbstvergessen und von uns unbemerkt auf seinem Platz gesessen hat, erhebt sich mühsam und schlurft auf seinen Stock gestützt an uns vorbei, ohne uns wahrzunehmen. Gespenstergleich durchquert er den Raum und verschwindet schließlich durch die Klappe zu Sphäre 3 und 4, die sich leise hinter ihm schließt. Schweigen. An Rockys Gesichtsausdruck meine ich zu erkennen, dass er gerade den Geist seiner eigenen Zukunft in Sphäre 3 und 4 hat verschwinden sehen.
»Was denn jetzt?«, ruft Roxane.
»Gleich, Schatz!« Rocky bedeutet uns, die Köpfe zusammenzustecken. »Hör zu, Rufus«, flüstert er, »wenn du mir jetzt noch mal erzählst, dass ich den Lauf der Jahreszeiten nicht verändern kann, wirst du selbst den Frühling nicht mehr erleben. Klar?«
Rufus setzt zu einer Erwiderung an, doch ich schiebe mich schnell zwischen die beiden und hebe beschwichtigend die Klauen: »Ist klar, Rocky«, versichere ich. »Vollkommen klar. Besser, du lässt deine Frau nicht zu lange warten …«
In den folgenden Minuten oder Stunden oder so stelle ich etwas Erstaunliches fest: Der Frühlingsanfang funktioniert in beide Richtungen. Was ich damit sagen will, ist: Man kann darauf warten, dass der Frühling kommt, und zieht dann ins Freigehege, oder aber man zieht ins Freigehege, und das löst dann Frühlingsgefühle bei einem aus. Ist doch irre, irgendwie. Kaum jedenfalls habe ich meine Kammer ausgemistet, meine Laptoptasche aus dem Steinhaus in unseren Bau gezerrt und mein Reggae-Halstuch zum Lüften am Zaun aufgehängt, da kann ich es kaum mehr erwarten, endlich wieder meine morgendliche Runde durch den Zoo zu drehen, allen zu sagen, dass ich zurück bin, und natürlich bei Elsa vorbeizuschauen. Ihr einen schönen Tag zu wünschen. Und vielleicht einen klitzekleinen Hinweis auf die Frage zu bekommen, die mich den ganzen Winter über durch sämtliche Sphären verfolgt und gequält hat: Was ist jetzt eigentlich mit uns?
Unsere letzte Begegnung, im Herbst, vor dem Umzug ins Steinhaus, gipfelte in einer ersten und einzigen orgiastischen Liebesnacht, bei der – ich gebe es zu – fiese Drogen im Spiel waren. Was nichts daran ändert, dass die Erinnerung an das, was mir davon in Erinnerung ist, umso heller leuchtet, je weiter sich diese Nacht von mir entfernt. Und jetzt? Stehe ich auf unserem Feldherrenhügel, blicke zum Chinchillagehege hinüber, dessen von Raureif überzogenes Kupferdach verträumt im Morgenlicht glitzert, und frage mich, wann Elsa endlich die Zugbrücke ihrer Holzburg herablassen und ans Gitter treten wird. Ich muss zu ihr, muss tun, was ich nicht lassen kann – auch wenn das bedeuten sollte, am ersten Frühlingstag die Abfuhr meines Lebens zu kassieren. Vorher jedoch muss ich darauf warten, dass Opa Reinhard seine letzte Kontrollrunde durch den Zoo absolviert hat.
Ich trete also ungeduldig von einem Bein auf das andere, drehe Pirouetten, vergeige einen Vorderbeinstand und breche mir beinahe die Lendenwirbel bei dem Versuch, mich in eine Brücke zu stemmen, als Opa Reinhard endlich an unserem Gehege haltmacht und bemerkt: »Na, ihr seid aber früh dran dieses Jahr.«
»Das kannst du laut sagen!«, entgegne ich und betrachte, wie sich der Dampf meines Atems in der Morgenluft verflüchtigt. »Und weißt du auch, warum?« Weiß er natürlich nicht. Schließlich versteht er kein Erdmännisch. »Lagerkoller! Roxy hat Junge bekommen«, erkläre ich, »und seitdem haben wir einen Pantoffelhelden als Clanchef!«
Opa Reinhard lächelt milde und schüttelt den Kopf. »Schon quietschfidel, die süßen Dinger.« Dann schlurft er weiter.
Sobald er in Richtung der Steinböcke aus meinem Sichtfeld verschwunden ist, stürze ich in den Bau, bahne mir einen Weg zwischen meinen Familienmitgliedern hindurch, die alle emsig unsere Sommerresidenz wieder auf Vordermann bringen, flitze am Headquarter vorbei – wo ich einen entwürdigenden Blick auf Rufus erhasche, wie er in gebeugter Haltung mit einem Feuchttuch die Weinkiste poliert, die uns als Konferenztisch dient – und wühle mich durch unseren leider längst nicht mehr geheimen Geheimgang, um hinter dem Flamingohaus wieder ans Tageslicht zu gelangen.
Natürlich will ich als Erstes zu Elsa. Die Macht, die mich zu ihr zieht, ist nahezu unwiderstehlich. Aber eben nur nahezu. Weshalb ich meinen üblichen Rundgang machen und mir Elsa bis zum bittersüßen Ende aufsparen werde. Nein, logisch ist das nicht und verstärkt die Qual nur noch, schon klar. Aber genau deshalb mache ich es ja. In Liebesdingen sind Erdmännchen eben kein bisschen weiter entwickelt als Menschen.
»Bist du das Erdmännchen, das früher immer plötzlich da war und dann wieder nicht?«
Einer der Flamingos. Hat sich ängstlich bis an die Kante des Hauses herangeschoben, um zu sehen, was dahinter los ist, und schiebt jetzt seinen Kopf wie einen rosa Duschkopf an einem rosa Schlauch um die Ecke. Echt unauffällig.
»Erkennst du mich etwa nicht?«, erwidere ich.
Zögerlich kommt ein Bein des Flamingos hinter der Kante hervor, und ein Stück seines Oberkörpers schiebt sich in mein Blickfeld. »Bin mir nicht sicher.«
»Hey, Ramirez, das gibt’s doch nicht!« Ich winke ihm, als würde gerade meine Fähre ablegen und ich an der Reling stehen. »Ich bin’s: Ray!«
»Ah, cool.« Er zieht sein zweites Bein nach und druckst ungelenk herum. »Und du bist ein Erdmännchen, stimmt’s?«
In diesem Moment kommt mir ein echt gruseliger Gedanke: Wenn es außer Rocky nur noch Flamingos und Einzeller auf der Erde gäbe, dann wäre Rocky das intelligenteste Lebewesen der Welt. Da schüttelt es einen direkt vor Grauen. »Hör zu, Ramirez: Ich hab keine Zeit für lange Erklärungen, okay. Ich bin’s, Ray, das Erdmännchen aus dem Gehege da hinten. Wir haben einen Geheimgang, der hier hinter eurem Haus ins Freie führt. Und ich komme da jeden Morgen raus und mache meinen Rundgang durch den Zoo, okay? Ich hab bloß ein paar Monate Pause gemacht, weil Winter war. Aber jetzt bin ich wieder da.«
Ramirez scheint zu überlegen, ob meine Antwort ausreichend für ihn ist. Dann verschwindet der rosa Duschkopf hinter der Hauswand, während der Rest seines Körpers vor mir stehen bleibt.
»Alles in Ordnung«, höre ich ihn rufen, »ist nur Ray, das Erdmännchen!«
Vom Teich her erschallen die Rufe der anderen: »Ach so!«, tönt es erleichtert. »Alles klar!« »Hab ich ja gleich gesagt!«
Dann fällt dem Flamingo noch etwas ein: »Ich bin übrigens Ramirez!«
»Echt?« »Wow!« »Cool!« Und nach einer Pause: »Also ich finde ja, Ramirez klingt irgendwie nach Zuhälter.«
Das kann Ramirez natürlich nicht auf sich sitzen lassen. »Du bist ja bloß neidisch, weil du nicht so’n schönen Namen hast wie ich.«
»Von wegen!«
»Ach ja, dann sag doch mal: Wie heißt du denn?«
Das ist eines der vielen Probleme mit Flamingos: Sie haben eigentlich keine Namen. Es lohnt einfach die Mühe nicht, ihnen welche zu geben. Zum einen, weil nicht einmal sie selbst sich auseinanderhalten können, zum anderen, weil Informationen jeglicher Art sich im Gehirn eines Flamingos automatisch in Eintagsfliegen verwandeln.
»Das geht dich gar nichts an!«, antwortet deshalb der Flamingo, der vergeblich überlegt, wie er wohl heißen könnte.
»Gib’s doch zu«, bohrt Ramirez weiter, »du weißt gar nicht, wie du heißt.«
»Weißt du’s denn?«
»Nö.«
»Dann kannst du auch nicht wissen, ob mein Name nicht vielleicht noch viel schöner ist als deiner – der übrigens gar nicht schön ist, dein Name, sag ich dir mal im Vertrauen, weil er nämlich total nach Puff und so klingt.«
Ein dritter Flamingo mischt sich ein: »Ich frage mich ja, woher du so gut über Puffs und Zuhälter und so Bescheid weißt.«
Ein vierter fragt: »Hast du etwa mal als Prosti … Prosti … Bist du etwa ’ne Nutte?«
»Hä?«, wehrt sich der Angesprochene. »Seh ich vielleicht aus wie ein Weibchen?«
»Weiß nicht. Bist du eins?«
Eine fünfte Stimme ertönt: »Ich hab gehört, dass es auch männliche Prosti … also Nutten … Dass das auch Männchen machen.«
Das ist der Moment, an dem ich mich an Ramirez vorbei unter den Zweigen hindurchschiebe und endlich, nach all den Monaten, wieder meinen geliebten Kiesweg unter den Klauen spüre.
Ich mache es kurz, die kleine Runde. Die ganz kleine. Elsas Gehege ist ein Hochleistungsmagnet und ich ein verirrter Eisenspan. Schnell bei den beiden Breitmaulnashörnern Ursula und Justus vorbei, anschließend die Tapire, Wölfe und Biber abklappern, schnell noch den Hirschen hallo sagen, und schon bin ich beim Unteren Waldschänkenteich angelangt, wo der Weg zu den Gorillas abzweigt, hinter denen dann gleich – Schock! – Elsas Gehege in Sicht kommt.
Schwer schluckend bleibe ich stehen und blicke empor zum Ort meiner ewigen Sehnsucht. Elsas Käfig steht auf einer kleinen Anhöhe, einem Hügel, ähnlich einem antiken Tempel. Meine Pilgerstätte. Demut und Verheißung.
Beim dritten Anlauf gelingt es mir, ihren Namen zu flüstern: »Elsa?«
Keine Reaktion. Nichts zu sehen. Die Zugbrücke ihrer Holzburg bewegt sich keinen Millimeter.
»Elsa!«
Nichts.
Ich zwänge mich durch die Hecke, schleiche entlang des Schilfgürtels zur Rückseite des Hügels hinüber und von dort den Hang hinauf. Oben angekommen, umfasse ich mit meinen Klauen zwei der Streben. Oh, was für köstliche Erinnerungen bei dem Gefühl des kalten Metalls unter meinen Krallen wach werden.
»Elsa? Ich bin’s, Ray.«
Die hölzerne Burg steht da wie verlassen.
»Elsa, ich bitte dich: Sprich mit mir.«
In diesem Moment steigt zum ersten Mal ein warnendes Gefühl in mir auf.
»Elsa?«
Der kalte Betonboden liegt nackt und leergefegt vor mir. In der hinteren Ecke, wo der letzte Schnee geschmolzen ist, schimmert eine trübe Wasserpfütze. Das warnende Gefühl galoppiert mein Rückgrat hinauf und breitet sich wie ein Lauffeuer in meinem Kopf aus.
»Elsa!«
Ich rüttele an den Streben, laufe um Elsas Gehege herum, zerre an der Tür, mit der ich mir um ein Haar den Schädel spalte, weil sie nämlich – o mein Gott!! – unverschlossen ist, stürze ins Gehege, trete das Burgtor aus den Angeln, hechte mit einem unsinnigen Aufschrei in Elsas Gemächer und lande in einem … Fellsack.
Einem warmen Fellsack.
Einem warmen, sich bewegenden Fellsack.
»Was ist denn hier los?«
Sprechen kann er auch noch!
Mit einem Aufschrei springe ich auf die Hinterbeine und nehme Kampfstellung ein. Träge bewegt sich der Fellhaufen und nimmt Konturen an: riesige, behaarte Ohren, die von einem klobigen Kopf abstehen, aus dem mich zwei verschlafene Augen anblicken. Lange Hinterbeine, kurze Vorderbeine, die Fellfärbung zwischen Curry und Schokolade. Das Wichtigste aber: an den Vorder- und Hinterbeinen jeweils vier Zehen. Haben die Elsa etwa für Genversuche missbraucht?
»Wer bist’n du?«, brummt der Fellhaufen.
»Falsche Frage.« Ich stelle fest, dass meine Stimme einigermaßen hysterisch klingt. »Die richtige Frage lautet: Wer bist DU? Und noch wichtiger: Was machst du hier?? Und bevor ich es vergesse: WAS bist du überhaupt???«
Der Fellhaufen reibt sich den Schlaf aus den Augen und setzt sich auf. Ganz schöner Brocken. »Ick find ja, det sind’n bisschen viele Fragen uf eenmal, meenst de nich?«
»Okay, eins nach dem anderen.« Ich lasse langsam die Vorderbeine sinken, und auch meine Stimme nähert sich wieder dem Normalniveau an. »Wie heißt du?«
»Ick bin der Erwin«, brummt Erwin, »und du?«
»Und was machst du hier?«, ignoriere ich seine Frage.
»Na, ick wohn hier. Ist aber nur vorübergehend – hoff ick ma.«
»Im Chinchillagehege?« Meine Stimme schraubt sich bereits wieder nach oben.
»Immer sachte«, erwidert Erwin, »schließlich bin ick’n Chinchilla.«
Ich fahre eine Kralle aus, so Karate-Kid-mäßig: »Du willst ein Chinchilla sein?«
»Streng jenommen bin ick ’ne peruanische Hasenmaus.« Er streicht sich über seine Riesenohren. »Gehört aber zur Familie von die Chinchillas.«
Endlich eine Information, mit der ich etwas anfangen kann. »Und sie haben dich in Elsas Käfig gesetzt, damit sie endlich trächtig wird«, schließe ich messerscharf, »wo es mit Giacomo nicht funktioniert hat.«
Er sieht mich an, als hätte er keine Ahnung, wovon ich rede: »Elsa?«
»Verarsch mich bloß nicht!«, warne ich ihn.
»Ick kenn keene Elsa.«
Ich befrage meinen Schnüfflerinstinkt, horche in mich hinein und stelle fest, dass Erwin die Wahrheit sagt. »Seit wann bist du hier?«, will ich wissen.
»Weihnachten rum so.«
Großer Gott! »Und das Gehege war bereits leer, als sie dich hier reingesetzt haben?«
»Logisch, sonst hätten sie mich ja nicht reinsetzen müssen.«
»Was meinst du denn damit?«
»Na, ick bin ’ne Leihgabe aus’m Tierpark – bis der Zoo einen neuen Kurzschwanz-Chinchilla …« Erwin legt die Ohren an. Seine Augen verengen sich. »Nu versteh’ ick: Elsa war der Chinchilla, der vorher hier drin war, stimmt’s?«
Der Käfig beginnt zu schwanken. Der Moment, in dem die Ahnung sich in Gewissheit verwandelt: »Weißt du, was mit ihr passiert ist?«, stoße ich hervor.
»Nich wirklich.« Erwins Ohren stellen sich wieder auf. »Von dem, was ick so gehört hab, ist sie wohl von einem Tag auf den anderen verschwunden.«
Ich stolpere rückwärts über das eingetretene Burgtor, schramme unsanft über den Beton, rappele mich auf und schleiche auf allen vieren zur Gehegetür.
»Und wer repariert mir dit jetze?«, höre ich entfernt Erwins Stimme, doch da wischt bereits das Kupferdach durch mein Blickfeld, ich stolpere blindlings den Hang hinunter und höre unter mir die Schilfrohre knacken. Dann hat mein Bewusstsein ein Einsehen mit mir und blendet sich aus.
Ich werde aus der Düsterkeit meiner Versenkung gerissen, als mich eine Erdnusshülse am Kopf trifft.
»Guck mal!« Ein Rotzlöffel mit Hertha-Mütze stößt seinem Mitschüler den Ellenbogen in die Seite und deutet mit dem ausgestreckten Finger auf mich. »Ich hab ihn aus dem Winterschlaf geholt!«
Ich stehe in unserem Gehege und blicke zu Elsas Holzburg hinüber, in der jetzt Erwin schläft, als wäre nichts. Irgendwie muss ich es geschafft haben hierherzukommen, bevor der Zoo seine Pforten geöffnet hat.
Ich tue es dem Jungen nach und fixiere mit einer ausgestreckten Kralle einen unsichtbaren Punkt zwischen seinen Augen: »Sehe ich vielleicht aus wie ein Eichhörnchen, du Blödklops? Ich bin ein Erdmann! Da, wo ich herkomme, gibt es keinen Winter – sagt jedenfalls mein schlauer Bruder –, und deshalb mache ich auch keinen Winterschlaf!«
Man ist geneigt zu verdrängen, dass der Frühling neben all den schönen Dingen naturgemäß auch unschöne mit sich bringt: nervige Kinder, lustlose Lehrer, dämliche Flamingos und noch dämlichere Pinguine, um an dieser Stelle nur eine winzige Auswahl zu nennen.
Ich hebe die Erdnuss auf, ziele zwischen die Augen des Jungen und schleudere die Hülse mit aller Kraft durch die Gitterstreben. Leider landet sie vollkommen wirkungslos zu seinen Füßen auf dem Kiesweg.
Der Junge pfeift anerkennend durch seine bräunlich verfärbten Zähne, zertritt demonstrativ die Erdnuss, zieht eine Tüte Gummibärchen aus seiner Jackentasche, greift hinein und stopft sich eine Handvoll von ihnen in den Mund. Zwei fallen zu Boden. »Verschärft, kleiner Mann«, blubbern die Worte aus seinem Mund. Dann zieht die Gruppe weiter.
»Du bist ja echt voll der krasse Typ«, rufe ich ihm nach, »kannst schon eine ganze Erdnuss zertreten!«
In unserem Gehege herrscht rege Betriebsamkeit, wie ich feststelle. Der vierte Wurf, allen voran Nino und Nick, haben sich freiwillig zum Aufräumdienst gemeldet, in der Hoffnung, irgendwo Cola-Lollis oder Traubenzucker aufzustöbern. Der zweite Wurf ist damit beschäftigt, die Wachposten auf ihre Tauglichkeit zu inspizieren. Marcia und ihre Freundinnen aus dem fünften Wurf streiten sich um einen magischen Würfel. Ma führt Cindy und Chantal herum und macht sie mit den Besonderheiten unseres Geheges vertraut, während Roxi sich mit der nimmersatten Celina zum Stillen zurückgezogen hat.
Unterdessen ist Rocky damit beschäftigt, Colin, dem einzigen Männchen aus Roxis Wurf, die Grundlagen des Wachehaltens beizubringen. »Du musst vor allem auf zwei Sachen achten«, schärft er seinem Sohn ein.
»Puffottern und Savannenadler«, flüstere ich leise vor mich hin.
»Auf Puffottern und auf Savannenadler!« Unser Clanchef unterstreicht die Wichtigkeit des Gesagten, indem er bei dem Wort »Savannenadler« abwehrend eine Klaue gen Himmel streckt.
Rufus, der traurig auf dem unteren Vorsprung unseres Felsens sitzt und die Arbeiten koordiniert, verdreht die Augen. Der Arme hat es wahrlich nicht leicht. Erst musste er jahrelang ertragen, dass Pa immer wieder die vermeintliche Gefahr vor Puffottern und Savannenadlern beschwor, jetzt muss er erleben, wie Pas Erstgeborener diesen Sülz eins zu eins an die nächste Generation weitergibt. Hinzu kommt, dass Rufus’ erst Verlobte, dann Ex-Verlobte und inzwischen So-gut-wie-wieder-Verlobte Natalie, kaum dass wir das Steinhaus verlassen haben, sich bereits wieder unten am Zaun mit gespreizten Beinen in der Sonne räkelt. Dabei scheint die gar nicht.
Ich tue nichts – außer mir mein Erdmännchenhirn zu zermartern. Was ist mit Elsa geschehen? Wenn Erwin die Wahrheit gesagt hat, muss sie bereits vor Monaten aus ihrem Gehege verschwunden sein. Krankenstation fällt also aus. Hat man sie an einen anderen Zoo ausgeliehen, damit sie sich dort mit einem wie Giacomo paart und Junge bekommt? Unwahrscheinlich. Also was? Ist sie entführt worden? Möglich. Ihr Pelz ist Millionen Wert – was einen nicht wundert, wenn man weiß, dass der russische Präsident bereits aus Elsas Mutter eine Mütze für seine Geliebte machen ließ und ihr Vater im Moskauer Chinchilla-Ballett getanzt hat. Ohne dass ich es verhindern kann, nehmen in meinem Kopf Bilder Gestalt an: zwielichtige Typen in dunklen Anzügen, überlagert von einer nackten Frau, die eine merkwürdige Ähnlichkeit mit Piroschka Nagy hat – lange Geschichte – und die mit nichts als einer Chinchilla-Mütze bekleidet ist, aus der mich zwei traurige, seelenlose Augen anstarren.
»Du siehst aus, als könntest du ein bisschen Ablenkung vertragen!«
Ich blicke zum Zaun hinüber, dabei hat ein Teil meines Gehirns ihn bereits an der Stimme erkannt: Phil! Privatdetektiv. Und mein Partner. Der Mann, mit dem ich letztes Jahr zwei schwergewichtige Fälle gelöst habe. Und außerdem der einzige Mensch, der Erdmännisch versteht. Latentes Alkoholproblem, chronisches Geldproblem, pathologisches Frauenproblem. Und wenn er hier im Zoo auftaucht, bedeutet das, es gibt Arbeit für uns.
Aber wo ist er?
»Ha!«
Ich muss tatsächlich zweimal hinsehen, um ihn zu erkennen. Er sieht nämlich aus wie aus der GALA geschnitten: kein abgeranztes Leinensakko, keine wirren Haare, keine Sonnenbrille, die die Spuren der vorangegangenen Nacht verdeckt. Stattdessen: unsinnig gebräunte Haut, sonnengegerbte Surferhaare, dazu ein babyblauer Kaschmiranzug. Die Ringe um seine blauen Augen sind verschwunden. Auf den ersten Blick würde ich sagen: kein Alkoholproblem, kein Geldproblem und schon gar kein Frauenproblem.
»Was ist passiert?«
Phil lächelt. Hat er sich etwa auch die Zähne bleachen lassen? In dem Moment fällt es mir ein! Als wir uns voneinander in den Winter verabschiedet haben, war er praktisch auf dem Weg nach …
»Südafrika!«, sage ich.
Das Lächeln wird noch etwas breiter. Seine Zähne sind tatsächlich gebleacht. Ich halt’s nicht aus.
»Du bist echt zu Piroschka geflogen?«, frage ich.
»Konnte das Ticket schlecht verfallen lassen«, antwortet Phil.
»Sieht aus, als hättest du es dir da unten gutgehen lassen.«
»Sehr gut sogar.«
Meine Freude, ihn zu sehen, ist kindisch. Muss ich zugeben. Das ist mal ein echter Frühlingsanfang, denke ich. Sage es aber nicht. Phil und ich sind Partner. Keine Sentimentalitäten unter Profis. Stattdessen frage ich ihn: »Wenn es dir bei Piroschka so gut ging – weshalb bist du zurückgekommen?«
Er lässt seinen Blick erst durch unser Gehege schweifen, anschließend in die Weite Welt hinaus, dahin, wo er Südafrika wähnt – ist in Wirklichkeit Nordwesten, wo er hinschaut, aber am Tag unseres Wiedersehens will ich mal nicht so kleinlich sein –, zurück zu Piroschka und den vergangenen Monaten, dem Pool, dem Meer, den Drinks bei Sonnenuntergang, den zerwühlten Seidenlaken …
»Ach weißt du …« Mein Partner stützt sich auf das Geländer, sein Blick kehrt zu mir zurück. »Es war einfach nicht das richtige Leben für mich. Am Ende …« Er hält inne und fragt sich, ob er nicht doch die falsche Entscheidung getroffen hat. »Am Ende bist du, was du bist.«
»Und – was bist du?«
»Nun, ich schätze, ich bin ganz ein passabler Schnüffler mit einem halbfertigen Citroën DS Pallas im Hinterhof und einer Schwäche für Single Malt Whiskey.«
»Du bist mehr als ein nur passabler Schnüffler«, erwidere ich.
Das entlockt Phil ein Schmunzeln. »Ja, vielleicht …«
Ich lasse ihm noch ein paar Sekunden, um sich im Geiste von Piroschka zu verabschieden, bevor ich ihn frage: »Was gibt’s Neues?«
Er lässt seine Hände in die Taschen seiner Anzugshose gleiten. Ich kann praktisch sehen, wie weich und kuschelig sich das anfühlt. Feinster Zwirn. Okay, was die Farbe angeht, dieses Babyblau … Kann man drüber streiten.
»Nichts«, erwidert Phil. »Wollte mal sehen, wie es dir so geht.«
Kein neuer Fall? Das glaube ich nicht. »Wie es mir geht?«, wiederhole ich. Elsa ist verschwunden, spurlos. Gib mir eine Rasierklinge und zeig mir, wo ich ansetzen muss. So geht’s mir, Partner. Ich winke ab: »Willst du nicht wissen.«
»Hm.« Phil stampft sich die Kälte aus seinen spitzen, schwarzen, sehr glänzenden Schuhen. Krokodilleder, wie ich feststelle. Bei den Antilopen und Zebras kann er sich damit Freunde machen. Im Reptilienhaus allerdings sollte er die besser nicht tragen. »Lust auf eine kleine Spritztour?«, fragt er.
»Ein neuer Fall?«, erwidere ich möglichst beiläufig.
»›Fall‹ ist zu viel gesagt.«
Also ja.
»Bin kurzfristig für einen Kollegen eingesprungen«, erklärt Phil.
»Und was ist das für ein Job?«, will ich wissen.
»Leibwächter.«
Gut, das hört sich jetzt nicht wirklich nach einem neuen Fall an, aber kann ja noch kommen. »Klingt doch ganz … spannend«, lüge ich. »Wer ist denn der Glückliche, den du beleibwächtern sollst?«
»Sein Name ist Störtebeker.«
Noch nie gehört. »Was soll denn das für ein Name sein?«
Phil nimmt eine Hand aus der Tasche und fährt sich über sein glattrasiertes Kinn. »Ich finde den Namen eigentlich ganz passend – für ein Pferd.«
»Du hast dich als Leibwächter für ein Pferd anheuern lassen?« Wie unwürdig ist das denn, denke ich. Anscheinend hat mein Partner bei seiner Rückkehr aus Südafrika seine Eier bei Piroschka gelassen. Womit auch die Erklärung für die Farbe seines Anzugs gefunden wäre. »Wobei sollst du das Pferd denn bitte bewachen – beim Grasen?«
»Die meiste Zeit schon, vermutlich. Ich habe ja gesagt, dass es kein aufregender Job ist. Der Gestütsbesitzer ist offenbar ein ziemlicher Exzentriker, und wann immer eines seiner Pferde ein Rennen läuft, leistet er sich den Luxus, ihm einen Leibwächter zur Seite zu stellen.«
»Hast du gerade Pferderennen gesagt?«
Phil lässt erneut ein Schmunzeln erkennen. Er weiß, er hat mich. »Heute ist Eröffnung in Hoppegarten. Das erste Rennen der Saison.«
»Und Störtedings ist mit dabei.«
»Störtebeker«, korrigiert Phil. »Ja, er läuft mit, im siebten Rennen.«
Ich wechsele lässig Standbein und Spielbein und stemme meine Klauen in die Hüften. Sieht leider nicht halb so lässig aus wie bei meinem Partner. Schon cool, so eine Kaschmirhose, in die man einfach seine Klauen steckt. Kann man sich die Eier kraulen, ohne dass es jemand mitkriegt. Hätte ich auch gerne, allerdings nicht in Babyblau.
»Weißt du«, setze ich an, »ich persönlich sehe mich ja eher als Privatermittler und nicht als Pferdesitter.«
Als Phil jetzt schmunzelt und seine Hand ans Kinn führt, rutscht sein Ärmel so weit über das Handgelenk, dass eine Uhr zum Vorschein kommt, mit der man mühelos die griechische Staatspleite abwenden könnte. Piroschka scheint ihn ganz schön eingeseift zu haben. Trotzdem ist er zurück. Am Ende bist du, was du bist.
»Ich dachte, wir könnten ein paar Wetten platzieren«, antwortet er und blickt hinüber zu Marcia, Moby und Mitzi, die inzwischen den magischen Würfel in seine Einzelteile zerlegt haben und sich gegenseitig blaue, weiße und rote Steinchen an den Kopf werfen. »Aber wenn du Wichtigeres zu tun hast, verstehe ich das nat…«
»Sekunde«, unterbreche ich ihn, »bin gleich wieder da.«
Mit wenigen Sprüngen erklimme ich unseren Feldherrenhügel und klettere zur Plattform, auf der Rufus sitzt und von wo er eigentlich die Arbeiten zur Inbetriebnahme unseres Geheges koordinieren soll. Was er aber nicht tut. Stattdessen sitzt er da, hat den Kopf auf eine Klaue gestützt und blickt geistesabwesend – ich stelle mich kurz hinter ihn, um die Verlängerung seiner Blickachse einzufangen – zu Natalie hinüber. Welche Überraschung. Die sitzt in Erwartung des ersten Sonnenstrahls auf ihrem Rasenflecken, hat den Kopf in den Nacken gelegt und streicht sich versonnen über die Innenseiten ihrer Oberschenkel.
»Wie läuft’s?«, frage ich.
»Hm?«
»Die Arbeiten«, erkläre ich. »Müll beseitigt, Schlafkammern gereinigt, Zäune kontrolliert?«
Rufus nimmt den Kopf von seiner Klaue, blickt mich an und hat kein Wort verstanden. »Ach, du bist es«, stellt er fest.
Ich fuchtele mit einer Klaue vor seinem Gesicht herum und meine tatsächlich, eine Reaktion seiner Pupillen zu erkennen. »Rufus?«
»Ray?«
»Ich brauche eine Minute deiner kostbaren Aufmerksamkeit.«
Statt zu antworten, wandert sein Blick wieder hinüber zu Natalie. Arme Sau. Was muss er sein Herz auch ausgerechnet an das einzige Weibchen im Clan hängen, das unter Garantie Gulasch daraus macht. Aber was rede ich.
Ich lege meine Klaue an seine Nase und drehe seinen Kopf in meine Richtung. »Rufus!«
»Hm?«
»Eine Minute, okay?«
»Sicher, Ray.«
»Also, pass auf: Phil ist da, und ich …«
»Oh, tatsächlich?«
»Ja, tatsächlich. Er steht vorne am Zaun und wartet auf mich.«
Rufus’ Blick schlingert zum Zaun hinüber.
»Der Typ im blauen Kaschmiranzug«, helfe ich nach.
»Oh. Ah. Ich sehe ihn.« Rufus hebt mechanisch eine Klaue. »Hallo, Phil.«
Phil legt drüben am Zaun den Kopf schief und zieht fragend eine Augenbraue in die Höhe.
»Rufus?«
»Hm?«
»Hör zu: Ich muss los.«
»Ein neuer Fall?«
»Weiß ich noch nicht. Jedenfalls wollte ich dich vorher um etwas bitten.«
»Sicher, Ray.«
»Es geht um Elsa.«
»Ah, Elsa.«
»Sie ist verschwunden.«
»Tatsächlich?«
»Ja, tatsächlich. Wahrscheinlich schon letztes Jahr. Stattdessen hockt jetzt ein peruanisches Hasenhörnchen in …«
»Du meinst sicher eine peruanische Hasenmaus«, verbessert mich Rufus. Selbst wenn sein Gehirn nur auf Standby läuft, kann er noch klugscheißern.
»Jedenfalls ist sie verschwunden, und ich muss wissen, was mit ihr passiert ist. Kannst du in der Richtung mal ein paar Nachforschungen anstellen, während ich weg bin?«
»Sicher.«
»Rufus?«
»Hm?«
»Ist wirklich wichtig.«
»Sicher.«
Zurück am Zaun, halte ich kurz inne und lasse meinen Blick Phils Strampelanzug hinaufwandern. »Ich sollte dir noch etwas sagen …«
Phil wölbt eine Augenbraue.
»Dein Anzug …«
Phil sieht an sich herunter. »Was ist damit?«
Gibt’s den auch für Männer, denke ich, sage aber stattdessen: »Ach nichts. Tut gut, dich zu sehen.«
Er bekommt einen wehmütigen Zug um die Augen und erwidert: »Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal zu einem Erdmännchen sagen würde, aber …«
»Du freust dich auch, mich zu sehen?«
Er blickt sich um, nimmt seine Umhängetasche und setzt sie in unserem Gehege ab. »Wir sollten los«, sagt er, ohne meine Frage zu beantworten. »Sonst verpassen wir noch das Eröffnungsrennen.«
Am Himmel über Phil zeigen sich erste bläuliche Schlieren in der Wolkendecke. Irgendwo über dem Tiergarten gehen die ersten Sonnenstrahlen nieder. Phil greift in sein Jackett, zieht seine Sonnenbrille hervor und setzt sie auf. Anschließend nimmt er einen winzigen Schluck aus seinem Flachmann. Drei durchzechte Nächte und ein bisschen Liebeskummer, denke ich, und er ist wieder ganz der Alte.
Ich schlage den Deckel der Tasche zurück, steige hinein und spüre etwas Weiches unter meinen Klauen. Etwas sehr Weiches. Kaschmir. Vom Boden der Tasche lächelt mich das Blau von Phils Anzug an.
»Was ist das denn?«, frage ich.
»Vom Stoff war noch etwas übrig, also hab ich dir ein Kissen daraus nähen lassen. Mit Alpakafüllung.«
Da wälzt sich mein Partner mit einer steinreichen Edelschlampe unter der südafrikanischen Sommersonne, sie verpasst ihm einen Maßanzug, und er hat nichts Besseres im Sinn, als seinem Erdmännchen-Partner in Berlin aus den Resten ein Kissen für seine Umhängetasche nähen zu lassen. So viel zum Thema: keine Sentimentalitäten unter Profis.
Ich schließe die Tasche und mache es mir im Halbdunkel bequem. Echt kuschelig. Nicht so weich wie Elsas Fell natürlich, aber verdammt nah dran.
»Wir sollten los«, rufe ich, und die Tasche löst sich vom Boden und schwebt über das Geländer.
Um ehrlich zu sein: Die Galopprennbahn ist nicht, was ich erwartet habe. Ich will nicht sagen, dass die Anlage heruntergekommen oder schmuddelig oder – um hier mal die Pferde ins Spiel zu bringen – abgehalftert ist oder so. Aber sie hat ganz klar schon bessere Zeiten erlebt. Ein bisschen wie ich mir eine ehemalige Goldgräberstadt vorstelle: Vor tausend Jahren oder so haben ein paar Wagemutige die Anlage aus dem Boden gestampft und ihrer großen Blütezeit entgegengeführt. Zigarren paffende Männer mit Kettenuhren zeigten Frauen in Pelzmänteln vor, deren Hüte die Durchmesser von Bistrotischen hatten. Es gab eine Club-, eine Haupt- und eine Nebentribüne, das einfache Volk drängte sich auf dem Rasenstreifen entlang der Zielgerade, und vor lauter weggeworfenen Wettscheinen konnte man den Boden kaum sehen.
Was soll ich sagen: Ist lange her. Was sich hier heute noch drängt, sind die zermatschten, frisch aufgetauten Blätter des vergangenen Herbstes, die beim Drübergehen schmatzende Geräusche von sich geben. Interessanterweise scheint auch das Frittenfett in den Pommesbuden noch vom vergangenen Herbst zu stammen. Was man von der Bedienung nicht sagen kann: Die stammt noch aus der guten alten Zeit und erinnert sich in schwachen Momenten an die stattlichen Männer mit ihren Monokeln, die noch den Hut lupften, wenn sie einen grüßten. Und an die Westentaschen voller Geld.
Dennoch zieht das Eröffnungsrennen auch heute noch eine Menge Besucher an: Soweit ich das durch die Seitenöffnung von Phils Umhängetasche erkennen kann, sind die Biertische vor den Ständen bereits voll besetzt, man erfreut sich an den ersten wärmenden Sonnenstrahlen, und kreischende Kinder purzeln in einer Hüpfburg herum. Phil blickt auf seine Uhr, denkt einen klitzekleinen wehmütigen Moment lang an Piroschka und die Villa mit dem Pool, stellt fest, dass wir noch etwas Zeit haben, lässt sich eine Currywurst mit Pommes rot-weiß geben und besorgt sich ein Programmheft. Damit schlendert er über das Gelände und setzt sich auf eine Bank abseits des Trubels. Er stellt die Tasche neben sich ab und schlägt den Deckel zurück. Obwohl mir der Geruch seiner Currywurst die Nüstern wie mit Uhu verklebt, rieche ich, dass die Pferde ganz in der Nähe sein müssen.
»Kannst dein feines Näschen herausstrecken«, bemerkt Phil.
Was ich mir natürlich nicht zweimal sagen lasse.
Durch einige Bäume hindurch sehe ich eine Reihe mit Pferdeboxen, die allerdings leer sind. Davor gibt es einen gepflasterten Rundweg, auf dem ich gerne mit Rufus ein paar ferngelenkte Autos um die Wette fahren lassen würde. Wirkt alles relativ verschlafen.
Phil spießt ein von Sauce triefendes Wurststück auf seine Pommesgabel und lässt es in seinem Mund verschwinden. »Das ist der Führring«, klärt er mich auf. »Vor jedem Rennen werden hier die Pferde präsentiert, damit die Zuschauer sich überlegen können, auf welches sie setzen wollen.« Er bemerkt, wie ich die Nase rümpfe, als er das nächste Stück aufspießt, und hält die Gabel in meine Richtung. »Willst du?«
Ich wende den Kopf ab und blicke zur großen Tribüne hinüber. »Das ist Aas. So etwas überlässt man den Geiern.«
Er betrachtet das Wurststück, dreht es hin und her und steckt es genussvoll in den Mund. »Du als alter Wüstenfachmann musst es ja wissen«, kaut er seine Worte hervor.
»So etwas weiß man eben.«
Er schiebt ein paar Pommes nach, deutet mit der Gabel auf das Programmheft, das er über seine Oberschenkel gebreitet hat, und erklärt mir, dass dort die Pferde der jeweiligen Rennen beschrieben sind. Ob ich auch Lust hätte, ein paar Wetten zu platzieren? Nachher werden wir keine Zeit haben, uns die einzelnen Pferde anzusehen, also müssen wir jetzt das Programmheft studieren. Ich kann nicht lesen. Was irgendwie selbsterklärend ist, schließlich bin ich ein Erdmännchen. Der Einzige, dem das nicht sofort einleuchtet, ist mein Bruder Rufus. Weil er nämlich lesen kann. Aber er ist das wahrscheinlich einzige Erdmännchen auf diesem Planeten, das lesen kann. Und wird es bleiben. So wie Phil der einzige Mensch zu sein scheint, der Erdmännisch versteht.
Ich suche mir also meine Favoriten nach den Farben der Trikots aus, die zu jedem Pferd in den Informationskästchen abgebildet sind. Bei den Pferden im siebten Rennen ist ein Trikot dabei, das wie das vom AC Turin aussieht – längs gestreift, schwarz-weiß, klassisch, cool. Ich tippe mit meiner Klaue darauf: »Der da.«
Phil hält das Programm so, dass er das Kleingedruckte lesen kann. Demnächst wird er eine Brille brauchen. »›Stardust‹?«, fragt er ungläubig. »Bist du sicher? Ist ein alter Klepper, der seit Jahren nichts mehr gewonnen hat. Völliger Außenseiter.«
»Bin ich auch«, erwidere ich.
»Auf dich würde ich bei einem Pferderennen auch keinen Cent wetten.«
»Verstehe: Mein Partner versucht, witzig zu sein.« Ich studiere noch einmal die Doppelseite. »Also von mir aus setze, auf wen du willst. Solange es nicht der da ist.« Bei »der da« deute ich auf ein einfarbiges, babyblaues Trikot, das verdächtig so aussieht, als hätte Phil noch mehr von seinem Anzugstoff übrig gehabt.
Phil studiert das dazugehörige Infokästchen. »Da wird Piet Hansen aber traurig sein.«
»Wer bitte ist Piet Hansen?«
»Unser Auftraggeber.«
»Dann ist das da Störtebeker?«
»Gut kombiniert, Erdmann.« Phil wischt sich die Finger an einer Serviette ab und versenkt das mit Ketchup verschmierte Pappschälchen in einem Mülleimer. »Apropos: Wir sollten langsam mal zu den Ställen rüber …«
»Nur, damit hier keine Informationen verlorengehen«, sage ich. »Unser Auftraggeber heißt Piet Hansen, hat ein Pferd namens Störtebeker, und sein Jockey trägt einen babyblauen Strampelanzug?«
»Ist nicht unser Auftraggeber.« Phil drückt meinen Kopf vorsichtig in die Tasche zurück, schließt den Deckel und steht auf. »Ist meiner.«
Wir finden Piet Hansen auf dem Parkplatz für die Teilnehmer jenseits der Ställe, am äußersten Rand des Geländes. Korrektur: Das Wort »finden« setzt voraus, dass man etwas sucht. Piet Hansen zu suchen allerdings ist so, als wollte man auf einem Hühnerhof einen Pfau suchen. Inmitten einer Schaar rostiger Pferdeanhänger und alter Pick-ups mit lehmverschmierten Reifen lehnt der Gestütsbesitzer an einem königsblauen Cabrio mit zurückgeschlagenem Verdeck, drapiert sich beständig seinen gleichfalls königsblauen Seidenschal über die Schulter und raucht eine Zigarette, die so riecht, als würde er sie einzeln aus Indien einfliegen lassen. Er hat eine sehr lange, sehr gerade Nase, die in ihrer Linienführung nur noch von seinem Seitenscheitel übertroffen wird, und aus der Brusttasche seines sehr englischen Jacketts ragen die wohlgezupften Ecken eines Einstecktuchs in, wer hätte es gedacht, königsblau. Der Typ wäre offenbar gerne Prinz Charles – als der noch keine grauen Haare hatte. Und es ist ihm ernst damit.
Als Phil sich vorstellt und Piet Hansen die Hand reicht, mustert der ihn von oben bis unten, schnippt seine Zigarette mit einer lässigen Handbewegung unter den nächsten Baum und antwortet: »Swell!« Anschließend befühlt er Phils Jackett, was sich außerhalb meines Sichtfeldes abspielt, allerdings ahne ich, dass er dabei das Revers zwischen Daumen und Zeigefinger reibt. »Beachtlich«, ist sein Kommentar dazu. O Mann.
Zufällig steht neben Hansens Cabrio der Schminkwagen von Ashton Kutcher. Könnte man jedenfalls annehmen. Da er jedoch auf der Rückseite eine Ladeklappe hat, nehme ich mal an, dass es in Wirklichkeit ein Pferdeanhänger ist. Die Scheiben sind getönt, und an der Seite ist ein Familienwappen angebracht, unter dem in geschwungener Schrift ein Name steht. HANSEN, wie ich vermute. Von irgendwoher ist leise Musik zu hören, was Klassisches, mit Geigen und so. Der gute Piet streicht sich seinen Schal über die Schulter, öffnet den in die Seitenwand eingelassenen Schaltkasten und drückt einen von drei Knöpfen. Mit einem kaum hörbaren Pfffff öffnet sich die Ladeklappe, verwandelt sich in eine rutschsichere Rampe, setzt mit minimalem Knirschen auf dem Boden auf und verstummt. In Erscheinung tritt ein beeindruckend muskulöser Pferdearsch.
»Darf ich vorstellen«, Piet Hansen streicht versonnen über den schwarzglänzenden Hintern, »Störtebeker«.
»Ihr Pferd ist nicht bei den anderen?«, fragt Phil.