Eric-Emmanuel Schmitt
Die Frau im Spiegel
Roman
Aus dem Französischen von Marlene Frucht
FISCHER E-Books

Eric-Emmanuel Schmitt, geboren 1960 in St.-Foy-les-Lyons, studierte Klavier in Lyon und Philosophie in Paris. Anfang der 90er Jahre begann er als Autor für Theater, Film und Fernsehen zu arbeiten. Er lebt heute in Brüssel. Seine Werke wurden in 40 Sprachen übersetzt und haben sich mehr als zehn Millionen Mal verkauft. Zuletzt erschien in deutscher Übersetzung: ›Die Träumerin von Ostende‹, Frankfurt 2011.
Covergestaltung: R.M.E., Roland Eschlbeck und Rosemarie Kreuzer
Coverabbildung: © Elle Moss / Trevillion Images
Die französische Originalausgabe erschien 2011
unter dem Titel ›La femme au miroir‹
bei Édition Albin Michel, Paris
Copyright © Édition Albin Michel 2011
Für die deutsche Ausgabe:
© 2012 S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402243-7
Für Bruno Metzger
Ich glaube, ich bin anders«, murmelte sie.
Niemand schenkte ihren Worten Beachtung. Während die Matronen sich an ihr zu schaffen machten – die eine arrangierte einen Schleier, die andere ein Band, die Putzmacherin kürzte ihren Unterrock und die Witwe des Landvermessers half ihr in bestickte Schuhe hinein –, saß das junge Mädchen still da und hatte das Gefühl, dass man sie in einen Gegenstand verwandelte, in einen faszinierenden Gegenstand zwar, so verführerisch, dass die Nachbarinnen wachsam wurden, aber dennoch in ein bloßes Objekt.
Anne betrachtete den Sonnenstrahl, der durch die kleine Fensteröffnung hereinschien und schräg durch die Kammer fiel. Sie lächelte. Das Mansardenzimmer, in dessen Halbdunkel dieser goldene Strahl eindrang, glich einem Dickicht, das von der Morgendämmerung überrascht wird – die Wäschetruhen waren das Farnkraut und die Frauen die Hirschkühe. Trotz des anhaltenden Geplappers konnte Anne hören, wie die Stille durch das Zimmer flog, eine seltsame, friedliche, dichte Stille von weither, die eine Botschaft überbrachte, welche vom Geschnatter der Klatschweiber übertönt wurde.
Anne blickte um sich in der Hoffnung, eine der Damen hätte ihr Murmeln gehört, doch niemand schaute sie an. Sie konnte sich der Dekorationswut der Frauen nicht erwehren und war sich schon nicht mehr sicher, ob sie diesen Satz wirklich ausgesprochen hatte:
»Ich glaube, ich bin anders.«
Was hätte sie dem noch hinzufügen können? Sie würde gleich heiraten, doch seit dem Aufwachen interessierte sie sich nur für den Frühling und die sich öffnenden Blüten. Die Natur lockte sie mehr als ihr Verlobter. Anne ahnte, dass das Glück sich draußen versteckte, hinter einem Baum, wie ein Hase; sie konnte seine Nasenspitze sehen, sie fühlte seine Gegenwart, seine Aufforderung, seine Ungeduld … Sie verspürte eine unbändige Lust, loszulaufen, sich im Gras zu wälzen, Stämme zu umarmen, die pollengeschwängerte Luft tief in ihre Lungen einzusaugen. Das wichtigste Ereignis war für sie momentan der Tag an sich, so frisch, so hinreißend und verschwenderisch, und nicht ihre Vermählung. Was mit ihr passierte – ihre Verbindung mit Philippe –, erschien unbedeutend, verglichen mit dieser Pracht, mit dem April, der Feldern und Wäldern neue Kraft verlieh, mit der Macht, die Schlüsselblumen, Primeln, blaue Disteln erneut aufblühen ließ. Sie wollte aus dem engen Raum, in dem sie für die Zeremonie vorbereitet wurde, entfliehen, den Händen, die sie herausputzten, entkommen und sich nackt in den nahen Fluss werfen.
Dem Fensterkreuz gegenüber warf das Lichtbündel den Schatten der Vorhangspitze an die unregelmäßig gekalkte Wand. Anne würde es niemals wagen, diesen erstaunlichen Strahl zu zerstören. Nein, sie hätte sich nicht einmal von ihrem Hocker gerührt, wenn ihr jemand gesagt hätte, dass das Haus brannte.
Sie schauderte.
»Was hast du gesagt?«, wollte ihre Cousine Ida wissen.
»Nichts.«
»Du träumst von ihm, nicht wahr?«
Anne senkte den Kopf.
Nachdem die zukünftige Braut sie in ihrem Verdacht bestätigt hatte, brach Ida in ein schrilles Lachen aus, das ihre schlüpfrigen Gedanken verriet. Seit ein paar Wochen bekämpfte sie ihre Eifersucht, was ihr nur gelang, indem sie sie in anzüglichen Spott verwandelte.
»Anne wähnt sich bereits in den Armen ihres Philippe!«, verkündete sie mit gepresster Stimme in den Raum hinein. »Die Hochzeitsnacht wird bestimmt leidenschaftlich. Ich möchte heute Nacht nicht anstelle ihrer Matratze sein.«
Die Frauen brummelten, die einen, weil sie Anne recht gaben, die anderen, weil sie Idas vulgäres Verhalten kritisierten.
Plötzlich ging die Tür auf.
Annes Tante und ihre Großmutter kamen mit majestätischen, theatralischen Schritten herein.
»Nun wirst du endlich sehen, mein Kind, was dein Mann bald sehen wird«, verkündeten sie im Chor. Als würden sie einen Dolch aus den Falten ihrer schwarzen Kleider ziehen, holten die beiden Witwen zwei Kästchen aus geschnitztem Elfenbein hervor und öffneten sie vorsichtig: In jeder Schatulle lag ein silbern eingefasster Spiegel. Ein überraschtes Raunen entstand, denn die Anwesenden wussten, dass sie Zeuginnen eines außergewöhnlichen Ereignisses wurden: Spiegel gehörten nicht zu ihrem alltäglichen Leben; wenn ausnahmsweise jemand einen besaß, dann war es ein Spiegel aus gewölbtem Zinn, aus poliertem Metall, der angelaufene, verbeulte, matte Bilder zurückwarf; hier waren es Glasspiegel, die ein klares Bild der Wirklichkeit in lebendigen Farben wiedergaben.
Die Damen kreischten vor Bewunderung.
Mit geschlossenen Augen nahmen die beiden Magierinnen die Komplimente entgegen, dann schritten sie ohne zu zögern zur Tat. Tante Godelieve stellte sich vor Anne, Großmutter Franciska hinter ihren Nacken, und jede hielt ihr Instrument wie einen Schild mit ausgestrecktem Arm vor sich hin. Feierlich, sich ihrer Bedeutung bewusst, erklärten sie dem Mädchen die Verwendung:
»Im Spiegel vor dir wirst du den Spiegel hinter dir sehen. Auf diese Weise kannst du dich von hinten oder im Profil betrachten. Du musst uns helfen, damit wir uns richtig hinstellen.«
Ida näherte sich voller Neid.
»Wo habt ihr die denn aufgetrieben?«
»Die Gräfin hat sie uns ausgeliehen.«
Alle beglückwünschten die beiden zu ihrem klugen Vorstoß: Nur eine adlige Dame besaß solche Schätze, denn die Hausierer boten derartige Artikel dem einfachen Volk, das zu arm war, nicht an.
Anne warf einen Blick in den runden Rahmen, betrachtete ihr neugieriges Gesicht, bewunderte die komplizierten Zöpfe in ihrem blonden Haar, die zu einer raffinierten Frisur geschlungen waren. Sie war überrascht von ihrem langen Hals, den winzigen Ohren. Gleichzeitig hatte sie ein merkwürdiges Gefühl: Sie sah im Spiegel zwar nichts, was ihr missfiel, doch sie sah auch nichts, was ihr vertraut vorkam; sie betrachtete eine Fremde. Ihr spiegelverkehrtes Gesicht, von vorn, von der Seite oder von hinten betrachtet, konnte genauso gut das einer anderen wie das ihre sein; es sah ihr nicht ähnlich.
»Gefällst du dir?«
»Oh ja! Vielen Dank.«
Annes Antwort hatte der Fürsorglichkeit ihrer Tante gegolten; sie war nicht besonders eitel und hatte das Erlebnis mit dem Spiegel bereits vergessen.
»Ist dir bewusst, was für ein großes Glück du hast?«, rief Großmutter Franciska aus.
»Und ob«, beteuerte Anne, »ich habe großes Glück, euch zu haben.«
»Nein, ich meinte Philippe. Heutzutage findet man so gut wie keine Männer mehr.«
Die Nachbarinnen nickten ernst mit ihren Hauben. Männer waren in Brügge äußerst rar geworden. Noch nie hatte die Stadt einen derartigen Mangel erlebt … Die Männer waren verschwunden. Was blieb? Ein Kerl für zwei Weiber? Vielleicht sogar nur einer für drei. Armes Flandern, die Gegend litt unter einem geheimnisvollen Phänomen: Die Männer waren knapp geworden. Innerhalb von ein paar Jahrzehnten hatte die männliche Bevölkerung im Norden Europas in beunruhigender Weise abgenommen. Viele Frauen mussten sich damit abfinden, allein oder mit anderen Frauen in einer Beginengemeinschaft zu leben; manche verzichteten darauf, Mutter zu werden; einige besonders kräftige erlernten Herkulesarbeiten, das Schmiede- oder Tischlerhandwerk, damit es an nichts fehlte.
Der Putzmacherin war der anklagende Ton ihrer Freundin aufgefallen, und sie warf ihr einen strengen Blick zu.
»Gott hat es so gewollt!«
Großmutter Franciska zuckte zusammen, aus Furcht, der Gotteslästerung beschuldigt zu werden. Sie berichtigte sich:
»Natürlich ist es Gott, der uns diese Prüfung geschickt hat! Gott hat unsere Männer zu den Kreuzzügen aufgerufen. Für Gott sterben sie im Kampf gegen die Ungläubigen. Es ist Gott, der sie im Meer untergehen lässt, der sie auf der Straße, tief in den Wäldern sterben lässt. Gott tötet sie bei der Arbeit. Gott ruft sie vor uns zu sich. Er will, dass wir unser Dasein ohne sie fristen.«
Anne konnte verstehen, dass Großmutter Franciska Gott verabscheute; wenn sie über Ihn sprach, dann mit mehr Schrecken als Bewunderung, sie beschrieb Ihn wie einen Plünderer, einen Henker, einen Mörder. Anne glaubte nicht, dass Gott so war, und sie glaubte auch nicht, dass Er dort wirkte, wo ihre Ahnin Ihn vermutete.
»Du, meine kleine Anne«, fuhr die alte Frau fort, »wirst noch ein traditionelles Frauenleben haben: Einen Mann für dich allein, viele Kinder. Du hast großes Glück. Und er ist ja auch nicht hässlich, dein Philippe … nicht wahr, meine Damen?«
Lachend stimmten sie ihr zu, die einen verlegen, die anderen erheitert darüber, sich zu einem solchen Thema äußern zu sollen. Der sechzehnjährige Philippe war das Paradebeispiel des robusten, flämischen Jünglings, kräftig, mit langen Beinen, schmaler Taille, breiten Schultern, zart gebräuntem Teint und hopfenfarbenem Schopf.
Tante Godelieve rief:
»Wusstet ihr, dass der Bräutigam auf der Straße steht und versucht, einen Blick auf seine Versprochene zu werfen?«
»Nein?«
»Er weiß, dass sie hier von uns vorbereitet wird, er kann kaum stillstehen. Schnell, schüttet Wasser aufs Feuer! Wenn man vor Ungeduld sterben könnte, wäre er wohl schon tot.«
Anne trat ans Fenster, dessen mit Ölpapier bespannter Rahmen offen stand, um den Frühling hereinzulassen; sie achtete darauf, den Lichtstrahl nicht abzuschneiden und lehnte sich zur Seite, bis sie Philippe auf dem glänzenden Pflaster stehen sah. Er plauderte fröhlich mit seinen Freunden, die ihn aus Brügge in das eine Meile entfernte Dorf Saint-André begleitet hatten, wo Großmutter Franciska lebte. Es stimmte, er blickte immer wieder zur letzten Etage des Hauses hinauf und wartete voll glühender Vorfreude auf sie.
Ihr wurde warm ums Herz. Sie durfte nicht zweifeln!
Anne lebte seit einem Jahr in Brügge. Bis dahin hatte sie nur einen einsamen Hof im Norden gekannt, inmitten der flachen, übelriechenden, feuchten Landschaft, über der stets drückende Wolken lasteten; dort hatte sie mit ihrer Tante und ihren Cousinen gelebt, denn diese waren ihre einzige Familie, seit ihre Mutter bei ihrer Geburt gestorben war, ohne die Identität des Vaters preiszugeben. Solange ihr Onkel sich um die Bewirtschaftung gekümmert hatte, war sie auf dem Hof geblieben; nach dem Tod des Onkels hatte Tante Godelieve beschlossen, nach Brügge zurückzukehren, wo ihre Brüder wohnten. Nicht weit davon entfernt verlebte Großmutter Franciska in Saint-André ihre letzten Tage.
Während Brügge für Godelieve eine tröstliche Rückkehr zu den Ursprüngen bedeutete, war es für Anne, Ida, Hadewijch und Bénédicte – ihre drei Cousinen – ein Schock gewesen: Aus Landmädchen waren Städterinnen geworden; und aus Mädchen junge Frauen.
Ida, die Älteste, fest entschlossen, schnell einen Mann zu finden, hatte sich den wenigen verfügbaren Jungen mit fast schon männlichem Ungestüm und einer Kühnheit an den Hals geworfen, die ihr eher zum Nachteil gereichten. Sie hatte den in der Verkaufsbude eines Schuhmachers arbeitenden Philippe entdeckt und ihn umworben, und er hatte ihr Winken zunächst auch erwidert, dann aber begonnen, Anne den Hof zu machen und ihr jeden Tag eine Blume zu schenken. Später gestand er Ida ungeniert, dass sie ihm als Trittbrett gedient habe, um ihre Cousine kennenzulernen.
Dieses – eigentlich ziemlich banale – Vorgehen hatte Ida mehr Verdruss bereitet, als dass es Anne mit Stolz erfüllt hätte. Sie betrachtete die Menschen mit anderen Augen als ihre Altersgenossinnen: Während die Mädchen in dem Schustergesellen einen strahlenden jungen Mann sahen, erblickte Anne ein Kind, das gerade erst in die Höhe geschossen war und sich jetzt auf seinen langen Beinen über diesen neuen Körper wunderte, der überall aneckte. Sie hatte Mitleid mit ihm. Ihr fielen an ihm die Dinge auf, durch die er einem Mädchen glich – seine Haare, sein weicher Mund, der helle Teint. In seiner tiefen, klangvollen Stimme konnte sie, in kleinsten Abweichungen, in einer von ihm zurückgehaltenen Erregung, noch Echos der hellen Stimme des Jungen ausmachen, der er gewesen war. Ging sie in seiner Begleitung zum Markt, dann betrachtete sie ihn wie eine menschliche Landschaft, die wogte, sich veränderte, im Wandel begriffen war; und das war es vor allem, was sie für ihn einnahm, sie, die sich für das Wachstum einer Pflanze begeistern konnte.
»Willst du mich glücklich machen?« Eines Tages hatte Philippe ihr diese Frage gestellt. Sie war rot geworden und hatte schnell und aufrichtig geantwortet:
»Ja, natürlich!«
Flehend hatte er nachgefragt: »Glücklich, glücklich?«
»Ja.«
»Werde meine Frau.«
Diese Aussicht entzückte sie weniger: was, er auch? Also dachte er wie ihre Cousine, wie die Leute, die sie so sehr langweilten. Wozu diese Konvention? Spontan versuchte sie, zu verhandeln:
»Meinst du nicht, dass ich dich glücklich machen kann, ohne dich zu heiraten?«
Er rückte misstrauisch ein Stück von ihr ab.
»Bist du so ein Mädchen?«
»Wovon sprichst du?«
Manchmal benahmen die Jungen sich merkwürdig … Was hatte sie denn Skandalöses gesagt? Warum blickte er sie mit gerunzelten Brauen an?
Nachdem eine Pause verstrichen war, lächelte er, erleichtert, dass sich hinter Annes Vorschlag nichts Schlechtes verbarg. Er fing erneut an:
»Ich möchte dich heiraten.«
»Warum?«
»Jeder Mann braucht eine Frau.«
»Warum mich?«
»Weil du mir gefällst.«
»Warum?«
»Du bist die Hübscheste und …«
»Und?«
»Du bist die Hübscheste!«
»Na, und?«
»Du bist die Hübscheste!«
Da es ihr nicht darum gegangen war, ein Kompliment aus ihm hervorzulocken, fühlte sie sich auch nicht geschmeichelt. Als sie wieder bei ihrer Tante war, fragte sie sich bloß: hübsch, reicht das? Er schön, ich hübsch.
Am nächsten Morgen bat sie ihn, ihr seine Gedanken näher zu erläutern.
»Warum du und ich?«
»Du und ich, mit unserem Aussehen, wir kriegen bestimmt wunderbare Kinder!«, rief er.
O nein, Philippe bestätigte ihre Befürchtungen! Er redete wie ein Züchter daher, ein Bauer, der seine besten Tiere miteinander paart, damit sie sich vermehren. War das denn die Liebe zwischen den Menschen? Mehr nicht? Wenn sie doch nur eine Mutter gehabt hätte, mit der sie derlei Dinge bereden könnte …
Sich fortzupflanzen? War es das, was die Frauen in ihrer Umgebung alle nicht erwarten konnten? Selbst die unbändige Ida?
Anne, die der Heiratsantrag nachdenklich gemacht hatte, gab darauf keine Antwort. Der eifrige Philippe hielt ihr sanftmütiges Verhalten für Zustimmung.
Begeistert fing er an, ihre Verbindung herumzuerzählen und berichtete jedem von seinem großen Glück.
Auf der Straße gratulierte man Anne. Sie war überrumpelt und widersprach nicht. Als Nächstes wurde sie von ihren Cousinen, auch von Ida, beglückwünscht, die erfreut war, dass ihre verführerische Cousine vom Markt der Rivalinnen verschwand. Schließlich schlug Tante Godelieve mit Tränen in den Augen jubelnd die Hände zusammen, froh, ihre Aufgabe erfüllt zu haben – die Tochter ihrer verstorbenen Schwester bis vor den Altar zu begleiten. Anne saß in der Falle, denn um diese großzügige Seele nicht zu enttäuschen, zwang sie sich, zu schweigen.
Da sie dem Missverständnis nicht widersprach, wurde eine Tatsache daraus: Anne würde Philippe heiraten.
Von Tag zu Tag kam die Begeisterung ihrer Lieben ihr merkwürdiger vor. Überzeugt, dass ihr irgendetwas Wichtiges entging, ließ sie zu, dass Philippe mutiger wurde, sie küsste und an sich drückte.
»Du wirst nur mich lieben und niemanden sonst!«
»Unmöglich, Philippe. Ich liebe doch schon jetzt andere Menschen.«
»Wie bitte?«
»Meine Tante, meine Cousinen, Großmutter Franciska.«
»Einen Jungen?«
»Nein. Aber ich kenne auch kaum welche, mir fehlte die Gelegenheit dazu.«
Bei dieser Erklärung blieb er stehen und blickte sie misstrauisch und ungläubig an; doch sie hielt seinem Blick ohne zu blinzeln stand, und so brach er schließlich in Lachen aus.
»Du nimmst mich auf den Arm, und ich falle drauf herein! Oh, was bist du nur für eine garstige Person, mich so zu erschrecken … Ganz schön durchtrieben! Du weißt schon, wie du es erreichst, dass ein Mann gar nicht mehr lockerlässt, sich immer mehr in dich vernarrt und nur noch an dich denkt.«
Da sie seine Überlegungen nicht recht verstand, ließ sie es gut sein, zumal er sich in seiner Aufregung mit glänzendem Blick und zitternden Lippen an sie schmiegte; sie fand Gefallen daran, in seinen Armen zu schmelzen, sie mochte seine Haut, seinen Geruch, seinen festen, hitzigen Körper; an ihn gepresst ließ sie sich mitreißen und verscheuchte ihre Zweifel.
Ein Schatten hatte Einzug in die Dachkammer gehalten. Auf einmal hatte sich die Atmosphäre im Zimmer verändert.
Anne sprang auf: Ida hatte den Lichtstrahl zerstört.
Die künftige Braut verspürte einen Schmerz im Unterleib, als hätte ihre Cousine ihr die Faust in die Eingeweide gerammt. Mit vorwurfsvoller Stimme rief sie:
»O nein, Ida, nein!«
Überrascht hielt die Cousine inne. Sie war gleich in der Defensive, bereit, zu kratzen, ohne zu bemerken, dass ihre Unterröcke den Sonnenstrahl zerschnitten.
»Was? Was hab ich?«
Anne seufzte, da es ihr wohl nicht gelingen würde, Ida klarzumachen, dass sie einen wertvollen Schatz zerstört hatte, ein reines Meisterwerk, welches das Tagesgestirn seit dem Morgen in der Kammer hatte entstehen lassen. Bedauernswerte Ida! Plumpe, trotzige Ida, die mit ihren breiten, obszönen Hüften ein Denkmal der Schönheit zerstörte, ohne es überhaupt zu begreifen.
Anne beschloss, zu lügen:
»Ida, warum machst du nicht auch von den beiden Spiegeln Gebrauch? Komm her, setz dich auf meinen Platz.«
Dann wandte sie sich an ihre Tante und ihre Großmutter:
»Dürfen meine drei Cousinen das Geschenk auch benutzen? Es wäre mir eine große Freude.«
Ida, die zunächst leicht aus der Fassung geraten war, stimmte Anne zu und bat die beiden Frauen inständig darum. Die verzogen zwar erst das Gesicht, nickten dann aber, gerührt von Annes Schlichtheit und Herzlichkeit.
Sogleich warf sich Hadewijch, die Kleinste, auf den Hocker.
»Ich zuerst!«
Ida grollte und wollte ihre Schwester schon davon abhalten, ihr zuvorzukommen, doch dann hielt sie inne, weil ihr einfiel, dass sie als Älteste eine gewisse Würde wahren sollte. So trat sie stattdessen ans Fenster.
Anne war empört: Schon wieder zerschnitt Ida den Strahl, und merkte nicht einmal, wie er zuerst ihre Brust und dann ihr Gesicht berührte. Sie spürte ihn nicht. Was für eine törichte Person!
Als sie Philippe auf der Straße entdeckte, lächelte Ida. Doch im nächsten Augenblick verzog sie das Gesicht.
»Er ist enttäuscht. Dich will er sehen, nicht mich.«
Idas Miene verfinsterte sich, das Leuchten verschwand aus ihrem Blick, sie schluckte traurig. Anne, die sich zu ihr neigte, konnte ihren großen Kummer geradezu körperlich spüren; sie streckte der Cousine die Hand hin und sagte zu ihr:
»Ich hätte ihn dir überlassen …«
»Was?«
Ida zuckte zusammen, sie musste sich verhört haben.
»Ich würde dir Philippe ohne weiteres überlassen.«
»Ach ja?«
»Wenn er nicht in mich verliebt wäre.«
Anne glaubte, etwas Nettes gesagt zu haben.
Eine Ohrfeige schallte durch den Raum.
»Miststück!«, zischte Ida.
Anne spürte ihre Wange heiß werden und begriff, dass sie es war, die die Ohrfeige bekommen hatte: Ida hatte sie geschlagen.
Die Frauen unterbrachen ihre Gespräche und drehten sich um.
»Du gemeine Rotznase, du glaubst wohl, dass mich nie ein Mann begehren wird? Ich werde dir beweisen, dass du falschliegst. Wirst schon sehen. Ich finde zehn Männer, die mich wollen, mehr noch! Hunderte!«
»Einer würde doch reichen«, entgegnete Anne sanft.
Da traf eine zweite Ohrfeige ihr Gesicht.
»Schandmaul! Kannst nicht aufhören, was? Du bist dir also sicher, dass ich nicht mal einen finden werde! Was bist du für eine Plage. Böse bist du!«
Tante Godelieve mischte sich ein:
»Ida, beruhige dich!«
»Anne treibt mich zur Weißglut, Mama. Sie behauptet, ich sei hässlich und abstoßend!«
»Überhaupt nicht. Anne hat doch nur gesagt, was ich auch denke: Ein Mann wird dir genügen, du brauchst nicht zehn zu verführen oder gar tausend.«
Ida musterte ihre Mutter herausfordernd, nach dem Motto Red du nur, wir werden schon sehen. Godelieve hob das Kinn leicht an und verlangte:
»Entschuldige dich bei Anne.«
»Niemals!«
»Ida!«
Als Antwort brüllte das ältere Mädchen, rot vor Zorn, mit hervortretenden Halsadern:
»Lieber sterbe ich!«
Godelieve übergab den Spiegel, den sie in Händen hielt, der Witwe des Landvermessers und machte einen Satz auf ihre Tochter zu. Ida wich aus; ohne Angst durchquerte sie den Raum, scheuchte ihre kleine Schwester vom Stuhl und befahl den Frauen:
»Jetzt bin ich an der Reihe.«
Godelieve, die sich nicht auf eine aussichtslose Auseinandersetzung einlassen wollte, bedeutete ihren Freundinnen, der Jähzornigen ihren Wunsch zu erfüllen. Dann ging sie zu ihrer Nichte.
»Sie ist wahrscheinlich neidisch auf dich, Anne. Sie hat geglaubt, sie würde die Erste sein, die heiratet.«
»Ich weiß. Ich verzeihe ihr.«
Ihre Tante umarmte sie.
»Ach, hätte meine Ida doch nur deinen Charakter …«
»Bestimmt wird es ihr bessergehen, wenn sie bekommt, was sie sich wünscht. Eines Tages wird sie ihre Wut überwinden.«
»Hoffentlich hast du recht!«, sagte Godelieve und streichelte ihrer Nichte über die Schläfe. »Was dich angeht, bin ich auf jeden Fall traurig und glücklich zugleich. Traurig, weil ich dich nun seltener sehen werde. Glücklich, weil du einen anständigen Jungen gefunden hast.«
Als sie hörte, wie Tante Godelieve mit ruhiger Stimme über ihre Zukunft sprach, fasste Anne neuen Mut und hörte auf, sich Fragen zu stellen. Wieder aufgeheitert hielt sie ihr Gesicht in die frische Luft.
Da ließ sich ein Schmetterling auf dem Rand des Daches nieder. Seine Flügel, innen zitronengelb, außen grün, zitterten, als würden sie atmen. Das Insekt war dort gelandet, um sich zu putzen, es wähnte sich allein und unbeobachtet und rieb sich mit den Vorderbeinchen den Saugrüssel. Anne war fasziniert, sie hatte den Eindruck, als finge das Tier mit dem goldenen Staub auf seinen Flügeln das gesamte Licht des Himmels ein, bündele es und nähme es in sich auf. Es strahlte so hell, dass alles in seiner Nähe grau wurde.
»Wie schön er ist!«, sagte Godelieve und schauderte.
»Nicht wahr?«, murmelte Anne und war entzückt, diese Empfindung mit ihrer Tante teilen zu können.
»Wunderbar«, bestätigte Godelieve.
»Ja, ich könnte ihn stundenlang betrachten.«
Godelieve zuckte mit den Schultern.
»Anne, nichts anderes wirst du von nun an tun. Das ist dein gutes Recht. Es ist sogar deine Pflicht.«
Fassungslos drehte Anne sich zu ihrer Tante um. Die fuhr fort:
»Du wirst ihm gehören, aber er wird auch dir gehören.«
Anne lächelte. Was? Sie würde einem Schmetterling gehören … der ihr gehören würde? Was war das für eine Zauberei, die ihre Tante ihr da in Aussicht stellte? Das war mit Sicherheit die beste Neuigkeit des Tages. Ihre Tante hatte sich in eine gute Fee aus dem Märchen verwandelt. Das Mädchen strahlte, offenbar konnte sie es gar nicht erwarten.
Gerührt strich Godelieve ihrer Nichte mit den Handflächen über die Wangen.
»Wie sehr du ihn liebst!«, rief sie.
Dann drehte sie sich zum Fenster um und zeigte auf eine weit entfernte Silhouette.
»Man muss zugeben, dass der Hut ihm aber auch wirklich gut steht.«
Verwirrt folgte Anne Godelieves Blick und stellte fest, dass diese auf die Straße zu Philippe hinunterblickte, der eine Filzkappe mit einer Feder auf dem Kopf trug. Sie fröstelte.
»Ich bin nicht normal«, dachte sie. Alles lief verkehrt! Zwei Dinge konnten durch das Fenster betrachtet werden, Philippe und ein Schmetterling, und während die Aufmerksamkeit der Verlobten bei dem Schmetterling verweilte, betrachtete die Tante den Verlobten.
Plötzlich schrie jemand im Raum auf.
»Herrje! Was ist das für ein Fleck?«
Ida saß auf dem Hocker, bleich vor Zorn und zeigte mit dem Finger auf den Spiegel vor ihr.
Großmutter Franciska befürchtete einen Wutausbruch und zog den hinteren Spiegel weg.
»Da ist nichts. Du hast dir nur etwas eingebildet. Gar nichts ist da.«
»Dann nimm den Spiegel nicht weg.«
Zitternd brachte die alte Frau den Spiegel wieder an seinen Platz.
Ida musterte das bläuliche Mal auf ihrem Nacken, von dem jeder wusste, nur sie selbst nicht.
»Ah! Das ist ja widerlich! Abstoßend!«
Sie sprang vom Hocker, rasend vor Zorn.
Vor Schreck öffnete Großmutter Franciska die Hand.
Es schepperte.
Glas zersplitterte.
Auf das laute Geräusch folgte betroffenes Schweigen.
Der Spiegel war zerbrochen. Während der Rahmen aus Silber ganz geblieben war, bestand das Glas nur noch aus unzusammenhängenden Rauten, die in wildem Durcheinander einzelne Teile des Zimmers widerspiegelten.
Franciska stöhnte.
Godelieve stürzte zu Boden.
»Mein Gott, was wird die Gräfin denken?«
Die Frauen versammelten sich um die Splitter, als würden sie bei einem Leichnam wachen. Ida biss sich auf die Lippen, sie wusste nicht, welche Katastrophe sie zuerst beweinen sollte, die Flechte auf ihrem Nacken oder den zerbrochenen Spiegel.
Sie beratschlagten halblaut, flüsternd, mit angehaltenem Atem, als könnte die adlige Dame sie bereits hören:
»Wir müssen jemanden finden, der ihn repariert.«
»Aber wo? Hier in Saint-André gibt es niemanden, der …«
»Ich glaube, ich weiß jemanden. In Brügge gibt es einen Maler …«
»Seid doch nicht blöd: Vorher muss ich die Wahrheit sagen.«
»Egal, ob du die Wahrheit sagst oder sie verschweigst, in jedem Fall musst du einen neuen Spiegel kaufen.«
»Mein Gott, aber wie?«
»Ich werde zahlen«, versicherte Großmutter Franciska, »wir sind bei mir und ich bin es, die ihn hat fallen lassen.«
»Weil Ida dich so angeschrien hat …«
»Ich zahle«, wiederholte die alte Frau.
»Nein, ich«, widersprach Ida.
»Und woher nimmst du die Écus dafür?«, brummte Godelieve.
Als sie die verschiedenen Lösungen erwogen hatten, schlug die bauchige Glocke des Dorfes und erinnerte sie daran, dass Anne nun bald heiraten sollte.
Godelieve hob den Kopf.
»Anne?«
Als das Mädchen nicht antwortete, fuhr Godelieve zusammen.
»Anne, komm her!«
Die Frauen suchten erst auf dem Hängeboden, dann in der ersten Etage: Die Braut war verschwunden.
»Dann ist sie wohl zu ihrem Kavalier gegangen«, sagte Großmutter Franciska schließlich.
Godelieve hob ein Paar Schuhe auf.
»Ohne ihre Pantinen?«
Die Witwe des Landvermessers deutete auf ihr Geschenk, das in der Nähe des Schemels lag.
»Und ohne die bestickten Pantoffeln, die ich ihr geliehen habe?«
Ida eilte ans Fenster.
»Philippe steht immer noch da unten und wartet.«
»Wo ist sie dann?«
Die Frauen durchkämmten alle Zimmer im Haus der Großmutter und riefen dabei immer wieder Annes Namen.
Als Godelieve im Erdgeschoss die Hintertür öffnete, die auf die Felder hinausging, erblickte sie feine Spuren von nackten Füßen auf der feuchten Erde, bis dorthin, wo das Gras begann, das den Boden bis zum Wald bedeckte.
»Wie? Sie ist weggelaufen?«
Die weit voneinander entfernten Abdrücke, von denen nur die Zehen sichtbar waren, zeigten, dass Anne den Zwischenfall mit dem Spiegel genutzt hatte, um nach draußen zu entwischen und leichtfüßig über die Felder zu laufen, bis sie schließlich im Wald verschwunden war.
Lago Maggiore, 20. April 1904
Liebes Gretchen,
nein, meine Liebe, Du irrst Dich nicht, es ist wirklich Deine Hanna, die Dir schreibt. Und wenn Du Dir die Fotos anschaust, die ich meinem Brief beilege, dann siehst Du, neben dem strahlenden Mann in der Pose eines Prinzen und unter den extravaganten, mehrstöckigen Hüten, eine kleine Person mit verlegenem Lächeln: Auch das bin ich. Ja, Du kannst ruhig lachen. Ach so, Du lachst schon? Du hast recht, ich bin dumm. Was soll man machen? Franz hat zwei Fehler, die er während unserer Verlobungszeit vor mir verborgen gehalten hat: Er schwärmt für Kopfbedeckungen, und er sammelt Souvenirs. Wo das hinführt? Zuerst verwandelt er mich bei den Putzmacherinnen in einen Vogelkäfig, eine Obstträgerin, eine Blumenvase, einen Rechen, der unzählige Bänder zusammengekehrt hat, oder sogar in das Hinterteil eines Pfaus, und anschließend schleift er mich entzückt zum Fotografen, um meine Lächerlichkeit für die Nachwelt festzuhalten.
Um diese Deckel zu tragen, bräuchte es eine hässlichere Frau als mich – eine wie unsere Tante Augustine, deren Hakennase gewinnt, wenn sie unter einem Stück Filz in Deckung gehen kann –, oder eine viel schönere – Dich. Aber Franz liebt Hüte so sehr, dass ihm entgangen ist, dass Hüte mich nicht besonders lieben.
Eine italienische Gräfin in Bergamo, der ich von diesem Drama erzählte, wies mich streng zurecht:
»Seien Sie nicht so hart zu sich, mein Kind. Franz vergöttert Sie nun mal so sehr, dass er gar nicht gemerkt hat, dass Hüte Ihnen nicht stehen.«
Ich gebe zu, ihr Urteil überraschte mich. In letzter Zeit fühle ich mich ständig brüskiert, beleidigt, vor den Kopf gestoßen; es sind zu viele ungewohnte Situationen, mit denen ich konfrontiert bin …
Apropos, Du willst bestimmt wissen, wie sich unsere Flitterwochen gestalten?
Ich muss wohl antworten idyllisch. Franz ist großartig, zärtlich, zuvorkommend, großzügig, wir amüsieren uns prächtig, und sechs Monate nachdem wir Wien verlassen haben, reihen wir auf unserer Rundreise durch Italien eine wunderschöne Stadt an die andere, eine zauberhafte Landschaft, eine atemberaubende Kirche an die nächste. Vergessen wir nicht, dass diese Halbinsel seit Jahrhunderten alles aufbietet, um frisch Verheiratete glücklich zu machen: Die Museen quellen über vor Meisterwerken, die Hotels haben kühle Zimmer, die Küche ist köstlich, das Eis exquisit, die sinnliche Sonne lädt zur Siesta ein, die Bediensteten kümmern sich aufopferungsvoll und mit einem Augenzwinkern um die Verliebten.
Kurz, meine Flitterwochen verlaufen tadellos. Aber bin ich überhaupt für Flitterwochen gemacht?
Ja, Du hast richtig gelesen, mein Gretchen, die Verfasserin dieser Seiten weiß nicht mehr, was sie denken soll. Ich fürchte, ich bin anders. Schrecklich anders. Warum kann ich mich nicht mit dem zufriedengeben, was eine andere entzücken würde?
Ich werde versuchen, Dir zu erklären, was mit mir passiert, und vielleicht hilft mir das ja, es selbst zu verstehen.
Ich hatte eine lange Kindheit. Während Du, meine liebe Cousine, schon verheiratet warst und drei Säuglinge großgezogen hast, habe ich darauf bestanden, ein Mädel zu bleiben, ich hob meine Röcke nur, um durch die Felder zu laufen oder einen Bach zu überqueren; eine richtige Frau werden zu wollen, kam mir nicht in den Sinn; wenn ich Jungen begegnet bin, hielt sich meine Neugier in Grenzen.
Und ich war glücklich …
Doch ich bekam ständig zu hören, dass ich mich erst in den Armen eines Mannes vollkommen fühlen würde, beziehungsweise an dem Tag, an dem ich Babys aus meinem Inneren herauspressen würde; und irgendwann war ich diese Ermahnungen leid und habe mir eine Rolle erfunden. So wurde ich die Anspruchsvolle, die Hochnäsige, für die nur ein Bräutigam aus besseren Kreisen in Frage kam.
Ironischerweise hat das Schicksal auf mich gehört. Obwohl ich diese Komödie eigentlich nur erfunden hatte, um mich zu schützen und um Bewerber zurückzuweisen, erwies sich meine Haltung für mich als vorteilhaft: Sie ermöglichte mir, auf Franz von Waldberg zu warten und ihm dann schließlich zu begegnen.
Erinnerst Du Dich an diese unglaublichen Armee-Taschenmesser damals in Genf, in denen sich nicht nur eine Klinge, sondern auch noch ein Dosenöffner, ein Schraubenzieher und ein Pfriem verbargen? Alle Männer waren verrückt danach. Tja, das ist Franz! Er ist kein Mann, er ist ein Schweizer Taschenmesser. Er ist alles zugleich – gut aussehend, reich, intelligent, einfühlsam, edel, höflich. Kurz, eine Partie, die man unmöglich ausschlagen kann.
Habe ich ihn aus Hochmut geheiratet? Die Wahrheit ist noch schlimmer, fürchte ich. Ich habe Franz allein aus Berechnung geheiratet. Wohlgemerkt, ich spreche nicht vom Vorgehen einer Intrigantin, die ihre Ziele vor allem im Liegen erreicht, noch von den Überlegungen einer Ehrgeizigen, nein, es ist die Berechnung einer Verzweifelten: Als er um meine Hand anhielt, habe ich mir gesagt, wenn ich mich an der Seite dieses Mannes nicht würde entfalten können, dann niemals. Also heiratete ich ihn, so wie man ein Medikament ausprobiert.
Ein Medikament wogegen? Gegen mich selbst.
Ich kann nicht die Frau sein, die unsere Epoche verlangt. Es fällt mir schwer, Interesse für die typischen Themen unseres Geschlechts aufzubringen, Männer, Kinder, Schmuck, Mode, Haushalt, Kochen sowie … meine eigene kleine Person. Denn die Weiblichkeit befiehlt einem, einen Kult um sich selbst zu veranstalten, um sein Gesicht, seine Figur, sein Haar, sein Aussehen. Eitelkeit ist mir fremd, ich ziehe immer irgendetwas an, schere mich nicht um Kosmetik und esse zu wenig. Wenn ich mir die Fotos in Franz’ Sammlung ansehe, auf denen ich mal wieder einen schrägen Vogel abgebe, dann ärgere ich mich immer bloß, dass ich es nicht noch grotesker hinbekommen habe, damit es wirklich einmal unterhaltsam wäre.
Ob Du mir wohl glauben wirst? Jeden Morgen verkleide ich mich als Dame. All die Unterröcke, die Korsetts, die Schnüre, die kilometerlangen Bänder und Stoffe, die ich wie ein Pferdegeschirr anlege, erscheinen mir so unpassend, als wären es geliehene Kleider. Nein, sei beruhigt, ich will mich nicht in einen Mann verwandeln. Ich bin einfach nur ein Mädchen, das sich ins Land der Frauen verirrt hat und nun gezwungen ist, erwachsen zu spielen. Mein Leben ist ein einziger Betrug.
Wie war denn die Hochzeitsnacht?, wirst Du mich fragen. Unter diesen Voraussetzungen musste man bei mir ja auf alles Mögliche gefasst sein …
Das Experiment ging problemlos vonstatten. Franz war zufrieden. Ich hatte mich so detailliert darüber informiert, was mit mir geschehen würde, dass ich den Eindruck hatte, eine Gymnastikstunde zu absolvieren, ich setzte die einstudierten Figuren in die Praxis um, bemühte mich, die richtigen Bewegungen zu machen, auf seine angemessen zu reagieren, und es war mir egal, ob manche davon mir weh taten. Am Morgen war ich ganz zappelig vor Glück: Ich hatte ein Examen bestanden.
Das Problem liegt darin, dass ich im Anschluss daran nicht nennenswert über das Gefühl des Stolzes hinausgekommen bin. Dabei gefällt mir Franz, seine Haut ist weich, sein Körper verströmt einen lieblichen Geruch, es stört mich nicht, ihn nackt zu sehen. Auf intellektueller Ebene genieße ich den Hunger, der ihn zu mir drängt, seine glänzenden Augen, seine Lippen, die mich am liebsten aufessen wollen, das Zittern, das über seine Glieder läuft, den raueren, tieferen Atem, jenes Fieber, das ihn dazu treibt, mich jeden Tag, manchmal mehrmals, auf einem Bett zu umarmen; sein Begehren fasziniert mich, ohne mir unangenehm zu sein; und es schmeichelt mir.
Doch teilen tue ich es nicht.
Niemals fühle ich mich auf identische Weise zu ihm hingezogen.
Ich gebe mich Franz hin aus Freundlichkeit, aus Altruismus, aus Liebenswürdigkeit, denn ich habe beschlossen, ihn so glücklich zu machen, wie ich kann. Ich erfülle meine häuslichen Pflichten. Weder treibt mich der Spaß noch quält mich die Lust, daher bereitet die Sache mir wenig Vergnügen, abgesehen von der Belohnung für das gewährte Almosen oder dem Gefühl, wenn ich diesen großen Kerl satt und zufrieden an meiner Schulter einschlafen sehe.
Ist das normal, mein Gretchen? In unserer Kindheit waren wir uns so nah, dass ich es wage, Dir diese peinliche Frage zu stellen. Bist Du auch nur zehn Jahre länger auf dieser Erde als ich, so bist Du mir doch, was Intelligenz und Weisheit angeht, weit voraus. Werner und Du, spielt sich Euer Leben in einem ähnlichen Ungleichgewicht ab? Ist das vielleicht das Schicksal der Frau, verführen, ohne verführt zu werden?
In einer Woche kehre ich nach Wien zurück, wo die Einrichtung unseres zukünftigen Zuhauses voranschreitet. Schreibe mir dorthin, mein Gretchen. Sicher, lieber würde ich Dich in Innsbruck besuchen, damit wir etwas Zeit miteinander verbringen könnten, aber zuerst muss ich die Dame des Hauses spielen, die letzten Möbel auswählen, Blumen aussuchen, mich den Bediensteten gegenüber behaupten, indem ich ein paar sinnlose Befehle gebe, um mir Autorität zu verschaffen. Und die Besuche meiner Schwiegerfamilie über mich ergehen lassen … Ich weiß schon, dass diese ganzen Adligen zuerst meinen Bauch betrachten werden, um zu erfahren, ob ich von unserer teuren Rundreise mit einem Waldberg-Erben in der Schublade zurückkehre. Doch mein Bauch ist flach, flacher noch als vor unserer Hochzeit, eingefallen gar, all die Wanderungen, die Reisen und unsere Leibesübungen auf dem Zimmer haben seine Magerkeit noch verstärkt. Sobald wir zu Abend gegessen haben und Franz mit den Männern rauchen geht, gehe ich nach oben in unsere Hotelsuite, ziehe mich vor dem Spiegel aus und nehme mich in Augenschein: Nichts wölbt sich hervor. Ich fürchte mich schon vor den kummervollen Gesichtern der Waldberg-Eltern, -Tanten und -Onkel. Und ich muss sagen, sie werden recht behalten: Als Frau bin ich eine Enttäuschung.
Ich stimme ihrem Urteil zu.
Vergiss mich nicht, mein Gretchen, und antworte mir, vor allem, wenn Du mich sehr dumm findest. Ich umarme Dich. Richte Werner meine Grüße aus. Und was Deine Söhne angeht, sag ihnen noch nichts, ich bringe ihnen venezianische Masken mit. Bis bald.
Deine Hanna
Als ihr Blick auf die Frau inmitten der anderen Tanzenden fiel, dachte Anny: »Wer ist denn die kleine Nutte?« Der Schweiß hatte ihr Make-up ruiniert, ihr Oberkörper steckte in einem engen, elastischen Bustier, um die Hüften hatte sie lediglich einen schmalen Streifen Stoff gewickelt, der wohl einen Rock darstellen sollte, kurz, das Mädchen kam ihr vor wie eine Prostituierte, die man für einen Abend buchen kann. Bestimmt auch nicht zu teuer! Ja, zuerst sah Anny über den nackten Schenkeln, wo Pailletten glitzerten, und oberhalb der Stiefel, deren extrem hohe Absätze sie zwangen, den Po herauszustrecken, nur eine von denen, deren Foto in Gratis-Zeitungen unter der Rubrik Escortservice zu finden war.
Doch dann geriet Anny wegen des Blödmanns neben ihr, der sich für den König der Tanzfläche hielt, ins Schleudern, sie ruderte mit den Armen, fiel nach vorn, fing sich in letzter Sekunde wieder; als sie sah, dass die dumme Ziege vor ihr sich in exakter Symmetrie zu ihr bewegte, begriff sie, dass es sich dabei um ihr eigenes Spiegelbild handelte.
Als sie sich erkannte, lachte sie wiehernd.
Das fand sie lustig.
Normalerweise hätte sie nicht so viel Humor besessen, aber dank der Mengen an Alkohol und Antidepressiva, die sie intus hatte, fand sie alles zum Lachen. Sie machte ihrem Double ein verschwörerisches Zeichen, das von ihm erwidert wurde, richtete sich wieder auf und fuhr fröhlich fort, wie wild herumzuzappeln.
Aus den Lautsprechern dröhnte ein kompakter, gleichförmiger, ohrenbetäubender Lärm. Bei dieser Lautstärke rollten Töne, Klänge und Rhythmen wie eine Brandung über die Nachtaktiven hinweg, wie tosende Wellen, die über einem Schwimmer zusammenbrechen. Im Übrigen waren sie hier, um sich abzureagieren, nicht um die Musik zu genießen. Sie nahmen die Stücke nicht mit den Ohren auf, sondern spürten sie in ihren Füßen, in ihrer Brust, in ihren wild klopfenden Herzen, die das Blut im Takt mit dem Schlagzeug pumpten.
Anny blickte zu der Kugel an der Decke. Die Sonne ihrer Nächte, sie liebte diesen Ball! Eine launische Sonne. Eine explosive Sonne. Eine Sonne, die sich schnell drehte. Sie hätte zwar als Erste geschworen, dass es ja wohl nichts Altmodischeres gab als diese Spiegelkugeln, deren unzählige Facetten das Licht der Scheinwerfer reflektierten, aber trotzdem ging sie nur in Clubs, in denen eine hing. Hier, im Blue and Red auf dem Sunset Boulevard, wo sie zur Zeit eine Art Stammgast war, hatte sie die Kugel besonders ins Herz geschlossen, es war die märchenhafteste und die größte, und mit ihren bunten Pfeilen, die sie durch die Dunkelheit schoss, erreichte sie auch noch die Menschen und Wände in großer Entfernung. Anny konnte stundenlang unter ihr tanzen.
»Ob er sich wohl blicken lässt?«
Sie hielt einen Moment in ihren Verrenkungen inne, um sich gerührt darüber zu wundern, was da in ihrem Gehirn passierte: Sie wartete ja auf jemanden. Sie! Anny, das unsentimentalste Mädchen von ganz Kalifornien, hatte sich verknallt … Phänomenal … Das war ja das Neueste! Seit sie David am Filmset kennengelernt hatte, war sie der Ansicht, dass es in Los Angeles einen Jungen gab, der es wert war, dass man hoffte, ihn zu treffen, auf ihn wartete, ihn sich herwünschte. Was für eine Verwandlung …
Sie verließ die Tanzfläche und ging an die Bar, die in aquariumblaues Licht getaucht war.
»Na, Anny«, fragte der Barman »alles top?«
»Alles tiptop, wie immer.«
Keiner von beiden meinte, was er sagte: Dem Angestellten waren Annys Neuigkeiten herzlich egal, er machte nur seinen Job und dazu gehörte, dass er sich mit dem Star unterhielt; was Anny anging, so wusste sie, dass sie weder besonders gut in Form noch auf dem Höhepunkt ihrer Karriere war. Lediglich auf der Höhe ihrer Absätze.
»Gin Tonic?«
»Ah, du kennst mich, du bist ja richtig gut: Man könnte meinen, du hättest mich schon mal nackt gesehen!«
Seine Antwort auf den Scherz war ein übertriebenes Augenzwinkern in genau dem richtigen Timing, als wäre er ein schlechter Schauspieler in einer Sitcom.
»Was verspricht sich der Blödmann davon?«, murmelte Anny, während er ihr mit ausladenden Gesten ihren Drink servierte. »Glaubt der etwa, ich stelle ihn einem Produzenten vor, damit er eine Rolle abkriegt? In L.A. gibt’s doch Tausende von Idioten wie den! Ist es denn nicht mehr möglich, in einem Restaurant, einer Bar oder einem Hotel etwas zu bestellen, ohne dass der Servierer sich für den nächsten Brad Pitt hält? Außer mir, die ich ja schon Schauspielerin bin, wollen alle Schauspieler werden.«
Sie lächelte: Es stimmte, sie hatte sich nicht darum gerissen, Schauspielerin zu werden! Mit fünf Jahren war sie über Werbeaufnahmen in das Metier hineingerutscht und hatte anschließend ihrer Mutter zuliebe in einigen Spielfilmen mitgespielt, bis zu Papa, ich hab mir dein Auto ausgeliehen, einer populären Komödie, die im Sommer 2005 zu einem Kassenschlager geworden war und sie in die Rolle eines Stars katapultiert hatte. Anny Lee, Amerikas kleiner Liebling! Im Grunde hatte sie nur getan, was man von ihr wollte, hatte mitgemacht und es über sich ergehen lassen, aber sie hatte gar keine Zeit gehabt, sich das, was ihr widerfuhr, zu wünschen.
Vor ihrem Glas sitzend, überlegte Anny, dass es nicht nett wäre, wenn David ein betrunkenes Mädchen antraf, falls er auftauchte; als hätten diese Skrupel bereits genügt, eine tugendhaftere Person aus ihr zu machen, kippte sie das Getränk anschließend ohne Reue hinunter.
Der Barmann zwinkerte ihr zu.
»Noch einen?«
»Warum nicht!«
Diese Unterhaltung musste sie schon tausendmal geführt haben, trotzdem hatte sie das Gefühl, zu improvisieren, brillante, schillernde Antworten zu formulieren und so schlagfertig zu sein wie nie. Und konnte sie in den Augen des Barkeepers nicht auch ein amüsiertes Leuchten entdecken?
Es sei denn, das hatte etwas anderes zu bedeuten …
»Mist! Hab ich mit ihm geschlafen?«
Sie musterte ihn. Sie konnte sich beim besten Willen nicht erinnern. Sicher, der Latino kam ihr bekannt vor … Aber warum? Weil sie ihm hier ständig begegnete oder weil sie mit ihm herumgevögelt hatte?
Als er sich ein Stück von ihr entfernte, warf sie einen Blick auf seine Jeans, die vorteilhaft seine schmalen Hüften betonte. »Bestimmt. Ich hab bestimmt mit ihm geschlafen.« Sie lachte. »Warum sollte er sonst in einer Disco arbeiten, wenn nicht, um hübsche Frauen abzuschleppen? Weiß doch jeder, dass denen das lieber ist als ein Trinkgeld.«
Sie konnte sich also so schlecht an ihre eigenen Taten erinnern, dass sie wie ein Polizist überlegen musste, ob es plausibel erschien, dass sie mit einem Angestellten aus dem Blue and Red in die Kiste gestiegen war; das ließ sie ihren Gedächtnisverlust witzig finden.
»Ich hab eben schon so viel erlebt, dass ich mich nicht mehr an alles erinnern kann. Mit meinen zwanzig Jahren hab ich schon tausend Leben gelebt.«
Sie betrachtete die Discokugel.
»Das wird sich jetzt ändern. Mit David wird es nicht mehr so sein wie vorher. Diesmal geht’s nämlich um Liebe. Er wird es sein, die große Geschichte, die alle vorherigen auslöscht, all die verworrenen, erbärmlichen Affären ohne Fortsetzung.«
Sie seufzte.
Zuerst Euphorie.
Dann Angst. War sie dazu überhaupt in der Lage? Würde sie den Mut haben, auf ihn zuzugehen?
Panik erfüllte sie. Innerhalb von Sekunden fing sie an zu zittern und zu schwitzen. Sie rutschte vom Hocker, stolperte auf ihren Absätzen und stakste schwankend in Richtung Toiletten.
»Ich muss schnellstens wieder klar im Kopf werden! Sonst kann ich gleich nicht mal mehr Guten Abend zu David sagen.«
Schon auf der Treppe, die in den Keller hinabführte, fühlte sie sich langsam besser; sie ließ den Lärm hinter sich und betrat eine Welt, in der davon nur noch Reste übrig waren, dumpfe Echos, die durch die Zwischenwände drangen. Sie verließ die grelle, hallende, gnadenlose Bühne und begab sich in das behaglichere, intimere Untergeschoss des Clubs, in dem eine andere Atmosphäre herrschte, ein Labyrinth aus Wänden, Fluren, Feuchtigkeit, Körpergerüchen und schummriger Beleuchtung.
In dem rötlichen Licht dort unten, das die Gesichter weicher erscheinen ließ, stieß sie auf die üblichen Typen, Bob, Robbie, Tom, Priscilla, Drew, Scott, Ted, Lance … Sie blieb vor Buddy stehen: weiße Haut, gekleidet und frisiert wie ein Schwarzer, mit weiter Hose, buntem Hemd und Rastahaaren:
»Buddy, hast du mir Nachtisch mitgebracht?«
»Na klar, mein Schatz. Es gibt Baiser.«
»Perfekt.«
»Wie viel gibst du mir?«
Sie zog einen Schein aus ihrem Stringtanga.
»Hundert Dollar.«
Er reichte ihr ein Briefchen.
»Hier.«
Ohne danke zu sagen, denn sie wusste, dass er sie übers Ohr gehauen hatte, griff sie nach dem Päckchen Kokain und ging zu den Damentoiletten, um sich dort einzuschließen.
Aus ihrer winzigen Handtasche, die mit einer goldenen Handschelle an ihrer Linken befestigt war, kramte sie einen Spiegel und einen Strohhalm hervor, verteilte den Puder und sog ihn ein.
»Ah!«
Nun konnte David kommen, sie hatte wieder genug Energie, ihn zu empfangen: Uff, soeben hatte sie ihr nächstes Abenteuer gerettet.
Als sie wieder den Flur entlangging, überlegte sie: Sie hatte mit fast allen Jungs geschlafen, die dort mit ihren Mobiltelefonen in der Hand an der Wand lehnten. Wieder voller Tatendrang, lächelte Anny ihnen im Vorbeigehen zu. Nicht einmal die Hälfte lächelte zurück. Innerlich regte sie sich darüber auf: »Grüßen einen kaum, dabei hat man mal miteinander geschlafen! Was für Waschlappen …« Keiner hatte sie behalten. Nicht einer hatte dafür gekämpft, dass sie bei ihm blieb. Warum nicht?
Sie stieß gegen ein Hindernis auf dem Boden – ein kotzendes Mädchen – und hielt sich am erstbesten soliden Gegenstand fest, der ihr in die Finger kam. Es war Tom, ein braunhaariger Typ mit gepflegtem Dreitagebart, der sich viel Mühe gab, wie ein zerzauster Naturbursche auszusehen, und sich als Meditationslehrer bezeichnete, ein Vorwand, der ihm zahlreiche Beziehungen zu Frauen einbrachte. Auch Anny hatte mal für ein oder zwei Nächte zu seiner Sammlung gehört.
»Ah Tom, du kommst gerade recht. Bin ich eine heiße Nummer?«
Er pfiff durch die Zähne, als hätte man ihm ein kompliziertes mathematisches Problem vorgelegt.
»Ach Anny, mach dir das Leben doch nicht so schwer.«
»Soll heißen?«
»Du bist ’ne leichte Nummer.«
Er rieb sich die Wangen: Er hatte soeben eine schwierige Gleichung gelöst. Sie ließ nicht locker:
»Welche Note?«
»Durchschnitt.«
»Mehr nicht?«
»Durchschnitt, das passt schon.«
»Weder gut noch schlecht also. Warum krieg ich keine bessere Note von dir?«
»Weil du das eigentlich gar nicht magst, meine Süße.«
Er hatte das mit großer Selbstverständlichkeit gesagt. Als er ihren ratlosen Gesichtsausdruck sah, fügte er hinzu: