Tanya Stewner
Liliane Susewind
Giraffen übersieht man nicht
Mit Bildern von Eva Schöffmann-Davidov
FISCHER E-Books
Tanya Stewner wurde 1974 im Bergischen Land geboren und begann bereits mit zehn Jahren, Geschichten zu schreiben. Sie studierte in Düsseldorf, Wuppertal und London und widmet sich inzwischen ganz der Schriftstellerei. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Wuppertal.
Ihre Trilogie über die Elfe Hummelbi hat unzählige Fans, und ihre Kinderbuchserie über die Tier-Dolmetscherin Liliane Susewind ist ein Welterfolg.
Eva Schöffmann-Davidov, geboren 1973, hat schon als Kind alles gezeichnet, was ihr vor den Pinsel kam. Nach dem Abitur besuchte sie die Freie Kunstwerkstatt in München und studierte anschließend Graphik-Design in Augsburg. Bis heute hat sie mit großem Erfolg über 300 Bücher, vorwiegend für Kinder- und Jugendbuchverlage, illustriert. Sie lebt, liebt und arbeitet in Augsburg.
Mehr Informationen, viele Spiele und Rätsel rund um ›Liliane Susewind‹ und ihre Abenteuer gibt es hier: www.liliane-susewind.de
Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden sich auf www.blubberfisch.de und www.fischerverlage.de
Von ›Liliane Susewind‹ sind in dieser Reihenfolge bisher erschienen:
›Liliane Susewind – Mit Elefanten spricht man nicht!‹
›Liliane Susewind – Tiger küssen keine Löwen‹
›Liliane Susewind – Delphine in Seenot‹
›Liliane Susewind – Schimpansen macht man nicht zum Affen‹
›Liliane Susewind – So springt man nicht mit Pferden um‹
›Liliane Susewind – Ein Panda ist kein Känguru‹
›Liliane Susewind – Rückt dem Wolf nicht auf den Pelz‹
›Liliane Susewind – Ein kleines Reh allein im Schnee‹
›Liliane Susewind – Ein Pinguin will hoch hinaus‹
›Liliane Susewind – Eine Eule steckt den Kopf nicht in den Sand‹
›Liliane Susewind – Ein Eisbär kriegt keine kalten Füße‹
›Liliane Susewind – Giraffen übersieht man nicht‹
Sonderband mit farbigen Bildern:
›Liliane Susewind – Mit Freunden ist man nie allein‹
Alle Bände sind auch als Hörbuch im Handel erhältlich, mit einem »Lilli«-Song der Autorin.
Weitere Bände sind in Vorbereitung.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2017 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Norbert Blommel, MT-Vreden, Vreden,
unter Verwendung einer Illustration von Eva Schöffmann-Davidov
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-7336-0177-5
Für meine Freundin und Wegbegleiterin Kerstin, das einzig wahre K-chen
»Das ist ja wohl eine himmelschreiende Unfassbarkeit!«, schimpfte eine Katzenstimme. »Ich verlange, sofort aus diesem Kasten befreit zu werden!«
Liliane Susewind, genannt Lilli, sah sich nach einer ruhigen Ecke im Flughafen um, wo sie die Katze aus der Transportbox lassen konnte. Dort drüben neben den großen Fenstern war nicht viel los!
Während Lilli hinübereilte, zeterte die orangegetigerte Katze, die den eleganten Namen Frau von Schmidt trug, in den höchsten Tönen weiter. »Wenn ich nicht auf der Stelle meine Freiheit wiedererlange, wird Sie der glühende Sturm meiner Entrüstung treffen, und ich spreche nie wieder ein Wort mit Ihnen!«
»Das wäre doof«, murmelte Lilli. Denn obwohl Frau von Schmidt immer ziemlich viel herumnörgelte, unterhielt Lilli sich gern mit ihr. So wie mit anderen Tieren auch. Lilli hatte nämlich eine ganz besondere Gabe: Sie konnte mit Tieren sprechen.
»Lilli! Ich werd bekloppt!«, kam ein Bellen aus der zweiten Transportbox, die Lilli in der anderen Hand trug. »Hier riecht alles total krass! Krass anders! Anders als zu Hause!«
Zwischen den Gitterstäben der Box quetschte sich eine Nase hervor, und Lilli lächelte den zugehörigen kleinen Zottelhund an. Sie war froh, dass sie Hundisch genauso gut verstand wie Katzisch, denn der Zottelhund war ihr Freund Bonsai, der sie schon viele Jahre begleitete. Mit keinem Tier redete sie so viel wie mit der borstigen Promenadenmischung.
Bonsai zwängte nun auch die Vorderpfoten durch das Gitter und klebte daran, als würde jemand von hinten schieben. »Riechst du das, Lilli?« Seine eingequetschte Nase schnupperte eifrig, und er fiepte aufgeregt. »Die Luft hier ist ganz trocken! Und da sind Tiere drin, also in der Luft, da drin riecht es nach Tieren!«
Lilli hatte die ruhige Ecke neben den großen Fenstern erreicht. Sie stellte die beiden Transportboxen auf dem Boden ab, kniete sich hin und öffnete die Hundebox, um Bonsai herauszulassen. Sobald sie das getan hatte, hörte er auf zu fiepen. Stattdessen sprang er wie wild an ihr hoch.
»Lilli, Mannomann! Ich kann wieder springen! Kuck mal, wie ich springe!« Aufgedreht hüpfte er auf ihren Schoß und schleckte ihr übers Gesicht. Sein Schwanz wedelte wie verrückt. »Ich war total lange in der Kiste! Aber jetzt nicht mehr! Jetzt springe ich rum und bin bekloppt!«
Lilli konnte ihn kaum bändigen. Gleichzeitig ertönte ein empörtes Miauen. »Das ist ja wohl eine Frechheit!«, keifte Frau von Schmidt. »Ich hatte zuerst um Freilassung gebeten! Sie können Herrn von Bonsai doch nicht vor mir herauslassen, obwohl ich als Erstes dran war! Warum haben Sie das gemacht? Weil er so gefiept hat? Das kann ich auch. Iiieeehhhpf!«
Die Katze stieß einen schrillen Ton hervor, und Lilli zuckte zusammen. »Ich lasse Sie ja schon raus!« Schnell öffnete sie das Gitter der zweiten Box.
Frau von Schmidt verstummte, und ihre Augen blitzten auf. Doch eine Schnurrdame von Welt bewahrt immer Haltung, und deswegen schritt die Katze ruhig und besonnen wie eine Königin aus der Kiste.
Gleich darauf hopste Bonsai zu ihr und warf sie vor lauter Überschwang um. »Schmidti, altes Haus!«, kläffte er. »Alles fit?«
Die überrumpelte Katze kam auf die Füße und schüttelte sich. »Herr von Bonsai, bitte beherrschen Sie sich!«, miezte sie, doch sie klang nicht mehr ganz so empört wie zuvor. Das lag wahrscheinlich daran, dass sie Bonsai sehr gern hatte und ihn für einen überaus kultivierten Herrn mit richtig viel Stil hielt. Diese Meinung hatte sie aber womöglich nur deshalb, weil sie kein Hundisch sprach und gar nicht wusste, was Bonsai immer so bellte.
»Schmidti, wir können auch zusammen bekloppt sein! Hast du Lust?«, jauchzte er. »Das wird der Hammer! Wir hüpfen hier zusammen ganz verrückt rum, ja?«
Bevor er Lilli bitten konnte, zu übersetzen, was er gesagt hatte, kam Lillis bester Freund Jesahja zu ihnen. Er trug zwei Wasserschüsselchen in den Händen und stellte sie vor den Tieren ab.
»Boah!«, freute sich Bonsai. »Das ist doch mal eine supi Idee. Ich hab voll Durst!«
Frau von Schmidt miaute: »Na, endlich. Mich dürstet so sehr, dass ich ermattet darniedersinken könnte!«
Beide Tiere begannen, gierig zu trinken.
Lilli war froh, dass nun etwas Ruhe einkehrte. Lächelnd blickte sie Jesahja an. »Wir sind da«, stellte sie fest. Sie hatten eine halbe Ewigkeit im Flugzeug gesessen und dann ihre Koffer einsammeln und jede Menge Kontrollen passieren müssen. Doch nun hatten sie es geschafft. Sie waren in Namibia.
Jesahja schaute zu den großen Fenstern hinaus und fuhr sich nachdenklich durch das schwarze, lockige Haar. »Jetzt wird’s ernst«, murmelte er. »Ich habe meinen Vater noch nie so aufgeregt erlebt. Er hat so lange darauf gewartet, mir sein Heimatland zu zeigen …«
Lilli blickte ebenfalls nach draußen. Hinter einer Straße und einem Parkplatz lag eine schier unendliche, gelbgrüne Graslandschaft. Lilli war selbst etwas aufgeregt. In den vergangenen Wochen hatte sie ungeduldig die Tage gezählt, bis die Osterferien anfingen und sie nach Afrika reisen würden. Und nun waren sie endlich angekommen. Lillis ganze Familie war dabei – ihr Vater Ferdinand, ihre Mutter Regina und ihre Oma Leo, die eigentlich Leonora hieß. Oma hatte sich leider kurz vor dem Abflug den Fuß gebrochen und lief an Krücken. Dennoch hatte sie auf den Urlaub nicht verzichten wollen – sie war immerhin »eine knallharte Abenteurerin«, wie sie selbst sagte.
Außer Lillis Familie war Jesahjas Vater Akeele mitgekommen, der in Namibia aufgewachsen war. Ihm war es wichtig, dass sein Sohn in diesen Ferien nicht nur Land und Leute kennenlernte, sondern auch seine Großeltern, die Jesahja seit zehn Jahren nicht gesehen hatte.
Jesahjas Mutter Isabel hatte sich beruflich leider nicht freimachen können und war bei dieser Reise nicht dabei. Lilli fand das schade, denn sie mochte Isabel.
»Hey!«, hörte Lilli Akeeles Stimme. Er strahlte. »Na, wie findest du es, Sohn?«
»Wir sind doch gerade erst gelandet«, grummelte Jesahja.
Eine unangenehme Pause entstand, und Lilli sagte: »Es ist ganz schön heiß.«
Akeele lachte. »Das ist noch gar nichts. Jetzt im April ist hier Herbst«, erklärte er.
Lilli stöhnte leise, immerhin hatte sie eben an einer Anzeige gesehen, dass siebenundzwanzig Grad herrschten. Das war nicht gerade herbstlich. Aber Akeele hatte ihnen während des Flugs schon stundenlang vom Wetter, von den Landschaften und von den Besonderheiten Namibias erzählt, und deswegen wusste Lilli, dass siebenundzwanzig Grad wohl vergleichsweise kühl waren. Sie schwitzte trotzdem.
Eigentlich interessierte sie sich aber sowieso viel mehr für die Tiere als für alles andere. Jesahja hatte Lilli vor der Reise einen ganzen Ordner mit ausgedruckten Seiten aus dem Internet gegeben, auf denen sämtliche Tiere Namibias aufgelistet waren. Lilli freute sich ebenso auf Kudus und Impalas wie auf Warzenschweine und alle anderen Arten. Wenn sie auf Safari gingen – und das hoffte Lilli ganz fest –, würde sie bestimmt vielen Tieren begegnen, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Allein bei dem Gedanken daran schlug ihr Herz schneller.
»Ich habe gestern noch mit Opa Solomon telefoniert«, sagte Akeele nun. Solomon war Jesahjas Großvater. »Die Regenzeit ist fast zu Ende, aber es hat in den vergangenen Wochen insgesamt zu wenig geregnet. Das Land ist sehr trocken.«
Lilli konnte ihm nicht weiter zuhören, denn ihre Eltern und ihre Oma gesellten sich gerade zu ihnen. Sie zogen drei riesige Koffer hinter sich her. »Puh, ich bin schon jetzt ganz geschafft!«, rief Lillis Mutter und fuhr sich durch die schick frisierten roten Haare, die ihr ein wenig am Kopf klebten.
Lillis Vater nahm ihr eine Tasche ab. »Jetzt geht es doch erst los!«, protestierte er gut gelaunt.
Akeele lachte. »Genau! Gehen wir zu den Autos.«
Lilli ließ Bonsai auf ihren Arm springen und griff mit der anderen Hand nach seiner Transportbox. Jesahja wollte Frau von Schmidt ebenfalls auf den Arm nehmen. Die Katze schnupfte jedoch pikiert und stelzte an ihm vorüber. »Selbstverständlich entscheide ich selbst, wann ich getragen werde und wann nicht. Und jetzt: nicht.«
Lilli seufzte. Ein paar andere Touristen schauten neugierig zu ihnen herüber. Es war alles andere als alltäglich, dass ein Hund und eine Katze frei in einem Flughafengebäude herumliefen. Zum Glück musste sie hier aber nicht so sehr darauf achten, ob Reporter sie verfolgten. Zu Hause war das monatelang ein Problem gewesen, doch in letzter Zeit war es schon besser geworden. Offenbar gewöhnte sich die Welt langsam an den Gedanken, dass es ein Mädchen gab, das mit Tieren sprechen konnte.
Gemeinsam marschierten sie nach draußen. Sobald sie unter freiem Himmel standen, hielt Lilli inne. Die Luft roch gut. Fremdartig gut.
Bonsai schien ihre Gedanken zu erraten. »Ich sag ja: Hier sind irgendwo irgendwelche Tiere, die ihren Duft ganz extrem im Wind drin haben.«
»Ja, und bald werden wir sie vielleicht auch sehen«, erwiderte Lilli voller Vorfreude und knuffelte Bonsai.
Akeele führte sie zum Parkplatz. Dort wartete ein Familien-Mietauto mit sechs Sitzen auf sie, mit dem sie in den Norden fahren wollten. Dort lebten Jesahjas Großeltern auf einer großen Rinderfarm.
Es dauerte ein bisschen, bis alle Koffer und Rucksäcke verstaut waren, aber dann ging es endlich los. Sie verließen das Flughafengelände und fuhren eine lange, staubige Straße entlang. Schon nach kurzer Zeit sahen sie die ersten Tiere: Eine kleine Herde Oryxantilopen graste in der Ferne. Lilli ließ das Fenster herunter und winkte den Tieren mit den pfeilgeraden Hörnern überschwänglich zu.
Bonsai reckte sich vor. »Huf-Fritzen! Die sind voll schön, oder?«
Das fand Lilli auch. Eine wilde Herde zu sehen, war tatsächlich einfach nur schön. »Sie sind … frei«, sagte Lilli andächtig und schaute den Tieren zu, wie sie liefen, wohin es ihnen gerade gefiel.
»Ach, ich finde das etwas ungeordnet«, mischte sich Frau von Schmidt ein, die auf Jesahjas Schoß stand und sich kraulen ließ. »Im Zoo ist alles hübsch in Gehege eingeteilt, jeder weiß, wo er hingehört. Hier rennen alle einfach hemmungslos durcheinander.«
»Würden Sie denn gern in einem Gehege leben?«, fragte Lilli die Katze.
»Selbstverständlich nicht!«, entgegnete diese. »Ich muss mich natürlich frei bewegen können, wie es mir passt. Aber bei manch anderen Tierherrschaften finde ich es angenehmer, wenn sie in ihren Gehegen bleiben.«
»Ach so«, gab Lilli zurück. »Ich glaube allerdings, alle Tiere laufen lieber frei herum.«
»Ohne Frage sind Tiere lieber frei«, bestätigte Akeele, der natürlich nur verstand, was Lilli sagte. »Hier in Namibia hat man noch eine ganz natürliche Beziehung zu Tieren. Das mochte ich immer sehr.«
Lillis Oma klopfte ihm sachte auf den Arm, als wollte sie sagen, dass er sein Land bereits genug in den Himmel gelobt hatte.
Akeele schien das aber anders zu sehen. »Jesahja, willst du ein paar Worte Afrikaans lernen? Dann kannst du Opa Solomon und Oma Matilde bei der Begrüßung beeindrucken!« Bevor Jesahja etwas erwidern konnte, fuhr Akeele schon fort. »Goeie dag heißt Guten Tag.« Dann sagte er noch etwas auf Afrikaans und fügte hinzu: »Das heißt: Ich freue mich, euch zu sehen!« Er sah seinen Sohn durch den Rückspiegel auffordernd an. »Sprich mir mal nach: Ek sien uit daarna …«
Jesahja verschränkte die Arme. »Ich muss gar kein Afrikaans lernen. Oma und Opa sprechen doch Deutsch.« Im Flugzeug hatte Akeele ihnen auch erzählt, dass Deutschland früher die Herrschaft in Namibia gehabt hatte und deswegen hier viele Leute Deutsch konnten.
»Trotzdem sollst du ein paar Worte Afrikaans lernen«, beharrte Akeele. »Du bist doch hier, um dich richtig mit dem Land zu befassen, oder?«
Jesahja zuckte mit den Schultern. »Die Umgangssprache in Namibia ist sowieso Englisch. Und auf Englisch kann ich guten Tag sagen.«
»Wie immer weißt du es besser«, sagte Akeele und klang genervt.
Lilli wunderte sich. Jesahja war ganz schön vorlaut! Aber er hatte sich schon öfter mit seinem Vater gestritten – wenn der mal zu Hause war. Jesahjas Eltern waren beide oft und lange auf Geschäftsreisen. In dieser Zeit lebte ihr Sohn dann immer bei den Susewinds. Wenn seine Eltern zurückkehrten, gerieten Jesahja und sein Vater schnell in Wortgefechte.
Lilli musterte Jesahja. Er sah müde aus. Vielleicht war er einfach zu geschafft, um Vokabeln zu lernen.
Da drehte Frau von Schmidt den Kopf und beäugte Jesahja irritiert. »Sind Sie krank?«
Im nächsten Moment tropfte Blut aus Jesahjas Nase. Als er es merkte, hielt er sich erschrocken die Hand vors Gesicht.
Lillis Vater zog rasch ein Taschentuch aus seiner Jackentasche und gab es ihm. »Ist dir schlecht?«
Jesahja schüttelte den Kopf.
Akeele brummte. »Das ist nur ein bisschen Nasenbluten. Das kriegen Touristen oft, wenn sie nach Namibia kommen, weil die Luft hier so trocken ist.« Er schnalzte mit der Zunge. Es klang unzufrieden. »Du bist aber kein Tourist.«
»Na ja, er ist aber auch nur zur Hälfte Namibianer«, warf Oma ein. Jesahjas Mutter war zur Hälfte deutsch und zur anderen indisch.
»Wie wäre es, wenn wir eine Pause machen würden?«, schlug Lillis Vater vor.
Sie fuhren gerade an einer kleinen Felsformation vorbei, und Akeele hielt im Schatten der Felsen an. Sobald sie ausgestiegen waren, lehnte Jesahja sich gegen die Steinwand. Das Taschentuch, das er sich vor die Nase hielt, war ein wenig blutig, aber nicht allzu sehr. Lilli lächelte ihn aufmunternd an und gab ihm etwas zu trinken.
»Ek dank u«, erwiderte er mit einem schmalen Lächeln.
Lilli lachte. Es hätte sie auch sehr verwundert, wenn Jesahja nicht schon im Vorhinein ein paar Worte Afrikaans gelernt hätte. Er war enorm schlau und wissbegierig. Doch offenbar wollte er seinem Vater den Triumph nicht gönnen.
Plötzlich flüsterte Lillis Mutter alarmiert: »Da drüben sind Strauße.«
»Was?« Lilli spähte wie ihre Mutter um den Felsen herum. In einiger Entfernung standen mindestens zehn Strauße. Einige davon hatten die Köpfe erhoben und stierten in ihre Richtung. Vielleicht hatten sie Lilli lachen gehört und fragten sich, was das für ein Geräusch gewesen war.
Frau Susewind zog Lilli zurück. »Nicht! Sonst sehen sie dich noch!«
»Wär doch nicht schlimm!«
Ihre Mutter legte den Finger auf die Lippen. »Scht! Sie sollen lieber bleiben, wo sie sind. Strauße haben harte Schnäbel.«
Lilli befreite sich von ihr. »Aber sie würden mir doch auf keinen Fall etwas tun!«
Da erklang eine kehlige, tiefe Straußenstimme. »Ich glaub, da ist was.«
Eine zweite: »Glaub ich nicht.«
Die erste wieder: »Aber da war was. Und wenn da was war, dann ist da bestimmt auch was.«
Die zweite: »Aber vielleicht war da auch nichts. Und dann ist da auch nichts. Außer … es ist was. Dann wäre da auch was.«
Lillis Mutter sog scharf die Luft ein. »Reden die über dich?«
Grinsend nickte Lilli. Die Strauße klangen lustig.
Frau Susewind wurde jedoch auf einmal hektisch. »Schnell!«, rief sie mit halblauter Stimme. »Zurück in den Wagen!« Hastig zog sie Lilli zum Auto und schob die anderen ebenfalls hinein.
»Was ist denn los, Mama?«, fragte Lilli verwirrt, aber ihre Mutter gab ihr keine Antwort.
Gerade, als alle wieder im Auto saßen, bogen die Strauße um die Ecke. Es waren wunderschöne Tiere, mit langen starken Beinen und prächtigem Gefieder.
»Hey! Du da!«, rief einer von ihnen Lilli zu. »Du bist das! Du bist das, was hier ist!«
»Ja, du da!«, pfiff ein anderer Strauß und begann zu laufen. »Wenn du das bist, dann ist hier wirklich was.«
»Was denn?«, fragte ein dritter, der es noch nicht kapiert hatte.
»Die da!«
»Wer?«
»Die da ist das.«
»Was denn?«
»Das, was da ist.«
Lillis Mutter schrie: »Akeele, fahr los!«
Das Auto setzte sich in Bewegung, doch die Strauße liefen hinterher.
»Du!«, kreischten ein paar von ihnen. »Wer bist du?«
Wie gern hätte Lilli ihnen erklärt, dass sie einfach nur ein Mensch war, der mit Tieren sprechen konnte. Aber Akeele beschleunigte den Wagen.
»Was soll das denn?«, protestierte Lilli. »Warum fahren wir weg?«
Sie bekam keine Antwort. Lilli sah durch die Heckscheibe, wie die Strauße hinter ihnen zurückblieben und schon kurz darauf verschwunden waren.
»Wieso hast du mich nicht mit ihnen reden lassen, Mama?«, versuchte Lilli es noch einmal. »Die Strauße wollten mich doch nur kennenlernen!«
»Sie waren außer Rand und Band!«, behauptete ihre Mutter.
»Ach, Quatsch! Ich hätte nur Stopp rufen müssen, dann wären sie stehen geblieben.«
»Lilli, hier ist alles ein bisschen anders als zu Hause.«
»Wieso? Was meinst du?«
»Das ist Afrika und kein gemütlicher Zoo«, gab Frau Susewind in bestimmtem Ton zurück. »Es gibt hier wilde Tiere, die eventuell ganz anders sind, als du es erwartest.«
»Was willst du damit sagen?«, fragte Lilli erstaunt.
»Überall sind riesige Herden!«, erklärte ihre Mutter. »Wenn solch eine Herde erst mal in Aufruhr gerät, könnten die Tiere dich und alle, die bei dir sind, überrennen!«
Lilli war sich sicher, dass die Strauße sie nicht überrannt hätten – es war ja auch gar keine riesige Gruppe gewesen –, aber ihre Mutter schien nichts davon hören zu wollen. »Du musst hier vorsichtiger sein als zu Hause«, beharrte sie. »Hier gibt es auch Schlangen, und die sind wirklich gefährlich für dich.«
Lilli senkte den Kopf. Schlangen waren tatsächlich etwas anderes. Da Schlangen nicht hören konnten, war die Verständigung mit ihnen schwierig. Lilli war sogar schon einmal von einer Kobra angegriffen worden. »Aber Schlangen sind die einzigen Tiere, bei denen ich mir nicht sicher bin, was passieren würde«, entgegnete Lilli. »Alle anderen würden mir nichts tun.«
»Du weißt aber nicht, ob du immer alle Leute beschützen kannst, die bei dir sind«, wandte ihre Mutter ein. »In der Savanne gibt es keine Pfleger, die die Tiere regelmäßig füttern. Was wäre, wenn dir ein hungriger Löwe begegnet? Selbst, wenn er dich nicht fressen würde, frisst er vielleicht Jesahja … oder mich.« Sie schüttelte sich. »Nein, wir dürfen keine unnötigen Risiken eingehen. Dieser Urlaub kann auch toll werden, ohne dass wir uns in Gefahr begeben.«
Lilli wurde klar, dass ihre Mutter es ernst meinte. Sie würde versuchen, sie von den Wildtieren fernzuhalten.
Verdrossen schnitt Lilli eine Grimasse. So hatte sie sich diese Ferien nicht vorgestellt.
»Da vorn ist es!«, rief Akeele.
Lilli schreckte hoch. Sie war im Auto eingeschlafen und hatte keine Ahnung, wie lange sie gefahren waren. Wahrscheinlich ziemlich lange, denn draußen war es schon dunkel.
»Lilli!« Bonsai hopste auf ihren Schoß. »Ich muss dringend Pipi!«
»Ich glaube, wir sind sowieso da«, sagte sie und schaute neugierig aus dem Fenster. Gerade bogen sie von der Hauptstraße ab und fuhren auf eine weitläufige, heimelig beleuchtete Anlage zu. Zwischen zahllosen Bungalows stand ein großes, einladendes Haus, über dessen Eingang der Name Dandelion-Farm stand.
»Das ist sie«, verkündete Akeele stolz. »Das ist die Farm, auf der meine Eltern schon ihr ganzes Leben arbeiten. Hier bin ich aufgewachsen.«
Jesahja seufzte. »Ist toll.«
Lilli fand, dass die Farm wirklich toll war. Alle Gebäude waren aus dunklem Holz und hatten ulkige Dächer, die aussahen, als wären sie aus unzähligen Zweigen gemacht. Zu den Gäste-Bungalows führten kleine Holzbrücken, und viele von den Häuschen hatten eine eigene Terrasse mit Hängematten und Liegen. »Hammer!«, entfuhr es ihr.
»Das ist eine gehobene Lodge«, erläuterte ihre Mutter. »Ziemlich teuer, wenn man den normalen Preis für einen Urlaub zahlt.«
Lilli hatte keine Ahnung, was eine Lodge war, aber dass ein Urlaub hier nicht billig sein konnte, sah man auf den ersten Blick. Alles war sehr gepflegt und mit viel Geschmack gestaltet. Außerdem gab es mehrere Swimmingpools und einen Tennisplatz. Neben den Wegen zwischen den Hütten hingen zudem überall Lampions, die ein zauberhaftes Licht verbreiteten. »Aber ist das hier denn nicht eine Rinderfarm?«, hakte Lilli nach, die sich etwas ganz anderes vorgestellt hatte.
Akeele antwortete ihr. »Ja, die Farm hält Hunderte von Rindern. Aber das meiste Geld nimmt sie durch Touristen ein, die hier Safari-Urlaub machen.«
Lilli entging nicht, dass Akeele ihrer Mutter bei diesen Worten einen seltsamen Blick zuwarf. Ihre Mutter senkte den Kopf.
»Was ist los?«, fragte Jesahja sofort.