Nora Luttmer
Dunkelkinder
Thriller
Knaur e-books
Nora Luttmer (*1973 in Köln) lebt in Hamburg und arbeitet als Autorin und freie Journalistin. Sie hat Südostasienkunde mit dem Schwerpunkt Vietnam in Passau, Hanoi und Paris studiert. Anschließend absolvierte sie in Mainz den Aufbaustudiengang Journalistik. Seit Mitte der 1990er Jahre verbringt sie regelmäßig längere Zeit in Hanoi. Sie spricht Englisch, Französisch und Vietnamesisch. Die Autorin ist Mitglied im Syndikat, der Autorengruppe deutschsprachige Kriminalliteratur. Ihr Debütroman »Schwarze Schiffe« wurde 2014 für den Glauserpreis nominiert.
www.noraluttmer.de
© 2018 der eBook-Ausgabe Knaur eBook
© 2018 Knaur Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Dr. Kirsten Reimers
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: mauritius images / Westend61 / visual2020vision
ISBN 978-3-426-45063-5
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Es war still. Nur von weit her hörte Sam den Ruf einer Eule. Wenn eine Eule ruft, naht der Tod, hatte seine Mutter immer gesagt. Um ihn herum war es dunkel. Der Boden, auf dem er lag, war kalt und hart. Es roch nach Nässe, Schweiß und Benzin. Sam versuchte sich auf seinen Atem zu konzentrieren, um die Panik, die in ihm aufstieg, zu unterdrücken. Sonst würde sie ihn lähmen. Das kannte er schon. Seit er von zu Hause weggegangen war, war er an vielen Orten aufgewacht. Es waren nie gute Orte gewesen.
Sein Kopf schmerzte, vorsichtig tastete er ihn ab und spürte an der Stirn eine große Beule. Er hatte keine Erinnerung, woher sie kam.
Zentimeter für Zentimeter kroch er vorwärts, bis er gegen eine Wand stieß. Er ließ seine Hände über die Oberfläche gleiten. Sie war glatt und eben und aus Metall. In einem Container war er schon mal nicht, dachte er. Die fühlten sich anders an. Vielleicht im Laderaum eines Lieferwagens. Der Geruch passte. Tränen schossen ihm in die Augen. Schafften sie ihn wieder woandershin? Jeder neue Ort, an den er gebracht worden war, war schlimmer gewesen als der vorherige.
Seine Zunge klebte trocken an seinem Gaumen, und sein ganzer Körper zitterte vor Angst und Kälte. Er hatte nichts als seinen dünnen Trainingsanzug an. Er kroch weiter an der Wand entlang. Auf einmal streiften seine Finger etwas Weiches. Einen Körper. Sam riss seine Hand zurück. Sein Atem ging schnell und flach. Er stemmte sich hoch, fuhr hektisch mit den Händen die Wand entlang. Er musste raus hier. Gleich würde er nicht mehr gegen seine Angst ankommen. Sein Puls raste. Irgendwo musste es doch eine Tür geben oder ein Fenster. Da! Da war etwas. Eine Wölbung im Metall. Ein Türgriff. Er zog daran, doch die Tür bewegte sich keinen Millimeter. Er fluchte, tastete weiter. Er fand ein Fenster, aber das war mit Pappe abgeklebt. Er fasste eine Ecke und zog, aber die Pappe glitt ihm aus den kalten klammen Fingern. Mit den Nägeln kratzte er sie auf und riss einzelne Streifen herunter. Glas kam zum Vorschein, und er konnte nach draußen sehen. Er atmete auf. Er erkannte die dunklen Silhouetten von Bäumen. Es war Nacht, aber der Mond war hell genug, um Schatten zu werfen. Ein bisschen Licht fiel auch in den Lieferwagen. Jetzt konnte Sam den Mann auf dem Boden sehen. Er lag keinen Meter von ihm entfernt, den Kopf zwischen den Armen vergraben, die Knie angezogen. Unter dem Bauch des Mannes schauten zwei Füße hervor. Da war ein zweiter Mann. Die beiden lagen so dicht beieinander, als wollten sie sich gegenseitig wärmen, der Oberkörper des einen über den Beinen des anderen. Sam machte einen Schritt auf die beiden zu und stieß dem oben Liegenden leicht mit dem Fuß in die Seite. Der Mann gab ein Murren von sich, rührte sich aber nicht. Immerhin, er lebte. Sam trat noch einmal zu, diesmal fester. Der Mann rollte zur Seite weg, ohne dass er zu sich kam. Aber Sam sah jetzt sein Gesicht. Die Augen waren zugeschwollen, die Nase unnatürlich schief. Er starrte den Mann an. Er hätte ihn fast nicht erkannt. Es war der Einäugige.
Wie der Einäugige zu seinem Spitznamen gekommen war, wusste Sam nicht. Eine leere Augenhöhle hatte er zumindest nicht. Nicht so wie Sams Vater, der bei einem Unfall sein Auge verloren hatte. Aber Sam hatte den Einäugigen auch nie danach gefragt. Er war nicht in der Position, Fragen zu stellen. Sam war fünfzehn, aus Sicht der Erwachsenen noch ein Kind, und der Einäugige war sein Chef.
Einen Moment tat Sam nichts, dann nahm er all seinen Mut zusammen, streckte seine Hand aus und berührte die Schulter des zweiten Mannes. Er spürte sofort, dass er tot war.
Sam würgte, schluckte das Erbrochene runter. Gegen seine Übelkeit ankämpfend, zerrte er den Toten herum, bis er sein Gesicht sehen konnte. Auch ihn kannte er. Der Mann war immer im Schlepptau des Einäugigen gewesen.
Warum waren die beiden hier mit ihm eingesperrt, fragte Sam sich. Und warum waren sie so zugerichtet? Bilder rasten durch seinen Kopf, erst undeutlich, dann immer schärfer: Er liegt auf seiner Pritsche im Bunker, ist kurz davor einzuschlafen. Doch da taucht ein Mann auf, groß, mit Stoppelbart, blonden Haaren und blassen, sehr hellen Augen, die Sam an kaltes Wasser denken lassen. Der Mann riecht nach Zigarettenrauch, Schweiß und scharfer Seife und sagt etwas in einer Sprache, die Sam nicht versteht. Es klingt hart. Aber was war dann passiert? Sam versuchte verzweifelt, die Bilder abzurufen. Es gelang ihm nicht. Den Rücken an die Wand gelehnt, rutschte er in die Hocke, zog die Beine an die Brust und legte seinen Kopf auf die Knie. Er war so unglaublich müde.
Sam wusste nicht, wie lange er so gesessen hatte, als eine Bewegung ihn aufschreckte. Der Einäugige war zu sich gekommen. Er hob den Kopf und öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, aber es drang nur ein heiseres Röcheln aus seiner Kehle.
»Chef?«, flüsterte Sam auf Vietnamesisch. »Chef. Wo sind wir?«
Der Einäugige murmelte unverständlich vor sich hin. Sam rückte ein Stückchen näher zu ihm heran. »Was geschieht mit uns?«
Die Hand des Einäugigen schnellte vor, krallte sich um Sams Kehle und riss ihn ruckartig nach vorne. Mit einer Kraft, die Sam nicht erwartet hätte. Er rang nach Luft.
Der Einäugige drückte seine Lippen auf sein Ohr. Ekel überkam Sam.
»Waldstrafe«, raunte der Einäugige. Sam wusste, was das bedeutete. Jeder wusste das. Die Waldstrafe drohte all denen, die nicht kuschten, die versuchten zu fliehen, die redeten. Exekutiert im Wald, verscharrt im Niemandsland. Namenlos. Als hungriger Geist würde er umherirren, auf ewig. Aber wieso brachten sie ihn in den Wald? Er hatte doch nichts getan. Er hatte immer nur gehorcht.
Der Einäugige setzte an, noch etwas zu sagen. Aber mehr als »Bring mich …« brachte er nicht über die Lippen, dann hustete er und spuckte Blut. Sam hörte die Wagentür schlagen, spürte die Bewegung des Wagens unter seinen Füßen. Er riss sich vom Einäugigen los, sprang auf. Er musste raus hier. Sofort.
Sam fasste den Türgriff und rüttelte daran. In diesem Moment heulte der Motor auf, und der Wagen fuhr mit einem Ruck an. Sam schlug mit dem Kopf gegen die Wand. Blut troff aus seiner Nase. In der nächsten Kurve stürzte er zu Boden und blieb mit keuchendem Atem liegen.
Es war der Mann aus dem Bunker, der Mann mit den hellen Augen, der ihn aus dem Lieferwagen holte. Sams Glieder waren steif vor Kälte. Er klammerte sich an die offene Wagentür, um nicht zu stürzen.
Sie waren auf einem verlassenen Parkplatz an einer Landstraße. Frühnebel hing über dem Boden, und es nieselte leicht. Hinter dem Parkplatz lag ein schmales Feld, dahinter begann der Wald. Aus der Ferne war ein Motorengeräusch zu hören, das schnell leiser wurde und dann ganz erstarb. Der Mann mit den hellen Augen trat den Toten von der Ladefläche. Dann packte er den Einäugigen unter den Armen, hievte ihn hoch, sprang aus dem Wagen und zog ihn mit sich. Der Einäugige stöhnte, hielt sich aber auf den Beinen. Jetzt, im Tageslicht, sah Sam, dass er noch viel schlimmer zugerichtet war, als er angenommen hatte. Sein Gesicht war blutverkrustet, die Nase nur noch ein matschiger Klumpen, das rechte Ohr tief eingerissen, die Lippen aufgeplatzt. Seine Augen waren so zugeschwollen, dass Sam bezweifelte, dass er überhaupt etwas sah.
Als der Mann mit den hellen Augen jetzt auf Sam zukam und seinen Reißverschluss öffnete, verkrampfte sich alles in ihm. Nicht, bitte nicht, murmelte er vor sich hin. Er hielt die Luft an. Aber der Mann urinierte nur vor seine Füße. Der saure, beißende Geruch stieg Sam in die Nase. Als der Mann fertig war, wischte er seine Hände an seiner ausgebeulten Jeans ab, zog eine Wasserflasche aus einem Rucksack und hielt sie ihm hin. Sam griff danach. Er schaffte es kaum, den Verschluss aufzudrehen. Zitternd setzte er die Flasche an den Mund, legte den Kopf zurück und trank so gierig, dass ihm das Wasser aus den Mundwinkeln rann.
Der Mann mit den hellen Augen packte den Toten an den Handgelenken und deutete Sam, die Füße zu nehmen. Sie gingen los. Der Einäugige taumelte hinter ihnen her.
Sie mussten sich wehren, dachte Sam. Sie konnten doch nicht einfach so mit in den Wald laufen und sich umbringen lassen. Sie mussten den Mann mit den hellen Augen überwältigen. Aber der Einäugige war zu benommen und Sam alleine zu schwach, das war ihm klar.
Nach nur wenigen Metern ging der Einäugige in die Knie. Der Mann mit den hellen Augen ließ den Toten fallen, riss eine Pistole aus seiner Jackentasche und presste sie dem Einäugigen gegen die Schläfe. Er sagte etwas in dieser harten Sprache, die der Einäugige aber zu verstehen schien, zumindest nickte er heftig, stand schwerfällig wieder auf und taumelte weiter.
Sie gingen über einen ausgefahrenen Weg. In den tiefen breiten Reifenspuren stand Wasser. Jeder Atemzug stach Sam in der Lunge. Er bezweifelte, dass er den Toten lange halten konnte. Der leblose Körper wurde von Schritt zu Schritt schwerer. Der Weg führte bis zum Wald und brach dann ab. Sie liefen jetzt querfeldein. Die Bäume, die hier standen, waren am Fuß breit, wurden nach oben hin schmaler und standen nah beieinander. Dazwischen wuchsen dornige Büsche. Auf dem Boden lagen nasse Blätter, Geäst und umgestürzte Bäume. Dünne Äste brachen unter Sams Füßen, und er spürte die einzelnen Zweige durch die dünnen Sohlen seiner Schuhe. Es roch nach regenfeuchter Erde und Pilzen. Der Wind wiegte die Baumwipfel über ihnen und ließ weitere Blätter herunterfallen. Sams Finger waren mittlerweile so taub, dass die Füße des Toten ihm aus den Händen glitten. Der Mann mit den hellen Augen spuckte aus und warf Sam einen Blick zu, in dem nichts als Verachtung lag. Den Toten schleifte er jetzt ohne Sams Hilfe weiter, so dass dessen Füße eine Spur durch das Laub zogen.
Je weiter sie gingen, desto dichter wurde der Wald. Die Baumstämme waren fast alle von Moos überwuchert. Zweige schlugen Sam gegen den Oberkörper und zerkratzten seine Hände. Seine Bewegungen wurden immer mechanischer, und seine Gedanken sprangen von Erinnerung zu Erinnerung. Er dachte an zu Hause, an seinen Bruder, an das Meer …
Sie folgten einem kleinen Wasserlauf und kamen an einen Tümpel. Das Wasser war schwarz und von fauligen Blättern bedeckt. Sams Füße versanken in der aufgeweichten Erde. Er stolperte, stürzte und blieb einfach liegen. Er konnte nicht mehr. Er wollte nicht mehr. Erst als er den Pistolenlauf in seinem Rücken spürte, rappelte er sich mühsam auf. Durch die Tränen, die in seinen Augen standen, sah er verschwommen ein Reh, das mit großen Sprüngen vor ihnen floh. Er fragte sich, ob er es nicht auch wagen sollte wegzurennen. Wenn es ihm gelingen würde, sich einen Weg durch die Bäume und das dichte Unterholz zu bahnen … Aber ihm fehlte der Mut. Er wäre sowieso nicht schnell genug. Nur mit letzter Kraft schleppte er sich jetzt noch weiter, angespannt, in der Angst, jeden Moment von einer Kugel durchbohrt zu werden. Sein Herz hämmerte. Hoffentlich tat das Sterben nicht allzu weh, und hoffentlich ging es schnell. Er biss sich auf die Lippen, schmeckte das Blut in seinem Mund und versuchte, an nichts zu denken.
Mit einem Mal brachen Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke. Licht und Schatten fielen abwechselnd auf sein Gesicht. Er fühlte die Wärme auf seiner Haut. Für einen kurzen Moment dachte er, es könnte doch noch alles gut werden. Dann lichtete sich der Wald. Die Äste toter Bäume ragten wie Krallen in den Himmel. Vereinzelt standen hohle Baumstümpfe. Dazwischen lag ein dichter Teppich aus Gras und Moos, auf dem sich Wasser gesammelt hatte. Das Moos war weich und gab unter Sams Füßen nach. Über ihm auf den kahlen knorrigen Ästen saßen große schwarze Vögel. Sie krächzten, flatterten auf, setzten sich wieder. Sie haben Hunger, dachte er. Sie werden mir die Augen auspicken. Sie werden Fleischbrocken aus meinem Körper hacken. Er riss den Mund auf, beugte sich vor und übergab sich.
Der Mann mit den hellen Augen packte Sams Handgelenk, riss seinen Arm nach hinten und drückte ihn auf die Erde. So fest, dass Sam vor Schmerz aufschrie. Was dann folgte, war wie ein Traum. Er lag auf dem Boden, den Blick in den Himmel gerichtet. Die Wolken, das Blau und die toten Äste verschwammen vor seinen Augen. Sonnenlicht verwischte die Bilder. Alles war ein einziges grelles Flimmern. Er meinte zu schweben. Das Wimmern und Betteln des Einäugigen drang nur dumpf zu ihm durch, bis er es schließlich nicht mehr hörte. Die einzigen Geräusche, die er noch wahrnahm, waren das Rascheln von Blättern und das Krächzen der Vögel. Erst der Schuss holte Sam zurück in die Wirklichkeit. Der Mann mit den hellen Augen warf ihm einen Klappspaten vor die Füße.
Als die Sonne die Höhe der kahlen Baumkronen erreicht hatte, lagen der Einäugige und sein Kumpan unter der Erde. Der Schweiß brannte Sam in den Augen. Er zitterte vor Erschöpfung und roch die Angst, die über seine Haut verdampfte. Aber er lebte.
Eine Woche später
In einem Kiosk am Steindamm kaufte Mia Paulsen ein mit Käse belegtes Brötchen, eine Flasche Rotwein und eine Tüte Pistazien. Mehr brauchte sie heute Abend nicht. Sie trat aus der Ladentür und kniff die Augen zusammen. Der Wind fegte kalt über die Straße und wirbelte Sand, Plastiktüten und Papier durch die Luft. Mit einer Hand hielt Mia sich den Kragen ihrer Lederjacke zu und lief leicht nach vorne gebeugt die Straße hinunter. Ihr Pony, der zu kurz war, um ihn in den Pferdeschwanz zu stecken, fiel ihr in die Augen.
Ein alter VW-Bus holperte scheppernd neben ihr über das Kopfsteinpflaster. Verdreckte Werbeschilder blinkten über dem Eingang eines Spielsalons. Eine junge Kleinfamilie kam ihr entgegen. Die Frau trug Kopftuch, der Mann schob den Kinderwagen. Vor einem Sexshop standen Jugendliche. Sie kicherten und redeten laut. Der Tonfall klang nach Indien oder Pakistan.
Mia erreichte den Hansaplatz, bog links ab und ging am Platz entlang Richtung Bremer Reihe. Sie versuchte, den vielen Glassplittern, dem aufgeweichten Papiermüll und den Essensresten auf dem Boden auszuweichen. Die rosafarbenen Hausmüllsäcke, die auf dem Gehweg lagen, waren fast alle aufgerissen, und der Wind hatte den Inhalt über den Platz verteilt. Mia fand es immer wieder seltsam, dass es in einer Stadt wie Hamburg nicht überall Mülltonnen gab, sondern in vielen Vierteln nur diese Säcke.
Um den Brunnen auf der Platzmitte saßen gut ein Dutzend Männer und Frauen mit Bier- und Weinflaschen. Daran hatte auch die teure Sanierung des Platzes nichts geändert. Ein junger Mann, dem ein Bein fehlte, humpelte an blauen Krücken auf sie zu. Er sah verwahrlost aus, die Hose dreckig, die Jacke viel zu dünn, die Haare strubbelig. An einer Kordel um seinen Hals hing eine Pappe. »Ich habe Hunger« stand darauf. Der Mann sah sie mit einem Blick an, der gezielt nach Mitleid schrie. Dieses Theaterspiel ärgerte Mia, und es tat ihr gleichzeitig leid, dass der Mann das nötig hatte. Sie zögerte kurz, holte dann das Käsebrötchen aus der Tüte und gab es ihm. Sie würde auch von den Nüssen satt werden.
In der Bremer Reihe suchte sie in ihrer Jackentasche nach dem Hausschlüssel. Auf dem Gehweg vor dem »Silbernen Anker«, einer verrauchten Kellerbar, stand eine Frau. Mia spürte ihren harten Blick auf sich. Die Frau musste weit über sechzig sein. Sie war klein, mit kurzen grauen Haaren, dezentem Make-up und dunkler schlichter Kleidung. Auch wenn sie nicht aussah wie eine Prostituierte, war Mia sich sicher, dass sie eine war. So wie sie sie taxierte – wie eine Konkurrentin. Mia wich ihrem Blick aus und schloss die Haustür auf. Sie klemmte. Erst als Mia mit dem Fuß gegen die untere Leiste trat, sprang sie auf.
Das Treppenhaus war gewunden wie ein Schneckenhaus, mit ausgetretenen alten Holzstufen. An einigen Stellen fehlten im Geländer die Streben. Mia fuhr mit den Fingern über die Wand. Unter der abblätternden weißen Wandfarbe kam der ursprüngliche altrosa Anstrich zum Vorschein. Sie liebte dieses verwohnte Haus. Ihre Schwester hatte sie für verrückt erklärt, als Mia ihr nach dem Tod ihrer Großmutter vor zwei Monaten gesagt hatte, sie wolle deren Wohnung in St. Georg übernehmen. Aber ihre Schwester war ja auch in einem Reihenhaus im spießigen Langenhorn glücklich. Dort oben im Norden Hamburgs, keine dreihundert Meter von dem Haus entfernt, in dem sie aufgewachsen waren. Schon bei dem Gedanken daran bekam Mia Platzangst. In ihrem Leben war es immer nur darum gegangen, möglichst weit von Langenhorn wegzukommen.
Sie öffnete die Wohnungstür im dritten Stock, sog den vertrauten Geruch von Nivea-Creme, Eukalyptusbonbons und Kampfer ein und stieg über die Taschen, die im Flur standen. Heute würde sie nichts mehr auspacken. Das konnte sie auch noch in Ruhe die nächsten Tage machen. Ihren Dienst hier in Hamburg musste sie erst nächste Woche antreten.
Sie streifte ihre Stiefel ab und schlüpfte in die Filzpantoffeln, die unter der Garderobe standen, an der noch der Kaninchenfellmantel ihrer Großmutter hing. Ihr Blick fiel in den Spiegel. Sie sah furchtbar aus, blass, die dunkelblonden Haare glanzlos mit ersten grauen Strähnen. Mit einem Seufzer ging sie ins Wohnzimmer, schenkte sich ein Glas Wein ein und ließ sich aufs Sofa fallen. Der Wein war ziemlich sauer, aber mehr konnte sie von einem Wein aus einem Kiosk am Steindamm wohl kaum erwarten.
Obwohl die Heizung bullerte, fror sie. Sie zog die Beine an und kuschelte sich in eine Decke. Das war also nun ihr Reich. Ein Nierentisch vor einem durchgesessenen, mit grünem Samt bezogenen Sofa, ein massiger Buffetschrank, ein Sideboard, eine Tapete mit braunem Karomuster, ein blumig gemusterter Perserteppich auf dem Boden, unter der Decke ein Kronleuchter, vor den Fenstern vergilbte Gardinen aus Plauener Spitze. An der Wand ein golden gerahmtes Ölgemälde mit nichts als Wellen darauf. Mia musste lachen. Es war schon absurd, dass sie jetzt hier wohnte. Sie hatte nie vorgehabt, nach Hamburg zurückzukommen. Sie hatte Berlin für ihre neue Heimat gehalten. Dreizehn Jahre lang. Nach dem Abschluss ihres Studiums und einer kurzen Zeit bei der Kripo in Hamburg war sie nach Berlin gegangen und hatte dort beim LKA angefangen. Sie hatte in verschiedenen Abteilungen gearbeitet, zuletzt in der für erpresserischen Menschenraub. Jetzt, mit achtunddreißig Jahren, war sie Kriminalhauptkommissarin. Aber sie war nicht wegen des Jobs nach Berlin gegangen. Wie alle Neu-Berliner hatte sie jahrelang geglaubt, in der größten und großartigsten Stadt der Republik zu wohnen. Ach was, nicht nur der Republik: der Welt, des Universums! Hamburg war für sie nicht mehr als ein Provinznest gewesen. Berlin war groß, cool, offen für alles, was anders war. Sie konnte machen, was sie wollte, und niemand sah sie schief an. Sie schüttelte den Kopf und trank ihr Glas in einem Zug aus. Wie blöd war sie eigentlich gewesen, dass sie nicht gemerkt hatte, dass diese »Mach-was-du-willst-is’-mir-doch-scheißegal«-Mentalität nichts mit Toleranz zu tun hatte? Es war einfach nur ignorant.
Dann war Lea gestorben, und Mia hatte jegliche Distanz zu ihrem Job verloren. Das Mädchen war elf Jahre alt gewesen. Sie war entführt worden. Es hatte Lösegeldforderungen gegeben. Mia hatte die Ermittlung geleitet, und sie hatte Lea gefunden. Klein und zart hatte sie auf dem Boden in diesem verfluchten Keller gelegen, Würgemale an ihrem dünnen weißen Hals. Die Augen gebrochen. Das Bild verfolgte Mia. Sie wurde die toten Augen des Mädchens nicht mehr los. Sie wollte das alles gern rational verarbeiten, schaffte es aber nicht. Sie hatte die Chance gehabt, das Mädchen zu retten. Und sie hatte versagt. In den Wochen danach war sie regelmäßig zur Polizeipsychologin gegangen ohne die geringste Lust, mit dieser Frau zu sprechen. Schließlich war sie nicht mehr hingegangen und hatte sich stattdessen auf eine Stelle in ihrer Heimatstadt beworben. Berlin war ihr unerträglich geworden.
Der Himmel war eine undurchlässige graue Decke, und der Wind ließ das Glockenspiel auf dem Nachbarbalkon klimpern. Luka stand an der Balkonbrüstung und beobachtete zwei Möwen, wie sie gegen die Windböen ankämpften. Er riss ein Stück aus einem alten Brotknust und warf es ihnen zu. Eine der Möwen stürzte steil nach unten und fing es im Flug auf. Die andere versuchte, ihr unter lautem Gekreische das Brot aus dem Schnabel zu reißen.
Luka warf mehr Brot, und immer mehr Möwen kamen. Ein Vogel landete neben ihm auf dem Balkongeländer. Der rote Tupfen auf seinem Schnabel sah aus wie ein Blutstropfen. Als das Brot verteilt war, flogen die Möwen Richtung Elbe davon. Der Fluss war kaum dreihundert Meter Luftlinie entfernt. Doch obwohl Luka im achten Stock wohnte, konnte er die Elbe über die Bäume hinweg nicht sehen. Dafür hörte er die schwerfällig tuckernden Motorengeräusche der Frachter. Und die Züge, die über die Elbbrücken fuhren. Das metallische Quietschen ihrer Bremsen hallte bis zu ihm herüber. Wenn die Sicht gut war, sah er den Rauch der Schornsteine auf der anderen Flussseite, der sich in dichten Säulen in den Himmel schraubte, um sich dann langsam aufzulösen. Je nachdem, wie der Wind stand, roch es vom Hafen her nach Kaffee, Vanille oder irgendeiner fettigen Substanz, die er nicht zuordnen konnte. Heute roch es nach Kaffee.
Es war kurz nach fünf, und es wurde schon dunkel. Durch das durchsichtige Plexiglas der Balkonbrüstung konnte Luka die Autos sehen, die jetzt eines nach dem anderen unten auf den Parkplatz hinter dem Haus fuhren. Es war kaum noch eine Lücke frei. Feierabend der Büropupser, dachte Luka. Den Rest des Abends verbrachten sie vor der Glotze, gleich würden überall die blauen Lichter hinter den Gardinen aufflackern.
Ein Hund rannte zwischen den Autos hin und her. Jemand pfiff. Ein Mann schob ein Fahrrad mit Kinderanhänger. Luka hatte ihn schon oft da unten gesehen. Aus dem Anhänger ragten zwei lange rote Fahnen, und auf der Rückseite klebte ein Aufkleber mit Baby drauf. Luka glaubte allerdings nicht, dass der Mann Kinder hatte. Zumindest saßen nie welche im Anhänger. Meistens transportierte er damit Tüten. Luka konnte nicht erkennen, womit der Anhänger heute beladen war. An manchen Tagen stellte der Mann sein Rad hinter dem Hochbunker neben dem Parkplatz ab und entlud die Tüten. Wohin er sie brachte, konnte Luka von oben nicht sehen.
Heute hielt der Mann nur kurz an, und es sah aus, als suche er etwas in seinen Jackentaschen, dann schob er am Bunker vorbei und nahm den Weg durch die Grünfläche hinter den Wohnblocks.
Von drinnen hörte Luka das Schlagen der Wohnungstür. Kurz darauf erschien seine Mutter in der Balkontür. »Luka, wie lange sitzt du schon wieder hier draußen?«
Ohne sie anzusehen, zuckte er mit den Schultern.
»Komm rein. Es ist kalt.«
Er deutete ein Kopfschütteln an. In seiner Trainingshose und der Sweatshirt-Jacke mit der Kapuze fror er nicht. Er fror sowieso fast nie, obwohl er so dünn und schlaksig war. Seine Mutter seufzte, zog den zweiten Korbsessel nah zu Luka heran, setzte sich und legte ihm einen Arm um die Schulter. »Wie war’s in der Schule?«, fragte sie und strich ihm den langen Pony aus dem Gesicht.
»Wie immer«, murmelte er, wand sich aus ihrem Arm und schüttelte den Kopf, damit die Haare wieder vor seine Augen fielen. Es gab ihm ein sicheres Gefühl, wenn sie vor seinen Augen hingen. Ein bisschen wie ein Schild.
»Ich mach uns ein paar Spaghetti«, sagte seine Mutter. »Aber zum Essen kommst du dann rein.«
Luka antwortete nicht. Er hielt es in der Wohnung kaum noch aus. Nicht seit dem Tod seines Vaters. Alles erinnerte an ihn. In den Schränken hingen seine Klamotten. Im Regal standen seine Bücher. Und sogar seine Zahnbürste war noch in dem blauen Becher über dem Waschbecken. Von nichts konnte seine Mutter sich trennen. Aber selbst wenn sie die Sachen wegräumen würde, es würde nichts ändern.
Sein Vater war Polizist gewesen. Er war in Ausübung des Dienstes gestorben. So hieß das in der Amtssprache. Luka hasste die Amtssprache. Konnten die nicht einfach sagen, dass sein Vater erschossen worden war? Ermordet. Von einem Kollegen, der zu dämlich gewesen war, den Verbrecher, den sie jagten, zu treffen, und stattdessen seinen Vater abgeknallt hatte. Vielleicht war es sogar Absicht gewesen. Sein Vater hatte kurz zuvor von einem Streit erzählt und dass er seinem Partner nicht mehr vertraue.
Luka hatte sich nicht einmal verabschieden können. Sein Vater war zwar nicht sofort tot gewesen, aber Luka war zu spät ins Krankenhaus gekommen. Es war sein sechzehnter Geburtstag gewesen. Er hatte mit Freunden auf der Bowlingbahn gefeiert und das Klingeln seines Telefons in seiner Jackentasche nicht gehört. Das war vor genau fünfzehn Monaten und drei Tagen gewesen. Seinen siebzehnten Geburtstag hatte er nicht mehr gefeiert. Er würde nie wieder einen Geburtstag feiern.
Durch die offene Balkontür hörte Luka seine Mutter in der Küche mit Töpfen hantieren. Mittlerweile war es richtig dunkel. Diese winterliche Dunkelheit, die sich wie ein graues Tuch über alles legte. Luka griff nach dem Nachtsichtgerät, das neben ihm auf dem Tisch lag. Es hatte seinem Vater gehört. Luka drehte an dem kleinen Rad und stellte den Hochbunker scharf. Der Bunker stand keine hundert Meter von dem Haus entfernt, in dem Luka wohnte. Ein grauer fensterloser Betonblock. Vom Balkon aus konnte er von oben auf das Flachdach schauen. Aus Rissen im Beton wuchsen kleine Birken und Büsche, und mitten in das Dach waren zwei Fenster in Form von Pyramiden eingelassen, als habe jemand versucht, den Bunker auszubauen. Aber soweit Luka wusste, stand er leer.
Luka hoffte, diesen Jungen wieder zu sehen. Zum ersten Mal hatte er ihn im Sommer gesehen. Er hatte mit ausgestreckten Armen und Beinen auf dem Bunkerdach gelegen und in den Himmel geguckt. Es war dunkel gewesen, und ohne das Nachtsichtgerät hätte Luka ihn niemals entdeckt. Bis heute wusste er nicht, wie der Junge auf das Dach kam. Die Metalltür zum Bunker war abgeschlossen. Zusätzlich war von außen ein schweres Kettenschloss durch die Türgriffe geschlungen. Das war auch so, wenn der Junge auf dem Dach war. Luka war einmal nach unten gerannt, um das zu überprüfen. Von oben konnte er die Bunkertür nicht einsehen, sie lag auf der dem Balkon abgewandten Seite.
Der Junge musste irgendwie von außen auf das Bunkerdach gelangen. Die Birken neben dem Bunker waren allerdings zu weit vom Dach entfernt, als dass er darüber hinaufkommen konnte. Außerdem boten die dünnen Äste sich nicht gerade zum Klettern an. Der Junge musste also über die Bunkerwand hochkommen. Sie war porös, teilweise war der Beton abgeplatzt. Aber es gab so was wie Luftlöcher in der Wand, an denen man Halt finden konnte, und an einigen Stellen ragten Metallstangen aus dem Beton. Luka hatte es ausprobiert, war allerdings nicht weit gekommen, was jedoch nichts hieß. Er war noch nie ein guter Kletterer gewesen. Wenn der Junge geschickter war als er, könnte er es sicher schaffen.
Das rechte Auge zugekniffen, vor dem linken Auge das Nachtsichtgerät, suchte Luka das Bunkerdach ab. Alles schimmerte grünlich. Auf dem Dach rührte sich nichts. Langsam wuchs die Befürchtung in Luka, der Junge würde gar nicht mehr auftauchen. Er hatte ihn schon seit ein paar Tagen nicht mehr gesehen.
»Luka, Essen!«, rief seine Mutter. »Luka!«
Luka ignorierte sie. Vom Parkplatz unten vor dem Haus drangen Stimmen herauf. Im Lichtkegel der Straßenlaterne standen die Jungen aus dem Block. Die Schatten, die sie auf den Boden warfen, waren lang und dünn. Früher hatte Luka auch mit ihnen abgehangen. Aber er hatte keine Lust mehr auf Clique. Er hatte überhaupt keine Lust mehr auf andere Leute. Vielleicht faszinierte ihn dieser Junge, den er da auf dem Bunkerdach beobachtete, deshalb so sehr. Er war auch immer alleine.
»Luka!«, rief seine Mutter noch einmal und kam kurz darauf in ihrer dicken Daunenjacke und mit zwei Tellern Spaghetti auf den Balkon. Sie stellte die Teller auf den kleinen Holztisch und ging noch einmal rein, um ein Windlicht zu holen. Das Licht stellte sie auf die Balkonbrüstung. Luka legte das Nachtsichtgerät weg. Er wusste, seine Mutter würde ihn nicht in Ruhe lassen, bis er aß. Er drehte Spaghetti auf seine Gabel und schob sie sich in den Mund. Die Nudeln waren zerkocht und die Soße wie immer aus dem Glas.
Luka sah, wie die Jungen unten auf dem Parkplatz Richtung Elbe trotteten. Seine Mutter musste sie auch entdeckt haben. »Warum machst du nicht mal wieder was mit deinen Freunden?«, fragte sie.
Luka aß schweigend weiter.
»Luka, verdammt«, fuhr seine Mutter ihn an und warf ihr Besteck auf den Teller. »Rede doch zumindest mal mit mir.«
Luka presste die Lippen zusammen. Seine Mutter meinte, Reden helfe. Er glaubte nicht daran. Reden machte eine Sache auch nicht besser.
»Die Psychologin war auf dem AB«, sagte seine Mutter. »Du warst diese Woche schon wieder nicht bei der Therapie.«
»Die kann mir auch nicht helfen.«
»Luka, so geht das nicht weiter. Ich verstehe dich ja, aber du kannst nicht immer nur alleine hier rumhocken.«
Tränen schossen Luka in die Augen. Er konnte dieses »ich verstehe dich ja« nicht mehr hören. Niemand verstand ihn.
Er drehte den Kopf weg. Er wollte nicht, dass seine Mutter ihn weinen sah. Er griff nach dem Nachtsichtgerät und hielt es sich vors Auge. Und da sah er ihn. Der Junge stand auf dem Bunkerdach. Nein, er stand nicht, er balancierte auf der schmalen Dachkante. Mit ausgebreiteten Armen, wie ein Seiltänzer. Luka wurde heiß und kalt gleichzeitig. Er wollte wegschauen, konnte aber nicht. Irgendetwas an diesem Wahnsinn zog ihn magisch an. Seine Knie wurden weich, als stünde er selbst dort oben auf der Kante des Bunkerdachs. In seinem Magen spürte er diesen Sog, der einen in den Abgrund ziehen wollte. Der Junge hatte fast das Ende der Dachkante erreicht, als er plötzlich ins Wanken geriet. Er ruderte mit den Armen, fing sich wieder und ging weiter, als sei nichts gewesen.
Am Bahnhof in Schöna stieg Lien Thi Vu aus. Außer ihr war kein Mensch auf dem Bahngleis. Obwohl die Sonne schien, war es kalt, und Lien zog ihren schwarzen Wollmantel enger um ihre Brust. Sie atmete die frische kalte Luft tief ein und langsam wieder aus und folgte dem Schild zum Fähranleger. Auf dem Deckel eines grauen Müllcontainers hüpften Krähen um einen Fleischbrocken herum und hackten mit ihren Schnäbeln darauf ein. Ihre Krallen schabten über das Plastik.
Lien humpelte. Ihre Hüfte schmerzte, wie so oft in der kalten Jahreszeit. Bekannte hatten ihr geraten, sie solle damit zum Arzt gehen. Aber sie war jetzt dreiundsechzig Jahre alt, da würde sie wegen einer schmerzenden Hüfte nicht mehr an sich rumdoktern lassen.
Der Weg schlängelte sich dicht an den steilen Sandsteinfelsen vorbei, die am Elbufer aufragten. Büsche und kleine Bäume hatten sich in den Felsspalten festgekrallt und wuchsen trotz aller Widrigkeiten.
Lien ging den Holzsteg zum Anleger hinunter. Auf den glitschigen Blättern rutschte sie weg. Sie fasste nach dem Geländer und konnte sich gerade noch halten, bevor sie stürzte. Schwer atmend blieb sie stehen. Erst als das Schiffshorn ertönte, eilte sie die letzten Meter zur Fähre. Die Fahrt dauerte keine zwei Minuten. Die Elbe war hier noch schmal, mehr ein kleiner Fluss als ein Strom.
Auf der anderen Seite des Ufers lag der tschechische Ort Hřensko. An den Sandsteinfelsen klebten alte Fachwerkhäuser. Ein Bergbach floss durch eine Schlucht in die Elbe. Lien fand, es war wie ein Bild aus einem altdeutschen Märchen, wären da nicht die Bretterbuden der vietnamesischen Händler gewesen, die zwischen den Fachwerkhäusern aufgebaut waren. Über einer der Hütten leuchtete in roten Lettern »Dragonshop«, über einer anderen »Free Shop«. Die meisten Läden allerdings hatten keine Namen. Sie waren vollgestopft mit gefälschten Barbiepuppen, wattierten BHs, mit Zigarettenstangen, Plastikeimern, Klodeckeln, Jeans, Schwarzwalduhren made in China … Vor den Holzwänden hingen Handtücher mit StarWars-Aufdrucken, schwer und nass vom letzten Regen. Auf den Gehwegen standen Vogelhäuschen und Gartenzwerge, die den nackten Po zeigten. Der beißende Qualm von Räucherstäbchen hing in der Luft. Von irgendwoher tönte Karaokegesang. Männer, die sich um ein Mahjong-Spiel auf dem Boden scharten, trugen Daunenjacken und Fellmützen. Sie fluchten bei jedem guten Zug des Gegners. Einer der Männer wiegte ein schreiendes Baby in einem rosa Schneeanzug auf seinem Arm.
Die Autos, die am Straßenrand parkten, hatten deutsche und tschechische Kennzeichen. Ein magerer blonder Typ mit pockennarbiger Haut stand unter einem Felsvorsprung, die Hände tief in den Taschen seiner Kunstlederjacke vergraben. Er trat von einem Bein auf das andere und schien auf etwas zu warten. Lien vermutete, das war einer dieser Typen, die sich hier mit ihrem Eigenbedarf an Crystal Meth eindeckten.
Am Hotel Mašek, einem hübsch renovierten Fachwerkhaus, bog sie links in die Schlucht ein. Auch hier standen Verkaufsbuden an der schmalen Straße. Zwei Wanderer mit Rucksäcken überholten Lien in schnellem Marschschritt. Weiter die Schlucht hinunter begann der Aufstieg zum Sandsteinbogen oben in den Felsen. Liens Blick blieb an einem Schwarzen Brett hängen. Neben einer Wanderkarte der Region hingen handgeschriebene Anzeigen, die alle auf Vietnamesisch verfasst waren: freie Zimmer, Nachhilfe, Babysitter, Sexdienste.
Vor einer Bude mit Klobrillen drängte sich eine Reisegruppe. Sie trugen alle dieselben orangenfarbenen Schirmmützen, sogar ein alter Mann mit Rollator hatte eine dieser albernen Mützen auf dem Kopf.
»Was kost’n de Globrille mid’de Palm?«, fragte eine Frau mit starkem sächsischen Akzent.
»10 Euro, sehr gut«, antwortete die Händlerin in brüchigem Deutsch.
»Un die da, mid’m Sonnundorgang?«
»12 Euro.«
»Viel zu deior«, mischte sich ein dickbäuchiger Kerl mit gelber Windjacke und bis zu den Knöcheln hochgekrempelten Jeans ein.
»9 Euro«, sagte die Händlerin.
»Ilse, da muss’de bessor handeln«, sagte der Mann. »De Fidschis nähm dich nur aus. Die sinn so. Weeste nich’ mehr, friher war das o schon so. De Jeans, die’se ma für dich genäht ham …«
Der Mann redete, als sei die Händlerin nicht anwesend, und Lien musste sich zusammenreißen, keinen bösen Kommentar abzugeben. Schnell ging sie weiter.
Hung, ihr älterer Bruder, hatte sie ins Gasthaus »Bohema« bestellt. Es lag am Ende der Straße, von hier aus führte nur noch der Wanderweg weiter. Das Gebäude war ein rotgetünchter Altbau mit Erkern, kleinen Balkonen und einem Fachwerkgiebel. Männerlachen drang zu Lien heraus. Vor den Fenstern hingen Blumenkästen, und Lien stellte sich vor, wie im Sommer rote Geranien weit über ihre Ränder wucherten.
Sie rieb ihre Finger aneinander und spürte die harte leblose Hornhaut. Der Schmerz pochte in ihrer Hüfte. Einen Moment noch blieb sie vor dem Gasthaus stehen, dann legte sie die Hand auf die Messingklinke und drückte die Tür auf. Es war, als ob sie in eine überhitzte Höhle trat. Die Luft war verqualmt und roch nach gebratenen Zwiebeln, Speck und Holzfeuer. Unter der Decke hingen Lampen aus dunkelgrünem Glas, durch die das Licht nur schwach schimmerte. Das offene Feuer, das im Kamin brannte, tauchte die Gesichter der Gäste in ein flackerndes rötliches Licht. Die Möbel waren aus schwerem, fast schwarzem Holz. Vor den Fenstern hingen bräunliche Spitzengardinen, an den Wänden Geweihe und Rehköpfe. Rehhufe dienten als Haken an der Garderobe.
Die Gasttische waren alle besetzt. Männer in Anzügen saßen an einem Tisch in einer Nische. An einer langen Tafel in der Raummitte hatte sich eine Großfamilie mit Kindern und Wandertouristen niedergelassen, die ihre Rucksäcke neben sich auf den Boden gestellt hatten. Männer in Holzfällerhemden und mit vom Alkohol geröteten Gesichtern unterhielten sich lautstark auf Tschechisch. Ein Mann schlief mit dem Kopf auf dem Tisch. Vor ihm standen die Reste seines Mittagessens und ein leeres Bierglas.
Lien entdeckte Hung an einem der hinteren Tische. Genau wie sie selbst war er runder geworden, seit sie ihn zuletzt gesehen hatte, und seine immer noch dichten Haare waren mittlerweile ergraut. Er trug einen dunklen Rollkragenpullover, darüber ein Jackett. Zwei Männer saßen bei ihm und nickten wieder und wieder, ohne ihm dabei in die Augen zu schauen. Hung hob sein Bierglas an den Mund und trank. Nur einen Schluck, so wie Lien es von ihm kannte, immer darauf bedacht, nicht die Kontrolle zu verlieren. Nicht über sich, und nicht über andere.
Während Lien noch mitten im Raum stand und zu ihm hinübersah, drehte Hung den Kopf und schaute in ihre Richtung. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, als er sie entdeckte. Mit der Hand fuhr er durch die Luft, als wollte er Fliegen verscheuchen. Sofort standen die Männer, die bei ihm saßen, auf und eilten mit gesenkten Köpfen davon. Es hatte sich wirklich nichts verändert, dachte Lien. Sie hatten noch immer alle Angst vor ihm.
Lien atmete tief ein. Hung war ihr Bruder, aber ihre Beziehung war nie einfach gewesen. Sie streckte ihren Rücken durch, ignorierte die Schmerzen in ihrer Hüfte und ging zu ihm hinüber. Hung sah sie an mit diesem Lächeln, das alle um den Finger wickelte. Und das doch auch so kalt sein konnte. Er stand auf, trat auf sie zu und legte ihr seine Hände auf die Schultern. Ihr fiel auf, dass er um sein rechtes Handgelenk eine schwere goldene Uhr trug, ein Statussymbol, das er früher niemals so zur Schau getragen hätte.
»Kleine Schwester, schön, dich zu sehen.« Seine Stimme war wärmer, als sie sie in Erinnerung hatte. Vielleicht hatte das Alter ihn weicher gemacht, dachte sie, ohne wirklich daran zu glauben.
»Du bist grau geworden«, sagte sie.
Er lachte und rückte den Stuhl für sie ab. »Und du bist charmant wie immer. Nun setz dich schon.«
Sie zog ihren Mantel aus, hängte ihn über die Lehne und ließ sich vorsichtig auf den Stuhl sinken. Der Schmerz in ihrer Hüfte ließ etwas nach. Sie strich ihre Bluse über der Brust glatt und lächelte ihren Bruder an.
»Was trinkst du?«, fragte er.
»Cola.«
Hung rief seine Bestellung einer Kellnerin zu, einem schlanken blonden Mädchen in neonpinken Turnschuhen, engen Jeans, knappem T-Shirt und einer braunen Fellweste, die so gar nicht zu diesem sportlichen Outfit passte. Hung deutete mit dem Kinn zu ihr hinüber. »Wie findest du ihre Weste?« Er klang wie ein Kind, das fragte, wie man sein neues Feuerwehrauto fand. »Waschbärenfell. Habe ich für alle meine Bedienungen schneidern lassen.«
Lien sah ihn irritiert an. »Das hier ist dein Laden? Ein tschechisches Restaurant?«
»Böhmische Küche. Ausgezeichnet. Du solltest den Rehrücken mit Knödeln nehmen.«
»Wieso ein tschechisches Restaurant?«
Hung rollte sein leeres Bierglas zwischen den Händen hin und her und sagte mit einem Augenzwinkern: »Man muss sich anpassen.«
»Du? Seit wann passt du dich an?« Lien zog ihre Brauen hoch. Die Tatsache, dass sie so einiges nicht mitbekommen hatte, störte sie.
»Schwesterherz«, sagte Hung mit einem demonstrativen Seufzen. »Du weißt doch, alles, was gut fürs Geschäft ist.«
»Was ist mit den Buden da draußen und deinen Bistros drüben in Cheb?«
»Ist auch alles noch meins. Aber der Gasthof hier, das ist was anderes.« Er hob die Hände. »Hier kommen die Tschechen her. Wichtige Leute. Die lokale Elite. Wirtschaft, Politik, Polizei. Beziehungen sind auch hier alles, was zählt.«
»Ein tschechisches Restaurant. Für die bist du doch trotzdem nur ein Fidschi«, sagte Lien. »Nichts weiter.«
Hung lachte wieder. »Ja. Aber ein Fidschi mit Geld. Ich bin Sponsor des örtlichen Fußballclubs und des Seniorenheims. Und der Bürgermeister hat mich gerade gebeten, Geld für die Sanierung der Schulsporthalle zu spenden.«
»Also ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft«, sagte Lien nicht ohne Ironie in ihrer Stimme.
»So könnte man es nennen, ja.«
Die Kellnerin brachte die Cola und ein frisch gezapftes Pils für Hung und fragte Lien auf Deutsch, ob sie etwas essen wolle. »Ich nehme den Rehrücken«, sagte Lien. Hung bestellte Wildschweingulasch. Das Mädchen nickte und nahm den überquellenden Aschenbecher mit.
Keine zehn Minuten später stand das Essen auf dem Tisch.
Während sie aßen, erzählte Hung von seinen Töchtern. Die eine stand kurz vor dem Abitur, die andere studierte in Prag Medizin. Als Lien sie zuletzt gesehen hatte, trugen sie noch lange Zöpfe mit eingeflochtenen Schleifchen.
Es war nicht so, dass sie in den vergangenen Jahren keinen Kontakt gehabt hätten. Ab und zu hatten sie telefoniert – über »sichere Leitungen«, wie ihr Bruder die Prepaid-Nummern nannte, die er ständig wechselte.
Lien hatte hin und wieder Arbeiten für Hung erledigt. Und er hatte ihr auch immer geholfen, vor allem was das Finanzielle anging. Aber sie hatten sich so gut wie nie gesehen. Und wenn, dann ohne seine Familie. Aus den Papieren, mit denen Hung in Tschechien lebte, war nicht ersichtlich, dass sie Geschwister waren. Es sei sicherer für sie, hatte Hung gesagt. Aber Lien war klar, dass es auch sicherer für ihn war. So könnte, wenn es mal darauf ankam, auch niemand von ihr auf ihn schließen.
Obwohl das Reh butterweich und gut gewürzt war, stocherte Lien appetitlos im Essen herum. Schließlich legte sie das Besteck beiseite und schob den Teller von sich. Mit der Hand tastete sie nach dem Jadeanhänger an ihrer Kette. Er hatte die Form eines Wassertropfens und schmiegte sich perfekt in ihre geschlossene Faust. Es hatte etwas Beruhigendes. Sie sah ihren Bruder an. Es war Zeit, dass er ihr sagte, wieso er sie hatte kommen lassen.
Hung lehnte sich zurück, erwiderte ihren Blick und schüttelte sein Handgelenk mit der schweren Uhr. »Ich brauche jemanden, dem ich vertrauen kann«, sagte er und fing an zu erklären, was sie zu tun hatte. Es lag jetzt keine Wärme mehr in seiner Stimme. Er hatte in seinen Befehlston umgeschaltet.
In der Nacht träumte Sam wieder von den Toten. Tote, die er kannte, und Tote, die er nicht kannte. Ihre Gesichter rutschten übereinander und verschmolzen wie Schattenbilder – bis er sie nicht mehr unterscheiden konnte. Sie grinsten ihn an, schrien, weinten, drohten, jammerten, heulten. Der Krach war unerträglich.
Schweißgebadet und keuchend wachte Sam auf. Tränen liefen ihm über das Gesicht und Rotz aus der Nase. Er zog sich die fleckige Decke über die Augen. Sie roch nach Schimmel.
Sam wollte schreien, aber es kam nur ein erstickter Laut aus seiner Kehle. Er spürte eine Wut in sich, die er so bisher nicht gekannt hatte. Eine Wut, die erst da war seit der Sache im Wald. Wie eine Explosion in seinem Inneren, ein Kribbeln bis in die Fingerspitzen. Mit den Fäusten hämmerte er gegen seine Schläfen und versuchte, die Bilder aus seinem Kopf zu vertreiben. Aber er hörte immer noch die Stimmen der Toten. Er hörte auch wieder das Wimmern und Betteln des Einäugigen, draußen im Wald.
Sam sprang auf, tigerte hin und her. Er trat den Stuhl um, den einzigen, den sie hatten. Thanh saß mit angezogenen Beinen auf seiner Pritsche und starrte Sam an. Thanh war der andere Junge, der hier mit ihm zusammen in diesem verfluchten Bunker hauste. Bleich und mit weit aufgerissenen Augen sah er aus wie die Toten aus seinem Traum.
Sam ertrug die Blicke nicht mehr. Nicht die der Toten und auch Thanhs nicht. Weg, weg mit euch, schrie es in ihm. Die Bilder drehten sich in seinem Kopf, alles ging durcheinander. Das Chaos in seinem Kopf machte ihn noch wütender, als er sowieso schon war. Er trat einen herumliegenden Schuh gegen die Wand, lief weiter hin und her. Er wusste nicht, wohin mit dieser Wut. Er packte Thanh, riss ihn hoch und stieß ihn mit dem Kopf gegen die Wand. Thanh wehrte sich nicht, schlaff hing er in Sams Händen, und Sam drückte ihn immer fester gegen die Wand. Er fühlte, wie Thanhs Schädel über den bröckeligen Beton schabte, hörte das Geräusch, dieses furchtbare Geräusch. Aber er ließ nicht los. Erst Thanhs Schreie holten ihn aus seinem Wahn. Sams Finger lösten sich, sein ganzer Körper bebte. Er starrte auf seine Hände. Die Hände eines Monsters. Was hatte er getan, was um Himmels willen hatte er getan? Thanh war doch sein Freund, sein einziger Freund. Der einzige Mensch, der noch bei ihm war.
Sam drehte sich um und rannte nach oben. Er musste raus hier. An die frische Luft. Sich wieder unter Kontrolle bringen.
Draußen wehte ein rauer Wind. Schwere Wolken bedeckten dunkel den Himmel. Es war kalt, sicher würde es bald schneien. Er sog die frostige Luft so tief in die Lunge, dass es schmerzte. Er wünschte, der Mann mit den kalten hellen Augen hätte ihn einfach erschossen. So wie den Einäugigen. Erschossen und ins Grab gestoßen, das Grab, das Sam geschaufelt hatte. Aber das hatte der Mann nicht getan, er hatte einfach nur Spaß daran gehabt, ihm Angst einzujagen. Ihn gefügig zu machen. Aber warum? Er würde doch sowieso nicht wegrennen. Er wusste, dann würden sie sich seinen Bruder holen. Seinen älteren und einzigen Bruder. Und er wusste auch, dass sie seine Eltern dann umbringen würden.
Eine Weile stand Sam einfach nur da und hielt das Gesicht in den Wind, bis das Blut heiß in seinen Wangen pulsierte.