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Inhaltsübersicht

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel «The Silver Linings Playbook» bei Sarah Crichton Books/FSG, USA.

 

Redaktion Evi Draxl

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, März 2013

Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«The Silver Linings Playbook» Copyright © 2008 by Matthew Quick

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt

Umschlagabbildungen Cordula Schmidt

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Printausgabe 978-3-499-23035-6 (1. Auflage 2014)

ISBN E-Book 978-3-644-31031-5

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-31031-5

Für Alicia – la raison

Eine unbestimmte Anzahl von Tagen bis zu meiner zwangsläufigen Wiedervereinigung mit Nikki

Ohne aufzuschauen, weiß ich, dass Mom mal wieder einen ihrer Überraschungsbesuche macht. In den Sommermonaten sind ihre Zehennägel immer rosa lackiert, und ich erkenne das Blümchenmuster auf ihren Ledersandalen. Die hat sie gekauft, als sie mich das letzte Mal von dem schlimmen Ort abholte und mit mir shoppen ging.

Mom trifft mich im Bademantel an, während ich unbeaufsichtigt im Hof trainiere, und ich lächele, weil ich weiß, dass sie Dr. Timbers anschnauzen und ihn fragen wird, wieso ich eigentlich eingesperrt sein muss, wenn man mich sowieso den ganzen Tag allein lässt.

«Pat, wie viele Liegestütze willst du heute noch machen?», fragt Mom, als ich die zweiten hundert in Angriff nehme, ohne etwas zu ihr gesagt zu haben.

«Nikki … mag … Männer … mit … gut … entwickeltem … Oberkörper», sage ich, indem ich ein Wort pro Liegestütz ausspucke, und schmecke die salzigen Schweißrinnsale, die mir in den Mund laufen.

Die Augustschwüle ist drückend, ideal, um Fett zu verbrennen.

Gut eine Minute lang beobachtet mich Mom wortlos, und dann erschreckt sie mich. Ihre Stimme bebt irgendwie, als sie sagt: «Willst du heute mit mir nach Hause kommen?»

Ich höre auf, Liegestütze zu machen, wende das Gesicht meiner Mutter zu, blinzele in die weiße Mittagssonne – und ich merke gleich, dass sie es ernst meint, denn sie sieht besorgt aus, als würde sie gerade einen Fehler machen, und genauso sieht Mom aus, wenn sie etwas ehrlich meint und nicht einfach nur stundenlang vor sich hin redet, wie sie das immer macht, wenn sie weder wütend ist noch Angst hat.

«Wenn du versprichst, nicht wieder nach Nikki zu suchen», schiebt sie nach, «kannst du endlich nach Hause kommen und bei mir und deinem Vater wohnen, bis wir dir einen Job besorgt und eine Wohnung für dich gefunden haben.»

Ich widme mich wieder meinen Liegestützen, wobei ich die Augen stur auf die glänzende Ameise gerichtet halte, die direkt unter meiner Nase einen Grashalm hinaufkrabbelt, doch am Rande meines Blickfeldes sehe ich die Schweißperlen, die von meinem Gesicht auf die Erde fallen.

«Pat, sag einfach, dass du mit mir nach Hause kommst. Dann bekoche ich dich, und du kannst deine alten Freunde besuchen und endlich anfangen, dein Leben wieder in den Griff zu kriegen. Bitte. Du musst das wollen. Wenn auch nur meinetwegen, Pat. Bitte.»

Schnellere Liegestütze, meine Brustmuskeln brennen, wachsen – Schmerz, Hitze, Schweiß, Veränderung.

Ich will nicht an dem schlimmen Ort bleiben, wo niemand an den Silberstreifen am Horizont glaubt oder an die Liebe, an ein Happy End, und wo jeder mir sagt, dass Nikki meinen neuen Körper nicht mögen wird, mich nicht wiedersehen will, wenn die Auszeit vorüber ist. Aber ich habe auch Angst davor, dass die Menschen aus meinem alten Leben nicht so optimistisch sein werden, wie ich es jetzt zu sein versuche.

Trotzdem, ich muss weg von den deprimierenden Ärzten und den hässlichen Schwestern – mit ihren zahllosen Pillen in Plastikbecherchen –, falls ich je wieder klar denken will, und da Mom sehr viel leichter auszutricksen sein wird als medizinisches Fachpersonal, springe ich auf, stelle mich hin und sage: «Ich werde nur so lange bei euch wohnen, bis die Auszeit zu Ende ist.»

Während Mom die erforderlichen Papiere unterschreibt, dusche ich zum letzten Mal in meinem Zimmer und packe dann Kleidung und das gerahmte Foto von Nikki in meine Reisetasche. Ich verabschiede mich von meinem Zimmergenossen Jackie, der mich wie immer von seinem Bett aus anstarrt, während ihm Sabber wie flüssiger Honig vom Kinn tropft. Der arme Jackie mit seinen vereinzelten Haarbüscheln, dem seltsam geformten Kopf und dem wabbeligen Körper. Welche Frau könnte ihn je lieben?

Er blinzelt mich an. Ich deute das als «Auf Wiedersehen und viel Glück», also blinzele ich mit beiden Augen zurück, was so viel heißen soll wie «Zweimal so viel Glück für dich, Jackie», und ich glaube, er versteht, denn er grunzt und reißt eine Schulter hoch ans Ohr, was er immer macht, wenn er versteht, was man ihm sagen will.

Meine anderen Freunde sind im Musikentspannungskurs, an dem ich nicht teilnehme, weil Smooth Jazz mich gelegentlich wütend macht. Ich denke, dass ich mich von den Männern verabschieden sollte, die zu mir gehalten haben, während ich eingesperrt war, und schaue durch das Fenster in den Musikraum. Ich sehe meine Jungs im Schneidersitz auf lila Yogamatten sitzen, die Ellbogen aufgestützt, die Hände vor dem Gesicht aneinandergepresst, die Augen geschlossen. Zum Glück verhindert die Glasscheibe, dass mir der sanfte Jazz in die Ohren rieselt. Meine Freunde sehen richtig entspannt aus – friedlich –, daher beschließe ich, ihre Sitzung nicht zu stören. Ich hasse Abschiede.

Dr. Timbers wartet in seinem weißen Kittel auf mich, als ich zu meiner Mutter in die Lobby komme, wo zwischen Sofas und Klubsesseln drei Palmen stehen, als wäre der schlimme Ort in Orlando und nicht in Baltimore. «Genießen Sie Ihr Leben», sagt er mit seinem üblichen vernünftigen Gesichtsausdruck zu mir und schüttelt mir die Hand.

«Sobald die Auszeit vorbei ist», sage ich, und schlagartig verfinstert sich seine Miene, als hätte ich angekündigt, ich würde seine Frau Natalie und seine drei blonden Töchter, Kristen, Jenny und Becky, umbringen, denn so wenig glaubt er an den Silberstreifen, dass er es sich zur Aufgabe gemacht hat, endlos Apathie und Negativität und Pessimismus zu predigen.

Aber er soll wissen, dass es ihm nicht gelungen ist, mich mit seiner depressiven Lebensphilosophie zu infizieren, und dass ich mich auf das Ende der Auszeit freue. Deshalb sage ich zu Dr. Timbers: «Ich hab einen Lauf.» Danny – mein einziger schwarzer Freund an dem schlimmen Ort – hat mir erzählt, dass er genau das zu Dr. Timbers sagen wird, wenn er rauskommt. Ich habe ein leicht schlechtes Gewissen, weil ich Dannys Abschiedsspruch geklaut habe, aber es funktioniert. Das weiß ich, weil Dr. Timbers die Augen zusammenkneift, als hätte ich ihm eine Faust in den Bauch gerammt.

Während meine Mutter mich raus aus Maryland und durch Delaware fährt, vorbei an den zahllosen Fast-Food-Restaurants und Einkaufszentren, erklärt sie mir, dass Dr. Timbers mich nicht von dem schlimmen Ort weglassen wollte, dass sie aber mit Hilfe einiger Anwälte und des Therapeuten ihrer Freundin – dem Mann, der mein neuer Therapeut sein wird – einen Rechtsstreit geführt hat und irgendeinen Richter davon überzeugen konnte, dass sie in der Lage wäre, sich zu Hause um mich zu kümmern, also danke ich ihr.

Auf der Delaware Memorial Bridge schaut sie zu mir rüber und fragt, ob ich wieder gesund werden will. «Du willst doch wieder gesund werden, Pat. Oder

Ich nicke. «Will ich.»

Und dann sind wir zurück in New Jersey und brausen den 295 hoch.

Als wir über die Haddon Avenue ins Zentrum von Collingswood – meiner Heimatstadt – fahren, stelle ich fest, dass die Hauptgeschäftsstraße sich verändert hat. So viele neue Boutiquen, neue Edelrestaurants, gut gekleidete Fremde auf den Gehwegen, dass ich mich frage, ob das hier wirklich meine Heimatstadt ist. Ich werde unruhig, atme schwer, wie ich das manchmal mache.

Mom fragt, was los ist, und als ich es ihr sage, verspricht sie mir erneut, dass mein neuer Therapeut, Dr. Patel, mich im Handumdrehen wieder in Ordnung bringen wird.

Zu Hause angekommen, gehe ich schnurstracks in den Keller, und es ist wie Weihnachten. Ich finde die Kraftbank vor, die meine Mutter mir so oft versprochen hat, ein Gestell mit Gewichten, ein Spinningrad, Hanteln und den Bauchmuskeltrainer Stomach Master 6000, den ich im Spätabendprogramm gesehen und mir immer gewünscht habe, seit ich an dem schlimmen Ort war.

«Danke, danke, danke!», sage ich zu meiner Mom und umarme sie fest, hebe sie vom Boden hoch und wirbele sie einmal herum.

Als ich sie wieder hinstelle, lächelt sie und sagt: «Willkommen zu Hause, Pat.»

Eifrig mache ich mich an mein Trainingsprogramm: Bankdrücken, Armbeugen, Sit-ups am Stomach Master 6000, Leg Lifts, Kniebeugen, Stunden auf dem Fahrrad, Hydrationspausen (ich versuche, jeden Tag fünfzehn Liter Wasser zu trinken, indem ich zur intensiven Hydration zahllose Schnapsgläser H2O in mich hineinschütte). Und dann ist da noch mein Tagebuch, das überwiegend aus Aufzeichnungen wie diesen hier besteht, damit Nikki etwas über mein Leben lesen kann und genau weiß, was ich seit dem Beginn der Auszeit so gemacht habe. (An dem schlimmen Ort hat mein Gedächtnis durch die Medikamente ein bisschen gelitten, also fing ich an, alles aufzuschreiben, was mir so passiert, mir zu notieren, was ich Nikki erzählen muss, wenn die Auszeit beendet ist, um sie auf den neusten Stand über mein Leben zu bringen. Aber ehe ich nach Hause durfte, haben die Ärzte an dem schlimmen Ort alles konfisziert, was ich zu Papier gebracht hatte, daher muss ich von vorn anfangen.)

Als ich schließlich aus dem Keller komme, sehe ich, dass sämtliche Fotos von Nikki und mir von den Wänden und dem Kaminsims entfernt wurden.

Ich frage meine Mutter, wo die Fotos hingekommen sind. Sie erzählt mir, dass vor einigen Wochen in unser Haus eingebrochen wurde und die Bilder gestohlen wurden. Ich frage, was ein Einbrecher mit Fotos von Nikki und mir würde anfangen wollen, und meine Mutter sagt, dass alle ihre Bilder in sehr teuren Rahmen sind. «Wieso hat der Einbrecher dann nicht auch die anderen Familienfotos geklaut?», frage ich. Mom sagt, der Einbrecher hat alle teuren Rahmen geklaut, aber sie hat von den Negativen der Familienporträts neue Abzüge machen lassen. «Wieso hast du dann von den Bildern von Nikki und mir keine neuen Abzüge machen lassen?», frage ich, und Mom sagt, sie hatte keine Negative von den Bildern von Nikki und mir, weil nämlich Nikkis Eltern die Hochzeitsfotos bezahlt hatten und meine Mutter nur Abzüge der Fotos bekam, die ihr gefielen. Nikki hatte Mom die anderen Nicht-Hochzeitsfotos von uns geschenkt, und na ja, im Augenblick haben wir keinen Kontakt zu Nikki oder ihrer Familie, weil ja Auszeit ist.

Ich sage meiner Mutter, falls der Einbrecher zurückkommt, würde ich ihm die Kniescheiben brechen und ihn halb totprügeln, und sie sagt: «Das kann ich mir gut vorstellen.»

Während meiner ersten Woche zu Hause unterhalten mein Vater und ich uns kein einziges Mal, was nicht verwunderlich ist, weil er ständig arbeitet. Er ist Bezirksleiter von sämtlichen Big-Foods-Filialen in South Jersey. Wenn Dad nicht im Büro ist, schließt er sich in seinem Arbeitszimmer ein und liest historische Romane, meistens über den Bürgerkrieg. Mom sagt, er braucht Zeit, um sich daran zu gewöhnen, dass ich wieder zu Hause bin. Die gebe ich ihm gern, vor allem, da ich sowieso ein bisschen Angst davor hab, mit Dad zu reden. Ich erinnere mich, wie er mich angeschrien hat, als er mich das einzige Mal an dem schlimmen Ort besuchte, und er sagte einige ziemlich garstige Dinge über Nikki und den Silberstreifen im Allgemeinen. Natürlich begegne ich Dad auf den Fluren unseres Hauses, aber er sieht mich nicht an, wenn wir aneinander vorbeilaufen.

Nikki liest gern, und da sie immer wollte, dass ich literarische Bücher lese, fang ich damit an, hauptsächlich, um mich an den Tischgesprächen beteiligen zu können, bei denen ich in der Vergangenheit immer geschwiegen habe – diesen Gesprächen mit Nikkis literarisch interessierten Freunden, alles Englischlehrer, die mich für einen ungebildeten Trottel halten − wie mich einer von Nikkis Freunden immer nennt, wenn ich ihn damit aufziehe, dass er so klein ist. «Wenigstens bin ich kein ungebildeter Trottel», sagt Phillip dann zu mir, und Nikki kriegt sich nicht mehr ein vor Lachen.

Mit ihrem Bibliotheksausweis leiht meine Mom Bücher für mich aus, seit ich zu Hause bin und lesen darf, was ich will, ohne mir vorher Dr. Timbers’ Erlaubnis zu holen, der übrigens ein Faschist ist, wenn es um Bücherverbote geht. Ich fange mit Der große Gatsby an, das ich in nur drei Nächten aushabe.

Der beste Teil ist das einleitende Essay, in dem es heißt, dass es in dem Roman hauptsächlich um die Zeit geht, die man nie zurückholen kann, was genau meinem Gefühl in Bezug auf meinen Körper und mein Fitnesstraining entspricht, aber andererseits habe ich auch das Gefühl, dass ich eine unbestimmte Anzahl von Tagen bis zu meiner zwangsläufigen Wiedervereinigung mit Nikki zur Verfügung habe.

Als ich die eigentliche Geschichte lese – wie sehr Gatsby Daisy liebt, dass er aber nie mit ihr zusammen sein kann, ganz gleich, wie sehr er sich anstrengt –, möchte ich das Buch am liebsten zerreißen und diesen Fitzgerald anrufen und ihm sagen, dass er mit seinem Buch völlig falschliegt, obwohl ich weiß, dass Fitzgerald vermutlich schon tot ist. Vor allem, wenn Gatsby in seinem Swimmingpool erschossen wird, als er das erste Mal überhaupt in jenem Sommer schwimmen geht, Daisy dann nicht mal zu seiner Beerdigung kommt, Nick und Jordan sich trennen und Daisy letztlich bei Tom, dem Rassisten, bleibt, dessen Bedürfnis nach Sex im Grunde genommen eine unschuldige Frau umbringt, da merkt man, dass Fitzgerald sich nie die Zeit genommen hat, die Wolken beim Sonnenuntergang zu betrachten, weil es am Ende dieses Buches nämlich keinen einzigen Silberstreifen am Horizont gibt.

Ich kann allerdings verstehen, dass Nikki den Roman mag, denn er ist richtig gut geschrieben. Aber gerade weil sie ihn mag, befürchte ich jetzt, dass sie nicht wirklich an den Silberstreifen glaubt, denn sie sagt, Der große Gatsby ist der großartigste Roman, den je ein Amerikaner geschrieben hat, und doch hat er ein so trauriges Ende. Eines ist jedenfalls sicher: Nikki wird sehr stolz auf mich sein, wenn ich ihr erzähle, dass ich endlich ihr Lieblingsbuch gelesen hab.

Noch eine Überraschung: Ich werde alle Romane lesen, die auf dem Unterrichtsplan für ihren Kurs über amerikanische Literatur stehen, nur um sie stolz zu machen, um ihr zu zeigen, dass ich mich wirklich dafür interessiere, was sie mag, und ich mich ernsthaft bemühe, unsere Ehe zu retten, vor allem, weil ich dann mit ihren angeberischen Literaturfreunden Konversation machen und so Sachen sagen kann wie: «Ich bin dreißig. Ich bin fünf Jahre zu alt, um mich selbst zu belügen und es Ehre zu nennen», was Nick am Ende von Fitzgeralds berühmtem Roman sagt. Der Spruch funktioniert auch bei mir, weil ich auch dreißig bin, und wenn ich ihn sage, werde ich ziemlich intelligent klingen. Wahrscheinlich plaudern wir gerade beim Abendessen, und die Anspielung wird Nikki ein Schmunzeln entlocken, und dann wird sie vor Erstaunen lachen, weil ich tatsächlich Der große Gatsby gelesen habe. Das gehört jedenfalls zu meinem Plan, diesen Spruch ganz lässig anzubringen, wenn sie am wenigsten damit rechnet, dass ich «Wissen raushaue» − um eine weitere Formulierung meines schwarzen Freundes Danny zu bemühen.

Gott, ich kann’s kaum erwarten.

Er predigt keinen Pessimismus

Gegen Mittag wird mein Fitnesstraining unterbrochen, als Mom runter in den Keller kommt und sagt, dass ich einen Termin bei Dr. Patel habe. Ich frage, ob ich nicht am späten Nachmittag gehen kann, wenn ich mein tägliches Gewichthebepensum absolviert habe, aber Mom sagt, ich muss zurück an den schlimmen Ort in Baltimore, wenn ich meine Termine bei Dr. Patel nicht einhalte. Sie erwähnt sogar den Gerichtsbeschluss und sagt, ich kann die Akte lesen, wenn ich ihr nicht glaube.

Also gehe ich duschen, und dann fährt mich Mom zu Dr. Patels Praxis im Erdgeschoss eines großen Hauses in Voorhees, ganz in der Nähe der Haddonfield-Berlin Road.

Als wir dort ankommen, nehme ich im Wartezimmer Platz, während Mom noch mehr Papierkram ausfüllt. Mittlerweile mussten bestimmt zehn Bäume dran glauben, bloß damit meine psychische Verfassung dokumentiert wird, und das würde Nikki gar nicht gern hören, weil sie nämlich eine engagierte Umweltschützerin ist, die mir jedes Jahr zu Weihnachten mindestens einen Baum im Regenwald geschenkt hat – eigentlich war es bloß ein Blatt Papier, auf dem stand, dass mir der Baum gehörte. Jetzt habe ich ehrlich ein schlechtes Gewissen, weil ich mich über diese Geschenke lustig gemacht habe, und ich werde nie wieder über den schwindenden Regenwald witzeln, wenn Nikki zurückkommt.

Während ich dasitze, eine Sportzeitschrift durchblättere und das Easy-Listening-Gedudel ertrage, mit dem Dr. Patel sein Wartezimmer berieselt, höre ich plötzlich sexy Synthesizer-Akkorde, schwache Hi-Hats, den erotischen Puls der Basstrommel, das Klimpern von Feenstaub und dann das böse helle Sopransaxophon. Ihr kennt den Titel: Songbird. Und ich springe auf, schreie, trete gegen Stühle, kippe den Beistelltisch um, packe Zeitschriftenstapel und schleudere sie gegen die Wand, kreische: «Das ist nicht fair! Ich dulde keine solchen Tricks! Ich bin keine emotionale Laborratte!»

Und plötzlich steht ein kleiner Inder vor mir, der höchstens ein Meter zweiundfünfzig groß ist, mitten im August einen Strickpullover mit Zopfmuster, eine Anzughose und blitzweiße Tennisschuhe trägt und mich seelenruhig fragt, was los ist.

«Stellt die Musik ab!», schreie ich. «Abstellen! Sofort!»

Ich begreife, dass der kleine Mann Dr. Patel ist, denn er sagt seiner Sekretärin, sie soll das Radio ausschalten, und als sie es tut, verschwindet Kenny G aus meinem Kopf, und ich höre auf zu schreien.

Ich schlage mir die Hände vors Gesicht, damit mich keiner weinen sieht, und nach einem kurzen Moment fängt meine Mutter an, mir über den Rücken zu streicheln.

So viel Stille – und dann bittet Dr. Patel mich in sein Büro. Ich folge ihm widerstrebend, während Mom der Sekretärin hilft, das Chaos zu beseitigen, das ich angerichtet habe.

Sein Büro ist wohltuend fremdartig.

Zwei lederne Ruhesessel stehen einander gegenüber. Spinnenartige Pflanzen – lange Ranken voller weiß-grüner Blätter – hängen von der Decke und umrahmen ein Erkerfenster, durch das ein steinernes Vogelbad und ein Garten voller bunter Blumen zu sehen sind. Doch außer einer Großpackung Papiertaschentücher auf dem kurzen Stück Boden zwischen den Ruhesesseln befindet sich absolut nichts in dem Raum. Er ist mit glänzendem hellem Parkett ausgelegt, und Decke und Wände sind so gestrichen, dass sie aussehen wie der Himmel – echt wirkende Wolken schweben um das ganze Büro herum, was ich als gutes Omen auffasse, weil ich Wolken liebe. Eine einzelne Lampe, wie eine leuchtende umgedrehte Sahnetorte, nimmt die Mitte der Decke ein, die rings um die Lampe mit einer Sonne bemalt ist. Freundliche Strahlen recken sich von der Mitte nach außen.

Ich muss gestehen, ich fühle mich ruhig, sobald ich Dr. Patels Büro betrete, und es macht mir nichts mehr aus, dass ich den Song von Kenny G gehört habe.

Dr. Patel fragt, in welchem Ruhesessel ich mich entspannen möchte. Ich entscheide mich für den schwarzen anstelle des braunen und bedauere meine Wahl gleich wieder, weil ich denke, dass meine Entscheidung für den schwarzen mich depressiver wirken lässt, als wenn ich den braunen genommen hätte, dabei bin ich überhaupt nicht depressiv.

Als Dr. Patel Platz nimmt, zieht er den Hebel seitlich an seinem Sessel, um die Fußstütze anzuheben. Er lehnt sich zurück und verschränkt die Finger hinter seinem kleinen Kopf, als wollten wir uns zusammen ein Baseballspiel anschauen.

«Entspannen Sie sich», sagt er. «Und ‹Dr. Patel› klingt so förmlich. Nennen Sie mich Cliff. Ich gestalte die Sitzungen gern zwanglos. Freundlich, ja?»

Er wirkt ziemlich nett, also ziehe auch ich an meinem Hebel, lehne mich zurück und versuche, mich zu entspannen.

«Nun denn», sagt er. «Dieser Kenny-G-Song ist Ihnen ziemlich an die Nieren gegangen. Ich bin auch nicht gerade ein Fan von ihm, aber …»

Ich schließe die Augen, summe einen einzelnen Ton und zähle im Geist bis zehn, leere meinen Kopf.

Als ich die Augen öffne, sagt er: «Möchten Sie über Kenny G sprechen?»

Ich schließe die Augen, summe einen einzelnen Ton und zähle im Geist bis zehn, leere meinen Kopf.

«Okay. Möchten Sie von Nikki erzählen?»

«Wieso interessieren Sie sich für Nikki?», frage ich, zugegebenermaßen ein wenig trotzig.

«Pat, wenn ich Ihnen helfen soll, muss ich Sie kennenlernen, ja? Ihre Mutter hat mir erzählt, Sie wollen wieder mit Nikki zusammenkommen, dass das ihr vorrangiges Lebensziel ist – also denke ich, wir fangen am besten damit an.»

Ich fühle mich auf Anhieb etwas besser, weil er nicht sagt, eine Wiedervereinigung sei ausgeschlossen, was darauf hinzudeuten scheint, dass Dr. Patel eine Versöhnung mit meiner Frau immerhin für möglich hält.

«Nikki? Sie ist toll», sage ich und lächele, weil ich die Wärme spüre, die sich immer in meiner Brust ausbreitet, wenn ich ihren Namen ausspreche, wenn ich ihr Gesicht vor meinem geistigen Auge sehe. «Sie ist das Beste, was mir je im Leben passiert ist. Ich liebe sie über alles. Und ich kann’s gar nicht erwarten, bis die Auszeit vorbei ist.»

«Auszeit?»

«Genau. Auszeit.»

«Was meinen Sie mit Auszeit?»

«Vor ein paar Monaten hab ich zugestimmt, Nikki mehr Freiraum zu lassen, und sie hat zugestimmt, zu mir zurückzukommen, wenn sie das Gefühl hat, ihre eigenen Probleme so weit gelöst zu haben, dass wir wieder zusammen sein können. Wir sind also sozusagen getrennt, aber nur vorübergehend.»

«Warum haben Sie sich getrennt?»

«Hauptsächlich, weil ich sie vernachlässigt habe und ein Workaholic war – ich hab den Fachbereich Geschichte an der Jefferson High School geleitet und war Trainer von drei Sportteams. Ich war nie zu Hause, und sie ist vereinsamt. Außerdem hab ich mich äußerlich gehenlassen, hatte schätzungsweise zehn bis siebzig Pfund Übergewicht, aber ich arbeite an diesen Defiziten und bin jetzt gerne bereit, eine Paartherapie zu machen, wie sie das wollte, weil ich ein anderer Mensch geworden bin.»

«Haben Sie einen Termin festgesetzt?»

«Einen Termin?»

«Für das Ende der Auszeit?»

«Nein.»

«Dann ist diese Auszeit also unbefristet?»

«Theoretisch ja – könnte man sagen. Vor allem, weil ich keinen Kontakt zu Nikki oder ihrer Familie aufnehmen darf.»

«Wieso das?»

«Ähm … das weiß ich nicht genau. Ich meine – ich liebe meine Schwiegereltern genauso, wie ich Nikki liebe. Aber das macht nichts, weil ich überzeugt bin, dass Nikki eher früher als später zurückkommt, und dann wird sie das mit ihren Eltern schon in Ordnung bringen.»

«Wie kommen Sie zu dieser Überzeugung?», fragt er, aber nett, mit einem freundlichen Lächeln im Gesicht.

«Ich glaube an ein Happy End», erkläre ich. «Und ich hab das Gefühl, dass dieser Film jetzt lange genug gelaufen ist.»

«Film?», sagt Dr. Patel, und ich überlege, dass er genau wie Gandhi aussehen würde, wenn er auch so eine Nickelbrille und einen kahlgeschorenen Schädel hätte, was seltsam ist, vor allem, weil wir in so einem hellen, heiteren Raum in ledernen Ruhesesseln sitzen und, na ja, Gandhi ja wohl tot ist, oder?

«Genau», sage ich. «Ist Ihnen noch nie aufgefallen, dass das Leben eine Abfolge von Filmen ist?»

«Nein. Erklären Sie mir das.»

«Also, man erlebt Abenteuer. Zunächst gibt’s immer Ärger, aber dann bekennst du dich zu deinen Problemen und wirst ein besserer Mensch, weil du dich richtig anstrengst, und das bereitet dann den Boden für das Happy End und lässt es aufgehen – genau wie am Ende von den Rocky-Filmen, Touchdown – sein Ziel ist der Sieg, Karate Kid, die Star-Wars- und Indiana-Jones-Trilogien und Die Goonies; das sind meine Lieblingsfilme, obwohl ich Filmen abgeschworen habe, bis Nikki zurückkommt, weil jetzt mein eigenes Leben der Film ist, den ich mir anschaue, und der läuft nun mal ununterbrochen. Außerdem weiß ich, dass es jetzt bald Zeit für das Happy End ist und Nikki zurückkommt, weil ich mit Fitness und Medikamenten und Therapie so hart an mir gearbeitet habe.»

«Aha, verstehe.» Dr. Patel lächelt. «Ich hab auch ein Faible für Happy Ends, Pat.»

«Dann sind Sie mit mir einer Meinung? Sie denken, dass meine Frau bald zu mir zurückkommt?»

«Das wird sich zeigen», sagt Dr. Patel, und in diesem Moment weiß ich, dass Cliff und ich uns gut verstehen werden, denn er predigt keinen Pessimismus wie Dr. Timbers und das Personal an dem schlimmen Ort. Cliff sagt nicht, ich muss mich dem stellen, was er für meine Realität hält.

«Seltsam, alle anderen Therapeuten, bei denen ich war, haben nämlich gesagt, Nikki würde nicht zurückkommen. Auch nachdem ich ihnen erzählt hatte, wie ich mein Leben verbessert, was für Fortschritte ich gemacht habe, haben die weiter ‹auf mich draufgehasst› − was eine Formulierung von meinem schwarzen Freund Danny ist.»

«Menschen können grausam sein», sagt er mit einem mitfühlenden Blick, der mein Vertrauen in ihn noch bestärkt. Und genau in dem Moment registriere ich, dass er nicht jedes Wort von mir in einer Akte notiert, was ich wirklich zu schätzen weiß, das kann ich euch sagen.

Ich sage ihm, dass mir der Raum gefällt, und wir sprechen über meine Liebe zu Wolken und darüber, dass die meisten Menschen die Fähigkeit verlieren, die hellen Wolkenränder, die Silberstreifen, zu sehen, auch wenn sie immer über uns sind, fast jeden Tag.

Ich stelle ihm Fragen zu seiner Familie, nur um nett zu sein, und wie sich herausstellt, hat er eine Tochter, deren Highschool-Feldhockeyteam in South Jersey Platz zwei belegt. Außerdem hat er einen Sohn, der auf die Grundschule geht; er will Bauchredner werden und übt sogar jeden Abend mit einer Holzpuppe namens Grover Cleveland, der zufälligerweise der einzige US-Präsident war, der zwei nicht unmittelbar aufeinanderfolgende Amtszeiten absolvierte. Ich kapiere nicht ganz, wieso Cliffs Sohn seine Holzpuppe nach unserem zweiundzwanzigsten und vierundzwanzigsten Präsidenten benannt hat, aber das sage ich nicht. Als Nächstes erzählt Cliff, dass er eine Frau namens Sonja hat, die diesen Raum so schön bemalt hat, was unser Gespräch dahin führt, wie großartig Frauen sind und wie wichtig es ist, eine Frau in Ehren zu halten, solange du sie hast, denn wenn du das nicht tust, kannst du sie ganz schön schnell verlieren – weil Gott von uns erwartet, dass wir unsere Frauen zu schätzen wissen. Ich sage zu Cliff, ich hoffe, er muss nie eine Auszeit durchmachen, und er sagt, er hofft, meine Auszeit ist bald vorüber, was wirklich richtig nett von ihm ist.

Ehe ich wieder gehe, sagt Cliff, dass er meine Medikation ändern wird, was zu einigen unerwünschten Nebenwirkungen führen könnte, und dass ich meiner Mutter umgehend Bescheid sagen soll, wenn ich unter Unwohlsein oder Schlaflosigkeit oder Angstgefühlen oder sonst was leide, weil es einige Zeit dauern könnte, bis er die richtige Medikamentenkombination herausgefunden hat, und ich verspreche, dass ich das tun werde.

Auf der Heimfahrt erzähle ich meiner Mom, dass ich Dr. Cliff Patel wirklich mag und meiner Therapie hoffnungsvoll entgegensehe. Ich danke ihr dafür, dass sie mich von dem schlimmen Ort weggeholt hat, und sage, dass Nikki sehr viel eher nach Collingswood kommen wird als in eine psychiatrische Einrichtung, und als ich das sage, fängt Mom an zu weinen, was echt seltsam ist. Sie fährt sogar rechts ran, legt den Kopf aufs Lenkrad und weint eine ganze Weile bei laufendem Motor – schniefend und zitternd und schluchzend. Also streiche ich ihr über den Rücken, wie sie das bei mir in Dr. Patels Wartezimmer gemacht hat, als dieser bestimmte Song gespielt wurde, und nach gut zehn Minuten hört sie einfach auf zu weinen und fährt mich nach Hause.

Um die Stunde aufzuholen, die ich mit Cliff rumgesessen habe, trainiere ich bis in den späten Abend, und als ich ins Bett gehe, sitzt Dad noch immer hinter verschlossener Tür in seinem Arbeitszimmer, womit ein weiterer Tag vergeht, ohne dass ich mit meinem Vater gesprochen habe. Ich finde es seltsam, mit jemandem unter einem Dach zu wohnen, mit dem man nicht reden kann – vor allem, wenn dieser Jemand dein Vater ist –, und der Gedanke macht mich ein wenig traurig.

Da Mom noch nicht wieder in der Bibliothek war, habe ich nichts zu lesen. Also schließe ich die Augen und denke an Nikki, bis sie in meinen Träumen zu mir kommt – wie immer.

Orangegelbes Licht dringt mir in den Schädel

Ja, ich glaube wirklich an Silberstreifen, hauptsächlich, weil ich sie fast jeden Tag sehe, wenn ich aus dem Keller auftauche, Kopf und Arme durch einen Müllsack schiebe – damit mein Rumpf von Plastik umhüllt ist und ich stärker schwitze – und laufen gehe. Ich versuche, den täglichen Zehnmeilenlauf meines zehnstündigen Trainingsprogramms immer auf Sonnenuntergang zu legen, damit ich am Ende in westlicher Richtung an den Spielfeldern vom Knight’s Park vorbeilaufen kann, wo ich als Kind Baseball und Fußball gespielt habe.

Während ich durch den Park trabe, blicke ich hoch und sehe, was der Tag prophezeiungstechnisch zu bieten hat.

Wenn Wolken die Sonne verbergen, gibt es immer irgendwo einen Silberstreifen, der mich ermahnt, nicht aufzugeben, weil ich weiß, dass meine Frau zu mir zurückkommt, auch wenn die Lage im Augenblick düster aussieht. Es ist elektrisierend zu sehen, wie das Licht diese fluffigen weißen oder grauen Wattebausche hell umrandet. (Den Effekt kann man auch erzielen, indem man die Hand dicht an eine nackte Glühbirne hält und die Handsilhouette mit den Augen verfolgt, bis man vorübergehend blind wird.) Es tut weh, die Wolken so anzuschauen, aber es hilft auch, wie die meisten Dinge, die Schmerzen bereiten. Ich muss also laufen, und während mir die Lunge brennt und der Rücken mit diesem Gefühl von Messerstichen revoltiert und die Beinmuskulatur sich verhärtet und der zentimeterbreite Ring aus schlaffer Haut um die Taille wabbelt, habe ich das Gefühl, ich leiste meine Buße für den Tag ab und dass Gott vielleicht so zufrieden mit mir ist, dass Er mir ein bisschen Hilfe zukommen lässt, was meiner Meinung nach auch der Grund dafür ist, dass Er mir in der letzten Woche interessante Wolken gezeigt hat.

Seit meine Frau mich um eine Auszeit gebeten hat, habe ich über fünfzig Pfund abgenommen, und meine Mutter sagt, dass ich bald wieder die Figur haben werde, die ich hatte, als ich auf der Highschool in der Fußballmannschaft war, und die ich auch noch hatte, als ich Nikki kennenlernte, und ich denke, dass sie es vielleicht abstoßend fand, wie viel ich in den fünf Jahren unserer Ehe zugenommen habe. Sie wird Augen machen, wenn sie mich nach unserer Auszeit dermaßen durchtrainiert sieht!

Orangegelbes Licht dringt mir in den Schädel und blendet mich, wenn ich bei Sonnenuntergang aufblicke und keine Wolken am Himmel sind – was gestern der Fall war. Und das ist fast genauso gut, denn auch das tut weh und lässt alles irgendwie göttlich aussehen.

Wenn ich laufe, tue ich immer so, als würde ich auf Nikki zulaufen, und dann habe ich das Gefühl, dass ich die Zeitspanne verkürze, die ich warten muss, bis ich sie wiedersehe.

Das denkbar schlimmste Ende

Ich weiß, dass Nikki jedes Jahr mit ihrer Klasse Hemingway durchnimmt, daher bitte ich um einen von Hemingways besseren Romanen. «Wenn möglich, einen mit einer Liebesgeschichte, weil ich unbedingt etwas über die Liebe lernen muss, damit ich ein besserer Ehemann sein kann, wenn Nikki wiederkommt», sage ich zu meiner Mom.

Als Mom aus der Bibliothek zurückkommt, sagt sie, der Bibliothekar hält In einem anderen Land für Hemingways beste Liebesgeschichte. Also schlage ich das Buch erwartungsvoll auf und kann förmlich spüren, wie ich schlauer werde, als ich die ersten Seiten umblättere.

Beim Lesen suche ich nach zitierfähigen Sätzen, damit ich «Wissen raushauen» kann, wenn Nikki und ich das nächste Mal mit ihren literarisch interessierten Freunden ausgehen, damit ich den Brille tragenden Phillip fragen kann: «Meinst du, ein ungebildeter Trottel kennt dieses Zitat?» Und dann werde ich ein bisschen Hemingway raushauen, richtig lässig.

Aber der Roman ist eine einzige große Luftnummer.

Die ganze Zeit drückst du dem Erzähler die Daumen, dass er den Krieg überlebt und dann mit Catherine Barkley ein schönes Leben hat. Er übersteht alle möglichen Gefahren – wird sogar fast in die Luft gejagt – und entkommt schließlich mit der schwangeren Catherine, die er über alles liebt, in die Schweiz. Sie leben eine Zeitlang in den Bergen, verliebt und glücklich.

An der Stelle hätte Hemingway aufhören sollen, denn das war der Silberstreifen, den diese Menschen verdienten, nachdem sie den fürchterlichen Krieg mit Mühe und Not überlebt hatten.

Aber nein.

Stattdessen lässt er sich das denkbar schlimmste Ende einfallen: Hemingway lässt Catherine verbluten, nachdem ihr Kind tot zur Welt gekommen ist. Es ist das grässlichste Ende, das mir je untergekommen ist oder wahrscheinlich je unterkommen wird, ob in der Literatur, im Film oder sogar im Fernsehen.

Am Ende weine ich haltlos, zum Teil um die Figuren, ja, aber auch, weil Nikki dieses Buch tatsächlich mit jungen Menschen im Unterricht bespricht. Mir ist einfach schleierhaft, warum jemand leicht beeinflussbare Teenager so einem grauenhaften Ende würde aussetzen wollen. Da können wir Highschool-Schülern doch gleich erzählen, dass ihre ganze Mühe, etwas aus sich zu machen, vergebens ist!

Ich muss gestehen, dass ich zum ersten Mal seit Beginn der Auszeit wütend auf Nikki bin, weil sie derartigen Pessimismus in ihrem Klassenzimmer lehrt. Ich werde auf absehbare Zeit Hemingway nicht mehr zitieren, und ich werde auch kein Buch mehr von ihm lesen. Und wenn er noch leben würde, würde ich ihm auf der Stelle einen Brief schreiben und ihm drohen, ihn mit bloßen Händen zu erwürgen, weil er so negativ ist. Kein Wunder, dass er sich mit einem Gewehr erschossen hat, wie das einleitende Essay verrät.

Nichts als Liebe für dich

Dr. Patels Sekretärin schaltet das Radio aus, sobald sie mich ins Wartezimmer kommen sieht, und ich muss lachen, weil sie versucht, es möglichst unauffällig zu tun. Sie sieht ängstlich aus, als sie da ganz behutsam an dem Knopf dreht – so wie die meisten Leute sich verhalten, wenn sie einen meiner Anfälle miterlebt haben, als wäre ich kein Mensch mehr, sondern ein wildes, bedrohliches Tier.

Nach einer kurzen Wartezeit beginnt die zweite Sitzung mit Cliff, so wie es von nun an auf absehbare Zeit an jedem Freitag geschehen würde. Diesmal entscheide ich mich für braun, und dann sitzen wir in seinen ledernen Ruhesesseln inmitten der Wolken und reden darüber, wie sehr wir Frauen mögen, und «hängen ab wie sonst was», was eine weitere Redensart von Danny ist.

Cliff fragt, ob ich mit meinen neuen Medikamenten zufrieden bin, und ich bejahe, obwohl ich eigentlich überhaupt keine Wirkung gemerkt und nur etwa die Hälfte der Tabletten genommen habe, die meine Mutter mir letzte Woche gegeben hat. Ich verstecke sie unter der Zunge und spucke sie ins Klo, sobald sie wieder weg ist. Er fragt mich, ob ich irgendwelche unerwünschten Nebenwirkungen festgestellt habe – Kurzatmigkeit, Appetitlosigkeit, Benommenheit, Suizidgedanken, Mordgedanken, Verlust der Männlichkeit, Angst, Juckreiz, Durchfall –, und ich verneine.

«Was ist mit Halluzinationen?», fragt er, beugt sich ein wenig vor und kneift die Augen zusammen.

«Halluzinationen?», wiederhole ich.

«Halluzinationen.»

Ich zucke die Achseln und sage, dass ich nicht glaube, halluziniert zu haben, und er sagt, wenn ja, würde ich es wissen.

«Sagen Sie es Ihrer Mutter, wenn Sie irgendetwas Seltsames oder Erschreckendes sehen», sagt er, «aber machen Sie sich keine Sorgen, wahrscheinlich werden Sie gar nicht halluzinieren. Nur ein sehr kleiner Prozentsatz von Menschen halluziniert bei der Einnahme dieser Medikamentenkombination.»

Ich nicke und verspreche, eventuelle Halluzinationen meiner Mutter zu melden, aber ich glaube eigentlich nicht, dass ich halluzinieren werde, ganz gleich, was für eine Art von Drogen er mir gibt, vor allem, wo ich weiß, dass er mir kein LSD oder so was Ähnliches geben wird. Ich vermute, schwächere Menschen jammern über ihre Medikamente, aber ich bin nicht schwach, und ich kann meinen Verstand ziemlich gut kontrollieren.

 

Ich bin im Keller und trinke Wasser aus dem Schnapsglas, während ich meine dreiminütige Pause zwischen Sit-ups auf dem Stomach Master 6000 und Leg Lifts auf der Kraftbank mache, da rieche ich den unverkennbaren butterigen Duft der Crabby Snacks meiner Mutter, und mir läuft gnadenlos das Wasser im Mund zusammen.

Ich liebe Crabby Snacks, daher gehe ich aus dem Keller in die Küche und sehe, dass meine Mutter nicht etwa nur Crabby Snacks – Krebsfleisch mit Butter und Cheddar auf englischen Muffins – im Backofen hat, sondern auch ihre selbstgemachte Pizza mit drei Sorten Fleisch – Gehacktes, Würstchen und Hühnchen – zubereitet und diese Chicken Wings, die sie bei Big Foods kauft.

«Wieso machst du Crabby Snacks?», frage ich hoffnungsvoll, denn aus Erfahrung weiß ich, dass sie Crabby Snacks immer nur dann macht, wenn wir Besuch bekommen.

Nikki liebt Crabby Snacks und kann einen ganzen Teller davon verputzen, wenn man ihn ihr hinstellt, und auf der Heimfahrt jammert sie dann, dass sie sich dick fühlt, weil sie zu viel gegessen hat. Damals, als ich noch zu emotionalem Missbrauch neigte, erwiderte ich dann, dass ich keine Lust auf ihr Gejammer hätte, nur weil sie mal wieder zu viel gegessen hat. Aber wenn Nikki das nächste Mal zu viele Crabby Snacks isst, werde ich ihr sagen, dass sie nicht zu viel gegessen hat und dass sie sowieso zu dünn aussieht. Ich werde sagen, sie sollte ruhig ein paar Pfund zulegen, weil ich Frauen mag, die wirklich wie Frauen aussehen und nicht wie «Miss Six O’Clock – schnurgerade von oben bis unten», was noch so ein Ausdruck ist, den ich von Danny gelernt habe.

Und ich hoffe inständig, die Crabby Snacks, die meine Mutter jetzt macht, bedeuten das Ende der Auszeit, weil Nikki schon auf dem Weg zum Haus meiner Eltern ist, was die schönste Willkommensüberraschung wäre, die meine Mutter sich einfallen lassen könnte – und da Mom sich immer irgendwelche netten Sachen für mich und meinen Bruder überlegt, bereite ich mich innerlich auf das Wiedersehen mit Nikki vor.

In den paar Sekunden, ehe meine Mutter die Frage beantwortet, hämmert mein Herz mindestens fünfzigmal.

«Die Eagles treten heute Abend in einem Vorsaisonspiel gegen die Steelers an», sagt meine Mutter, was mich wundert, weil meine Mom absolut nichts für Sport übrighat und kaum weiß, dass die Footballsaison im Herbst beginnt, geschweige denn, welche Mannschaft wann gegen wen spielt. «Dein Bruder kommt her, um sich das Spiel mit dir und deinem Vater anzusehen.»

Jetzt rast mein Herz sogar noch schneller, weil ich meinen Bruder das letzte Mal kurz nach Beginn der Auszeit gesehen habe und er damals genau wie mein Vater einige wirklich scheußliche Dinge über Nikki gesagt hat.

«Jake freut sich darauf, dich zu sehen, und du weißt ja, wie sehr dein Vater die Eagles liebt. Ich kann’s kaum erwarten, meine drei Männer wieder zusammen auf der Couch zu sehen, genau wie früher.» So angestrengt, wie meine Mutter lächelt, denke ich, sie bricht gleich wieder in Tränen aus, also drehe ich mich um und gehe wieder in den Keller, wo ich Faustliegestütze mache, bis mir die Brustmuskulatur schmerzt und ich die Fingerknöchel nicht mehr spüre.

Da ich weiß, dass ich später wahrscheinlich nicht mehr laufen gehen darf, weil wir einen Familienabend haben, streife ich mir einen Müllsack über und laufe früher als sonst, vorbei an den Häusern meiner Highschool-Freunde, vorbei an St. Joseph’s, der katholischen Kirche, in die ich früher ging, vorbei an der Collingswood High School (der 89er Jahrgang ist der Beste!) und an dem Haus am Park, das meinen Großeltern bis zu ihrem Tod gehörte.

Mein ehemaliger bester Freund sieht mich, als ich an seinem neuen Haus auf der Virginia Avenue vorbeilaufe. Ronnie kommt gerade von der Arbeit nach Hause und ist auf dem Weg von seinem Auto zur Haustür. Er sieht mir ins Gesicht, und als ich schon vorbei bin, ruft er: «Pat Peoples? Bist du das? Pat! Hey!» Ich laufe noch schneller, weil mein Bruder Jake kommt, um mit mir zu reden; Jake glaubt nicht an Happy Ends, und ich verfüge nicht über das emotionale Rüstzeug, das ich jetzt bräuchte, um mich mit Ronnie zu beschäftigen, der Nikki und mich entgegen seinen Versprechungen kein einziges Mal in Baltimore besucht hat. Nikki meinte immer, dass Ronnie «unter dem Pantoffel steht» und dass seine Frau Veronica «Ronnies Freizeitkalender ebenso fest im Griff hat wie seine Eier».

Nikki hatte mir prophezeit, dass Ronnie mich nicht in Baltimore besuchen kommen würde, und sie hat recht behalten.

An dem schlimmen Ort hat er mich auch nie besucht, aber er hat mir Briefe geschrieben, in denen er davon schwärmte, wie toll seine Tochter Emily war und vermutlich ist, obwohl ich die Briefe bislang nicht auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen konnte, da ich Emily ja noch nicht kennengelernt habe.

Als ich wieder nach Hause komme, ist Jakes Wagen da – ein schicker silbergrauer BMW, was darauf schließen lässt, dass auch bei meinem Bruder «die Taschen dicker werden», wie Danny sagen würde. Ich schleiche mich also durch die Hintertür ins Haus und renne nach oben ins Bad. Nachdem ich geduscht und frische Sachen angezogen habe, atme ich tief durch und folge den Gesprächsgeräuschen ins Wohnzimmer.

Jake steht auf, als er mich sieht. Er hat eine schicke Hose an, mit anthrazitfarbenen Nadelstreifen, und ein taubenblaues Poloshirt, gerade figurbetont genug, um zu zeigen, dass er noch immer ziemlich fit ist. Außerdem trägt er eine Uhr mit Diamanten auf dem Zifferblatt, was Danny als Jakes «Bling-Bling» bezeichnen würde. Das Haar meines Bruders sieht ein bisschen dünner aus, ist aber lässig zurückgegelt.

«Pat?», sagt er.

«Hab ich dir nicht gesagt, du wirst ihn nicht wiedererkennen?», sagt Mom.

«Du siehst aus wie Arnold Schwarzenegger.» Er befühlt meinen Bizeps, was ich partout nicht ausstehen kann, weil ich nicht gern berührt werde, außer von Nikki. Aber er ist mein Bruder, also sage ich nichts. «Mensch, du bist ja das reinste Muskelpaket», schiebt er nach.

Ich schaue zu Boden, weil ich daran denke, was er über Nikki gesagt hat – und das nehme ich ihm noch immer übel –, aber ich bin auch glücklich darüber, meinen Bruder nach einer halben Ewigkeit wiederzusehen.

«Hör mal, Pat. Ich hätte dich in Baltimore öfter besuchen sollen, aber solche Einrichtungen machen mich fertig, und ich … ich … ich konnte dich einfach nicht so sehen, verstehst du? Bist du mir böse?»

Eigentlich bin ich noch immer böse auf Jake, aber plötzlich fällt mir ein anderer Spruch von Danny ein, der zu passend ist, um ungesagt zu bleiben: «Ich hab nichts als Liebe für dich.»

Jake sieht mich eine Sekunde lang an, als hätte ich ihn in die Magengrube geschlagen. Er blinzelt ein paarmal, als ob er gleich weinen müsste, und dann umarmt er mich, mit beiden Armen. «Es tut mir leid», sagt er und hält mich länger fest, als ich es mag – was nicht sehr lang ist –, es sei denn, ich werde von Nikki umarmt.

Als er loslässt, sagt Jake: «Ich hab dir was mitgebracht.» Er zieht ein Eagles-Trikot aus einer Plastiktüte und wirft es mir zu. Ich halte es hoch und sehe, es ist die Nummer 84, von der ich weiß, dass sie einem Wide Receiver gehört, aber der Name darauf sagt mir nichts. Hat der junge Receiver Freddie Mitchell nicht die Nummer 84?, denke ich, sage es aber nicht, weil ich meinen Bruder nicht kränken will, der so nett war, mir ein Geschenk zu kaufen.

«Wer ist Baskett?», frage ich, weil so der Name auf dem Trikot lautet.

«Das neue Supertalent Hank Baskett? Der hat in der Vorsaison Furore gemacht. Diese Shirts werden auf den Straßen von Philadelphia heiß gehandelt. Und jetzt hast du eins, das du dieses Jahr zu den Spielen tragen kannst.»

«Zu den Spielen tragen?»

«Jetzt, wo du wieder zu Hause bist, willst du doch bestimmt deinen alten Stammplatz wiederhaben, oder?»

«Im Veterans Stadium?»

«Im Vet?» Jake lacht und schaut meine Mutter an, die ängstlich aussieht. «Nein – im Lincoln Financial Field.»

«Was ist das Lincoln Financial Field?»

«Gab’s denn in dem Laden keinen Fernseher? Das ist das Stadion der Eagles, das Stadion, in dem dein Team jetzt schon drei Spielzeiten gespielt hat.»

Ich weiß, dass Jake mich anlügt, aber ich sage nichts.

«Jedenfalls, du hast einen Platz direkt neben mir und Scott. Eine Dauerkarte, Kumpel. Freust du dich oder was?»

«Ich hab kein Geld für eine Dauerkarte», sage ich, weil ich Nikki das Haus und die Autos und die Bankkonten überlassen habe, als die Auszeit anfing.

«Hab ich für dich übernommen.» Jake boxt mir gegen den Arm. «In den letzten paar Jahren war ich zwar kein guter Bruder, aber jetzt, wo du wieder zu Hause bist, mach ich das wieder gut.»

Ich danke meinem Bruder, und dann fängt Mom wieder an zu weinen. Sie weint so heftig, dass sie aus dem Zimmer gehen muss, was sonderbar ist, weil Jake und ich uns wieder vertragen und eine Dauerkarte für die Eagles ein ziemlich nettes Geschenk ist – von dem Shirt mal ganz abgesehen.

«Zieh dein Baskett-Trikot an, Kumpel.»

Ich zieh es an, und es ist ein schönes Gefühl, Eagles-Grün zu tragen, vor allem ein Trikot, das Jake extra für mich ausgesucht hat.

«Du wirst schon sehen, wie gut dein Baskett dieses Jahr spielt», sagt Jake mit einer seltsamen Betonung, als hinge meine Zukunft irgendwie von dem neuen Wide-Receiver-Talent der Eagles ab – von Hank Baskett.

Der Beton-Donut

Mir fällt auf, dass mein Vater erst unmittelbar vor Spielbeginn ins Wohnzimmer kommt. Es ist bloß ein Freundschaftsspiel, deshalb verzichten wir auf unser übliches Punktespiel-Ritual, aber immerhin hat Dad sein McNabb-Trikot mit der Nummer 5 angezogen und setzt sich jetzt vorn auf die Couchkante, bereit, jeden Moment aufzuspringen. Er nickt meinem Bruder ernst zu, ignoriert mich jedoch völlig, selbst nachdem ich meine Mutter zu ihm in der Küche habe sagen hören: «Bitte sprich doch wieder mit Pat.» Mom stellt das Essen auf Klapptische, setzt sich neben Jake, und wir fangen an zu essen.

Es schmeckt köstlich, aber ich bin der Einzige, der das auch sagt. Mom scheint sich über das Kompliment zu freuen und fragt: «Ist wirklich alles gut so?», wie sie das immer macht, weil sie in Bezug auf ihre Kochkünste bescheiden ist, obwohl sie prima kocht.

«Was meinst du, wie die Eagles sich dieses Jahr schlagen, Dad?», fragt Jake.

«Acht zu acht», antwortet mein Dad pessimistisch, weil er das zu Beginn jeder NFL-Saison ist.