Rolf Wiggershaus
Die Frankfurter Schule
Geschichte
Theoretische Entwicklung
Politische Bedeutung
FISCHER E-Books
Rolf Wiggershaus studierte Philosophie, Soziologie und Germanistik in Tübingen und Frankfurt am Main. Seine große Studie zur Geschichte der Frankfurter Schule ist zu einem vielfach übersetzten Standardwerk geworden. Darüber hinaus hat er mehrere Werke über Adorno, Wittgenstein und Habermas verfasst. Er lebt als freier Publizist bei Frankfurt am Main.
Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de
Der Philosophiehistoriker Rolf Wiggershaus hat mit diesem Buch das Standardwerk zur Kritischen Theorie vorgelegt. Er stellt vom Anfang des »Instituts für Sozialforschung« bis zum Tod Adornos 1969 alle wesentlichen Publikationen in ihrer philosophischen und gesellschaftstheoretischen Programmatik vor und schildert deren Einbindung in die jeweiligen Entwicklungsstadien der Institutsgeschichte. Dabei entsteht eine Darstellung der philosophischen Theorien der führenden Köpfe Horkheimer, Adorno, Fromm, Pollock, Löwenthal, Marcuse und Benjamin und der vielen Gesprächspartner von außerhalb.
Covergestaltung: buxdesign, München
Erschienen bei FISCHER E-Books
© Rolf Wiggershaus, 1986
by arrangement with Literarische Agentur Mertin Inh. Nicole Witt e.K., Frankfurt am Main, Germany
S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2015
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403599-4
»Frankfurter Schule« und »Kritische Theorie« – das löst, wenn es mehr wachruft als den Gedanken an ein sozialwissenschaftliches Paradigma, die Vorstellung einer Reihe von Namen aus, allen voran Adorno, Horkheimer, Marcuse, Habermas – und Assoziationen auf der Linie: Studentenbewegung, Positivismusstreit, Kulturkritik – und vielleicht auch: Emigration, Drittes Reich, Juden, Weimar, Marxismus, Psychoanalyse. Es geht, wird sogleich deutlich, um mehr als bloß eine theoretische Richtung, um mehr als ein Stück Wissenschaftsgeschichte.
Inzwischen ist es üblich geworden, von einer ersten und einer zweiten Generation kritischer Theoretiker zu sprechen (siehe z.B. Habermas, Drei Thesen zur Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule; van Reijen, Philosophie als Kritik) und die ältere Frankfurter Schule von dem zu unterscheiden, was danach kam, also seit den 70er Jahren. Das enthebt vorläufig der Frage nach dem Weiterleben der Frankfurter Schule und nach Kontinuität und Diskontinuität und erleichtert es, der Darstellung der Geschichte der Frankfurter Schule eine zeitliche Grenze zu setzen, die nicht allzu willkürlich ist: der Tod Adornos und damit des letzten in Frankfurt und am Institut für Sozialforschung wirkenden Vertreters der älteren kritischen Theorie.
Der Ausdruck »Frankfurter Schule« ist ein in den 60er Jahren von außen angeheftetes Etikett, das Adorno zuletzt selber mit unverkennbarem Stolz gebrauchte. Gemeint war damit zunächst eine kritische Soziologie, die in der Gesellschaft eine antagonistische Totalität sah und Hegel und Marx nicht aus ihrem Denken verbannt hatte, sondern sich als deren Erben begriff. Längst ist dieses Etikett zu einem umfassenderen und vagen Begriff geworden. Der Ruhm Herbert Marcuses als – wie damals die Medien meinten – Idol der rebellierenden Studenten neben Marx, Mao Zedong und Ho Chi Minh ließ die Frankfurter Schule zum Mythos werden. Der US-amerikanische Historiker Martin Jay hat in den frühen 70er Jahren diesen Mythos auf den Boden geschichtlicher Tatsachen heruntergeholt und deutlich gemacht, was für eine vielgestaltige Realität sich hinter dem Etikett Frankfurter Schule verbirgt, das längst zu einem Bestandteil der Wirkungsgeschichte des damit Bezeichneten geworden ist und unverzichtbar geworden ist, unabhängig davon, wie weit man im strengen Sinn von einem Schulzusammenhang sprechen kann.
Allerdings waren wesentliche Merkmale einer Schule teils zeitweise, teils ständig oder wiederkehrend vorhanden: ein institutioneller Rahmen (das Institut für Sozialforschung, das, wenn auch zeitweise bloß rudimentär, durchgängig existierte); eine intellektuelle charismatische Persönlichkeit, die von dem Glauben an ein neues theoretisches Programm erfüllt und zur Zusammenarbeit mit qualifizierten Wissenschaftlern bereit und fähig war (Max Horkheimer als »managerial scholar«, der seinen Mitarbeitern immer wieder vor Augen hielt, sie gehörten zu den wenigen, in deren Händen die Weiterentwicklung »der Theorie« liege); ein Manifest (Horkheimers Antrittsrede von 1931 über Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung, auf die in den späteren Selbstdarstellungen des Instituts immer wieder zurückgegriffen wurde und auf die Horkheimer sich auch bei der Feier zur Wiedereröffnung des Instituts in Frankfurt im Jahre 1951 wieder berief); ein neues Paradigma (die »materialistische« bzw. »kritische« Theorie des gesamtgesellschaftlichen Lebensprozesses, die im Zeichen der Kombination von Philosophie und Sozialwissenschaften systematisch die Psychoanalyse und gewisse Denkmotive Vernunft- und metaphysikkritischer Denker wie Schopenhauer, Nietzsche und Klages in den historischen Materialismus integrierte; und das Etikett »kritische Theorie« wurde dann einigermaßen durchgängig beibehalten, obwohl die sich seiner Bedienenden Unterschiedliches darunter verstanden und auch Horkheimer seine ursprünglich damit verbundenen Vorstellungen änderte); eine Zeitschrift und andere Medien für die Veröffentlichung der Forschungsarbeiten der Schule (die als Organ des Instituts fungierende Zeitschrift für Sozialforschung und die Schriften des Instituts für Sozialforschung, erschienen in renommierten wissenschaftlichen Verlagen: zunächst Hirschfeld in Leipzig, später Felix Alcan in Paris).
Aber die meisten dieser Merkmale trafen nur für das erste Jahrzehnt der Horkheimer-Ära des Instituts zu, also für die 30er Jahre und besonders für die New Yorker Zeit. In dieser Zeit arbeitete jedoch das Institut andererseits in einer Art splendid Isolation gegenüber seiner US-amerikanischen Umgebung. Nach Deutschland kehrten 1949/50 nur Horkheimer, Pollock und Adorno zurück. Von diesen dreien war lediglich Adorno weiterhin theoretisch produktiv, und bloß von ihm erschienen Bücher mit neuen wie alten Arbeiten. Eine Zeitschrift gab es nicht mehr, nur eine Reihe Frankfurter Beiträge zur Soziologie, der aber das unverkennbare Profil der einstigen Zeitschrift fehlte und in der von Adorno und Horkheimer selber nur einmal, Anfang der 60er Jahre, eine Sammlung von Vorträgen und Reden erschien. »Für mich gab es keine zusammenhängende Lehre. Adorno schrieb kulturkritische Essays und machte im übrigen Hegel-Seminare. Er vergegenwärtigte einen bestimmten marxistischen Hintergrund – das war es.« (»Dialektik der Rationalisierung«, Jürgen Habermas im Gespräch mit Axel Honneth, Eberhardt Knödler-Bunte und Arno Widmann, in: Ästhetik und Kommunikation 45/46, Oktober 1981, 128) So im Rückblick Jürgen Habermas, der in der zweiten Hälfte der 50er Jahre Mitarbeiter Adornos und des Instituts für Sozialforschung war. Als in den 60er Jahren tatsächlich das Image einer Schule aufkam, vermischte sich darin die Vorstellung einer in Frankfurt vertretenen Konzeption kritischer Soziologie, deren Exponenten Adorno und Habermas waren, mit der Vorstellung einer radikal gesellschaftskritischen, freudomarxistischen frühen Phase des Instituts unter Horkheimers Leitung.
Bereits diese schon von den äußeren Umständen her höchst ungleichartige Geschichte läßt es ratsam erscheinen, den Ausdruck Frankfurter Schule nicht allzu streng zu nehmen. Dafür sprechen noch zwei weitere Dinge. Zum einen die Tatsache, daß gerade die »charismatische Figur«, Horkheimer, eine zunehmend weniger entschiedene und weniger zur Schulbildung geeignete Position vertrat. Zum anderen der damit eng zusammenhängende folgende Umstand. Betrachtet man die vier Jahrzehnte der älteren Frankfurter Schule in ihrer Gesamtheit, dann zeigt sich: es gab kein einheitliches Paradigma, auch keinen Paradigmawandel, dem sich alles zuordnen ließ, was dazugehört, wenn man von Frankfurter Schule spricht. Die beiden Hauptfiguren, Horkheimer und Adorno, arbeiteten von zwei deutlich unterschiedenen Positionen aus an gemeinsamen Themen. Der eine, angetreten als Inspirator einer fortschrittsfreudigen interdisziplinären Gesellschaftstheorie, resignierte zum Ankläger einer verwalteten Welt, in der die aus der Geschichte einer mißlungenen Zivilisation herausragende Insel des liberalistischen Kapitalismus außer Sicht zu geraten drohte. Für den anderen, angetreten als Kritiker des Immanenzdenkens und Fürsprecher einer befreiten Musik, wurde die Geschichtsphilosophie mißlungener Zivilisation zur Basis einer vielgestaltigen Theorie des Nichtidentischen bzw. der Formen, in denen auf paradoxe Art das Nichtidentische Berücksichtigung fand. Adorno vertrat ein mikrologisch-messianisches Denken, das ihn eng mit Walter Benjamin, der durch seine Vermittlung ebenfalls Mitarbeiter der Zeitschrift für Sozialforschung und schließlich des Instituts für Sozialforschung geworden war, und mit Siegfried Kracauer und auch noch Ernst Bloch verband. Die Vernunftkritik der gemeinsam mit Horkheimer in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs verfaßten Dialektik der Aufklärung ließ jenes Denken unbehelligt. Horkheimer aber, der sich in den Jahren vor der gemeinsamen Arbeit an diesem Werk von dem Sozialpsychologen Erich Fromm und von den Rechts- und Staatstheoretikern Franz Neumann und Otto Kirchheimer getrennt hatte und damit sein Programm einer interdisziplinären Theorie der Gesamtgesellschaft praktisch aufgegeben hatte, stand nach der Dialektik der Aufklärung mit leeren Händen da. Wie er als Soziologe den Blick zurück auf die selbständigen Unternehmer des liberalistischen Zeitalters richtete, so richtete er als Philosoph den Blick zurück auf die großen Philosophen einer objektiven Vernunft. Während Horkheimer in den 60er Jahren, in der Zeit der Studentenbewegung, zu seiner Bestürzung wegen der aggressiv marxistischen Töne seiner frühen Aufsätze zu Bedeutung gelangte und sich auf einmal in die Nähe von Marcuses offensiv gewordener Position der Großen Weigerung gerückt sah, verfaßte Adorno die beiden großen Zeugnisse seines mikrologisch-messianischen Denkens: die Negative Dialektik und die Ästhetische Theorie. Sie waren damals wenig zeitgemäß. Dagegen wurde der »marxistische« Benjamin entdeckt und zur Schlüsselfigur einer materialistischen Kunst- und Medientheorie. Anderthalb Jahrzehnte nach dem Tod Adornos meinte einer der Bedeutendsten unter den Poststrukturalisten, Michel Foucault: »Wenn ich die Frankfurter Schule rechtzeitig gekannt hätte, wäre mir viel Arbeit erspart geblieben. Manchen Unsinn hätte ich nicht gesagt und viele Umwege nicht gemacht, als ich versuchte, mich nicht beirren zu lassen, während doch die Frankfurter Schule die Wege geöffnet hatte.« (Foucault/Raulet, Um welchen Preis sagt die Vernunft die Wahrheit? Ein Gespräch. In: Spuren 1/1983, 24) Als »rationale Kritik der Rationalität« kennzeichnete er sein Programm. Mit fast den gleichen Worten hatte Adorno 1962 in einer Vorlesung über Philosophische Terminologie charakterisiert, worin er die Aufgabe der Philosophie sah: sie hatte »eine Art von rationalem Revisionsprozeß gegen die Rationalität« (Philosophische Terminologie, Bd. 1, 87) zu führen. So vielfältig also ist offensichtlich, was alles Frankfurter Schule heißt, daß stets irgend etwas davon aktuell ist, stets irgend etwas davon sich als unvollendetes, der Weiterführung harrendes Unternehmen erweist.
Was aber einte, wenn auch in den meisten Fällen nur zeitweise, diejenigen, die zur Frankfurter Schule gehörten? Gab es etwas alle Verbindendes? Die zur ersten Generation der Frankfurter Schule gehörten, waren alle Juden bzw. wurden durch den Nationalsozialismus in ihre Zugehörigkeit zum Judentum zurückgezwungen. Ob sie aus großbürgerlichen Familien kamen oder, wie Fromm und Löwenthal, aus nicht besonders begüterten – selbst im günstigsten Fall blieb ihnen auch nach 1918 und bereits vor 1933 nicht die Erfahrung erspart, mitten in der Gesellschaft Außenseiter zu bleiben. Die gemeinsame Grunderfahrung war: keine Anpassung reichte aus, um sich je der Zugehörigkeit zur Gesellschaft sicher sein zu können. »Er [der Jude, R. W.] tanzt«, heißt es in Sartres 1946 erschienenen Reflexions sur la question juive, »wie die anderen den Tanz der Ehrenhaftigkeit und Achtbarkeit, und überdies ist er ja niemandes Sklave, er ist freier Bürger eines Staates, der ihm freien Wettbewerb gewährt, keine gesellschaftliche Würde, kein Staatsamt ist ihm verwehrt, er bekommt die Ehrenlegion, wird großer Anwalt und Minister. Aber im gleichen Augenblick, da er den Gipfel der legalen Gesellschaft erklommen hat, enthüllt sich ihm blitzartig eine andere, amorphe, diffuse und allgegenwärtige Gesellschaft, die ihn zurückstößt. Er fühlt am eigenen Leib die Nichtigkeit der äußeren Würden und Glücksfälle, weil auch der größte Erfolg ihm nie den Zutritt zu jener Gesellschaft ermöglichen wird, die sich die wahre nennt. Als Minister wird er jüdischer Minister sein, Exzellenz und Paria zugleich.« (Sartre, Drei Essays, 149)
Auf ihre Art mußten Juden ein nicht weniger ausgeprägtes Gefühl für die Entfremdetheit und Inauthentizität des Lebens in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft haben wie die Proletarier. Waren auch Juden gegenüber Proletariern zu einem großen Teil privilegierter, so galt doch auch: selbst privilegierte Juden entrannen nicht ihrem Judesein. Privilegierte Arbeiter aber hörten spätestens in der zweiten Generation auf, Arbeiter zu sein. Jedoch war es für sie wiederum schwerer, zu Privilegiertheit zu gelangen. Die Erfahrung der Zähigkeit gesellschaftlicher Entfremdung, die Juden machten, schuf also eine gewisse Nähe zu der Erfahrung der Zähigkeit gesellschaftlicher Entfremdung, die Arbeiter in der Regel machten. Das brauchte nicht zur Solidarität mit den Arbeitern zu führen. Aber es führte jedenfalls häufig zu einer radikalen Kritik an der Gesellschaft, die den objektiven Interessen der Arbeiter entsprach.
Seit Horkheimers Aufsatz über Traditionelle und kritische Theorie (1937) wurde »kritische Theorie« zur hauptsächlichen Selbstetikettierung der Theoretiker des Horkheimerkreises. Das war zwar auch ein Tarnbegriff für marxistische Theorie, aber mehr noch ein Ausdruck dafür, daß Horkheimer und seine Mitarbeiter sich nicht mit der marxistischen Theorie in ihrer orthodoxen Form identifizierten, die auf die Kritik des Kapitalismus als eines ökonomischen Systems mit davon abhängigem Überbau und ideologischem Denken fixiert war – sondern mit dem Prinzipiellen der marxistischen Theorie. Dies Prinzipielle bestand in der konkreten Kritik entfremdeter und entfremdender gesellschaftlicher Verhältnisse. Die kritischen Theoretiker kamen weder vom Marxismus noch von der Arbeiterbewegung her. Sie wiederholten vielmehr in gewisser Weise Erfahrungen des jungen Marx. Für Erich Fromm und Herbert Marcuse wurde die Entdeckung des jungen Marx zur entscheidenden Bestätigung der Richtigkeit ihrer eigenen Bestrebungen. Für Marcuse war Sein und Zeit zum Anstoß geworden, zu Heidegger nach Freiburg zu gehen, weil dort, so meinte er, die Frage nach der eigentlichen menschlichen Existenz konkret angegangen wurde. Als er die Pariser Manuskripte des jungen Marx kennenlernte, wurde Marx für ihn erst richtig wichtig und nun auch wichtiger als Heidegger und Dilthey. Denn dieser Marx praktizierte in seinen Augen konkrete Philosophie und zeigte: Kapitalismus bedeutete nicht nur eine ökonomische oder politische Krise, sondern eine Katastrophe des menschlichen Wesens. Was not tat, war dementsprechend nicht bloß eine ökonomische oder politische Reform, sondern eine totale Revolution. Auch für Fromm, der in der frühen Phase dessen, was später Frankfurter Schule hieß, neben Horkheimer der wichtigste theoretische Kopf war, wurde der junge Marx zur Bestätigung dafür, daß es bei der Kritik der kapitalistischen Gesellschaft um die Besinnung auf das wahre Wesen des Menschen ging. Für Adorno z.B. war dagegen der junge Marx kein Schlüsselerlebnis. Aber auch er wollte mit seinem ersten großen Musik-Aufsatz, der 1932 unter dem Titel Über die gesellschaftliche Lage der Musik in der Zeitschrift für Sozialforschung erschien, die Erfahrung demonstrieren, daß im Kapitalismus alle Wege versperrt seien, daß man überall gleichsam auf eine gläserne Mauer stoße, daß also die Menschen nicht zum eigentlichen Leben gelangten (s. Adorno-Kracauer, 12.1.33). Das Leben lebt nicht – diese Feststellung des jungen Lukács war das treibende Element auch der jungen kritischen Theoretiker. Der Marxismus wurde für sie in erster Linie, soweit er um diese Erfahrung zentriert war, inspirierend. Nur für Horkheimer (erst später für Benjamin und noch später für Marcuse) bildete die Empörung über das Unrecht, das den Ausgebeuteten und Erniedrigten angetan wurde, einen wesentlichen Stachel des Denkens. Letztlich entscheidend war aber auch für ihn die Empörung darüber, daß in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ein rationales, der Allgemeinheit verantwortliches und in seinen Folgen für die Allgemeinheit kalkulierbares Handeln nicht möglich war und selbst ein privilegiertes Individuum und die Gesellschaft einander entfremdet waren. Lange Zeit bildete er so etwas wie das gesellschaftstheoretische Gewissen des Kreises, die Instanz, die immer wieder mahnte, die gemeinsame Aufgabe sei, eine Theorie der Gesamtgesellschaft, eine Theorie des gegenwärtigen Zeitalters zu liefern, die die Menschen als die Produzenten ihrer historischen Lebensformen, aber eben ihnen entfremdeter Lebensformen zum Gegenstand hatte.
»Die Theorie« war von Horkheimer in den frühen 30er Jahren mit Schwung anvisiert worden. Seit den 40er Jahren hatte er Zweifel an ihrer Möglichkeit, ohne das Ziel aufzugeben. Die Zusammenarbeit mit Adorno, die endlich in eine Theorie des gegenwärtigen Zeitalters einmünden sollte, gelangte über die Philosophischen Fragmente, das später unter dem Titel Dialektik der Aufklärung als Buch erschienene erste Zwischenergebnis nicht hinaus. Aber »die Theorie« blieb das Schibboleth der »Frankfurter Schule«. Bei aller Uneinheitlichkeit war dem, worum es Horkheimer, Adorno und Marcuse nach dem Zweiten Weltkrieg ging, die Überzeugung gemeinsam: Die Theorie mußte – in der Tradition der Marxschen Kritik des Fetischcharakters einer kapitalistischen Reproduktion der Gesellschaft – rational sein und zugleich das rechte Wort darstellen, das den Bann löste, der auf allem, den Menschen und Dingen und den Beziehungen zwischen ihnen lag. Die Verschränkung dieser beiden Momente bewirkte, daß noch dann, als die Arbeit an der Theorie stagnierte und die Zweifel an der Möglichkeit von Theorie in der irrationaler gewordenen Gesellschaft wuchsen, der Geist, aus dem die Theorie erwachsen konnte, lebendig blieb. »Als ich dann«, so Habermas in dem bereits erwähnten Gespräch in Ästhetik und Kommunikation, »Adorno kennenlernte und sah, wie atemberaubend er plötzlich über den Warenfetisch sprach, diesen Begriff auf kulturelle und auf alltägliche Phänomene anwandte, war das zunächst ein Schock. Aber dann dachte ich: Versuch mal so zu tun, als seien Marx und Freud – über den Adorno genauso orthodox sprach – Zeitgenossen.« Und genauso erging es ihm, als er zum erstenmal Herbert Marcuse erlebte (s.S. 604f.). Die Theorie, die nach dem Krieg Adorno und Marcuse nach wie vor mit Sendungsbewußtsein erfüllte, war in der Tat von besonderer Art: noch im Zweifel überschwenglich, noch im Pessimismus zur Rettung durch Erkenntnis anspornend. Eine Verheißung wurde weder erfüllt noch verraten – sie wurde lebendig gehalten. Wer aber hätte eine Verheißung derart lebendig zu halten vermocht wie die wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer »die Juden« genannten Menschengruppe zu »Outsidern des Bürgertums« (Horkheimer) Verurteilten?
Das Buch handelt von einem halben Jahrhundert Vorgeschichte und Geschichte der »Frankfurter Schule«. Die Orte dieser Geschichte: Frankfurt am Main, Genf, New York und Los Angeles, Frankfurt am Main. Die Zeitgeist-Kontexte dieser Geschichte: die Weimarer Republik mit ihrem »zwielichtigem Charakter« (Bracher) und ihrem Einmünden in den Nationalsozialismus; New Deal, Kriegszeit und McCarthy-Ära in den USA; Restauration im Zeichen des Antikommunismus und das Interim der Protest- und Reformperiode in der Bundesrepublik. Die unterschiedlichen Formen der Institutionalisierung im Verlauf dieser Geschichte: ein unabhängiges Stiftungsinstitut als Kern marxistischen gesellschaftskritischen Forschens; ein Rumpfinstitut als Unterpfand Schutz gewährender überindividueller Präsenz von Privatgelehrten; ein von staatlichen Forschungsgeldern bzw. Aufträgen abhängiges Institut als Hintergrund einer kritischen Soziologie und Philosophie. Die Varianten und Wandlungen »der Theorie« im Verlauf dieser Geschichte: ihr Spielraum ist so groß und sie sind so ungleichzeitig, daß eine Einteilung in Phasen für die »Frankfurter Schule« so gut wie unmöglich ist. Am angemessensten ist es, von Tendenzen des Auseinanderdriftens zu sprechen: des Auseinanderdriftens von Theorie und Praxis, von Philosophie und Wissenschaft, von Kritik der Vernunft und Rettung der Vernunft, von theoretischer Arbeit und Arbeit des Instituts, von Unversöhntheit und Unentmutigtheit. Die verschiedenen Kapitel des Buches zeigen Phasen dieses Auseinanderdriftens. Sie zeigen zugleich die im Kontext gesehen ungeschwächte kritische Potenz der einen oder anderen Spielart kritischer Theorie. Am Ende steht der eindrucksvolle Fortbestand der beiden Pole kritischer Theorie – des Adornoschen und des Horkheimerschen – in der jüngeren Generation kritischer Theoretiker.
Martin Jays Buch ist bisher die einzige breit angelegte historische Darstellung der Geschichte der Frankfurter Schule geblieben. Sie schließt allerdings ab mit der Rückkehr des Instituts nach Frankfurt im Jahre 1950. Seine Darstellung war eine Pionierarbeit, die sich außer auf publizierte Arbeiten vor allem auf Gespräche mit ehemaligen Mitarbeitern des Instituts, auf Leo Löwenthals ausgiebige Informationen und auf in der Löwenthal-Sammlung enthaltene Briefe, Memoranden, Selbstdarstellungen des Instituts usw. stützte. Das vorliegende Buch kann außer auf Jays Arbeit auf einer Reihe weiterer inzwischen erschienener historischer oder historisch informativer Arbeiten zur Frankfurter Schule und ihrer Vorgeschichte aufbauen – so von Dubiel, Erd, Löwenthal, Migdal, Söllner – sowie auf einer Reihe neuerer Publikationen von Texten der Frankfurter Schule – z.B. die von Wolfgang Bonß herausgegebene und eingeleitete Untersuchung Fromms über Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches, die von Rolf Tiedemann herausgegebenen und reichhaltig kommentierten Gesammelten Schriften Walter Benjamins oder die Veröffentlichung von nachgelassenen Schriften Horkheimers im Rahmen der Gesammelten Schriften, die, von Alfred Schmidt und Gunzelin Schmid Noerr herausgegeben, seit 1985 erscheinen. Das vorliegende Buch baut ferner auf Gesprächen mit einstigen und jetzigen Mitarbeitern des Instituts für Sozialforschung und Zeitgenossen auf, deren Augenmerk auch der Frankfurter Schule galt. Vor allem aber stützt es sich auf Archivmaterial. Dazu gehören insbesondere im Horkheimer-Archiv vorhandene Briefwechsel Horkheimers mit Adorno, Fromm, Grossmann, Kirchheimer, Lazarsfeld, Löwenthal, Marcuse, Neumann und Pollock, Forschungsberichte, Memoranden usw. Wichtig waren ferner: der vor allem aus Adorno-Briefen bestehende Briefwechsel zwischen Adorno und Kracauer, der zu dem im Deutschen Literaturarchiv in Marbach a. Neckar aufbewahrten Kracauer-Nachlaß gehört; der in der Bodleian Library in Oxford aufbewahrte Briefwechsel Adornos mit dem Academic Assistance Council; die Adorno- und die Horkheimer-Akte des philosophischen Dekanats der Frankfurter Johann Wolfgang Goethe-Universität; die im Frankfurter Stadtarchiv vorhandenen Akten und Sammlungen über das Institut für Sozialforschung und einzelne Personen; die in der Bibliothek des Instituts für Sozialforschung vorhandenen Forschungsberichte über die Arbeiten des Instituts in den 50er und 60er Jahren.
Und am Rande: wäre der Tod nicht dazwischengekommen, hätte ich, das Thema war verabredet, bei Adorno promoviert.