Richard Powers
Drei Bauern auf dem Weg zum Tanz
Aus dem Amerikanischen von Henning Ahrens
Fischer e-books
Richard Powers wurde 1957 geboren und lebt in Urbana, Illinois. Seine Bücher sind Bestseller und wurden mehrfach preisgekrönt, zuletzt erhielt er den National Book Award für ›Das Echo der Erinnerung‹. Sein Romandebüt ›Drei Bauern auf dem Weg zum Tanz‹ schrieb Powers 1985 und wurde für den National Book Critics Circle Award nominiert. Zuletzt erschien 2009 der Roman ›Das größere Glück‹ und 2010 die Reportage ›Das Buch Ich #9‹.
Weitere Titel von Richard Powers:
›Galatea 2.2.‹
›Schattenflucht‹
›Der Klang der Zeit‹
Henning Ahrens, geboren 1964, lebt als Schriftsteller und Übersetzer in Handorf, Niedersachsen. Er hat unter anderem John Cowper Powys, Jonathan Safran Foer, Hugo Hamilton und Don Paterson übersetzt. Henning Ahrens hat bisland drei Gedichtbände und drei Romane veröffentlicht, zuletzt den Gedichtband ›Kein Schlaf in Sicht‹.
Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de
Covergestaltung: Andreas Heilmann und Gundula Hißmann, Hamburg
Coverabbildung: Photographische Sammlung / SK Stiftung Kultur - August Sander Archiv, Köln / VG Bild-Kunst, Bonn, 2011
Die Originalausgabe erschien 1985 unter dem Titel »Three Farmers on Their Way to a Dance« bei Beech Tree Books, William Morrow and Company, Inc.
© 1985 by Richard Powers
Für die deutsche Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-401007-6
Man errät vieles beim Lesen oder erfindet schöpferisch etwas hinzu; alles übrige ergibt sich aus einem Eingangsirrtum …
Ein Gutteil von dem, was wir … mit ebenso viel Eigensinn
wie Treuherzigkeit glauben, rührt von einer ersten Täuschung über die Voraussetzungen her.
Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
»Jeder«, antwortete Knudsen auf die Frage nach dem Erfolg
des Automobils, »will sitzend von A nach B gelangen.«
Anne Jardim, The First Henry Ford: A Study in Personality and Business Leadership
Cats, kits, sacks, wives: how many were going to St. Ives?
Ein gutes Dritteljahrhundert bin ich wunderbar ohne Detroit ausgekommen. Ich fühle mich in Autos unwohl und habe nie eins besessen. Wenn ich etwas rieche, das auch nur entfernt an Autositze erinnert, wird mir übel. Schon deshalb rangiert Detroit tief im unteren Drittel der Rangfolge amerikanischer Städte, die ich gern besuchen würde. Ich hoffe immer, dass lästige Reisen durch reizvolle Aussichten versüßt werden, aber die Formulierung »reizvolles Detroit« klingt in meinen Ohren genauso widersprüchlich wie »künstlerischer Film«, »gutartiger Tumor«, »ehrenwerte Journalisten« oder »amerikanische Diplomatie«. Ich hatte Detroit mein ganzes Leben lang erfolgreich ignoriert. Doch vor zwei Jahren wurde ich eines schönen Tages von der Stadt gepackt, bevor ich ihr entwischen konnte.
Der aus Chicago kommende Frühzug setzte mich in der prächtigen Grand Trunk Station ab, deren Marmorgewand mit Sperrholz verschalt worden war. Ich schleppte meine Siebensachen durch ein nach Urin und Vergangenheit stinkendes Halbdunkel. Aus den Lautsprechern schallten populäre, beruhigende Melodien, und Menschen, die wie zwangsverpflichtet wirkten, holten ihre Angehörigen vom Bahnsteig ab.
Hundert Jahre zuvor hatte die Grand Trunk Station bestimmt für Herzklopfen gesorgt. Auf korinthischen Kapitellen trugen die Säulen amerikanischer Städteherrlichkeit ein gut zwanzig Meter hohes Gewölbe: Griechenland, kopiert von Rom, kopiert von Frankreich, kopiert von England, kopiert von Amerika. Eine von floralen Stuckaturen umrankte Kupferkuppel bot die obligatorischen Inschriften dar, Zitate von Cicero und Bill Taft. Der prunkvolle Bahnhof, leer bis auf die mit dem Early Riser eingetroffenen Führungskräfte, die im Gänsemarsch durch die Rundhalle defilierten, wirkte wie ein Mausoleum.
Ich schloss mich automatisch an und versuchte, ein Gefühl für die Räumlichkeiten zu entwickeln. Die gewaltige Kuppel schien im Missverhältnis zur Größe der Halle zu stehen, und als sich meine Augen an das Industrielicht Detroits gewöhnt hatten, empfand ich denselben Schock, den ich als Kind beim Anblick eines Kriegsveteranen verspürte, der im Schwimmbad die Beinprothese abschnallte, bevor er ins Wasser stieg – denn auch die Grand Trunk Station war amputiert worden: Bretter sperrten palastartige Flügel und unzählige Ausgänge ab und ließen nur diesen winzigen Gang frei, der die Ankunftsbahnsteige mit dem Haupteingang verband und nicht die Länge, sondern die Breite des Gebäudes bemaß.
Wenn man Anfang der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts mit dem Zug von Chicago nach Boston wollte, war es zwar nicht am schnellsten, aber am günstigsten, wenn man in Detroit umstieg. Als Werbung für die neue Verbindung mit dem Technoliner hatte man die Fahrpreise im ersten Monat drastisch gesenkt. Doch die neue Linie wurde bald eingestellt, die Pendler, die vom Zug aufs Flugzeug umsattelten, zogen von Detroit nach Nordkalifornien und Houston. Noch ein Beweis dafür, dass unsere Eisenbahnen ihre Verspätung nicht aufholen konnten. Ich nahm allerdings sogar einen Umweg über Toledo in Kauf, um in den Genuss eines möglichst günstigen Fahrpreises zu kommen.
Wenn ich flüssig bin, kann ich in den besten Restaurants durchaus die Hälfte des Essens stehenlassen. Ich habe hart darum gekämpft, einen angeborenen Geiz zu überwinden. Doch wenn ich knapp bei Kasse bin – ein zyklisches Phänomen, dass die Boom- und Bankrottwirtschaft Amerikas der letzten hundert Jahre widerspiegelt –, knüpfe ich nahtlos an alte Gewohnheiten an. Auf dieser Reise war ich wieder einmal ziemlich blank, denn ich hatte ein ganzes Jahr lang in der Provinz von Illinois in eine kleine Geschäftsidee investiert, die sich am Ende nicht rentierte. Nichts glänzte im Sieb, wie die Goldsucher einst sagten. Meine frühen Dreißiger verbrachte ich mit der einsamen Jagd nach diesem Glänzen.
Da ich eine technische Ausbildung habe, wusste ich, dass ich in Boston einen Job finden würde, vorausgesetzt, ich konnte die Kaution für eine kleine Wohnung bezahlen und hatte noch genug Geld für die Reinigung des einen Anzugs übrig, mit dem ich meine Vorstellungsgespräche bestritt. Mein beschränktes Budget war aber nicht das größte Problem; mich plagte vor allem die drängende Frage, wie ich die sechs Stunden zwischen der Ankunft des Early Risers und der Abfahrt des Technoliners totschlagen sollte, noch dazu in einer Stadt, die ich bis dahin nur gewürdigt hatte, indem ich ihr fernblieb. Und nun hieß es: ich gegen den Reiseschwindel, und das in einer Stadt, die ihre Existenz dem Kraftfahrzeug verdankte.
Doch wie beim Zeittotschlagen üblich, stolperte ich während meines kurzen Aufenthalts in Detroit über etwas, das mich, bis ich damit im Reinen war, nicht nur sechs Stunden, sondern mehr als das ganze nächste Jahr kosten sollte. Als ich mich in der Innenstadt umsah, ahnte ich nicht, dass ich mich in den nächsten zwölf Monaten wie besessen auf alles stürzen würde, was ich über die Motor City und den Farmerssohn mit Grundschulbildung erfahren konnte, dem der Ort seine Existenz verdankte.
Zum Zeitpunkt meines Zwischenstopps hatte Detroit schon eine längere, gezielt betriebene und breitpropagierte Wiedergeburt hinter sich. Das Symbol dieser neuen Ära, das Renaissance Center, war vermutlich eines der ehrgeizigsten Bauvorhaben seiner Zeit. Die fünf hohen, schwarzen Türme lassen die umliegenden Viertel so winzig wirken wie die Kathedrale die Stadt Chartres. Vier Zylinder gruppieren sich um einen massigen Zentralbau, alle mit dunklem Glas abgetönt, alle im gesichtslosen internationalen Stil.
Aber warum hatte die Stadt eine Wiedergeburt nötig, wenn sie noch gar nicht tot war? Der Name »Renaissance Center« erinnerte mich an Putzmittelwerbung mit dem Slogan »Reiner kann’s keiner« oder an ein Restaurant mit dem Motto »Futtern wie bei Muttern«. Wie man einem alten Witwer mit dem Kompliment, er habe sich gut gehalten, durch die Blume sagen möchte, er solle es bitte schön nicht übertreiben, hatten die Detroiter Honoratioren den Namen »Renaissance Center« wahrscheinlich in der Hoffnung gewählt, dass ihre Stadt bald wieder schwarze Zahlen schreiben möge.
Größe und Pracht des Centers sollten Kongressteilnehmer und Touristen in eine erstklassige, in sich geschlossene Welt des Luxus locken. Und der Palast erfüllte diesen Zweck hervorragend. Er zog Menschen (sprich: Geld) aus den umliegend angesiedelten Unternehmen ab, und weil die Türme ein selbständiges Dorf bildeten, kamen die Leute nie wieder heraus. Das Viertel, in dem das Renaissance Center erbaut worden war, zeigte Anzeichen von überstürzter Evakuierung und wilder Flucht. Als ich um die Türme schlenderte, kam ich an zahllosen Reihen verlassener, dreistöckiger Backsteinhäuser mit eingeschlagenen Türen und Fenstern vorbei, in denen die Leere gähnte.
Ich nahm an, dass ich mir im Renaissance Center (von jenen, die ihr Geld damit verdienen, alle Wörter auf eine Silbe zu reduzieren, RenCen genannt) eine halbe Stunde vertreiben konnte. Das Innere war eine moderne Version der Grand Trunk Station und zeichnete sich durch eine verspielte, mit vielen Ebenen arbeitende Architektur aus, wie sie mich als sechsjährigen Jungen fasziniert hatte; aber damals hatte ich auch noch an Stadterneuerung und die Abenteuer Tom Swifts geglaubt. Im runden Restaurant des Mittelturms, das langsam über der Tiefe kreiste, las ich die Speisekarte von vorne bis hinten und bestellte dann etwas zu essen. Das Restaurant wurde wahrscheinlich von tausend asiatischen Kulis gedreht, die man auf einer verborgenen unteren Ebene an ein Mühlrad gekettet hatte.
Diese kreisende Platte kam mir vor wie eine Hommage an das letzte große empirische Experiment des 19. Jahrhunderts. 1887 wollten die Physiker Michelson und Morley die Relativgeschwindigkeit der Erde auf ihrem Weg durch den Lichtäther messen. Die beiden Wissenschaftler setzten eine riesige Versuchsplattform von der gleichen Art und im gleichen Maßstab wie die, auf der ich gerade saß, auf ein Quecksilberbad. Sie projizierten einen Lichtstrahl durch eine in der Mitte angebrachte Linse und von dort auf Spiegel am Rand. Sie gingen davon aus, dass das Licht, das sich mit dem Ätherstrom bewegte, schneller war als das Licht, das sich in Gegenrichtung bewegte. Doch sie maßen keinen Unterschied. 1905 sorgte dann Einstein, ein Angestellter des Berner Patentamts, der keinen Ruf zu verlieren hatte, mit seinem Vorschlag weltweit für Furore, die Relativgeschwindigkeit durch das Konzept der Lichtgeschwindigkeit zu ersetzen. Das Jahrhundert stand vor einem Quantensprung.
Viel später, nach meinen Recherchen über einen bösen Scherz, den sich Henry Ford zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlaubte, stieß ich noch einmal auf einen Bericht über dieses Experiment. Doch in Detroit fiel mir dieser Vergleich nur durch Zufall ein. Ich wartete eine volle Drehung der Scheibe ab, bevor ich das Restaurant verließ. Da ich weder rauche noch trinke oder fluche, ist die Symmetrie mein einziges Laster. Sobald ich dem RenCen entkommen war, bekämpfte ich mein Schwindelgefühl, indem ich gegen den Uhrzeigersinn um ein paar Wohnblöcke ging. Ich setzte mich auf eine Treppe. Ein Schnorrer kam über die Piazza auf mich zu und bat um einen Vierteldollar für Sonnenöl. Als ich erwiderte, dass ich das Geld brauche, um meinen Anzug für Bewerbungsgespräche reinigen zu lassen, ließ er mich in Ruhe.
In der Nähe stand eine korrodierte Kupferplastik aus den Fünfzigern, ein Titan, der mit der einen Hand ein modernes Paar aus der protestantischen, weißen Oberschicht und mit der anderen einen Globus oder ein Automobil stemmte – ich kann mich nicht genau erinnern. Die Plastik hieß »Spirit of Detroit«. Zwei Anwälte stritten sich handgreiflich um einen Parkplatz. Eine Frau verkaufte Erdklumpen aus einem Schuhkarton. Ein Mann mit einer Bauchrednerpuppe verkündete der gleichgültigen Menge, dass es sich beim gegenwärtigen Außenminister um den Antichrist handele. Eine große Uhr wies mich hartnäckig darauf hin, dass ich meine Zeit sinnlos vergeudete. Wenn ich einigermaßen unbeschadet in den Technoliner steigen wollte, brauchte ich andere Ablenkung.
Mit dem Bus fuhr ich zum Detroit Institute of Arts. Inzwischen können sogar die besten Gemälde dieses Jahrhunderts den Müll nicht mehr aufwiegen, der uns auf allen Seiten umgibt. Die Kunst kann nur hoffen, ein Betäubungsmittel oder ein Placebo zu sein. Die besten Künstler wissen, dass Patienten ihre Symptome meist simulieren und vor der Behandlung durch Tricks zu einer Untersuchung gebracht werden müssen. Das Letzte, was ich in diesem Museum zu finden glaubte, war ein geheimnisvolles Kunstwerk, das nach Aufklärung verlangte, eine Spur, so endlos lang und vage wie die Suche nach einem Wort: Man kramt im Gedächtnis, stößt auf »wiedersehen« oder »wiederholen« und kommt der Sache mit »wiederbringen« recht nahe, ohne je mit »wiederfinden« ins Schwarze zu treffen.
Das Foyer des Detroiter Museums mündet in einen riesigen Saal, ein steinernes Rechteck, mit hohem Gewölbe, voller Sehnsucht nach Europa und vollkommen ungeeignet für die Ausstellung von Kunst. In einer wirren architektonischen Hinterlassenschaft reihen sich Rokoko-Satyrn, Schnörkel und vergitterte Heizungsschächte aneinander. 1931, auf dem Höhepunkt der Depression, bat die von Edsel Ford unterstützte Kunstkommission des Instituts den mexikanischen Muralisten Diego Rivera, diesen Raum mit einem Fresko zum Ruhme Detroits auszumalen.
Ein seltsames Paar: Edsel Ford, dessen Vater der allererste Kapitalist gewesen war, im Bunde mit dem notorischen Revolutionär Rivera, der Trotzki in Mexiko politisches Asyl verschafft hatte. Rivera, Held der Dritten Welt, sollte eine Stadt preisen, deren wichtigstes Wahrzeichen in einer riesigen Leuchtanzeige besteht, die jedes vom Band rollende Auto zählt. Diego, der einmal einen Sicherungskasten in ein Wandgemälde integriert hatte, sollte in einem Raum arbeiten, der ein billiger Abklatsch bourbonischer Pracht war. Doch Detroit und Diego hatten etwas Entscheidendes gemeinsam: Beide liebten Maschinen.
Für diesen Auftrag erhielt das Institut zehntausend Dollar von Edsel und zeigte sich beschämt, »dem einzigen lebenden Mann, der unsere Welt – Kriege, Aufruhr, um das Überleben ringende Völker – auf angemessene Art verkörpert«, eine so magere Summe anzubieten. Sie schlugen ihm vor, er solle sein Werk auf die beiden größeren, je fünfzig Quadratmeter messenden Wände beschränken. Laut einer rätselhaften Formel sah man hundert Dollar pro Quadratmeter offenbar als faires Honorar für einen Künstler von Diegos Rang an. Die Fords, sozusagen in der Rolle von Michelangelos päpstlichen Mäzenen, hätten Rivera ebenso gut bitten können, nicht die ganze Decke zu bemalen, sondern nur eine kleine Stelle über dem Altar. Doch Rivera, den Gewissensbisse wegen der unerhörten Großzügigkeit der Gringos zu plagen schienen, nahm sich viel mehr vor. Als Edsel zu Ohren kam, dass Diego alle vier Wände bemalen wollte, erhöhte er das Honorar auf fünfundzwanzigtausend Dollar.
Das Institut teilte Diego mit, es wäre schön, wenn er Motive aus der Geschichte Detroits oder solche aufgreifen würde, die die industrielle Entwicklung der Stadt zeigten. Niemand konnte ahnen, dass der Mann seinen massigen Körper durch sämtliche Fabriken Detroits wuchten, sich drei Monate lang in den Werken Fords, Chryslers und Edisons einnisten und Tausende von vorbereitenden Skizzen anfertigen würde. Statt die Rokoko-Anachronismen des Raums zu bedienen, stellte er sie mit einer Vision in den Schatten, die er vom Fußboden der Fabriken aufgefegt hatte. Im fertigen Werk verlieren sich die Schnörkel und Satyrn in Diegos technischer Vision, so dass man sie nicht mehr wahrnimmt.
Rivera, ein Malocher, der mit seinen Gehilfen manchmal sechzehn Stunden pro Tag malte, arbeitete zwei Jahre lang hinter einem Wandschirm in einem Raum, der durch das Glasdach auf Temperaturen von über vierzig Grad Celsius aufgeheizt wurde. Journalisten, die sich das in Arbeit befindliche Werk anschauen durften, berichteten, dass es die Stadt nicht rühme, sondern ganz im Gegenteil »auf Detroit spucke«. Die Einweihung war ein gefundenes Fressen für alle, die einen handfesten Skandal zu schätzen wussten. Bei der Enthüllung verschlug es dem Publikum die Sprache, denn die Fresken enthielten weder historische Anspielungen noch Allegorien des Bürgertums oder ein Defilee der mächtigsten Börsenmakler Detroits. Stattdessen sah das von weit her ins Museum geströmte Publikum, was es jeden Tag zwangsläufig sah: gesichtslose Menschen, an riesige, sinnliche Maschinen gekettet.
Diego hatte das denkbar Subversivste getan: Er hatte den Geist Detroits in allen ungeschminkten Einzelheiten gemalt. Das Fließband – eine sehnige, fast organische Maschine, die stampfte, schweißte und schließlich das fertige Produkt, einen Automotor, hervorbrachte – war von Reihen austauschbarer menschlicher Gestalten gesäumt. Männer in Asbestanzügen mit glupschäugigen Gasmasken verwandelten sich in grüne Insekten. Allegorische weibliche Akte in lasziven Posen verhöhnten das Förderband. Diese Wandmalereien brachten den Geist Detroits viel besser zum Ausdruck als der gefällige, firmenfinanzierte Kupfertitan, den ich draußen gesehen hatte. Bei der Enthüllung fand sich das Publikum, ähnlich wie die Gehilfen des Malers, die monatelang um und über ihre Schöpfung gekrochen waren, im Inneren Detroits wieder und verband sich parasitär, ja symbiotisch mit dem Metall. Diego hatte eine Kapelle für die höchste soziale Errungenschaft geschaffen, das Fließband, ein sich selbst reproduzierendes Kunstwerk, präzise, brillant und hart wie Stahl.
Bischöfe und Unternehmer riefen sofort zur Zerstörung der Fresken auf. In einem mittelmäßigen Werk Subversion und Ketzerei erkennen zu wollen ist nicht schwierig. Noch einfacher ist es bei einem Werk, das ehrgeizig, fröhlich und revolutionär ist. Riveras Malerei war also ein leichtes Ziel. Sogar Menschen, die noch nicht im Museum gewesen waren, entdeckten in den Fresken eine bunte Vielfalt von Blasphemien. Die Leute sahen einen lächerlichen St. Antonius, den die Beine eines allegorischen Akts von den Plänen des Vorarbeiters ablenkten. Kapitalisten mit einem geschärften Gespür für wirtschaftlichen Niedergang sahen in den Gestalten kommunistisch inspirierte Proto-Menschen. Ein Paneel, das die Impfung eines Kindes zeigte, verspottete Christi Geburt.
Diegos Kompliment – dass Detroit in der Vitalität des Maschinenzeitalters schwelgte – wurde als Beleidigung aufgefasst. Edsel, verkündete man, sei einem gefährlichen, populistischen Propagandastück auf den Leim gegangen. Ein organisierter Aufschrei in Radiosendungen und schriftlichen Petitionen gipfelte in einem Beitrag in den Detroit News, in dem es hieß: »Das Beste wäre, das ganze Werk weiß zu übertünchen.«
Doch das Werk war da. Besonnenere Gegner wussten, dass ein ambivalentes Kunstwerk endgültig subversiv werden würde, wenn man es übertünchte; einem ehrgeizigen und überbemühten Fresko war das Verfallsdatum dagegen schon eingeschrieben. Wenn man nichts tat, würde seine Brisanz mit jedem Jahr automatisch abnehmen, und es würde immer weniger Menschen interessieren, bis es eines Tages – die Wurzeln der Zivilisation wären noch intakt – als magischer Meilenstein gelten und zu dem harmlosen, ja gesellschaftlich akzeptierten Ding werden würde, das man als historisches Artefakt bezeichnete.
Von alledem wusste ich nichts, als ich im Raum mit den Wandgemälden stand, und ich ahnte auch nicht, dass ich einmal darauf versessen sein könnte, es herauszufinden. Vom Inneren der Fabrik aus gesehen, verlangte die selbstreproduzierende Maschine Ablehnung oder Treue, nur Gleichgültigkeit schloss sie aus. Die Technik konnte Fortschrittsträume nähren oder nostalgische Sehnsucht zerstören. In Riveras Werk wurde diese alte Debatte auf eine neue und befremdliche Art wieder wach. Die Maschine war unser Kind, fehlerhaft, aber mit einer bemerkenswerten Überlebensfähigkeit. Rivera hatte das Taufporträt einer mutierten Nachkommenschaft gemalt, die Liebe verlangte, Strenge, Mitleid, ja sogar Hoffnung, aber auf keinen Fall verleugnet werden wollte.
Dann fiel mir auf einer der kleineren Wände neben den Fließband-Fresken ein eher unwichtiges Paneel ins Auge. Vor einem skulpturalen Dynamo, erotischer konturiert als jeder Akt, saß ein weißhaariger Mann an einem Monolith von Schreibtisch, das Gesicht zu einer Mischung aus Gier und Wohlwollen verzogen – Ford, Edison, De Forest oder ein beliebiger anderer aus einem Dutzend sauertöpfischer Industrieller und Erneuerer.
Dieses Antlitz, das Antlitz unserer Zeit, enthielt alle Beweise, die ich brauchte, um hinter den Schwindel zu kommen und das Rätsel zu lösen. Hätte ich sofort erkannt, was sich hinter diesem collagierten Gesicht verbarg, dann hätte ich mir die zwölf Monate ersparen können, in denen ich den anderen Hinweisen nachging: Detroit, Rivera, Ford, das Auto, mechanische Reproduktion, Porträtkunst, Äther und Relativität. Wenn wir nicht wissen, was wir suchen, laufen wir Gefahr, es dem Dunkel zu überlassen. Die Chinesen spielten Hunderte von Jahren mit dem Feuerwerk, ohne das Gewehr zu erfinden. Edison hielt seine beweglichen Bilder nur für Spielzeug. Der erste Arzt, der Dosierungen für die Anästhesie zu bestimmen versuchte, entdeckte stattdessen die Sucht. Und im Glauben, mein Unbehagen hätte andere Gründe, kehrte ich dem mürrischen Gesicht den Rücken und verließ den Saal.
Als ich das Ende des angrenzenden Flurs erreichte, war ich aufgewühlt wie selten zuvor. Meinen Anschlusszug hatte ich komplett vergessen. Um mich zu beruhigen, murmelte ich immer wieder einen alten Kinderreim vor mich hin: While I was going to Saint Ives, I met a man with seven wives. Riveras Fresken hatten mich tief erschüttert, und ich dachte nur noch daran, ihnen zu entkommen. Ich hatte gerade eine weitere Ecke zwischen mich und die Fabrik gebracht, als ich mich im Umdrehen unvermittelt mit einem Foto konfrontiert sah: drei junge Männer aus der Zeit um die Jahrhundertwende, die auf einer matschigen Straße standen und alle über die rechte Schulter schauten. Ich erkannte es sofort, obwohl ich es nie zuvor gesehen hatte. How many were going to Saint Ives? Wie viele reisten nach Saint Ives?
Die Bildunterschrift weckte eine Erinnerung: Bauern aus dem Westerwald auf dem Weg zum Tanz, 1914. Schon das Datum verriet mir, dass sie nicht wie erwartet zu einem Tanz gingen. Ich ging nicht wie erwartet zu einem Tanz. Wir alle würden mit verbundenen Augen auf ein Feld irgendwo in diesem geschundenen Jahrhundert geführt werden und tanzen müssen, bis uns die Luft ausgeht. Tanzen, bis wir zusammenbrechen.
Und irgendwo in weiten Fernen der Geschichte senkte sich auf
Europa die Wahrheit herab, daß das Morgen die Pläne der Gegenwart zunichte machen werde.
Jaroslav Hašek, Der brave Soldat Schwejk
Eines späten Nachmittags folgen drei Männer einer matschigen Straße, zwei jung, einer von unbestimmbarem Alter. Sie haben es nicht eilig. Einer singt:
»Erdäpfel und Äpfel der Erd, hätt’ Muttern mehr Fleisch auf’m Herd, ich hätt’ nie verlassen mein Heim.«
Er singt auf Deutsch, aber mit rheinischem, vielleicht sogar mit ausländischem Akzent. Er ist der größere der beiden jung wirkenden Männer. Beide tragen schwarze Anzüge aus schwerem Stoff, der auch bei ausgestreckten Armen Falten an den Ellbogen wirft. Der Hut des Sängers ist pompöser und höher als die Hüte der anderen, und er trägt ihn kecker. Was aber nichts daran ändert, dass er seinem Nebenmann sehr ähnlich sieht. Die Stirn der beiden geht auf die gleiche Art in die Nase über. Vielleicht sind sie Brüder. Alle drei haben einen Stock; der Sänger schwenkt seinen so schlicht und monoton, als wäre er sein eigener Dirigent. Erdäpfel und Äpfel der Erd. Äpfel der Erd und Erdäpfel. Wir schreiben den Ersten Mai 1914, und wir befinden uns in den preußischen Rheinlanden.
Sie gehen durch ödes Ackerland, das sich einige hundert Meter weiter sanft zu wellen beginnt, und ihr Weg ist ein Kuh- und Karrenpfad aus festgetrampelter Erde. Kurz zuvor hat ein Frühlingsregen die Mischung aus zertretenem Kies und Dreck in glitschigen Matsch verwandelt, der das Gehen erschwert. In der Mitte, wo Pferdehufe den Weg aufgewühlt haben, sind Pfützen entstanden. Die drei Männer gehen auf dem Wegrand, wo ihre Schuhe vor dem Schmutz der Furchen einigermaßen geschützt sind. Der Sänger trägt lange, flache, spitze Schuhe, die ihn als Dandy kennzeichnen. Diese pseudogroßstädtische Mode – in jenem Mai der letzte Schrei – wird bald passé sein, und man wird seine Schuhe als »Kindersärge« verspotten. Die Schuhe seines Ebenbilds sind handfester. Der dritte Bursche, der hinterhertrottet und häufiger als seine beiden hübscheren Gefährten in den Matsch tritt, trägt Schuhe, die man als gut gepflegt bezeichnen könnte, vorausgesetzt, man wollte die Schmeichelei bis an die Grenze zur Lüge treiben.
Er schlendert verträumt hinter den anderen her und probiert aus, wie locker er sich die Zigarette zwischen die Lippen stecken kann. Bis er den richtigen Winkel gefunden hat, fällt sie mehrmals zu Boden. Unter dem braunen Anzug, aus leichterem Stoff, aber für feierliche Anlässe durchaus geeignet, hat er die Schultern hochgezogen. Beim Gehen drückt er die Arme steif an die Seiten. Er bleibt stehen, prüft seine Haltung, probiert eine neue und schwenkt beim Weitergehen die Arme. Er bleibt immer wieder stehen und sieht an sich hinab, um seine Wirkung zu begutachten. Sein Stock dient ihm manchmal als Waffe, manchmal als Krücke, und manchmal ist er nur eine nutzlose Last. Als er den Freunden vor ihm einen Blick zuwirft, weil Zank und Gesang plötzlich verstummt sind, merkt er, dass ihn der Sänger nachäfft, indem er mit langen Schritten rückwärts tänzelt. Der Nachzügler rächt sich mit einer ruppigen Geste, und dann grinsen sich die beiden Männer versöhnlich an. Jetzt wirken sie eindeutig jung.
Über den frisch bestellten Feldern hängt ein Hauch der Jauche und des Mists, die man in den letzten fünf Jahren ausgebracht hat, und aus der Ferne kommt leise Blasmusik. Nur einzelne Töne und Melodiefetzen sind zu hören, so wie der seit vielen Jahren zusammengefaltete Brief eines geliebten Menschen dem Auge nur geisterhafte, unleserliche Zeichen und ein aus dem Zusammenhang gerissenes »Ich hoffe, es geht Dir …« darbietet.
Der kleinere der zwei verwandt wirkenden Männer spricht:
»Peter, Hubert, spitzt die Ohren. Hört ihr das? Eine Blaskapelle. Ich wusste, dass die Blaskapelle in diesem Jahr wiederkommen würde. Diese Leute haben zwar ein gutes Herz, aber sie haben nie über den Tellerrand ihrer Dörfer geschaut. Sie haben den Westerwald nie verlassen, versteht ihr? Tut mir leid, dass ich euch wegen einer Blaskapelle so weit gescheucht habe.«
Er benutzt verblüffend viele Worte für jemanden, der durch Gang und Anzug eher introvertiert wirkt. Bis dahin hat er nur den Mund aufgemacht, um die Sticheleien seines Ebenbilds zu parieren. Sein plötzlicher Redefluss gleicht seine langen Schweigephasen aus.
Sein Gefährte, der Sänger Peter, horcht vergeblich auf die Musik. Der Nachzügler, Hubert, die Zigarette immer noch geziert zwischen den Lippen, schaut ungeduldig drein. Doch Peter wirkt neugierig, amüsiert.
»Oh, Adolphe …«
Er wendet sich an seinen scheuen Nebenmann, dessen Namen er mit verspieltem, kameradschaftlichem Singsang intoniert und auf dem »e« betont.
»… das ist keine Blaskapelle, du Schuft. Sondern ein komplettes Orchester samt Geigen. Ah, jetzt weiß ich’s, Adolphe. Du führst uns nicht zur Mai-Kirmes im reizenden Luden, obwohl die Sache sicher sehr lustig wäre. Nein, du Hundesohn. Du führst deine neuen Brüder den ganzen Weg bis … Wien!«
Bei diesem Namen gerät Peter außer sich, springt auf Adolphe zu, küsst ihn mehrmals und wirbelt ihn dann im Walzertakt herum. Der kleinere Mann stößt den Witzbold mit teutonischer Strenge von sich fort und murmelt eine kurze Wörterbuchdefinition von »verrückt«. Er strafft seinen in Unordnung geratenen Anzug, richtet Krawatte und gestärkten Kragen. Er versucht, sich den beim Tanz verrutschten Hut ebenso schräg und keck aufzusetzen wie der Witzbold, der sich gerade vor Lachen krümmt.
Hubert, der immer noch hinterherhinkt, lacht sich angesichts der unbeherrschten, kindischen Rauferei ins Fäustchen. Dann spricht er mit der aufgesetzt tiefen Stimme eines schlechten Tragöden.
»Wir gehen zu keinem Tanz, und wir gehen auch nicht nach Wien. Wir sind auf dem Weg zum sozialistischen Maifeiertag.«
Das sagt er so, wie ein amerikanisches Kind aus der gleichen Epoche gesagt hätte: »Wir müssen jetzt los und Jesse James umlegen.« Die anderen reagieren abfällig auf seine Worte.
»Nicht so-zialistisch, Hubert. Sondern so-zialistisch. Und sag um Himmels willen der So-zi und nicht So-si, sonst glauben die Leute noch, du versuchst, Französisch zu sprechen.«
Hubert grinst nur schwach und lässt die Zigarette in einem noch schieferen Winkel von den Lippen hängen. Adolphe, immer noch von der Wiener-Walzer-Attacke erschüttert, streicht den Anzug wieder glatt und tastet in der Innentasche seiner Jacke nach der Brieftasche. Unterwegs hat er alle zehn Minuten danach getastet. In ganz Deutschland gibt es zwar niemanden, der gerissen genug wäre, um über dieses mehrere tausend Hektar große Ödland zu pirschen und ihn zu bestehlen, doch er überprüft alle paar Minuten instinktiv die Stelle, um sich davon zu überzeugen, dass das kostbare Gut noch da ist.
Peter setzt sich mit flotten Schritten wieder an die Spitze der Karawane. Er erblickt einen verirrten westfälischen Spatz, der in der Nähe über ein Feld hoppelt und die Aprilsaat aus den Furchen pickt. Der Dandy parodiert das Picken durch ein groteskes Nicken; dabei ähnelt er einem ängstlichen Kind, das glaubt, den Schrecken von Doppelkinn und Kropf mit Nackengymnastik vorbeugen zu können. Aus Langeweile stimmt er wieder sein Lied an.
»Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus – Städtele hinaus? Und du mein Schatz bleibst hiiiier?«
Das bringt ihn auf eine neue Weise.
»Ich möcht’ als Spielmann reisen, weit in die Welt hinaus. Und singen meine Weisen, und gehen von Haus zu Haus …«
Das zweite Lied ist schneller, und Peter beschleunigt automatisch seine Schritte. Bald ist er seinen Kameraden einige hundert Schritte voraus. Sobald ihm dies bewusst wird, bleibt er stehen und dreht sich zu ihnen um, die Arme vor der Brust verschränkt. Als sie näher kommen, ruft er:
»Orchester, Adolphe.«
»Blaskapelle, Peter.«
Sie sind noch fast zwei Kilometer von ihrem Ziel entfernt, der Quelle der Musik. Man kann sie schon aus weiter Ferne hören, weil die Frühlingsluft des Jahres 1914 totenstill ist. Die Schallgeschwindigkeit beträgt bei null Grad Celsius dreihunderteinunddreißig Meter pro Sekunde, und mit jedem Grad plus nimmt sie zu. An diesem Tag im Mai herrschen zwanzig Grad Celsius, und die Schallgeschwindigkeit beträgt dreihundertdreiundvierzig Meter pro Sekunde. Innerhalb von fünf Sekunden legt die Musik – ob bayerische Bierhalle oder Wienerwald – rund eintausendsiebenhundertzwanzig Meter zurück, also ungefähr die zwei Kilometer, die die drei jungen Männer von der Maikirmes entfernt sind. Fünf Sekunden zu je fünfundachtzig Vierteltönen pro Minute bedeutet, dass der Walzer, den sie hören, schon zwei Takte in der Vergangenheit liegt.
Die wenigen Töne, die es so weit schaffen, sind also längst verklungen, wenn sie ans Ohr dringen. Modulation folgt auf Modulation; innerhalb von zwei Takten ist die Melodie, die die jungen Männer hören, nicht mehr die Melodie, die gerade gespielt wird. Deshalb müssen sie ihre Gegenwart verspätet mit einer bereits veralteten Musik erschaffen. Die Sterne in einer klaren Winternacht sind vielleicht vor tausend Jahren zu Supernovae geworden; trotzdem sind sie ein unbestreitbar gegenwärtiges Phänomen. Die Vergangenheit wird nur zu einer Wirklichkeit, wenn sie sich mit der Gegenwart überschneidet. Dann, und nur dann, rückt sie als gegenwärtig ins Bewusstsein, egal, welchen Wandlungen sie unterworfen war. Erst wenn man trauert – und wie der Schall hängt auch die Trauer von der Lufttemperatur ab –, stirbt die Vergangenheit endgültig.
Peter wird vom bodenständigeren Adolphe überholt. In einen Tagtraum versunken, fällt er zurück und spricht den Namen »Franz Joseph« vor sich hin. Er wiederholt ihn ständig in allen denkbaren Variationen. Eine dehnt das »z« auf absurde Weise und lässt es ins »Jo« übergehen, mit dem der zweite Name beginnt. Eine andere Variation imitiert die abgehackte preußische Sprechweise, die bei Peter allerdings künstlich klingt. Er spricht, psalmodiert und singt die Wörter, bis sie verzerrt und fremdländisch klingen. Als Franz Joseph nicht auf sein Flehen reagiert, verliert er die Lust. Kurz darauf beginnt er wieder lebhaft zu nicken und spricht in dem Singsang, mit dem man Versteckspiele einleitet.
»Adolphe. A-dol-phee. Vielleicht, Adolphe, wird Alicia … A-lie-zia wird auf der Kirmes sein, Adolphe. Und vielleicht hat sie Lust auf … du weißt schon, Adolphe.«
Adolphe erstarrt, errötet, greift prüfend in die Innentasche seiner Jacke.
»Sei still, du Möchtegern-Bruder, oder du bekommst meinen Stock zu spüren. Im Ernst!«
Er klingt unabsichtlich wie eine Parodie Helmuth von Moltkes, des preußischen Generalfeldmarschalls im Deutsch-Französischen Krieg. Peter schenkt ihm keine Beachtung.
»Oh, Hubert. Huu-bett. Huu-uu.«
Er spricht den Namen aus wie das niederländische Wort für »wie«. Nun stellt sich heraus, dass Peter selbst Niederländer ist.
»Vielleicht wird irgendein Mädel, das nichts Besseres zu tun hat, auf der Kirmes für dein erstes kleines Techtelmechtel sorgen, Hubert.«
Huberts Gesicht ist kein Alter abzulesen. Es ist eine Maske aus weichem Ton, die sich jedem seiner Gedanken und jeder vorgefassten Meinung eines Gegenübers anpasst. Er nimmt den schäbigen Filzhut ab und fährt mit der Hand über seine Stirnfalten, Falten, die so tief sind, als wären sie von über sechzig Jahren Schufterei eingegraben worden.
»Die Frauen sind am heißesten auf So-zis. So-zis haben die längsten Stängel.«
»Sag nicht Stängel, Hubert. Sonst halten dich die Leute für ein Kind. Sag Pfosten. Dann wissen die Leute sofort, dass deiner riesig ist.«
Die jungen Männer lachen und rangeln. Sie erzählen in aller Ausführlichkeit, was sie mit den Mädchen anstellen werden, die sich auf den Tanz wagen.
Beim Kabbeln reden sich die jungen Männer mit »Bruder« an, allerdings auf eine Art, wie es echte, gemeinsam aufgewachsene Brüder nie tun würden. Ein Karren kommt angerumpelt, er hält auf das kleine Waldstück zu, aus dem die Musik der Kirmes dringt. Die jungen Männer hören auf herumzualbern und bringen ihre Kleider in Ordnung. Wohlhabende Bauern grüßen Adolphe im Vorbeifahren vertraut, aber ohne anzuhalten. Peter zieht ein Gesicht und tut so, als hätten die Pferdehufe Dreck auf seinen Anzug geschleudert.
»Verdomme! Was bilden sich diese verrückten Bauern ein, Adolphe? He? Rücksichtslose Fahrer.«
Adolphe und Peter lachen, als Peter eine Faust reckt und dem fernen Karren pantomimisch mit Rache droht.
»Die Leute in diesem Tal leben noch im letzten Jahrhundert, Adolphe. Sie kriechen so langsam, dass sie schlafen werden, wenn sie die Kirmes erreichen. Alle schlafen; wie im Kyffhäuser Friedrich Barbarossa mit dem langen, roten Bart, der seit Jahrhunderten wächst. Aber er wird erwachen und die Deutschen zu neuer Größe führen. Oder, Adolphe?«
Adolphe schweigt und setzt sich wieder in Bewegung. Er bringt seinen Hut in die alte, schlichte Position.
»Adolphe? Pennst du, Adolphe? Weißt du, was dieses verschlafene Tal braucht? Es braucht ein paar holländische Automobile. Tempo, was, Adolphe? Kaufst du mir ein Auto, A-dolph-chen? In Holland hatten wir ein Auto.«
»Du lügst doch, Bruder.«
»Nein, ehrlich, Bruder. Wir hatten eines. Sag’s ihm, Huub. Hu-ub, klär ihn darüber auf, dass in Holland jeder ein Auto besitzt.«
»Tja, als Flame und So-zi weiß ich das nicht so genau.«
»Quatsch. Du bist ungefähr so flämisch wie die Kuh dort drüben. Ja, du, du großes Rindvieh.«
Adolphe kehrt mit besserer Laune zu den anderen zurück. Er fragt:
»Sag mal, was bist du überhaupt, Hubert? Welcher Nationalität, meine ich?«
»Ich habe dir doch gesagt, dass ich …«
»Hör nicht auf ihn, Adolphe. Der Mann erzählt den ganzen Tag Märchen. Er lügt noch schlimmer als ein Preuße. In Wahrheit hat sich eine Freundin von Mama – gar nicht so übel, die Frau, aber inzwischen kommt sie ins reifere Alter – ein Kind machen lassen, und wahrscheinlich hat ihr die Gebärmutter ein Telegramm geschickt, um sie auf den Ärger hinzuweisen, den sie sich mit dem Balg einhandelt. Sie hatte keine Zeit für das Kind, und deshalb war mein Vater – das heißt: unser Vater, Adolphe – so großherzig, es bei uns zu Hause aufzunehmen.«
»Halt den Mund. Dein Hosenstall steht offen und zeigt deine Intelligenz.«
»Heul doch ins Taschentuch, du Waisenkind.«
»Sei still, Peter. Du liegst doch genauso schief wie Hubert. Immerhin lebt ihr beide von der Großzügigkeit meiner Mutter.«
Adolphes Augen glänzen plötzlich triumphierend. Die jungen Männer, wieder ins Schweigen versunken, setzen ihren Weg zur Kirmes fort. Der Westerwald besteht aus täuschend weiten Flächen, die die kleinen Weiler sowohl verschlucken als auch voneinander trennen. Obwohl die Gegend, in der die drei jungen Männer unterwegs sind, keinen halben Tag mit dem Karren von Köln entfernt ist, verbergen sich hinter dem nächsten, hübschen Bach oft Wege, die in tiefste Einsamkeit zu führen scheinen. In der Landschaft wechseln sich düster bewaldete Talengen mit öden, unbarmherzigen, offenen Flächen ab. Jenseits der Wärme und der hell erleuchteten Fröhlichkeit abendlicher Dörfer liegen Moore voller Einsamkeit. Während sich die drei Burschen der Maikirmes nähern, wird die Stille auf der Erde und in der Luft immer tiefer.
Dann wird ihr Bann gebrochen. Ein Fahrradfahrer nähert sich auf der Dreckpiste. Er kommt aus der Richtung des Hofs von Adolphes Mutter, ein Hof, der auf einem sanft geschwungenen Rand des Westerwalds liegt. Der Mann balanciert einen vollgepackten Rucksack auf dem Gepäckträger. Die drei jungen Männer wenden sich neugierig um, als ihnen der Mann einen Gruß zuruft und in der Nähe anhält. Er ist ungefähr vierzig Jahre alt und bärtig, trägt Knickerbockers, Gamaschen und einen breitkrempigen Hut. Mit der Selbstverständlichkeit eines Passanten, der nach dem Weg fragt, ruft er:
»Tragt ihr eure Sonntagssachen?«
Zur ländlichen Zurückhaltung der jungen Männer gesellt sich die Vorsicht, die sie allen Sonderlingen entgegenbringen.
»Ja … denn wir … es wird getanzt.«
»Aber natürlich wird getanzt, junger Mann. In Deutschland feiert man den Mai seit Jahrtausenden. Geht auf die Römer zurück – Weingelage, die Frühlingsgöttin Flora. Diese Art von Fest. Ihr Milchbärte habt bestimmt nicht gewusst, dass ihr zu einem heidnischen Ritual unterwegs seid, wie?«
Die jungen Männer sind fasziniert. Sie wissen nicht, wie sie auf die seltsame Rede dieses Mannes mit den Gamaschen und dem Hut eines Bohemiens reagieren sollen. Hubert, nicht unbedingt das Sprachrohr der drei, nutzt die Gelegenheit und ergreift das Wort.
»Sind Sie ein So-zi?«
Der Radfahrer, der seinen Rucksack auszupacken beginnt, verzieht halb amüsiert und halb angewidert die Oberlippe.
»Sozialdemokrat.«
Hubert wirft seinem Stiefbruder Peter einen fragenden Blick zu, und dieser murmelt untypisch leise, dass beides miteinander verwandt oder jedenfalls halbwegs identisch sei. Hubert ist begeistert.
»Seht ihr? Ich habe euch doch gesagt, dass auch die Reichen So-zis werden können.«
Der Mann holt Fotos und Platten heraus und reiht alles am Wegrand auf. Adolphe weist ihn auf den Matsch hin, doch der Mann achtet nicht auf ihn. An Hubert gewandt, sagt er:
»Dann sind wir also politisch? Sie wollen mich darauf hinweisen, dass die Linke den Ersten Mai zu einem Tag der Arbeiterdemonstrationen gemacht hat, hm? Tja, verglichen mit den Römern und ihrer Flora sind die Linken natürlich noch grün hinter den Ohren. Aber was soll’s. Auf dieser Welt muss man wohl die Trommel rühren. Hauptsache, man gerät nicht mit dem Gesetz aneinander. Hier. Kommt mal her und schaut euch das an.«
Die jungen Männer betrachten zögernd die Fotos, die der Mann am Wegrand ausgebreitet hat. Bei einem der Bilder – es zeigt zwei Herrenbauern, die in der Nähe seiner Mutter mehrere hundert Morgen große Höfe bewirtschaften – kann Adolphe einen erstaunten Ruf nicht unterdrücken.
»Ha! Seht euch Herrn Jakob im piekfeinen Feierabendaufzug an. Auf diesem Foto ist er die Wichtigkeit in Person, findet ihr nicht auch?«
Wie aus Scham über diesen Wortschwall, vielleicht auch, weil er glaubt, den Fremden in seinem Stolz gekränkt zu haben, verfällt er wieder in die übliche Zurückhaltung. Doch der Mann klatscht in die Hände, hocherfreut über Adolphes Reaktion.
»Ganz genau! Wie ihr seht, ist er nicht mehr der Herr Jakob, mit dem man über Ackerbau plaudert. Nein, vor der Linse ist er eine andere, wichtigere Person geworden. Er ist nicht nur ein Individuum mit einem bestimmten Geburtsjahr und einem bestimmten Todesjahr – versteht mich bitte nicht falsch: Lang möge er leben –, sondern hat sich zum Wohl der unsichtbaren Betrachter als Vertreter der begüterten, arbeitenden Menschen dem universalen Strom angeschlossen. Er ist zur Idee des Herrn Jakob geworden, wenn man so will.«
Nun ist es der Fahrradfahrer, der sich seiner Euphorie schämt. Er zuckt mit den Schultern und packt weiter aus. Er holt ein Stativ, einige verpackte Platten und einen hölzernen Kamerakasten aus dem Rucksack. Peter, bis dahin unsicher, findet allmählich sein Selbstvertrauen wieder.
»Ah, jetzt begreife ich, Herr Philosoph. Sie möchten uns ein paar der Bilder andrehen, die hier liegen und die … das Ideal zeigen. Oder was immer Sie gemeint haben.«
»Peter! Was redest du da.«
»Nein, nicht ganz, junger Mann, aber mir war klar, dass Sie klug sind. Das kann man schon an Ihrem Unterkiefer sehen.«
Peter legt sich misstrauisch die Hände aufs Kinn. Huberts Gesicht, das durch die schiefe Zigarette und den bemüht revolutionären Ausdruck als das eines Sechzigjährigen durchgehen könnte, verjüngt sich durch seine Freude über die Fotos um mehrere Jahrzehnte und wird wieder zu dem Jüngling, der er in Wahrheit ist.
»Schaut mal! Schaut euch das an, Leute. Maastricht. Dort bin ich gewesen. Dort lebe ich. Ich meine – Peter und ich haben dort gelebt. Oder, Peter? Die neue Werkzeugfabrik. Wann sind Sie dort gewesen, Alter?«
»Tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen, Herr Sozi, aber es handelt sich um eine Werkzeugfabrik an der Ruhr. Derzeit werden so viele errichtet, dass man sich leicht irren kann. Trotzdem freut es mich sehr, dass Sie diese hier mit einer anderen in Ihrer – wenn ich so sagen darf – Heimatstadt verwechseln.«
»Dieser Revolutionär hat alle möglichen Staatsbürgerschaften zugleich.«
»Damit will er sagen, dass er jetzt auch bei meiner Mutter lebt – hinter dem Höhenzug dort; wir sind inzwischen alle Bauern. Und demnächst wird er ein deutscher Staatsbürger, mein Herr.«
Peter, dabei ertappt, wie er mit einem Finger über die Kante des Kamerakastens fährt, überspielt keck sein Schuldbewusstsein.
»Tja, mitgefangen, mitgehangen. Verwandt über drei Ecken. Wozu dient dieser Apparat?«
»Dies, mein Freund, ist eine Kamera für Freiluftporträts.«
»Im Freien …? Das geht doch gar nicht. Ich kenne mich mit Maschinen aus, müssen Sie wissen. Ich bin kein Kind mehr. Die wissenschaftlichen Grundlagen dieser Dinge sind mir bekannt. Damit ein Porträt gelingt, muss es im Studio gemacht werden. Zu starkes Sonnenlicht kann den Film schwärzen oder trüben. Oder so etwas in der Art. Habe ich recht, Opa? Sie wollen uns doch irgendetwas andrehen. Sind Sie Franzose?«
»Ganz im Gegenteil, Herr Unterkiefer. Alle Fotos, die Sie hier sehen, habe ich mit dieser Kamera im Freien aufgenommen.«
»Sie fahren mit dem Fahrrad und nicht mit dem Auto, und Sie verdienen Ihren Lebensunterhalt mit Lügen. Ich kann mir keine schlimmere Kombination vorstellen.«
Adolphe, dem Peters Vorwürfe peinlich sind, entschuldigt sich stellvertretend. Der Fotograf fordert Peter auf, die Bilder genau zu betrachten und der Umgebung Beachtung zu schenken: den Reihenhäusern in Luden, dem bewaldeten Höhenzug jenseits der Felder von Ainsbach oder dem weiten Neandertal im Hintergrund eines Fotos zweier Schäferkinder mit koboldhaften Gesichtern. Peter akzeptiert diese Beweise nicht.
»Soll ich Ihnen etwas sagen, Sie Zauberer? Ich kenne Ihre Tricks. Natürlich wurden diese Fotos mit Kameras aufgenommen. Aber drinnen und vor Hintergründen, auf die man Szenen dieser Gegend gemalt hat. Und sehr geschickt gemalt, wirklich. Die Illusion der Natur ist ausgesprochen überzeugend.«
Viele zeitgenössische Porträtfotografen malen auch Landschaften in Öl. Ihre Hintergründe sind zwar selten überzeugend genug, um als Natur durchzugehen, aber gut genug, um die Natur als Hintergrund durchgehen zu lassen.
»Die Wirkung wäre sehr künstlerisch, sehr künstlich – fast vollkommen –, wenn Sie dafür sorgen würden, dass die porträtierten Personen nicht im letzten Moment ihre Pose ablegen. Oder haben Sie die guten Bilder schon verkauft und wollen den Rest an Leute verscherbeln, die keine Ahnung haben?«
Der Radfahrer lässt seinen Blick mit der Leidenschaftslosigkeit eines Botanikers, der Arten bestimmt und mit fachlich korrekten Namen versieht, weiter von einem jungen Gesicht zum anderen gleiten.
»Wenn ich die Sache richtig sehe, kann ich Sie nur von der Freiluftfotografie überzeugen, indem ich ein Foto von Ihnen dreien knipse. Also gut. Sie zu dritt auf dieser Straße, wie ich Sie beim Näherkommen gesehen habe.«
»Sehen Sie? Ich wusste, dass Sie uns etwas andrehen wollten.«
»Nein, das hier knipse ich nur für die Wissenschaft und für das Archiv. Als privates Dokument des Gesprächs, das wir heute geführt haben.«
Der Verzicht auf ein Honorar erstaunt Adolphe, der zudem geschmeichelt ist, weil man ihn für fotogen hält. Er findet es schade, dass Peter die Sache verdorben hat, und versucht, den Fotografen umzustimmen.
»Aber wenn … Nehmen wir mal an, wir wären …«
»Aber wenn jemand von Ihnen bereit wäre, mich am nächsten Sonntag an genau dieser Stelle wieder zu treffen, könnten wir uns das Foto gemeinsam anschauen und, wenn Sie wollen, zu einer Übereinkunft gelangen.«
Peter übernimmt das Kommando und versucht, die drei in eine Pose zu bringen, die den kraftstrotzenden Heroismus der Jugend zum Ausdruck bringt. Er diskutiert mit dem Fotografen, der eine möglichst natürliche Haltung wünscht: die gleiche Anordnung, in der sie gegangen sind, als er sie – auf dem Weg nach Luden – gestoppt hat. Peter will wissen, worin in dem Fall die Kunst besteht. Der Fotograf droht, er werde sich aufs Fahrrad setzen und verschwinden, wenn die jungen Männer seinem Wunsch nicht entsprechen. Adolphe weist warnend darauf hin, dass die Sonne sinke und dass es am besten sei, das Foto sofort zu machen. Sonst werde es nichts mehr damit, und außerdem müssten sie so bald wie möglich zur Kirmes, weil sie sonst zu viel verpassen würden. Peter neckt ihn damit, dass Alicia keine Chance auf den Titel der Maikönigin habe, weil Adolphe, der mit Abstand schönste Mann im Rheinland, ja im ganzen Reich, gewiss alle Stimmen erhalten und zum ersten Maikönig gewählt werde.
Die erste Aufnahme ist ein Fehlschlag, weil Hubert die Zigarette aus dem Mund fällt. Er bückt sich nach ihr, als der Auslöser betätigt wird. Die zweite Aufnahme muss reichen, denn es ist die letzte Platte; der Fotograf kann nicht wie sonst zur Sicherheit ein zweites Foto knipsen.
Als er Fotos und Ausrüstung einpackt, will Hubert wissen, ob er Gewerkschaftsmitglied sei. Der Fotograf antwortet, dass er Verbände geflissentlich meide, und rät den jungen Männern, das Gleiche zu tun. Das Gespräch wechselt wie von selbst vom Wetter zu den Anbaubedingungen und von dort zur Politik, und der Fotograf äußert sein Bedauern über die Zabern-Affäre, bei der die Elsässer von einem deutschen Heeresoffizier beleidigt wurden. Adolphe, der wenig überzeugend älter tut, als er ist, warnt den Fotografen davor, respektlos vom Kaiser zu sprechen. Der Fotograf fragt Adolphe:
»Was führte der Kaiser Ihrer Meinung nach im Schilde, als er die Truppenstärke der Armee auf achthunderttausend Mann erhöhte?«
Adolphe, der wieder so klingt, als würde er seinem Vater nach dem Mund reden, erwidert, dass er die Nase voll von dem Gewäsch über einen bevorstehenden Krieg habe. Dieses Gerede zeuge nur von Egoismus, Willensschwäche und Sensationsgier. Der Alltag reiche ja schon, da müsse man nicht auch noch ständig vom Krieg reden, um das Leben aufregender zu machen. Außerdem sei der Militärdienst eine Ehre.