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Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg

Copyright für diese Ausgabe © 2017 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

 

Copyright der Originalausgabe © A. E. Books Ltd 2006

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung Anzinger | Wüschner | Rasp, München

 

 

Impressum der zugrundeliegenden gedruckten Ausgabe:

 

 

ISBN Printausgabe 978-3-499-24479-7

ISBN E-Book 978-3-688-10280-8

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-688-10280-8

Für Jean Buchanan
eine wahre Freundin

Prolog
Oktober 1938

«Sir, ein Notfall.»

Der wachhabende Offizier versuchte es erneut, dieses Mal lauter und eindringlicher: «Sir, Captain, Sir, wachen Sie auf, bitte. Wir haben einen Notfall.»

Reginald Sherston, Kapitän der SS Gloriana, eines Passagierschiffs, das sich auf dem Weg nach Indien befand, erhob seinen graumelierten Kopf von dem gestärkten weißen Kissen.

Nachdem er die Augen geöffnet hatte, die blassblauen Augen eines Mannes, der seit seinem fünfzehnten Lebensjahr zur See fuhr, richtete sich sein Blick auf den Ersten Offizier. Ein fähiger Mann, der sonst nicht leicht aus der Ruhe zu bringen war. Dann schaute er zu seinem Steward, der bereits mit der Jacke über dem Arm auf ihn wartete.

«Was ist geschehen, Mr. Longbourne?»

Kurze Zeit später stand Captain Sherston auf der Brücke.

Die Offiziere in den weißen Uniformen gingen wortlos ihren Aufgaben nach, der Mann am Ruder hielt den Kurs und spitzte die Ohren. Sie alle waren gespannt, was der Erste Offizier und der Kapitän sagen würden.

Unterdessen setzte das Schiff seinen Weg durch das Rote Meer fort. Über ihnen funkelten die Sterne so hell am Himmel, wie man es nur auf See erlebt, und spiegelten sich in den tintenblauen, sanften Wellen. Das gleichmäßige Stampfen der Motoren wirkte beruhigend.

«Diese Mrs. Hotspur hat sich bei uns als Passagierin bis Indien eingeschifft, nicht wahr?»

«Ja, Sir.»

«Ist sie in Port Said an Land gegangen?»

«Ja, Sir. Für den Tag.»

«Hat sie an einem Ausflug teilgenommen, zu den Pyramiden vielleicht?»

«Nein, Sir. Sie ist mit Freunden unterwegs gewesen.»

«Aber sie ist zurück an Bord gekommen?»

«Soviel wir wissen, ja. Ihre Wiedereinschiffungskarte liegt uns vor.»

«Und die für sie zuständige Stewardess sagt, ihr Bett sei in der letzten Nacht unbenutzt geblieben? Wer ist die Stewardess?»

«Pigeon, Sir.»

«Aber sie hat es nicht gemeldet?»

«Es kommt vor, dass eine Frau …», der Erste Offizier warf Captain Sherston, einem eingefleischten Presbyterianer, einen kurzen Blick zu und räusperte sich, «… die Nacht woanders verbringt, Sir.»

«Und die Stewards im Speisesaal sagen, sie sei heute weder zum Frühstück noch zum Mittag- oder Abendessen erschienen?»

«Das ist richtig, Sir.»

«Dieser zehnjährige Junge, Peter Messenger, behauptet, er habe sie gegen neun Uhr auf dem C-Deck an der Reling stehen sehen, also eine Stunde und zehn Minuten nachdem wir Port Said verlassen haben?»

«Ja, Sir.»

«Was wissen wir über Mrs. Hotspur?»

Der Erste Offizier schaute in seine Notizen. «Mrs. Verity Hotspur. Anscheinend ist sie Witwe. Eine sehr attraktive Dame, sie ist die Cousine von Lady Claudia Vere, die ebenfalls an Bord ist – in Lissabon zugestiegen. Lady Claudia hat uns alarmiert.»

«Lady Claudia Vere. Also wird die vermisste Person, Lady Claudias Cousine, höchstwahrscheinlich Verbindungen zu allen möglichen wichtigen Leuten gehabt haben?»

«Vermutlich, Sir.»

Captain Sherston stieß einen langen Seufzer aus. «Notfallmaßnahmen für ‹Mann über Bord› einleiten, Mr. Longbourne.»

«Ja, Sir.»

Nachdem er die entsprechenden Anweisungen gegeben hatte, äußerte sich der Erste Offizier pessimistisch: «Große Überlebenschancen hat sie wohl nicht?»

«Gar keine. Wenn sie nicht in die Schiffsschrauben geraten ist, haben die Haie sie geschnappt. Oder sie ist ertrunken.»

Teil Eins September 1938

Eins

Verity trat aufs Deck hinaus und blickte in den fahlen Herbsthimmel, eine Mischung aus Regen und Sonnenschein; die frische Brise, die das Wasser im Hafenbecken kräuselte, wies eindeutig darauf hin, dass der Sommer zu Ende war.

Trotz ihrer Wolljacke fröstelte sie, nicht nur wegen der kalten Luft, die bereits den Winter ankündigte. Auch aufgrund einer inneren Kälte, die sie verspürte, weil sie Angst hatte. Angst wegen der Zeit, in der sie lebte; der bevorstehende Krieg überschattete bereits das Land, das sie verließ; Angst um sich selbst. Den Krieg als solchen fürchtete sie nicht mehr, denn es gab nichts, was man tun konnte, um ihn zu verhindern oder sich darauf vorzubereiten. Was aber machte ihr Angst? Ihre Albträume? Klaus und sein Nachfolger, jener Mann mit dem ausdruckslosen Gesicht, der keine erkennbare Persönlichkeit hatte? Ihr eigenes Los, das Schicksal ihres Bruders?

Es war wohl alles zusammen.

Möwen, die über ihr in der Luft hingen, stürzten sich unvermittelt hinab und tauchten in die ölige Wasseroberfläche ein, ihr schrilles Kreischen stach aus dem dumpfen Hupen und Pfeifen der Schlepper und zahlreicher anderer Boote heraus, die in dem geschäftigen Hafen unterwegs waren. Vee sog die salzige Luft ein, den scharfen Geruch von Teer, Meer und Qualm, bis sie einen bitteren Geschmack auf der Zunge spürte. Der riesige Hafen von Tilbury, einem der belebtesten Anleger der Welt, übte keinerlei Reiz auf sie aus; sie konnte es kaum erwarten, dass die SS Gloriana in See stach, dass immer mehr Wasser Schiff und Festland trennen würde – eine Armlänge zunächst, bald schon fünfzig Meter, bis schließlich das Ufer in der Ferne verschwände und nichts als graugrüne Wellen sie umgäben.

Ein listiger Luftzug trug Stimmen vom Kai zu ihr herauf, und sie konnte die Worte erstaunlich klar verstehen. Eine fröhliche Frauenstimme rief: «Sieh mal, ist das nicht Mrs. Verity Hotspur dort oben? Findest du nicht auch, dass sie mit diesem roten Hut furchtbar schick aussieht?»

«Woher sollte ich Mrs. Hotspur kennen?»

«Sie gehört zur höheren Gesellschaft, und sie ist Witwe, ihr Ehemann …», die Worte verloren sich im Wind, waren kurz darauf jedoch wieder klar zu hören. «Ich nehme an, sie will den Winter in Ägypten verbringen.»

«Sie sucht wohl eher einen sicheren Zufluchtsort», warf eine mürrische, näselnde Stimme ein. «Ich wünschte, unsereins könnte das auch so machen.»

«Mensch, Jimmie», antwortete die Frau, «du musst doch für dein Land kämpfen. Und wer sagt denn überhaupt, dass es Krieg geben wird? Lass uns zuversichtlich bleiben.»

«Die laufen doch alle davon. Für die Reichen gilt ein Gesetz und für den Rest von uns ein anderes.»

Davonlaufen. Herrgott, wenn die wüssten, wovor sie davonlief. Krieg? Lächerlich. Unausweichlich, aber unerheblich und sicher nicht der Grund, warum sie auf dem obersten Deck der SS Gloriana stand, die bald – für sie nicht bald genug – zu einer Reise nach Indien ablegen würde.

Sie stützte sich mit den Armen auf die Reling aus Teakholz. Auf diesem Schiff, wo Holz und Messing auf Hochglanz poliert wurden, bis man sich darin spiegeln konnte, war die Welt noch in Ordnung. Glockenschläge, regelmäßige Abläufe und Menschen, die ihre Aufgaben kannten, bestimmten das Leben an Bord. Ostindische Matrosen schrubbten hier vor Tagesanbruch die Decks, die trocken und sauber erstrahlten, noch bevor der erste Passagier oder Offizier einen Fuß darauf setzte. Jede Mahlzeit wurde exakt zur angekündigten Zeit serviert, und täglich um Punkt zwölf Uhr errechnete man die zurückgelegte Strecke.

Dennoch war es eine wandelbarere Welt als diejenige, die sie zurückließ. Wenn die Gloriana erst auf See war, würden sich die Sterne unmerklich immer weiter von ihren vertrauten Positionen fortbewegen, bis man eines Tages andere Sterne, die Sterne der Südhalbkugel, am Himmel leuchten sähe und sich das Schiff nicht mehr in Europa, sondern im Indischen Ozean befände.

Neuer Himmel, neues Land und doch das alte Leben. Sie wünschte, diese Reise würde einen deutlichen Bruch mit ihrem Leben bedeuten, einen jener Wendepunkte, bei denen sich die Tür zum alten Leben verschloss und man in ein neues eintrat.

Wie oft hatte sie das bereits erlebt? Natürlich bei der Geburt. Dann als sie laufen gelernt hatte, auch wenn sie sich zumindest nicht bewusst daran erinnern konnte, doch die ersten Schritte vermitteln ein erstes Gefühl von Unabhängigkeit. Die Schulzeit bedeutete vielleicht einen weiteren Neubeginn; für sie endete die Kindheit mit dem Eintritt ins Internat. Und der größte Schritt von allen – nein, geradezu ein Sprung – war die Zugfahrt von Yorkshire zu ihrem Studienort Oxford gewesen.

Dort hatte vom ersten Trimester an ein neues, erwachsenes Leben für sie begonnen. Sie hatte sich gefühlt wie eine Nonne, die den Ruf Gottes hört und ihrer Bestimmung folgt. Wie falsch sie damit gelegen hatte, wie blauäugig, naiv, zornig und von sich eingenommen sie gewesen war und wie sicher zu wissen, was richtig und was falsch war.

Und weil sie auf diese trügerische innere Stimme gehört und sich von ihrem Zorn hatte leiten lassen, war sie nun hier. An Bord der SS Gloriana, im Auftrag von jemand anderem, erfüllt von Angst und Hass, daran zweifelnd, ob sie das, was man von ihr verlangte, würde tun können, und wissend, es nicht tun zu wollen. Und der Preis, wenn sie versagte?

Ein Leben.

Sie blickte über drei weitere Relings und Decks sowie mehrere Reihen Bullaugen die steil abfallende Außenwand des großen Schiffes hinunter auf den Kai, wo der Wind Papierfetzen und Abfall aufwirbelte. Die Menschen, die dort unten umherliefen, während der Moment des Ablegens immer näher rückte, waren so klein wie Schachfiguren.

Die letzten Passagiere hasteten mit Pässen und Bordkarten in der Hand aus dem Zollgebäude. Gepäckträger mit Wagen, auf denen sich die Bagage in enorme Höhen türmte, jeder Koffer, jede Kiste und jede Truhe war mit Klebeschildern versehen: P&O; SS Gloriana; Initialen; ein großer eingekreister Großbuchstabe, B für Brown, J für Jones, S für Smith; Anhänger mit den Zielhäfen Lissabon, Port Said, Bombay; Bordgepäck. Was während der Reise nicht benötigt wurde, war im Laderaum verstaut worden, wo das Gepäck ordentlich aufgereiht bis zum Ausschiffungshafen blieb; sie wünschte, sie könnte sich selbst einpacken und im dunklen Schiffsrumpf verstecken. Dort gehörte sie hin, zu den Ratten und dem Schutt, nicht in den Komfort und den Luxus der ersten Klasse.

«Ratten, die das sinkende Schiff verlassen, das sind sie», nörgelte jetzt die näselnde Stimme am Anleger. Vee blickte auf die dicken Taue, mit denen das Schiff am Kai festgemacht war; sie hatte einmal gehört, dass Ratten tatsächlich spürten, wenn ein Schiff unterging. Angeblich könne man beobachten, wie sie sich über die Taue an Land retteten, sobald etwas nicht stimme. Nein, es waren keine Ratten zu sehen. In den Augen dieses Mannes war sie die Ratte. Sie und all die anderen Passagiere.

«Halte du nach Sam Ausschau und sei nicht so boshaft», war nun wieder die freundlich klingende Frau zu vernehmen, die sie erkannt hatte; die ihr Foto im Tatler gesehen haben musste oder in einem der anderen Schundblätter, als … Nein, daran wollte sie jetzt nicht denken.

Mit zusammengekniffenen Augen versuchte Vee zu erkennen, wer von all den dort unten Stehenden sie wohl als Ratte bezeichnet hatte. Es musste der Mann im schäbigen Mackintoshmantel und mit dem abgetragenen Hut sein. Neben ihm stand eine flotte junge Frau, die einen allzu dünnen Mantel trug. Sie schien entschlossen, sich die Laune nicht verderben zu lassen; ihr Haar, das unter dem aufgebürsteten, aber dennoch abgestoßenen Samthut hervorschaute, war aschblond. Sie hatte zu viel Lippenstift aufgelegt, doch sie hatte eine positive Ausstrahlung und ein sicheres Auftreten. Vee beneidete sie. Miss Samthut, wer auch immer sie sein mochte, lebte vermutlich ein besseres, weniger kompliziertes Leben als sie. Nachts schlief sie wahrscheinlich tief und traumlos und wachte morgens mit Vorfreude auf den neuen Tag auf, auch wenn sie hart für ihr spärliches Auskommen arbeiten musste, es nie wirklich genug zu essen gab und sie wenig Hoffnung auf eine bessere Zukunft hatte.

«Sam drückt sich nicht, Jimmie. Er muss dort arbeiten, genau wie du und ich hier.»

«Ich habe nicht gesagt, dass Sammy sich drückt. Und der Rest der Touristenklasse wohl auch nicht. Das sind normale Leute wie du und ich. Nein», sagte er und warf einen verächtlichen Blick in Richtung des Decks, auf dem Vee stand, «es sind die da oben, die mich aufregen. All diese Erste-Klasse-Passagiere, etepetete und selbst keinen Finger krümmen. Jeden Abend Sieben-Gänge-Menüs und Tanz und sich sonst um nichts kümmern. Die sehen zu, dass sie schnell aus England rauskommen, bevor es Nazibomben regnet, die sie abbekommen könnten.»

«Wie gesagt, vielleicht gibt es gar keinen Krieg.»

«Ja, ja, und die Sonne geht morgen vielleicht auch nicht mehr auf. Diese feinen Pinkel wissen ganz genau, dass der Krieg kommt. Wer nicht die Möglichkeit hat, nach Amerika abzuhauen, meint, er könne sich an irgendeinen warmen Ort zurückziehen, wo sich nichts ändert und man weiterhin ein Leben mit Whisky und Dienstboten führen kann, während anderswo Menschen in die Luft geblasen werden. Das macht mich krank.»

«Dich macht alles krank, Jimmie.»

«Ich weiß, wer diese Mrs. Hotspur ist.» Jimmies Stimme klang ungehalten. «Die stand doch in der Zeitung, als ihr Mann gestorben ist. Wenn du mich fragst, ging da was nicht mit rechten Dingen zu.»

Vee blickte den vorbeifliegenden Möwen hinterher, doch vor ihrem inneren Auge drängte sich ihr ein anderes Bild auf; ein blutbeflecktes Arbeitszimmer. Was Klaus an jenem Tag in London gesagt hatte, bohrte sich wieder in ihre Gedanken. «Wir haben dafür gesorgt, dass gewisse Dinge geschehen.»

Gewisse Dinge? Nein, es war unmöglich. Warum sollten sie das getan haben? Und wenn sie wirklich verantwortlich waren, wie sicher war sie selbst dann noch? In London, hier, egal wo? Marcus’ Worte kamen ihr wieder in den Sinn. Mach keinen Fehler, tu immer, was sie sagen, sie verzeihen dir nichts. Sonst nimmt es mit dir auch noch ein blutiges Ende …

Fischgeruch drang ihr in die Nase, Fisch und Seetang. Der Geruch des Strandes bei Ebbe, wenn sich das Wasser zurückgezogen und allerlei Meeresschutt freigelegt hatte.

«Sieh mal, da ist Sam und winkt.» Strahlend nahm die junge Frau mit dem Samthut das rote Tuch ab, das sie um den Hals trug, und schwenkte es in Richtung des anderen Endes des Schiffes. Dort schwärmten die Passagiere der Touristenklasse aufs Deck, um zum Abschied zu winken und ihr Heimatland in der Ferne verschwinden zu sehen.

Abermals schaute die Frau zu Vee hinauf, und für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke. Dann wandte sich die Frau wieder dem Mann im schäbigen Mackintosh zu. Wieder wehten die Worte zu Vee hinauf. «Wo sie ist, gibt es einen Skandal, sie steht oft im Tatler. Aber ihre Cousine, Lady Claudia Vere, die sieht sympathisch aus mit ihrem blonden Haar und den großen blauen Augen. Ihr Bild ist immer in den Boulevardblättern.»

«Ja, und sie hat einen adeligen Bruder, der geistesgestört ist und am nächsten Laternenpfahl aufgeknüpft wird, wenn die Revolution erst da ist.»

«Ach, du und deine Revolution. Ich sage dir, es wird keine bolschewistische Revolution geben, und je eher du das kapierst, desto besser für dich. Dann hast du den Kopf wieder frei und hörst auf, darüber zu lamentieren.»

Vee wandte sich bestürzt ab. Die Worte der jungen Frau trafen sie ins Mark. Sie hatte Mitleid mit Jimmie, der sich noch immer Hoffnung machte. Wahrscheinlich würde er noch vor Ende des Jahres Uniform tragen, Seite an Seite mit seinen Genossen, so nah, dass er sich nach ein bisschen mehr Abstand sehnen würde. Keine Minute würde er mehr haben, um über Menschenrechte oder die Unterdrückung von Arbeitern nachzudenken.

Plötzlich herrschte Hektik unten am Kai; ein Automobil fuhr vor, und die Türen wurden geöffnet, noch bevor der Wagen stand. Drei Männer stiegen aus, ein Gepäckträger eilte herbei und lud Koffer aus, ein Beamter mit einem Klemmbrett in der Hand wies ihnen mit strenger Miene den Weg zum Zoll, während er gleichzeitig eine Uhr aus der Tasche zog.

Vee erstarrte, als sie neben einem Weidenkorb einen großen dunklen Mann im grauen Anzug erblickte. Seinen Namen kannte sie nicht, er war ihr niemals vorgestellt worden, aber sie hatte ihn bereits mehrfach gesehen, stets als schattenhaften, lauernden Beobachter. Im Park, als sie und Klaus … und vor ihrer Wohnung. Ein Mann mit hagerem Gesicht. Nicht besonders markant, dennoch hatte sie sich seine Züge eingeprägt. Sein Kleidungsstil war unauffällig, jemand, der in der Masse nicht auffallen wollte.

Sie verfiel in Panik. Wenn er an Bord kam, hätte sie keine Wahl.

Sie musste das Schiff verlassen. Etwas lief falsch. Sie sollte sich sofort auf den Weg machen, auf der Stelle, ihr Gepäck war egal, alles war egal. Sie würde den Zug nach London nehmen und dann weiter nach Schottland oder Irland fahren, irgendwohin …

Doch sie konnte nicht. Sie war der Verzweiflung nahe.

Aber kam er überhaupt an Bord? Er näherte sich dem Schiff mit keinem Schritt. Stattdessen suchten seine Augen die Decks ab, gezielt und systematisch. Sie trat zurück und versteckte sich hinter einem Pfeiler. Der Blick des Mannes verharrte kurz, wanderte dann weiter, kehrte wieder zurück. Doch er war nicht auf sie gerichtet. Schließlich hob er die Hand wie zu einem beiläufigen Gruß, drehte sich dann abrupt um und verschwand in der Menge.

Er hatte nicht nach ihr gesucht. Aber nach wem dann? Es musste jemand auf dem Deck unter ihr sein, weiter links. Sie beugte sich über die Reling, konnte aber nur Hüte sehen; alle blickten auf den Kai oder zu den Schleppern, die sich in die richtige Position zum Schiff brachten.

Eilig drängte sie sich an den anderen Passagieren vorbei. Beinahe wäre sie auf der steilen Treppe zum unteren Deck gestolpert. Es wimmelte dort von Menschen, die einen traurig, teilweise sogar in Tränen aufgelöst, die anderen heiter. Nach wem hatte der Mann gesucht? Sie erblickte jemanden, der wie Joel aussah. Was natürlich nicht sein konnte, Joel wäre der Letzte, der das College kurz vor Beginn des Trimesters aufgeben würde, um sich auf dem Seeweg abzusetzen.

Einige der Reisenden erkannten sie, denn sie tuschelten und musterten sie neugierig. Doch keiner war der Richtige, niemand konnte etwas mit dem Mann dort unten in der Menge zu tun haben.

Auf dem Kai brach Jubel aus, als Papierschnipsel von den Decks regneten und eine Gangway nach der anderen entfernt wurde. Die Passagiere riefen letzte Grüße an Land, das Schiff stieß eine Dampfwolke aus, ein schrilles Pfeifen war zu hören und anschließend ein Hupen aus dem Schornstein der SS Gloriana, das im Vergleich zu dem tiefen Ton der Schlepper seltsam dünn klang. Eine Kapelle begann zu spielen, Wimpel flatterten im Wind, von denen sich eine Reihe löste und in die See hinabsegelte.

Langsam entfernte sich das Schiff vom Anleger. Erst dreißig Zentimeter, dann ein Meter, bald fast fünfzig. Schließlich dampfte die Gloriana, begleitet von Schleppern, feierlich das graue Band der Themse hinab, vorbei an Speichern und Lagerhäusern. Aus kleinen Booten winkten die Leute herauf, immer wieder waren Hupen und Pfeifen zu hören; die Reise hatte begonnen.

Vee rührte sich nicht vom Fleck und starrte mit leerem Blick in die Ferne, während sie dicke, rostige Frachtkähne passierten, die über Winden mit Kisten und prallgefüllten Netzen beladen wurden. Geschäftige Betriebsamkeit.

Glückliche Leute.

Und sie wurde vom Unglück verfolgt?

Der Moment des Selbstmitleids verging, noch bevor er sie vollständig überwältigen konnte. Es war keine Frage von Glück, sondern von falsch getroffenen Entscheidungen. Aus Zorn, Launenhaftigkeit und Torheit hatte sie so gehandelt und dabei einen folgenschweren Fehler begangen. Auch wenn sie es gut gemeint hatte, hatte dieser Fehler zu einem weiteren geführt und danach zu noch anderen, bis sie sich in einer Situation befand, aus der es scheinbar keinen Ausweg mehr gab. Wo sie nur noch eine Marionette war und handelte, als würde sie an Fäden hängen, die von einem Puppenspieler gezogen wurden, der nicht mehr Interesse an ihr und ihrem Zorn und ihrem Elend hatte, als wenn sie tatsächlich eine bemalte Holzpuppe wäre.

Wenn sie nur …

Die «Wenns» in ihrem Leben reichten weit zurück. Wenn ihre Schwester Daisy nicht gestorben wäre. Wenn ihr Großvater nicht so ein Tyrann gewesen wäre.

Wenn …

Ihr Leben hätte anders verlaufen können. Wenn es möglich wäre, die Zeit zurückzudrehen, wenn sie die wundersame Chance hätte, die letzten Jahre noch einmal zu leben, gäbe es einen Ort auf der Welt, wo sie jetzt sicher nicht wäre, und das war dieses Schiff.

Da waren sie wieder, die grausamen Gedanken, die in ihrem Kopf herumschwirrten. Sie würde heute Nacht eine Tablette nehmen, damit sie wenigstens ein paar Stunden in einen tiefen, traumlosen Schlaf fiele, nach dem sie sich so sehr sehnte. Für eine kurze Zeit würden keine Träume durch den pharmazeutischen Schleier dringen können. Sie durfte die Pillen nicht vergessen.

Ein befreundeter Arzt hatte sie ihr verschrieben, wofür sie ihm sehr dankbar war.

«Du machst dir was vor, Vee», hatte er gesagt. «Das ist keine Lösung, und wenn dein Hausarzt sie dir nicht gibt, hat er wahrscheinlich seine Gründe.»

«Darling, der ist einfach zu altmodisch. Seiner Meinung nach schlafe ich nur aus einem Grund schlecht: weil ich eine junge Frau ohne Familie bin und meine raison d’être nicht erfülle.»

«Du kannst doch nichts dafür, dass du verwitwet bist.»

«Ich kann aber sehr wohl etwas dafür, dass ich eine wohlhabende junge Witwe bin, die nach einer angemessenen Zeit nicht wieder geheiratet hat. Das ist ein Affront gegen die natürliche Ordnung, der fast genauso schlimm ist wie Cynthia Lovelace’ Entscheidung, mit ihrer burschikosen Freundin, die Sport in Grandpot unterrichtet, nach Wales zu ziehen. Oder jene Frauen, die zur Universität gehen und Karriere machen, anstatt ihre Jungfräulichkeit und Unabhängigkeit am Altar einem heiratswilligen jungen Mann zu opfern. Deshalb gibt er mir keine Schlaftabletten.»

Vee musste an Mildred denken, die ihre eigenen Mittel gefunden hatte, mit den Ängsten und Zwängen des Lebens fertigzuwerden. «Probier es, liebes Kind, es ist unvergleichlich.»

Ohne Zweifel waren Leute an Bord, die sie kannte und die sich wie Mildred dieser Mittel bedienten. Die meisten von ihnen gehörten jedoch zu den reichen Müßiggängern und nicht zu jenem Teil der Menschheit, der jeden Tag zur Arbeit ging, Jimmie und Miss Samthut, die ihren Freund Sam zum Schiff begleitet hatten. Ihre Urlaubswoche verbrachten sie in Wales oder in einer Frühstückspension in Weymouth beim Wandern; den Luxus wochen- oder gar monatelanger Reisen in wärmere Gefilde, Indien oder Ägypten, während deren man sich bei Bedarf mit teuren bewusstseinserweiternden Substanzen aufheiterte, kannten sie nicht.

O ja, auf der Gloriana würden sich Freunde und Bekannte befinden, die in der ägyptischen Sonne überwinterten. Um diese Jahreszeit machten sich Mütter mit ihren Töchtern auf den Weg, die während des Sommers – oder während der letzten Sommer – nicht unter die Haube gekommen waren. Im fernen Süden in der auf sich fixierten britischen Gesellschaft ließ sich jener Partner, der in den Ballsälen von Mayfair oder den Gutshäusern von Shropshire und Gloucesteshire nicht aufzutreiben war, viel leichter finden.

Vee schritt langsam die breite verspiegelte Treppe hinab, die zu den unteren Decks führte. Sie erregte einige Aufmerksamkeit unter den Anwesenden; der junge Offizier, der mit einem Stapel Telegramme auf dem Weg zum Funkraum war; der Florist, der mit dem Arm voller Blumen in die andere Richtung lief; das Dienstmädchen, das zum Schönheitssalon geschickt worden war, um ihrer Hausherrin einige unerlässliche Cremes zu besorgen; Passagiere auf der Suche nach ihren Kabinen – sie alle nahmen Vees besondere Ausstrahlung wahr, einige nur flüchtig und im Vorbeigehen, andere jedoch blickten ihr bewundernd oder neidvoll nach.

Vee bemerkte weder ihre Umgebung noch die anderen Menschen. Ihre Gabe, Aufmerksamkeit zu erregen und nicht zuletzt Gefühle und Sehnsüchte in anderen zu wecken, war für sie nichts Neues und interessierte sie nicht mehr.

Eine Stewardess erwartete sie am Ende des Ganges. «Mrs. Hotspur? Kabine siebenundsechzig? Zu Ihrer Linken, ich bringe Sie hin. Reisen Sie mit Ihrem Dienstmädchen?»

Nein, das tat sie nicht. Ein Lächeln, ein kleines Trinkgeld, und diese unbeholfene, aber freundlich aussehende Frau würde bis zum Ende der Reise ihre Sklavin sein. Ein Dienstmädchen! Das war das Letzte, was sie jetzt brauchte.

Die Stewardess führte sie in eine recht geräumige Einzelkabine mit einem Toilettentisch, maßgenau eingepassten Schränken und Regalen. Es war eine Außenkabine mit einem rechteckigen Fenster, das auf ein abgeschlossenes Deck hinausging. Spaziergänger oder Schaulustige waren hier nicht erlaubt. Dieser Bereich war den auserwählten Gästen der Kabinen fünfundsechzig bis siebenundsechzig vorbehalten. Ihr mit einem großen runden «H» markiertes Gepäck war bereits in ihre Kabine gebracht worden, «H» für «Hotspur», Passagierin der ersten Klasse nach Bombay.

Sie setzte sich an den Toilettentisch, nahm ihren scharlachroten Hut ab und warf ihn achtlos auf die Glasplatte. Die Stewardess, die im Türrahmen wartete, trat vor und nahm ihn auf. Vee schenkte ihr ein Lächeln. «Wie heißen Sie?»

«Pigeon, Madam.»

«Danke, Pigeon.»

«Soll ich jetzt für Sie auspacken, Madam?»

«Später, wenn es Ihnen nichts ausmacht.»

Pigeon ging noch immer nicht. «Wir hatten eigentlich einen Mr. Howard in dieser Kabine erwartet.»

«Ich habe in letzter Minute gebucht, jemand anders hatte kurzfristig abgesagt.»

Es war riskant gewesen, so lange mit ihrer Buchung zu warten, aber der Mann in der Reederei hatte ihr anvertraut, dass meistens in letzter Minute noch eine Kabine frei würde. Dem Unternehmen war das egal, da es immer eine Warteliste gab, insbesondere für ein Schiff wie die SS Gloriana und zu dieser Jahreszeit.

Ein Lächeln, ein Geldschein, und schon stand Mrs. Hotspur auf der Warteliste ganz oben. Was wohl mit Mr. Howard geschehen war, überlegte sie. War er ein älterer Herr, der einen Schlaganfall erlitten hatte? Ein wohlhabender Geschäftsmann, dem dringende Aufträge dazwischengekommen waren? Zweifelsohne war er vermögend, wenn er in einer solchen Kabine reiste. Ein in Ungnade gefallener junger Mann, der von seiner Familie in den Osten geschickt wurde? Wurden junge Männer immer noch nach Indien geschickt, um sie aus dem Weg zu schaffen? Was wäre, wenn ihre Eltern Hugh nach Indien geschickt hätten? Nein, sie wollte nicht über Hugh nachdenken. Die Liste der Personen und Dinge, über die sie nicht nachdenken wollte, war beängstigend lang. Zurück zu Mr. Howard. «Womöglich war er ein Familienvater, der ein neues Leben beginnen wollte», sagte sie laut.

«Verzeihung, Madam?», fragte Pigeon erstaunt.

Vee lachte. «Ach nichts. Ich habe nur laut gedacht.» Sie stand auf und strich ihren schmal geschnittenen Rock glatt. «Ich werde mich ein wenig an Bord umsehen, damit Sie meine Sachen auspacken können, während ich fort bin. In dem großen Koffer, der auf der Seite liegt, ist ein bordeauxrotes Kleid. Das ziehe ich heute Abend an.»

«Am besten gehen Sie in den Speisesaal und sichern sich einen guten Platz im zweiten Durchgang», empfahl Pigeon, während sie sich nach dem Koffer bückte.

Der Chefsteward, so mutmaßte Pigeon, während sie die Hand nach dem Kofferschlüssel ausstreckte, würde nur einen Blick auf Mrs. Hotspur werfen müssen, um dieser eleganten Frau und wahren Lady jeden Wunsch bezüglich des Sitzplatzes zu erfüllen. Sicher würde sie nicht am Tisch des Kapitäns sitzen wollen, überlegte Pigeon, die ihre Passagiere gut einschätzen zu können glaubte. Für eine so weltgewandte und lebhafte junge Dame wäre das allzu langweilig. Sie war sich sicher, ihr Bild mehr als einmal im Tatler gesehen zu haben. Passagiere aus gehobenen gesellschaftlichen Schichten waren ihr wesentlich lieber als das Gesindel, das heutzutage die großen Schiffe bevölkerte.

Zwei

Peter Messenger liebte die Reisen auf einem Ozeandampfer mit der typischen Begeisterungsfähigkeit eines Zehnjährigen. Er genoss es, mit der Hafenbahn bis zum Kai zu fahren, wo die riesigen glänzend weißen Schiffe mit unglaublich dicken Trossen, die weit in den Bug hineinreichten, festgemacht waren. Er mochte den salzigen, öligen Geruch, die Möwen, das finstere Zollgebäude und die gekennzeichneten Kisten und Koffer, die stapelweise darauf warteten, an Bord gebracht zu werden. Einige verschwanden im Laderaum, dem ominösen Bauch des Schiffes. Andere wurden in die Kabinen getragen, wo der Steward sie auspackte und bis zum Ende der Reise verstaute, was in diesem Fall erst in drei Wochen sein würde.

Bei seiner ersten Reise war er von der Größe des Schiffes und der Vorstellung, dass etwas so Schweres schwimmen konnte, ohne zu sinken, überwältigt gewesen. Dieses Mal jedoch war er die Gangway der SS Gloriana forschen Schrittes vor seiner Stiefmutter Lally und dieser Miss Tyrell, die hintendreinlief, hinaufmarschiert.

Miss Tyrell warf den einzigen Schatten auf seine gute Laune. Was hatte seine Mutter geritten, sie anzustellen?

«Darling, ich habe sie nicht angestellt. Sie ist ohnehin auf dem Weg nach Indien, um sich um ihren Bruder und ihre Neffen und Nichten zu kümmern. Ihre Schwägerin ist vor kurzem tragischerweise an einer tropischen Krankheit gestorben.»

Peter wünschte, Miss Tyrell würde auch von einer tropischen Krankheit heimgesucht, jetzt sofort, noch bevor sie an Bord gingen. «Sie ist ein Kindermädchen.»

«Nicht mehr, und sie kümmert sich genauso um mich wie um dich. Um meine Kleider und solche Dinge. Ich nehme kein eigenes Dienstmädchen mit, denn dein Vater meint, englisches Personal mache in Indien nur Probleme, weil es sich nicht anpassen könne. Miss Tyrell dagegen wird sehr hilfreich für uns sein, und ich bin mir sicher, dass du sie bald sehr gern haben wirst.»

«Ich bin viel zu alt für ein Kindermädchen.»

«Du bist aber nicht zu alt für eine besondere Fürsorge, nachdem du so krank gewesen bist, Liebling. Und wenn ich mal nicht da bin, ist es für mich gut zu wissen, dass Miss Tyrell ein Auge auf dich hat.»

«Warum solltest du mal nicht da sein?»

«Nun, an Bord gibt es ein gesellschaftliches Leben, wie du weißt. Bridge und Spiele und abends Tanzveranstaltungen. Da will ich mir um dich nicht immer Sorgen machen müssen.»

«Ich kann auf mich selbst aufpassen.»

«Selbstverständlich kannst du das. Du bist der Mann in der Familie, wenn Daddy nicht da ist, aber dennoch sind wir froh, dass wir Miss Tyrell haben. Ich glaube nicht, dass es mit ihr Probleme geben wird. Mir kommt sie sehr vernünftig und bodenständig vor.»

 

Lally behielt ihre Zweifel für sich. Miss Tyrell war ihr, auch wenn sie es Peter gegenüber nicht zugeben würde, aufgedrängt worden. Claudias Schwägerin hatte sie angerufen.

«Mrs. Messenger? Hier spricht Monica Sake. Wir sind uns schon einmal in London begegnet, als Sie bei Claudia zu Besuch waren, aber wahrscheinlich erinnern Sie sich nicht an mich.»

«Doch, natürlich …»

«Agnes hat mir erzählt, dass Sie nach Indien fahren …»

Lally bekam Beklemmungen, wie immer, wenn von ihrer Schwiegermutter die Rede war.

«… auf der Gloriana

«Ja.»

«Dann hätte ich es gern, dass Sie unser altes Kindermädchen mitnehmen.»

Ein klappriges Familienrelikt tauchte vor Lallys geistigem Auge auf. «O nein, wirklich, ich glaube nicht …» Was wollte deren altes Kindermädchen überhaupt in Indien?

«Wir sind untröstlich, sie zu verlieren, sie ist das beste Kindermädchen, das man sich vorstellen kann, und ist in der Familie, seit sie ein ganz junges Mädchen war. Sie ist bereits das Kindermädchen meines Mannes gewesen. Und Claudias natürlich auch, sie war für sie alle da.»

Monica Sake war Lucius’ Frau, die Gräfin von Sake, so einfach. Das Kindermädchen, das Lady Sake ihr unterschieben wollte, hatte auf Claudia aufgepasst und auf Lucius, und der war laut Claudia und Vee – welches Wort hatte sie noch benutzt? Geistesgestört.

Monica redete weiter. «Wir haben versucht, sie zum Bleiben zu überreden. Aber die Frau ihres Bruders, der in Indien lebt, ist vor einer Weile an irgendeiner exotischen Krankheit gestorben, und Miss Tyrell meint es ihrem Bruder schuldig zu sein, dass sie ihm nun den Haushalt führt. Für uns kommt es sehr ungelegen, da sie sich eigentlich um Henriettas Baby kümmern sollte. Aber man muss sie wohl ziehen lassen, wenn sie es für richtig hält.»

Langsam begann sich Lally für die unbekannte Miss Tyrell zu erwärmen.

«Sie möchte ihre Reise abarbeiten, und sie ist ohnehin eine bescheidene Person. Ich habe gehört, dass Sie Ihren Stiefsohn mitnehmen – er kränkelt, wenn ich recht informiert bin, und kann noch nicht wieder in die Schule gehen? Dann ist sie genau richtig für Sie und kann Ihnen den Jungen abnehmen. Wer will sich an Bord schon mit einem Kind in diesem Alter herumschlagen. Oder nehmen Sie ein eigenes Mädchen für ihn mit?»

«Hm, nein.»

«Oder jemanden für sich selbst?»

«Nein.»

«Sie wird sich auch gern um Sie kümmern. Sie ist sehr tüchtig und wird Ihnen eine große Hilfe sein. Das wäre also geregelt.»

Damit war die Sache besiegelt, ob Lally wollte oder nicht. Sie hatte Henry noch immer nicht erzählt, dass sie Peter mitnehmen wollte, und hoffte, dass er es nicht von einem seiner aufdringlichen Familienmitglieder erfuhr, die ihm in jeder freien Minute schrieben. Zum Glück las Henry selten private Briefe.

«Mit geschäftlicher Korrespondenz hat man genug zu tun. Mehr kann ein Mann nicht gebrauchen», hatte er einmal behauptet, als er einen unendlich langen Brief von seiner Mutter öffnete, ihn kurz überflog und ihn dann zusammengeknüllt in den Papierkorb warf.

 

Miss Tyrell war nicht zum ersten Mal auf einem Schiff. Bereits mehrfach hatte sie den Atlantik überquert, hatte die Familie nach Hongkong begleitet – ein sehr seltsames Land –, und sie war auch schon sechs Monate in Bombay gewesen. Indien gefiel ihr. Sie mochte die Hitze, die Menschen und die Lebendigkeit, die von dem Land ausging, auch wenn man die schockierende Armut und die mageren Tiere nicht ganz ausblenden konnten.

Sie war froh, diese Reise abarbeiten zu können und nicht dafür bezahlen zu müssen. Vor allem war sie auf diese Weise in der ersten Klasse untergebracht, woran sie sich in den letzten Jahren gewöhnt hatte. Allein hätte sie sich in der Touristenklasse einbuchen müssen, wo man sich irgendwo unten im Bauch des Schiffes eine Kabine mit Menschen aus niederen Schichten teilen musste, mit denen sie sonst keinen Umgang pflegte. Was sie von dieser Mrs. Messenger halten sollte, wusste sie allerdings noch nicht recht. Lady Sake hatte in jenem mitleidigen Ton von ihr gesprochen, in dem ihre Arbeitgeberin sonst über Schwachsinnige, Krüppel oder soziale Außenseiter redete.

«Henry ist einer von uns, da besteht kein Zweifel, die Messengers sind eine ganz alte Familie. Lally, wie sie genannt wird, ich glaube, sie heißt eigentlich Lavender, hingegen steht auf einem anderen Blatt. Sie ist Amerikanerin, was schon mal eine andere Welt ist, finden Sie nicht? Eigensinnig würde ich sagen, wenn ich so über sie nachdenke. Allerdings braucht man einen starken Charakter, um mit Henry zurechtzukommen. Ich kenne keinen anderen Mann, der so viel Energie hat wie er. Ihr Vater ist Politiker, ausgerechnet in Chicago. Bevor er in den Senat gewählt worden ist, war er Arzt, irischer Abstammung, natürlich, sie hieß ja früher Fitzpatrick. Und sie ist katholisch. Macht Ihnen das etwas aus?»

Miss Tyrell, die selbst nicht religiös war und die anglikanische Kirche nur wegen ihrer Arbeitgeber besuchte, verneinte. Ihr Ton veranlasste Lady Sake, kurz zu überlegen, ob sie das Thema lieber nicht hätte anschneiden sollen.

«Ich hoffe, Sie werden nicht seekrank, Miss Tyrell. Im Golf von Biskaya kann es um diese Jahreszeit ganz schön stürmisch werden.»

Seekrank? Sie doch nicht. Als die SS Gloriana eine vermeintlich unruhige Nacht durchmachte, hatte sie keinerlei Probleme. Peter jedoch gab sie ein Mittel, falls es in seinem Magen zu rumoren beginnen sollte. Zudem wirkte es stärkend, was bei genesenden Kindern besonders wichtig war. Er war ein unruhiger Junge, das sah sie auf den ersten Blick. Natürlich konnte das auch mit seiner langen Krankheit zu tun haben. Und Mrs. Messenger? Sie tat Miss Tyrell leid. Sie konnte es kaum ertragen, eine junge Frau zu sehen, die so müde und besorgt aussah. Das Kind war in Gefahr gewesen, ja, aber jetzt ging es ihm wieder besser, und er war ihr Stiefsohn, nicht ihr eigener. Vielleicht lag genau dort das Problem. Aber sie war auf dem Weg nach Indien zu ihrem Mann. Sie sollte sich freuen und nicht grämen.

Doch auch die See bekam ihr nicht gut.

«Peter, geh bitte, Mami fühlt sich nicht gut und ist nicht zu einem Schwätzchen aufgelegt.»

«Ich habe ihr nur von einigen Leuten erzählt, die sie an Bord kennt, mehr nicht.» Doch Miss Tyrell brauchte ihn nicht von seiner Mutter fernzuhalten, er verstand von selbst. «Sie ist seekrank», sagte er verächtlich.

Drei

Perdita Richardson sah sich in ihrer engen Kabine um. Das Bullauge gefiel ihr, da es dem Raum ein nautisches Ambiente verlieh; wenn man schon auf eine Seereise geschickt wurde, sollte man sich auch wie auf einem Schiff fühlen und nicht wie in einem schwimmenden Hotel. Letztes Jahr hatte sie ihre Freundin Tish und deren frischangetrauten Ehemann verabschiedet, als sie zu ihrer Hochzeitsreise aufgebrochen waren. Sie waren auf dem Weg zu der Familie ihres Mannes in New England gewesen und hatten auf der Queen Mary ein wahres Prunkzimmer gehabt. Damals war Perdita enttäuscht, wie langweilig es aussah. Vornehm zwar, aber es hätte auch sonst wo sein können.

Hier dagegen hatte man keinen Zweifel daran, dass man sich auf einem Schiff befand; eingepasste Schränke unter der Schlafkoje, alles hatte seinen Platz. Sie nahm den legeren braunen Filzhut ab, den sie daheim auf die Schnelle aufgesetzt hatte, und schüttelte kräftig ihr lockiges widerspenstiges Haar. Manchmal frisierte sie es mit einer Unmenge Haarnadeln und viel Pomade. Normalerweise jedoch ließ sie es offen; das war einer der Vorteile, die man als Musikstudentin hatte: Um sein Aussehen musste man sich nicht kümmern. Die meisten ihrer Kommilitonen auf der Royal Academy of Music waren jung, hatten wenig Geld und Besseres im Sinn, als sich um banale Dinge wie edle Kleidung und eine schöne Frisur zu kümmern.

Sie hatte versucht, ihre dicken Locken kurz zu schneiden, doch damit fühlte sie sich wie eines der wiederkäuenden Schafe aus dem Westmoreland, wo sie herkam, und langes Haar konnte sie zumindest hochstecken, falls sie doch einmal eleganter aussehen wollte. Sie wühlte in ihrer Tasche nach einer Bürste und versuchte die wilde Mähne ein wenig zu bändigen. Viel half es nicht, aber wenigstens hatte sie sich bemüht.

Kein Abendkleid am ersten Abend, das wusste jeder. Was sollte sie also anziehen? Auch wenn die kleine Kabine und ihr zotteliges Haar den Anschein erwecken mochten, Perdita war keine arme Studentin; sie war ganz und gar nicht arm. Ihre Familie war wohlhabend, und sie verfügte über eigenes Geld; sie hätte sich so viele Kleider kaufen können, wie sie wollte. Aber da sie so groß und dünn war, fand sie in den Geschäften selten etwas, was ihr passte, und endlose Anproben beim Schneider gingen ihr gegen den Strich, wie sie es formulierte. Folglich war ihre Garderobe eine eigenwillige Mischung aus dem, was sie bequem fand und was ihr mit ihren langen Beinen passte, darunter einige Herrenhosen. Auf der Akademie machte sich niemand etwas daraus, aber als sie jetzt den Koffer öffnete, fragte sie sich, ob ihre Kleidung für diese Reise wirklich angemessen war.

Viele hier sind bestimmt unheimlich vornehm, dachte sie bei sich. Nun, die müssen sich mit ihrer eigenen Vornehmheit zufriedengeben; wie ich aussehe, soll ihnen egal sein. Sie nahm ihr grünes Lieblingskleid, schüttelte es aus und öffnete den schmalen Schrank auf der Suche nach einem Bügel.

Plötzlich tauchte im Türrahmen eine kleine, verkniffene Frau in Uniform auf. Sie warf einen verächtlichen Blick auf den geöffneten Koffer und betrat die Kabine, worauf Perdita zurückwich, bis sie das Waschbecken im Rücken hatte und das grüne Kleid wie einen Schutzschild vor sich hielt.

«Ich packe für Sie aus, Miss. Ich bin Ihre Stewardess. Mein Name ist Merkin.»

«Danke, aber das schaffe ich schon selbst.»

Merkin reagierte nicht darauf. «Sie gehen derweil in den Speisesaal und tragen sich für den zweiten Durchgang ein. Nicht für den ersten, der ist für Familien mit Kindern und Leute, die keinen Wert auf gesellschaftliches Leben legen. Meine Passagiere speisen immer beim ‹Second Sitting›.»

Merkin ließ Perdita keine Wahl, und kurze Zeit später stand sie auf dem Gang und folgte den Pfeilen zum G-Deck.

«Eine halbe Stunde nach dem Ablegen ist Bootsmanöver», rief die Stewardess ihr nach. «Sie müssen sich am Sammelplatz dreiundzwanzig einfinden und die Rettungsweste dabeihaben.»

Bootsmanöver? Rettungsweste? Perdita war zum ersten Mal auf einem Schiff und hatte keine Ahnung von all diesen Dingen. Ruhig bleiben, irgendjemand würde ihr schon erklären, wo sie sich einzufinden hatte und was zu tun war. Meistens halfen die Leute gern, besonders wenn es sich um etwas so beeindruckend Klingendes wie ein Bootsmanöver handelte. Sie fühlte sich an den Probealarm in der Schule erinnert, allerdings blieb zu hoffen, dass man hier nicht im strömenden Regen mitten in der Nacht Leitern hinunterklettern musste.

Eine plötzliche Müdigkeit überkam sie, die sie verunsicherte, da sie ohnehin noch schwach war. Es gehe ihr gut, sie sei vollkommen genesen, behaupteten alle, sie brauche nur etwas Zeit, um wieder zu Kräften zu kommen. Deshalb war sie hier auf dieser Schiffsreise. Sie sollte sich einen Monat bei Freunden in Delhi erholen; es würde ihr außerordentlich guttun, hatten die Ärzte ihr versichert. Sie selbst wollte nicht fort, und es reizte sie bis heute nicht. Indien interessierte sie nicht, und die Freunde in Delhi waren die ihres Großvaters, nicht ihre. Sie wollte nicht in einem fremden Land unter Fremden sein.

Doch Grandpa war begeistert von der Idee gewesen, und da es ihm gesundheitlich selbst nicht so gutging, hatte sie ihn nicht enttäuschen wollen; es wäre ihr respektlos und unhöflich vorgekommen, sein großzügiges Angebot auszuschlagen, die Schiffspassage und alle anfallenden Kosten zu übernehmen.

Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob ihm nicht ihrer Krankheit wegen so viel an der Reise lag, sondern wegen des bevorstehenden Krieges. Wenn er bald ausbräche, säße sie womöglich bis zu seinem Ende in Indien fest. Was in Grandpas Sinne sein mochte, in ihrem hingegen ganz und gar nicht. Was würde in Indien aus ihrer Musik werden? Außerdem wollte sie, wenn Krieg herrschte, dort sein, wo sie hingehörte, in England und nicht weit entfernt von dem Schrecken und den Bomben auf irgendeiner fremden Veranda. Der letzte Krieg hatte vier Jahre gedauert; sie konnte sich nicht vorstellen, Westmoreland vier ganze Jahre nicht zu sehen.

Nein, um ehrlich zu sein, hätte Grandpa sie nach Amerika geschickt, wenn er um ihre Sicherheit besorgt gewesen wäre und gewollt hätte, dass sie England rechtzeitig verlässt. Er zweifelte zwar nicht daran, dass der Krieg kam, war aber offensichtlich überzeugt, dass bis dahin noch einige Monate Zeit wären.

Ihre Freunde redeten nicht gern über den Krieg, doch wer davon sprach, hielt ihn letztendlich für unerlässlich, um gegen Hitler und die Nazis vorzugehen. Zynische Neuankömmlinge aus Österreich und Deutschland, jüdische Flüchtlinge mit so viel Musik im Blut, dass die englischen Studenten aufseufzten und jegliche Hoffnung verloren, behaupteten, Großbritannien und Frankreich würden weder für die Tschechoslowakei noch für irgendjemand anderen kämpfen, das seien alles bloß leere Worte. Hitler habe bekommen, was er wollte, und bekäme immer, was er wolle. Und was er nicht wolle, sei Krieg mit England.

Perdita kehrte ins Hier und Jetzt zurück und zu ihrer Musik. Zunächst einmal musste sie ein Klavier finden. An Bord gab es mehrere; diese eine Bedingung hatte sie gestellt. «Grandpa, ich kann unmöglich auf Reisen gehen, wenn ich nicht arbeiten kann. Ich bin bereits vollkommen aus der Übung, und wenn ich noch länger nicht spiele, sind die Folgen katastrophal. Ich fahre nur, wenn es auf dem Schiff ein Klavier gibt und deine Freunde ein halbwegs brauchbares Instrument haben, auf dem ich üben kann.» Wurden Klaviere nicht mit Vorliebe von Riesenameisen durchfressen, und verstimmten sie nicht dauernd in der feuchtwarmen Luft des unbekannten Ostens?

Die Freunde besaßen tatsächlich ein Klavier, ein gutes, wie sie ihr in einem sehr förmlichen Brief mitgeteilt hatten. Wahrscheinlich war es nicht von Ameisen durchfressen. Und Großvater hatte mit dem Präsidenten der Reederei gesprochen, der natürlich ein alter Kamerad von ihm war. Ihm war versichert worden, dass Perdita jederzeit in einem der Salons würde üben können.

Perdita wusste, wie es sich mit dem jederzeit Üben verhielt. Es bedeutete, wenn niemand sonst da war; nun, damit konnte sie leben. Seit ihrer Krankheit war sie bedauerlicherweise zur Frühaufsteherin geworden. Doch wenn sie sich am Morgen ein oder zwei Stunden an das Instrument setzte, könnte sie ungestört sein, und umgekehrt würde sich niemand durch stundenlange Tonleitern und Arpeggien belästigt fühlen. Ohne noch an ihren Dinnereintrag im Speisesaal zu denken, machte sie sich auf die Suche nach einem Klavier.

Vier

Vee hielt ein weißes, rundes Döschen in der Hand und zögerte. Dann nahm sie den Deckel ab und schüttelte zwei Tabletten in ihre Hand.

Seit kurzem hatte die Einnahme dieser Tabletten eine seltsame Wirkung auf sie. Aus unerfindlichen Gründen durchlebte sie dann im Schlaf Szenen aus ihrem Leben noch einmal in äußerster Klarheit. Träume waren es nicht, denn alles, was sie vor ihrem geistigen Auge sah, war wirklich geschehen. Wie ein Film lief die Vergangenheit vor ihr ab.

Wenn sie dann am nächsten Morgen aufwachte, müde und mit schwerem Kopf von dem Alkohol, mit dem sie die Tabletten hinunterspülte, konnte sie sich nur noch an Bruchteile dieser Szenen aus ihrem früheren Leben erinnern. Die Gefühle und Bilder, die sie in ihrem Kopf hinterließen, verfolgten sie jedoch noch während des ganzen Tages, bis sie am Abend wieder einigermaßen klar denken konnte, bevor sie sich abermals mit einem Drink und der Gesellschaft anderer Menschen betäubte. Doch sie trank niemals maßlos. Das Risiko, die Kontrolle zu verlieren, konnte sie sich nicht leisten. Alkohol war für sie lediglich eine Krücke. Die Schuldgefühle und Probleme, von denen sie nur zu gern befreit wäre, löschte er keinesfalls aus.

Während der letzten Monate war sie immer wieder versucht gewesen, Mildreds Methode, sich die Welt vom Leibe zu halten, auszuprobieren, doch sie wusste, dass sie ihre Probleme auch nicht lösen würde. Sie wollte nicht noch empfindsamer werden, als sie ohnehin schon war. Am liebsten würde sie überhaupt nichts mehr fühlen.

Im Schlaf ihre Vergangenheit zu durchleben war allerdings immer noch besser, als wieder von Albträumen gequält zu werden.

Sie setzte sich und bürstete ihr Haar mit langen festen Strichen, um ihre Angst zu besänftigen. Dann legte sie sich zwischen die steifen Laken, die nach Bügelstärke rochen. Das Licht ließ sie brennen; eine blauleuchtende Nachtlampe. Wie in einem Zug, dachte sie benommen, da die Tabletten bereits zu wirken begannen. Gute Nacht, sagte sie zu sich selbst und schloss die Augen. Schlechte Nacht wäre passender gewesen.