Sina Trinkwalder
Im nächsten Leben ist zu spät
Ärmel hochkrempeln, Probleme lösen, glücklich sein
Knaur e-books
Sina Trinkwalder, Jahrgang 1978, studierte Politik und Betriebswirtschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Nach erfolgreichem Abbruch arbeitete sie über zehn Jahre als Geschäftsführerin ihrer eigenen Werbeagentur. 2010 wechselte sie die Seiten und gründete das erste textile Social Business in Deutschland: manomama. In dieser Kleidermanufaktur werden von ehemals arbeitslosen Näher/innen innerhalb einer regionalen Wertschöpungskette ökosoziale Bekleidung und Accessoires produziert.
Für ihr ökologisches und soziales Engagement wurde Sina Trinkwalder mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem ist sie vom Rat für Nachhaltigkeit der Bundesregierung zum »Social Entrepreneur der Nachhaltigkeit 2011« ausgezeichnet worden und erhält 2015 das Bundesverdienstkreuz.
Von ihr sind erschienen: Wunder muss man selber machen undFairarscht. Wie Wirtschaft und Handel die Kunden für dumm verkaufen.
© 2017/2021 der eBook-Ausgabe Knaur eBook
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Nadine Lipp
Covergestaltung: total italic, Thierry Wijnberg
Coverabbildung: Shutterstock.com / Olga_Angelloz
ISBN 978-3-426-45087-1
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Wir freuen uns auf Sie!
Für meinen Matjes.
Für Hendrik.
Montag. Wieder ein Montag. Der Tag in der Woche, der nicht den besten Ruf genießt. Genau genommen kann der Tag nichts für sein schlechtes Image. Wir aber sind es gewohnt, stets für Unangenehmes einen Schuldigen zu finden, und passen auf, möglichst selbst nicht schuldig zu sein.
Dieser Wochenbeginn erschien mir daher umso geeigneter, um mit ihm zu machen, was ich mittlerweile für absolut notwendig erachte und vor wenigen Jahren für völlig überflüssig hielt: einen Tag nach allen Regeln der Kunst zu verbummeln. Und dazu auch noch: einen Montag!
Faul sein. Nichts tun. Rein gar nichts. Denken vielleicht. Sicherlich aber: atmen. Dazu hatte ich mir einen der schönsten Flecken Erde ausgesucht: einen alten, rostigen Drahtsessel. Er stand auf der grau-weiß gefliesten Terrasse meiner Gasteltern Uli und Alice, inmitten ligurischer Hügel, unter drei Orangenbäumen. Im Stehen sah ich nur Blätter und fast reife Früchte, im Sitzen jedoch offenbarte sich der Anblick, den es für mich braucht, um mich freiwillig dem Dolcefarniente zu widmen: das Meer. Mein geliebtes Wasser. Und dazu ein Glas eisgekühlter Wein.
Zugegebenermaßen war es nicht ganz »freiwillig«, dass ich einen Hangover-Tag einschob. Ein klitzekleines bisschen zwang mich auch mein heftiger Muskelkater dazu. Am Vortag war ich knapp siebzehn Kilometer runter nach Imperia und wieder rauf gelaufen. Nach vierwöchiger Joggingpause.
Ich nippte an dem Glas, blinzelte in die Sonne und fing an zu kichern. Grund dafür war der Gedanke, dass ich noch vor einem Jahr Bewegung im Allgemeinen und das Laufen im Speziellen für »völlig bescheuert«, vergeudete Kraft und nur etwas für Menschen mit zu viel Tagesfreizeit hielt. Leidenschaftlich Rennrad fahren? Absolut undenkbar! Und heute? Heute werde ich ungemütlich, wenn meine geliebten Laufschuhe nicht täglich Frischluft bekommen. Oder wenn ich nicht wenigstens hin und wieder eines meiner Räder ausführe.
Die obligatorische Erkältung dank des zähen bayerischen Winters hat mich lange aussetzen lassen, und so war es geradezu vorhersehbar, dass ich beim erneuten ersten Lauf nicht nur alles geben würde, sondern auch hart im Nehmen sein müsste. Schließlich habe ich mir die Strecke vorgenommen. Und, wie immer, würde ich durchziehen, was ich mir vornahm.
»Hat sich nicht geändert«, murmelte ich vor mich hin. »Dein elender Dickschädel!« Dann jedoch kam ich ins Grübeln: Alles andere aber hat sich verändert. Außer meinem sturen Kopf war alles, äußerlich wie innerlich, Vergangenheit. Die Sina von früher gab es nicht mehr. Oder, richtig formuliert: Die dicke, schreiende Karrierefrau mit dem eisernen Willen, die zufälligerweise denselben Namen trug wie ich, existierte nicht mehr.
Den Grund dafür verstanden nur die wenigsten in meinem Umfeld. »Was willst du ändern? Du bist unterm Kronleuchter geboren«, bekam ich stets zu hören. Oder aber: »Erfolgreiche Firmen, tolle Familie, schöne Urlaube, top of the top! Du lebst das, was wir alle noch erreichen möchten!«
Niemand sah, dass ich unglücklich war. Am wenigsten erkannte dies die dicke, schreiende Frau selbst. Die nämlich war im Grunde zufrieden mit dem, was sie hatte. Nur nicht mit dem, was sie war. »Vielleicht bin ich überhaupt nicht, wer ich bin!«, dachte ich mir. Und weiter: »Wenn ich nicht die bin, die ich lebe, wer bin ich dann?«
Viel bedrückender als die Erkenntnis, selbst nicht zu wissen, wer man ist, war die Tatsache, mit niemandem darüber sprechen zu können. Der einzig wirklich Vertraute, mein Ex-Mann, war einige Monate vorher aus der gemeinsamen Wohnung und somit aus meinem Leben gezogen. Und bei allen anderen mehr oder weniger engen Freunden, die nach einer sauberen Karriere noch übrig geblieben waren, wäre meiner Krise in Zeiten des allgegenwärtigen Achtsamkeitsmarketings und nach Blockbustern wie »Eat, Pray, Love« sicherlich mit dem gut gemeinten Ratschlag begegnet worden, es doch mal mit dem Ausmalen von Mandalas zu versuchen. Auch wenn ich eine große Unsicherheit verspürte, war ich in einem absolut sicher: Es ging mir nicht darum, Sinn in meinem Leben zu finden. Ich musste mein Leben finden. Nicht das der dicken, schreienden Frau. Sondern das von Sina. Meines. Um mich zu finden. Denn im nächsten Leben wäre es zu spät.
Zwei Jahre lang dauerte meine Reise zu mir selbst. Vierundzwanzig lange Monate benötigte meine doppelte Häutung, die ich still und leise neben meinem Alltag voller Verpflichtungen als Mutter und mit dem proppenvollen Terminkalender einer engagierten Unternehmerin vollzog. Verabschiedete ich mich einst bereits gedanklich vom Erfolg und von meiner Karriere, sind beide heute steter denn je. Meine Kraft hat sich verdoppelt, und der Spaß am Machen ist ungebrochen. Heute bin ich zufrieden mit dem, was ich bin. Denn heute weiß ich, wer ich bin. Und, vor allem, was ich bin: glücklich.
Glücklich sein kann jeder, wenn er dort beginnt, wo das Glück seinen Ursprung hat: beim Suchen und Finden seiner selbst. Es ist einfach, aber es wird nicht leicht. Am Ende wartet jemand auf dich, den du lieben wirst: du selbst. Also Ärmel hoch, Probleme lösen und glücklich sein. Denn: Im nächsten Leben ist zu spät.
Es gibt nur einen Grund,
der das Unglücklichsein erklärt:
man selbst.
1
Es gibt sie, diese seltenen Sonnenkinder, die beim Chinesen um die Ecke lieber eine Extraportion Krabbenchips futtern, als einen Glückskeks zu knacken. Sie lassen ihn abgeklärt links liegen. Und dann gibt es die anderen: Sie entfernen vorsichtig die Plastikfolie und spielen bereits beim Aufbrechen des morschen Teigs mit dem Gedanken, dieser eine kleine Satz auf dem Papierfetzen würde diesmal bestimmt die Kraft besitzen, etwas Unveränderliches zu verändern.
Die Sonnenkinder hingegen brauchen das Glückskeks-Lotto nicht. Augenscheinlich fliegt ihnen alles zu, jede Hürde nehmen sie mit Leichtigkeit und Anlauf in ungeahnte Höhen. Oben angekommen, zücken sie die Sonnenbrille, fahren sich galant durchs Haar und fliegen einfach weiter, während am Boden immer mehr Augen, neidische wie anerkennende, ihre Kunststücke begleiten. Sie sind immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort, ergreifen jede Chance, und bietet sich ihnen einmal keine, schaffen sie sich eine. Sie haben ein Gelinggarantie-Dauerabo und scheinen in frühester Kindheit in den Talente- und Zauberkrafttrunkkessel gefallen zu sein. Sie sind beruflich wie privat sehr erfolgreich, kennen die Lösung bei jedem Problem und laufen mit einer bewundernswerten Gelassenheit durchs Leben. Das Ganze geschieht vom frühen Morgen bis in den späten Abend mit einer außerordentlich guten Laune. Kurz: Sie sind eklig. Widerlich. Sie sind, wie wir sein wollen. Wie jeder sein möchte. Wie ich sein wollte.
Ich war es aber nicht. Ich war diejenige, die ihren Glückskeks öffnete und, unzufrieden über den Spruch, einen zweiten verlangte. Manchmal auch einen dritten. Nicht selten habe ich alle, die auf dem Tisch übrig blieben, geöffnet, bis eine Prophezeiung einigermaßen »passte«. Ich war diejenige, die tagtäglich versuchte, mit dem Kopf durch die Wand zu gehen, ohne sich dabei einen Dachschaden zu holen. Hürden übersprang ich nicht, sondern ich rannte sie mit aller Kraft und unter Einsatz meines nicht unerheblichen Kampfgewichts und mit übermäßigem Schlachtgebrüll um. Ich war diejenige, die schon morgens gar nicht mal so gute Laune hatte, und ihre schlechte spätestens abends hinter einem Lachen versteckte. Ich war diejenige, die sich nichts schenkte. Am wenigsten Aufmerksamkeit. Geduld schrieb ich mit hartem »t«, und Gelassenheit konnte ich nicht buchstabieren. Am wichtigsten aber: Ich war diejenige, der man niemals zugetraut hätte, dass sie mit ihrem Leben nicht zufrieden war. Mehr noch: dass sie wunschlos unglücklich war.
Schließlich war mein Leben, von außen betrachtet, alles andere als ein Scheiterhaufen. Beruflich legte ich eine zehn Jahre währende Selfmade-Karriere als erfolgreiche Geschäftsführerin einer Werbeagentur ad acta, um mit einunddreißig Jahren meinem Drang nach sozialer Gerechtigkeit nachzugehen und meine persönliche Vorstellung von Sinnfindung innerhalb der Arbeitswelt zu leben. Ich gründete das Social Business manomama. Eine Firma für alle Menschen, die, aus den absurdesten Gründen, auf dem ersten und zweiten Arbeitsmarkt niemand sehen und beschäftigen wollte: Die einen waren »nur« zu alt, die anderen zu gehandicapt. Die dritten hatten zu viele Kinder und zu wenige Partner, die vierten trugen einen Namen, den der gemeine Personaler nicht aussprechen konnte. Bei manomama jedoch wurde aus den »Übriggebliebenen« eine wundervolle Einheit, ein starkes Team, und gemeinsam legten wir den Grundstein für eine beispiellose Erfolgsgeschichte.
Bereits nach kürzester Zeit war meine Unternehmung in aller Munde, sie wuchs konstant, und es häuften sich Auszeichnungen und Preise. Mein Projekt wurde gekürt, von Lesern angesagter Lifestylemagazinen bis hin zur Bundesregierung. Letztere verlieh mir sogar den »Social Entrepreneur der Nachhaltigkeit«, und über Nacht wurde ich, völlig ungeplant, zum Vorzeigeunternehmer, weiblich, des Landes. Selbst die altehrwürdige SPD honorierte meine soziale Art der Wirtschaft mit dem Innovationspreis und übergab mir eine Trophäe, die mir im Moment der Entgegennahme mein eigenes Dilemma vor Augen führte. Der Preis war eine aus Plexiglas gesägte Deutschland-Silhouette auf einem Glassockel montiert. Mitten durchs Herz, also mitten durch den Harz, bohrte sich ein pfeilspitzer Eisenspeer. Ich wusste nicht, ob ich weinen oder lachen sollte. Bei allem feierlichen Rahmen und freudigen Anlass kam dank der Symbolik des Preises keine rechte Freude auf. Exakt dasselbe Gefühl beschlich mich, als ich über meine persönliche Situation reflektierte: Erneut durchgestartet und eine Karriere hinter mir gelassen, um Gutes zu tun, erklomm ich schon wieder die Erfolgsleiter. Diesmal wenigstens eine Karriere mit Sinn.
Eigentlich gab es viele Gründe zur Freude, aber irgendein rostiger Nagel in meinem Herzen ließ mich keine Zufriedenheit verspüren. »Warum hast du denn nichts gesagt?«, wird mein bester Freund Jürgen zwei Jahre später fragen.
Was hätte ich sagen sollen? Hätte ich eine sozialwissenschaftliche Erklärung liefern sollen? Schließlich ging ich zum damaligen Zeitpunkt davon aus, dass der Grund meines Unglücklichseins überall liegen kann, aber sicherlich nicht bei mir. Hätte ich sagen sollen: Ich bin eine der erstgeborenen Millennials (Generation Y) oder eine der Letztgeborenen aus der Generation X, und, wie es sich für diese Zielgruppen dank jahrelanger Analyse erfahrener Wissenschaftler gehört, grundlos unzufrieden und permanent unglücklich? Mein Freund Jürgen hätte es mir nicht geglaubt, da auch er, so vertraut er mir war und ist, mir niemals die Rolle der unglücklichen Karrierefrau abgenommen hätte.
Es war irgendwann im Frühjahr vor drei Jahren, als ich einen Artikel in einem Psychologie-Blog gelesen habe. »Millennials – die Generation der Unglücklichen« lautete ungefähr die Überschrift. Sofort war mein Interesse geweckt. Schließlich wusste ich als ehemalige Werberin, wie man strategisch Probleme löst: Bedürfnis ermitteln, Zielgruppe definieren, Strategie aufsetzen, Maßnahmen planen, Umsetzung durchführen. Und mein Bedürfnis war, wie jedermanns, das Glücklichsein. Ohne Glückskekse als Überbrückungskabel.
In dem Artikel wurde erklärt, warum die Generation Y, zu der mich Sozialwissenschaftler per definitionem gerade noch so dazuzählten, so grundlos unzufrieden ist. Der Autor bediente sich eines mir eindrücklichen Bildes, mit dem er die »Problematik« der Generation beschrieb: das wunschlose Unglücklichsein. Er schrieb, die Babyboomer-Generation habe noch eine strenge Erziehung erfahren, schließlich wurden ihre Eltern durch Not und Mangel in und nach der Kriegszeit geprägt. Die Kinder der Babyboomer wiederum seien in eine materielle und gesellschaftliche Fülle hineingeboren worden. Während die Babyboomer einen steinigen Weg mit vielen Restriktionen und gesellschaftlichen Hürden ins Erwachsensein nehmen mussten, hätten die Millennials von Kindheit an eine saftige Wiese genießen dürfen. Es habe der Generation Y an nichts gefehlt. Gleichzeitig mussten sie sich nichts erarbeiten, alles sei ihnen in den Schoß gefallen. Und alles andere hätten die Eltern für ihre Sprösslinge organisiert.
Simon Sinek, ebenfalls Autor, sprach im Independent von »failed parenting strategies«, bayerisch würde man sagen: »rotzverzogene Gören«. Und der Soziologe Harald Welzer formulierte die Unbeweglichkeit der Generation Y so: »Talkshowkonsum und Dagegensein ist eingeübt, Konfliktfähigkeit nicht mehr existent. Überspitzt gesagt, müssen die ja direkt wieder lernen, auf der Straße zu demonstrieren und ihren Arsch zu bewegen.«
Das Resultat: Die Millennials seien wegen der unzähligen Möglichkeiten und Chancen, die ihnen das Leben bot, unsicher, unbeweglich, unzufrieden, unglücklich geworden. Sie könnten sich schlicht nicht für etwas entscheiden. Wohl aber gegen vieles sein. Sie könnten sich nicht über die saftige Wiese freuen, sondern beklagten das Fehlen der Blumen. Sich selbst dabei um Flora und Fauna des Lebens zu kümmern wäre jedoch außerhalb der Möglichkeiten dieser Generation, da sie es nie gelernt habe, sich etwas zu erarbeiten. Während die Eltern der Generation Y für ihren Erfolg und materiellen Wohlstand in den 1970ern bis 1990ern mehr als hart gearbeitet hätten, glaubten die GYPSYS (»GenY Protagonists & Special Yuppies«, so werden die Yuppies der Generation Y auch genannt), dass sie irgendwann auch sehr erfolgreich würden. Wie ihre Eltern eben. Nur ganz ohne Arbeit. Für Millennials sei es nichts anderes als eine Frage der Zeit. Schließlich wurde ihnen von Anbeginn erzählt, sie seien etwas ganz Besonderes.
An diesem Punkt beendete ich meine Generation-Y-Recherche im Netz. Aus zwei Gründen. Der erste Grund war die Erinnerung an eine Soziologiestudentin, die ich nach einem Kongress auf dem Beifahrersitz vierhundert Kilometer mit in den Süden und direkt zu ihrem Auto kutschiert hatte, das an einem Bahnhof stand. Sie war mit ihren Ende zwanzig klarer Repräsentant der Millennials, wie ich nach meiner kurzen Recherche im Nachhinein erkannte. Obwohl sie bereits ein (von den Eltern!) bezahltes Zugticket hatte, fragte sie mich nach einer Mitfahrgelegenheit, da es »bequemer« und schneller sei. Ich nahm sie mit, was ich jedoch keine halbe Stunde später bereute. Vier lange Fahrtstunden jammerte die junge Studentin mir die Hucke voll, wie desolat ihr Leben und wie – »unglücklich« – sie sei. Ihre Fernbeziehung (wir sprachen von achtzig Kilometern!) würde ihr zu schaffen machen, ebenso wie die endlosen Mühen ihrer Masterarbeit. Der einzige Lichtblick wäre in letzter Zeit das Auslandssemester gewesen – auf den Kanaren. »Wir haben so viele Chancen und so wenige Steine im Weg, da können wir das Scheitern nie üben«, klagte sie. »Und deshalb machst du nichts, sondern studierst dich in die Rente?«, fragte ich provokant. »Irgendwann werde ich schon meinen Platz finden«, antwortete sie. Generation faule Jammerlappen bei absoluter Überqualifizierung und finanzieller Sicherheit dank Mama und Papa, dachte ich.
Der zweite Grund, meine Analyse der Millennials einzustellen, war, dass ich im Vergleich zu diesen GYPSYS sehr wohl wusste und weiß, dass eine Karriere, ein Erfolgreichsein, ein »Etwas-Erreichen« niemandem in den Schoß fällt, sondern die berühmte Mischung aus zehn Prozent Inspiration und neunzig Prozent Transpiration ist. Eine ordentliche Karriere kostet sehr viel Kraft, Engagement, Zeit, Schweiß und Tränen. Erfolg passiert nicht einfach so. Nicht einmal einem Millennial, selbst wenn er sich für etwas ganz Außergewöhnliches hält.
Das war wohl der größte Unterschied, den ich bemerkte: Ich war nichts Besonderes und ich hielt und halte mich nicht für besonders. Ich war immer nur fleißig. Und geschäftstüchtig. Mir blieb nichts anderes übrig. Mit dreizehn Jahren begann ich für die Lokalzeitung zu schreiben, mit fünfzehn zog ich aus dem elterlichen Haus und bestritt mit Zeilengeld und Fotopauschalen meine Miete und meinen Lebensunterhalt. Weil es nicht immer reichte, kellnerte ich mittwoch- und sonntagabends in einem Musikclub. Nicht selten blieb ich der Schule fern, weil ich zu müde war. Oder Zeitungstermine hatte. Meine Lehrer drückten in der Kollegstufe oftmals ein Auge zu, da sie wussten, dass ich hart arbeitete. Schließlich konnten sie es täglich lesen.
Während andere nach dem Abitur jahrelang das Studentendasein genießen konnten, fing für mich die Arbeit direkt am Tag nach der Zeugnisausgabe an. Auf dem Einwohnermeldeamt besorgte ich mir einen Gewerbeschein und legte somit den Grundstein für meine erste Karriere als Werberin. Je länger ich meinen Werdegang in jungen Jahren durchdachte, umso mehr wurde mir klar: Ich bin kein Millennial. Und trotzdem unglücklich.
Ganz strategisch ging ich mit meinen Recherchen eine Generation zurück. Wenn ich schon kein erstgeborener Millennial bin, dann vielleicht das Nesthäkchen der Generation X, dachte ich mir und fand schon nach kurzem Informieren über diese soziografische Zielgruppe den Haken. Die Generation X hatte überhaupt keine Zeit, um unglücklich zu sein. Darf man den zahlreichen Publikationen rund um diese Generation, auch Generation Golf genannt, glauben, pflegen die klassischen Repräsentanten ihren hausgemachten Burnout, den sie sich beim permanenten Fortkommen ihrer eigenen Karriere eingefangen haben, während sie ihren Kindern noch mehr Tempo abfordern und Leistungsdruck unter dem Deckmantel der »frühkindlichen Förderung« ausüben. Nach all den Nachforschungen war ich in drei Punkten sehr sicher: Ich bin kein Millennial, ich bin keine aus der Generation X, ich bin nach wie vor wunschlos unglücklich.
Es könnte also eher an meinem direkten Umfeld liegen, dachte ich. Bei genauer Betrachtung war mein Umfeld aber ein Grund zur Freude. Ein wundervoller Sohn, der sich langsam aus einem Kind zu einem selbstständigen Teenie entwickelte, ein attraktiver und intelligenter Mann, mit dem ich seit siebzehn Jahren einen gemeinsamen Weg ging, und mein bester Freund, Jürgen. Dazu liebe Kollegen in der Arbeit und eine beispiellose berufliche zweite Karriere, die mir überdies auch noch tagtäglich Sinn und Freude verschaffte. Nun gut, meine private Freizeit schwand gegen null, je bekannter mein soziales Engagement wurde. Aber für die gute Sache war und bin ich gewillt, selbst radikale Einbußen in Kauf zu nehmen. Wie ich es auch anstellte, mir wollte kein ernst zu nehmender Grund einfallen, weshalb mein Umfeld schuld an meinem persönlichen Innere-Welt-Schmerz sein sollte. Es blieb schließlich der letzte Gedanke: ich. Ich selbst könnte das Problem meiner Unzufriedenheit sein. Und mit dieser Erkenntnis begann das Nachdenken unbequem zu werden. Mrs. Frohnatur, die Berufsoptimistin, die Frau, die anpackt und macht? Diesen Gedanken, selbst der Grund für das eigene Unglücklichsein zu sein, verwarf ich jedoch schnell wieder, weil er mir völlig fern jeglicher Realität vorkam.
So lief ich also weiter durchs Leben und Arbeiten, innerlich unglücklich, stets temporeichen Schrittes und trat mit aller leise schwindender Kraft die täglichen, langsam größer werdenden Hürden ein, schmiss mich gegen jede sich immer schneller drehende Windmühle und verbrachte weiterhin die Mittagspausen beim Chinesen. Der Glückskekse wegen.
Wenn man nichts zu erzählen hat,
kann man es ändern.
Wenn man niemanden zum Erzählen hat,
wird es einen ändern.
2
Obwohl ich über viel spontanen Humor und Schlagfertigkeit verfüge, kann ich mir Witze schlecht merken. Sehr schlecht sogar. Möchte ich einen erzählen, was sehr selten vorkommt, muss ich vorher die Pointe noch einmal gedanklich durchgehen oder aber sehr langsam beginnen, um selbst den besten Witz nicht zum schlechten verkommen zu lassen. Nur ein einziger ist mir, seitdem ich ihn zum ersten Mal gehört habe, im Gedächtnis geblieben. Er war jahrelang mein Lieblingswitz:
Der liebe Gott und Jesus, sein Sohn, sitzen Samstagvormittag am Frühstückstisch. Während Gott genüsslich frühstückt, blickt Jesus starr hinunter auf die Erde und traut seinen Augen kaum. Nach einer Weile des Beobachtens irdischer Ereignisse sagt Jesus zu seinem Vater: »Gott Vater, jetzt schau dir diese Sauerei an. Da unten spielt ein Rabbi Golf. Und das am Sabbat. Am Tag des Ruhens!« Während Gott in sein Brötchen beißt, lässt er seinen Blick kurz durch die Wolken zur Erde schweifen und schmunzelt. Die Reaktion des Vaters erzürnt Jesus. »Wie kannst du nur darüber lachen, wenn einer deiner Angestellten deine Regeln nicht beachtet! Das darfst du nicht durchgehen lassen!« Gott nickt milde, schließt die Augen, und im nächsten Moment schlägt der Rabbi ein Hole in One. »Was?«, schreit Jesus wütend. »Der Rabbi verhält sich fehlerhaft, spielt am Sabbat Golf, und du belohnst ihn auch noch mit einem Hole in One?« Gott lächelt schelmisch und antwortet: »Beruhige dich, mein Sohn. Wem soll er es denn erzählen?«
Sehr viele Jahre konnte ich über diesen Witz schmunzeln. Irgendwann nicht mehr. Es war der Zeitpunkt, als ich erkennen musste, dass es mir ähnlich ging wie dem Rabbi. Nur, dass ich nichts Zauberhaftes übers Golfen zu erzählen hatte, sondern Zauderhaftes übers unglückliche Leben. Ein deutlich weniger attraktives Thema für lockere Gespräche.
Hinzu kam, dass sich Freunde, selbst lose Netzbekanntschaften, immer weiter von mir entfernten. Ganz deutlich fiel mir dies vor drei Jahren kurz vor dem Würzburger Hauptbahnhof auf. Seit 2009 bin ich sehr aktiv in den sozialen Netzwerken, speziell auf Twitter. Von Anfang an habe ich Twitter nicht für oberflächlich, sondern für eine Oberfläche für Kommunikation gehalten. Mir gefällt die ungezwungene, persönliche und lustige Art des Schreibens und das ernsthafte Interesse der Leute, sich auch im »Offline-Leben« kennenzulernen. Irgendwann im Jahr 2010 (als mein Projekt manomama gerade in der Gründungsphase steckte, ich mich selbst noch nicht einmal kannte und vielleicht tausend Follower hatte!) war ich im Zug Richtung Berlin unterwegs. Weil ich morgens zu spät dran war, hatte ich zu Hause keine Zeit mehr für eine Tasse Kaffee. So twitterte ich nicht, wie jeden Tag »Guten Morgen, erst mal Kaffee«, sondern: »Guten Morgen, keinen Kaffee! Und im Zug ist die Maschine kaputt! SUPERGAU!!!« Es folgten eine rege Anteilnahme in typischer Twitterart und drei humorvolle Verabredungen zur Kaffeeübergabe in Würzburg am Bahngleis, während meines Zugaufenthalts. Um kurz vor zehn Uhr standen drei Menschen auf Gleis 4. Um kurz nach zehn Uhr standen vier Menschen auf Gleis 4, denn ich stieg aus und nahm den nächsten Zug. Rund eine Stunde lang verbrachten wir spontan bei Kaffee und guten Gesprächen die Zeit, bis meine Reise weiterging.
Irgendwann im Jahr 2014 (als mein Projekt manomama bereits sehr bekannt war, mich immer mehr Menschen auf der Straße erkannten und ich über 15 000 Follower hatte!) war ich wieder im Zug Richtung Berlin unterwegs. Weil ich morgens erneut zu spät aufgestanden war, hatte ich zu Hause wieder keine Zeit für eine Tasse Kaffee gehabt. So twitterte ich auch an jenem Tag nicht »Guten Morgen, erst mal Kaffee«, sondern: »Guten Morgen, Zugkaffee. Schlimmer wird’s nicht!« Danach tweete ich: »Kein Kaffee im Zug. 9:34 Uhr in Würzburg. Jemand Lust auf Gleis-Kaffee?« Die Reaktionen waren: Null. Nichts. Stille.
Ohne Extrastopp und mit deutlich zu niedrigem Koffeinspiegel verwendete ich die restliche Fahrzeit dafür, über das Erlebte nachzudenken. Die Erkenntnis war eine bittere, denn mir erging es nun, wie es meinen Ladies und Gentlemen ergangen ist, bevor sie wieder zurück ins Arbeitsleben kehrten. Man nahm keine Notiz von ihnen. Und mir wurde klar: »Oben ist wie unten, nur andersrum.« Plötzlich erinnerte mich diese Situation an meine Schulzeit, als ich eine Außenseiterin war. Denn das alte Sprichwort stimmt sehr wohl: »Gleich und gleich gesellt sich gern!«
Bei der Geburt sind alle gleich. Auf diesen Nenner kann man sich ohne größere Debatte einigen. Dann aber beginnt ein Positionieren innerhalb der Gesellschaft. Die Quantität und Qualität der sozialen Kontakte hängt zunächst stark von dem Elternhaus oder dem Bildungsgrad der Erziehenden ab. Ich mutmaße, dass über den Stellenwert von Freundschaften in den meisten Familien wenig vorgelebt wird und dass das auch ein Grund ist, weshalb Menschen nur wenige Beziehungen pflegen. Aber, am allerwichtigsten, Moneten machen menschliche Beziehungen. Können sich Eltern den Kindergartenplatz schlicht nicht leisten (was ich aus Erzählungen einiger meiner Kolleginnen bei manomama erfahren durfte), bleibt das Kleine alleine bei Mutter oder Vater zu Hause. Soziale Kontakte mit Gleichaltrigen? Fehlanzeige. Selbst eine intensive Betreuung des Kindes durch die Eltern kann die Erfahrung mit anderen Kindern nicht wettmachen. Fehlt weiterhin das Geld, ist in der Schule keine Klassenfahrt drin. Überhaupt sind außerschulische, kostenpflichtige Unternehmungen mit Schulkollegen und Hobbys mit Freunden nicht möglich. Diese unfinanzierbaren Möglichkeiten, gepaart mit dem alltäglichen »Geht nicht wegen Geldmangel«, isolieren Menschen. Diese Erkenntnis zur Grundlage muss uns mahnen, die nachweislich steigende Verarmung von Kindern in Deutschland vehement zu bekämpfen. Darüber hinaus darf die wirtschaftliche Armut nicht zu einer sozialen Armut und damit verbundenen gesellschaftlichen Isolation führen.