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rowohlts monographien

begründet von Kurt Kusenberg

herausgegeben von Uwe Naumann

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Dezember 2018

Copyright © 1988 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten

Redaktionsassistenz Katrin Finkemeier

Umschlaggestaltung any.way, Hamburg

Umschlagabbildung Musée Curie (coll. ACJC), Paris. Foto H.J. Whitlock & Sons (Marie Curie in Birmingham, 1913)

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Satz CPI books GmbH, Leck, Germany

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN Printausgabe 978-3-499-50417-4 (8. Auflage 2011)

ISBN E-Book 978-3-644-40600-1

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-40600-1

Fußnoten

Pierre Curie

An dieser Stelle wird die bislang eingehaltene chronologische Folge für eine Beschreibung Pierre Curies und seiner Familie unterbrochen.

Ehrungen: Davy-Medaille, Nobelpreis …

Gemeint ist die russische Revolution von 1905.

Anmerkungen

Der Geburtsname Marie Curies war Maria

Éve Curie: «Madame Curie». Frankfurt a.M. 1937, S. 15

Hier gehen die Angaben von wenigen Wochen bis zu einem Jahr auseinander. Die hier eingesetzte Zeit entspricht den Ausführungen von Éve Curie, a.a.O., S. 17

Kosename für Bronislawa

Kosename für Maria

Curie 2, S. 35

Robert Reid: «Marie Curie». München 1980, S. 13, 14

Schlittenfahrt zur Fastnachtszeit

Olgierd Wolczek: «Maria Sklodowska-Curie». Leipzig 1984, S. 11

Kurzform für Helena

Wolczek 9, S. 12

Reid 7, S. 15

Curie 2, S. 42

Ebd., S. 47

Reid 7, S. 22

Curie 2, S. 50, 51

Ebd., S. 52

Ebd.

Ebd., S. 54, 55

Ebd., S. 54

Ebd., S. 55

Ebd., S. 58

Ebd., S. 58, 59

Ebd., S. 59

Ebd., S. 59, 60

Ebd., S. 61

Ebd., S. 61, 62

Ebd., S. 63

Reid 7, S. 30; Wolczek 9, S. 19

Curie 2, S. 64

Reid 7, S. 40

Curie 2, S. 76

Reid 7, S. 39

Curie 2, S. 84

Ebd., S. 84, 85

Ebd., S. 89

Sein vollständiger Name war Paul Jacques, aber er wurde kurz Jacques genannt

Vereinfacht ausgedrückt bezeichnet man damit das Auftreten entgegengesetzer elektrischer Ladungen auf gegenüberliegenden Flächen bestimmter Kristalle (z.B. Turmalin, Quarz etc.), wenn man diese erwärmt oder abkühlt

Curie’sches Gesetz: Das Verhältnis der Magnetisierung M zur magnetischen Feldstärke H paramagnetischer Stoffe ist umgekehrt proportional zur absoluten Temperatur T: M/H = C/T; C = Stoffkonstante

Curie-Temperatur: Ferromagnetische Stoffe verlieren oberhalb dieser für sie charakteristischen Temperatur diese ihre Eigenschaft und werden paramagnetisch

Wolczek 9, S. 35

Reid 7, S. 54

Curie 2, S. 102

Curie 2, S. 105

Curie 2, S. 114

Curie 2, S. 115

Ebd.

Curie 2, S. 116

Ebd.

Marie Curie: «Bulletin de la Société pour l’Encouragement de l’Industrie National», Paris 1898

Wolczek 9, S. 68

Wirksamkeit einer radioaktiven Substanz; SI-Einheit: 1 Bq = 1 s–1 (Bq = Becquerel)

Uranmineral der Zusammensetzung UO2, auch Uranpecherz genannt

Uranglimmer der Zusamensetzung Cu(UO2) 2(PO4) 2 · 8H2O, auch Torbernit genannt

Wolczek 9, S. 70

Monatsschrift für Photographie

radiare (lat.) = strahlen

Curie 2, S. 129

Curie 2, S. 130

S. Anm. 57

Curie 2, S. 132

Curie 2, S. 136

Reid 7, S. 78, 79

Wolczek 9, S. 73

Revue Générale de Sciences 10/1899, S. 41

Bedeutender britischer Physiker; erhielt 1908 den Nobelpreis für Chemie

1908 zeigten E. Rutherford und H. Geiger, dass α-Strahlung aus einem Strom von He2+-Kernen besteht. 1900 bewies Becquerel, dass β-Strahlung identisch mit den Kathodenstrahlen ist, die J.J. Thomson 1897 als Elektronen (e) erkannte. 1900 entdeckte Villard die γ-Strahlung, die energiereicher Röntgenstrahlung entspricht, als letzten Bestandteil natürlicher Radioaktivität

Curie 2, S. 147

Curie 2, S. 140

aktinoeis (griech.) = strahlend

Entspricht einem Assistenzprofessor

Französischer Physiker und Mathematiker, der grundsätzliche Aussagen der speziellen Einstein’schen Relativitätstheorie vorwegnahm

Auch kurz P.C.N. genannt

Revue Scientifique 4. Folge, 14/1900, S. 65

1903 deuten E. Rutherford und F. Soddy die Radioaktivität als Zerfall von Atomkernen; im selben Jahre identifizieren W. Ramsay und F. Soddy Helium als Zerfallsprodukt

Curie 2, S. 160, 161

Jean-Baptiste Perrin (1870 bis 1942), Professor für Physikalische Chemie und Nobelpreisträger für Physik 1926

Curie 2, S. 154

Curie 2, S. 136, 137

Der heutige korrigierte Wert beträgt Ra = 226.0254

Curie 2, S. 150

Wolczek 9, S. 79, 80

Zerfallsprodukt von Radium; 1900 entdeckt von dem deutschen Physiker Ernst Dorn. Die Emanationen des Aktiniums und des Thoriums sind weitere Isotope des Radons

emanare (lat.) = herausfließen

Curie 2, S. 154

Reid 7, S. 112, 113

Curie 2, S. 170

Curie 2, S. 166

Pierre Curie an George Gouy am 31. Januar 1905, aus Curie 2, S. 182

Curie 2, S. 185

Curie 2, S. 191

Curie 2, S. 186

Curie 2, S. 192

Curie 2, S. 193

Curie 2, S. 209, 210

Lord Kelvin folgerte dies aus der Tatsache, dass Blei und Helium als Zerfallsprodukte identifiziert wurden (s.a. Anm. 75)

Amerikanischer Großindustrieller schottischer Herkunft. Stifter der nach ihm benannten Carnegie Hall in New York

Mit dem Plural wollte Carnegie unterstreichen, dass die Stiftung zu Ehren beider Forscher eingerichtet wurde

Curie 2, S. 218

Der Unterricht fand nicht in einem festen Klassenzimmer statt, vielmehr suchten die Schüler den Lehrer privat oder an der Arbeitsstätte auf

1 Curie (Ci) = 3.7 × 1010 s–1 = 3.7 × 1010 Bq (s.a. Anm. 52)

Bis heute sind zwei weitere Personen mit zwei Nobelpreisen geehrt worden: L. Pauling (Chemie/Frieden) und J. Bardeen (zweimal Physik)

Einige Spekulationen gingen so weit, Pierres Tod im Nachhinein als Selbstmord aus Verzweiflung zu interpretieren. Ob zu diesem Zeitpunkt die Beziehung zwischen Marie Curie und Paul Langevin schon existierte, konnte nie zweifelsfrei nachgewiesen werden.

Curie 2, S. 230

Friedrich Herneck: «Albert Einstein». Leipzig 1986

Curie 2, S. 234

genannt nach Alfred Graf von Schlieffen (1833–1913), der seinen Plan zur Vermeidung eines Mehrfrontenkrieges 1905 aufstellte

Curie 2, S. 241

Curie 2, S. 243

Reid 7, S. 203, 204

Curie 2, S. 246

Reid 7, S. 210

Dieses Buch erschien im Jahre 1921

Curie 2, S. 256

Zu Deutsch: Der Beschreiber

Wolczek 9, S. 115, 116

Curie 2, S. 300, 301

Reid 7, S. 226

Marie Curie: «Autobiographical Notes». New York 1923

Wolczek 9, S. 119

Curie 2, S. 302

Ebd.

Thema der Doktorarbeit: «Eigenschaften der α-Strahlen des Poloniums»

Reid 7, S. 252

Curie 2, S. 303

Ebd., S. 277

Reid 7, S. 258, 259

Ebd., S. 265

Curie 2, S. 279, 280

Ebd., S. 290

Wolczek 9, S. 121

1908 zeigten E. Rutherford und H. Geiger, dass α-Strahlung aus einem Strom von He2+-Kernen besteht. 1900 bewies Becquerel, dass β-Strahlung identisch mit den Kathodenstrahlen ist, die J.J. Thomson 1897 als Elektronen (e) erkannte. 1900 entdeckte Villard die γ-Strahlung, die energiereicher Röntgenstrahlung entspricht, als letzten Bestandteil natürlicher Radioaktivität

Dieses Buch wurde 1935 veröffentlicht

Reid 7, S. 273

Curie 2, S. 312

Reid 7, S. 276

Wolczek 9, S. 123, 124

Reid 7, S. 276

Albert Einstein: «Aus meinen späten Jahren», Stuttgart 1984, S. 207, 208

Vorwort

Zurückgezogenheit, Verschlossenheit, Weltabgewandtheit sind nicht, wie landläufig oft angenommen wird, notwendige Charakteristika hervorragender Forscher. Dennoch, auf Marie Sklodowska-Curie treffen sie größtenteils zu. Ihre einzigartige Karriere und deren Begleitumstände fordern eine Legendenbildung um ihr Leben und ihr Werk geradezu heraus.

Aufgewachsen in einem fremdregierten Land unter eingeschränkten Rechten, gelingt ihr trotz schlechter finanzieller Lage im Elternhaus, zu einem Zeitpunkt, zu dem andere bereits resigniert aufgegeben hätten, der Absprung in die Unabhängigkeit. Sie nimmt in Paris unter erbärmlichen Bedingungen das Studium der Naturwissenschaften auf, das zu jener Zeit fast ausnahmslos dem männlichen Geschlecht vorbehalten war. Durch ihren unerschütterlichen Willen und ihre Selbstdisziplin überwindet sie die damaligen Benachteiligungen einer weiblichen Studentin, Forscherin und Lehrerin und erkämpft sich Rang und Namen auf der internationalen Bühne der Wissenschaften.

Im Privatbereich erleben Freunde und Vertraute eine schüchterne, verletzliche Marie mit allen Vorzügen und Schwächen eines «normalen» Menschen. Ihre unglückliche Jugendliebe, ihre harmonische Ehe und ihre zur Affäre aufgebauschte Romanze nach dem Tod ihres Mannes fügen sich zu einem facettenreichen Gesamtbild zusammen.

Marie Curie bewies, dass Frauen sich in den auch heute noch weitgehend von Männern beherrschten Naturwissenschaften durchsetzen können: Sie schließt ihre Schulausbildung und ihr Studium als Beste ab. Sie gründet eine Familie, erzieht zwei Töchter, ohne gleichzeitig auf ihre Dissertation und Laufbahn als Forscherin zu verzichten. Als Witwe zur Professorin ernannt, leitet sie ihr eigenes Institut, nimmt Aufgaben in höchsten internationalen Gremien wahr, wird zweimal mit dem Nobelpreis ausgezeichnet und bleibt bei alldem fürsorgliche Schwiegertochter, Mutter und Großmutter.

Das Erbe, das Marie Curie der Menschheit hinterlässt, muss wie manch andere wissenschaftliche Entdeckung wie ein zweischneidiges Schwert betrachtet werden, mit dem umzugehen der Mensch stets aufs Neue zu lernen hat.

Die Natur brachte das von Marie Curie Radioaktivität genannte Phänomen der Materie hervor. Henri Becquerel war es, der sie entdeckte, und Marie Curie erhob sie zum Mittelpunkt ihres Lebens. Anfänglich war sie fasziniert von ihrer Entdeckung der beiden Elemente (Polonium und Radium) und, als ihr Ehemann Pierre Curie die nach ihm mitbenannte Therapie entwickelt hatte, ebenso euphorisch wie viele Zeitgenossen in aller Welt: Endlich hatten sie eine Waffe im Kampf gegen den Krebs gefunden. Dennoch verschloss sie sich letztendlich nicht der Einsicht, hiermit zugleich eine Quelle der Gefahr sprichwörtlich in Händen zu halten.

Kindheit

Maria Salomee Sklodowska[1] kam als letztes von fünf Kindern am 7. November 1867 in Warschau zur Welt. Ihr Geburtshaus steht in der Fretastraße 16 und dient heute als Museum zu ihren Ehren. In jenen Tagen war es ein kleines, aber angesehenes Mädchenpensionat, das ihre Mutter Bronislawa Sklodowska, geb. Boguska, seit einigen Jahren leitete und in dem die Sklodowskis eine kleine Wohnung hatten.

Marias Großvater, Felix Boguski, gehörte dem verarmten Landadel an. Als er sich in ein junges, aus vornehmerer Familie stammendes Mädchen verliebte, stieß er auf die entschiedene Ablehnung ihrer Eltern. Wie man sich erzählt[2], entführte er deshalb seine Braut, und sie heirateten heimlich. Aus dieser Ehe ging Bronislawa Sklodowska als älteste Tochter von sechs Kindern hervor.

Auch Marias Großvater väterlicherseits, Josef Sklodowski, entstammte dem Landadel. Während noch sein Vater als wohlhabender Pächter der Landwirtschaft nachgehen konnte, blieb ihm nur der Weg in die Stadt. Er schlug eine akademische Laufbahn ein und brachte es trotz Krieg und Revolution bis zum Direktor eines Knabengymnasiums in Lublin.

Sein ältester Sohn Wladislaw studierte wie auch er seinerzeit in St. Petersburg. Dieser kehrte anschließend nach Warschau zurück und lehrte an einem Gymnasium Physik und Mathematik. Nachdem er sich mit Bronislawa Boguska vermählt hatte, wohnten sie noch fünf Jahre in der ersten Etage des Mädchenpensionats. In dieser Zeit schenkte ihm seine Frau die drei Töchter Sofia, Bronislawa, Helena und den Sohn Josef. Marias Geburt schließlich zwang ihn, sich nach einer besser bezahlten Stellung umzusehen. Denn sowohl der Verdienst des Lehrerehepaars als auch die Größe ihrer Wohnung reichten für eine siebenköpfige Familie nicht mehr aus. Wenige Monate[3] später wurde er Professor am Warschauer Jungengymnasium in der Nowopolkistraße. Das zusätzliche Amt eines Inspektors sicherte der Familie durch ein zweites Einkommen für die nächsten Jahre ein vergleichsweise angenehmes Leben. Aber für Marias Mutter bedeutete der Umzug in die neue Dienstwohnung ihres Mannes wegen der großen Entfernung zum Mädchenpensionat, dass sie dessen Leitung aufgeben musste.

Marias Kindheit sollte trotz dieser anfänglich günstigen Bedingungen von einigen schicksalhaften Ereignissen überschattet werden. Schon während ihrer letzten Schwangerschaft erkrankte Marias Mutter an Tuberkulose. Diese Krankheit galt in jener Zeit als unheilbar, und obwohl sie Ärzte aufsuchte und zu Kuren fuhr, nahm sie auch bei ihr den damals üblichen Verlauf. Aus Furcht, ihre Kinder anzustecken, vermied sie jegliche Zärtlichkeiten mit ihnen. So wuchs Maria auf, ohne je von ihrer Mutter geküsst worden zu sein, was ihre persönliche Entwicklung mitgeprägt haben dürfte. Von ihren Mitmenschen wurde sie stets als zurückhaltend, sogar als scheu beschrieben. Auch fiel es ihr später nie leicht, Bekanntschaften oder Freundschaften zu knüpfen.

In den Schulferien fuhren die Sklodowskis regelmäßig aufs Land. Denn ihre zahlreiche Verwandtschaft, in der es viele Landwirte gab, war weit über Polen verstreut. So lernte Maria Sklodowska jedes Jahr ein neues Stück ihrer Heimat kennen. In dieser unbeschwerten Zeit wurde früh ihre Liebe zur Natur geweckt.

Nach ihrer Rückkehr im Herbst 1873 stand der Familie eine bittere Nachricht ins Haus: die Entlassung des Vaters als Inspektor und damit verbunden die Aufkündigung der Dienstwohnung. In Polen, das noch immer unter der russischen Fremdherrschaft litt, waren viele gehobene Positionen des öffentlichen Lebens mit russischen Beamten besetzt. Einer von ihnen war der Vorgesetzte von Marias Vater. Nach jahrelangen Unstimmigkeiten zwischen beiden war es diesem offenbar Polen-feindlichen Direktor schließlich gelungen, die Entlassung aus dem Amt zu erwirken.

Die Folge waren mehrere Umzüge innerhalb Warschaus, bis die Familie eine Wohnung fand, in der es dem Vater möglich war, eine kleine Pension einzurichten. Von nun an wohnten bis zu zehn Schüler bei den Sklodowskis und bekamen vom Vater Privatunterricht. Ein familiäres Leben konnte unter diesen Umständen nicht mehr stattfinden, doch hatten sie keine andere Wahl. Bereits ein einjähriger Kuraufenthalt der Mutter an der Riviera und die Gehaltserniedrigung des Vaters brachten sie in eine schwierige finanzielle Lage. Als der sonst so umsichtige Vater bei einer Spekulation, der Beteiligung am Bau einer Dampfmühle, die gesamten Ersparnisse von 30000 Rubel verliert, wird der Nebenverdienst durch die Pensionsgäste lebensnotwendig.

Einer der Schüler wird im Januar 1876 typhuskrank und steckt Marias Schwestern Bronia[4] und Sofia an. Einige Wochen später erliegt Sofia der Krankheit, und Maria verliert zum ersten Mal einen geliebten Menschen. Nur zwei Jahre später, im Mai 1878, beweint die erst zehnjährige Maria den Tod ihrer Mutter. Dem Vater, durch diese Schicksalsschläge vorzeitig gealtert, fiel nun die nicht einfache Aufgabe zu, seine vier heranwachsenden Kinder allein aufzuziehen.

Schulzeit, Jugend

Mania[5], der Bronia bereits als Vierjähriger das Lesen beigebracht hatte, wuchs in einer Atmosphäre ständigen Lernens auf. Sie nutzte die Vorteile, die sich hieraus ergaben, und hob sich bald von den anderen Schülerinnen des kleinen Mädchenpensionats Sikorska durch überdurchschnittliche Leistungen ab. Ihrer ausgeprägten Konzentrationsfähigkeit verdankte sie es, dass sie sich trotz der Unruhe zu Hause in ihre Bücher vertiefen und auf diesem Wege der oft tristen Wirklichkeit entfliehen konnte. Der häusliche Frieden kehrte nach einem erneuten Umzug in eine geräumigere Wohnung allmählich wieder ein. Endlich konnten die Sklodowskis ihre Privaträume von denen der Pensionsgäste abtrennen.

Zu ihrem Bedauern musste Maria die Schule wechseln, denn nur die kaiserlichen Gymnasien eröffneten den Zugang zu einem Hochschulstudium. Allerdings waren den Frauen die heimischen Universitäten trotz alldem verschlossen, und ihnen blieb nur der lange und kaum erschwingliche Weg ins Ausland. Im Pensionat hatten sie heimlich Polnisch-Unterricht gehabt, obwohl Russisch offizielle Landessprache war und den Lehrern sowie Schülern Strafe drohte, sollten sie denunziert oder von einem russischen Schulinspektor ertappt werden. In den kaiserlichen Gymnasien dagegen, in denen das Lehrpersonal großteils russischer Herkunft war, kamen solche Übertretungen nicht vor. Die russischen Lehrer stießen daher auf Ablehnung bei den polnischen Schülern; oft kam es zu gegenseitigen Attacken. Trotz dieser Widrigkeiten verlor Maria ihr höchstes Ziel nie aus den Augen: Lernen. Am besten dokumentiert dies folgender Abschnitt aus einem ihrer Briefe an ihre Schulfreundin Kazia Przyborowska: Weißt Du, Kazia, trotz allem habe ich die Schule gern. Vielleicht wirst Du Dich über mich lustig machen, und doch sage ich Dir, daß ich sie gern habe, sehr gern sogar. Ich bemerke es jetzt erst. Bilde Dir nur nicht ein, daß sie mir fehlt! Nein, das gewiß nicht! Aber der Gedanke, daß ich bald wieder in die Schule komme, ist gar nicht traurig, und die beiden Jahre, die ich noch dort bleibe, kommen mir gar nicht mehr so schrecklich, so furchtbar lang vor, wie ich geglaubt habe.[6]

Die beiden fünfzehnjährigen Mädchen verbindet eine innige Freundschaft, die auch nach ihrer Schulzeit fortdauert. Am 12. Juni 1883 ist der ersehnte Tag der Entlassung endlich gekommen. Wie schon ihren Geschwistern Josef und Bronia wird auch ihr als bester Schülerin des Jahrgangs eine goldene Medaille überreicht. Jedoch war Marias gesundheitlicher Zustand durch die psychischen und physischen Anstrengungen und Belastungen der letzten Jahre so ernst geworden, dass ihr Vater beschloss, sie für ein Jahr zur Erholung aufs Land zu schicken. Es war wahrscheinlich kein organisches Leiden, vielmehr brauchte sie eine Ruhepause, in der sie sich entspannen, die Schule vergessen und ihre alltäglichen Sorgen hinter sich lassen konnte. Bei ihren Verwandten in Zwola verbrachte sie ihre ersten Ferientage, anschließend ging es weiter zu ihrem Onkel Ksawery nach Zawieprzyce bei Lublin. Dort erfreute sie sich, wie schon in ihrer Kindheit, am Landleben, lernte Reiten und genoss ihr Nichtstun. Ihrer Freundin Kazia schreibt sie in jenen Tagen:

Ich kann sagen, daß ich, abgesehen von einer Stunde Französisch-Unterricht mit einem kleinen Jungen, nichts tue, absolut nichts – denn ich habe sogar die Stickerei aufgegeben, die ich angefangen hatte … ich habe keinen Stundenplan. Manchmal stehe ich um vier oder fünf auf (morgens, nicht abends!), ich lese keine ernsthaften Bücher, nur harmlose und alberne kleine Romane. So fühle ich mich, trotz des Diploms, das mir die Würde und Reife einer Person zuspricht, die ihre Studien abgeschlossen hat, unglaublich dumm. Manchmal lache ich ganz für mich, und ich betrachte meinen Zustand vollkommener Dummheit mit großer Befriedigung.[7]