Klaus-Peter Wolf
Wie man es allen recht macht und trotzdem tut, was man will
Felix & die Kunst des Lügens
FISCHER E-Books
Klaus-Peter Wolf, 1954 in Gelsenkirchen geboren, wollte schon mit acht Jahren Schriftsteller werden. Seit seinem 14. Lebensjahr veröffentlicht er seine Geschichten. Heute lebt er an der Nordseeküste. Er schrieb viele Psychothriller und Krimis fürs Fernsehen. Seine Bücher wurden in 24 Sprachen übersetzt und über neun Millionen Mal verkauft. Er gilt als leidenschaftlicher Geschichtenerzähler, der es liebt, auf langen Lesereisen aus seinen Büchern vorzulesen.
Seine »Ostfriesen-Krimis« sind inzwischen Kult geworden.
www.klauspeterwolf.de
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Covergestaltung: buxdesign, München
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei Fischer Digital
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2015
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
Impressum der Reprint Vorlage
ISBN dieser E-Book-Ausgabe: 978-3-10-560428-1
In der Schule lernt man echt nur Mist. Völlig unnötiges Zeug. Was man wirklich braucht im Leben, bringt einem da keiner bei. Lügen zum Beispiel. Gut zu lügen ist unheimlich schwer. Eine richtige Kunst ist es und nichts für Blödies.
Erst mal muss man wissen, wann eine Lüge besser ist als die Wahrheit. Gestern zum Beispiel: Im Friseurgeschäft meiner Mama saß eine neue Kundin. Lange blonde Haare und gut zehn Jahre jünger als sie. Ich wollte nur schnell durch den Laden huschen, aber Mama hielt mich fest. »Sehen Sie, Frau Sommer, das ist mein Sohn Felix. Felix, sag der Dame Guten Tag.«
Hätte ich jetzt sagen sollen: »Wir kennen uns, Mama. Gestern Morgen hat Frau Sommer noch mit Papa gefrühstückt. Sie hatte das Oberteil von seinem Schlafanzug an. Er die Hose. Weißt du, der Schlafanzug mit den silbernen und blauen Streifen, den du Papa zu Weihnachten geschenkt hast. Als Frau Sommer die Milch aus dem Kühlschrank geholt hat, habe ich das Tattoo auf ihrem Po gesehen. Das ist Klasse! Ein bunter Clown. Lässt du dir auch so etwas machen? Papa gefällt’s.«
Ja, das wäre die Wahrheit gewesen. Aber ich erkannte glasklar: Jetzt ist eine Lüge für alle Beteiligten besser.
Also gab ich Frau Sommer brav die Hand und log: »Nett, Sie kennen zu lernen. Ich heiße Felix. Felix Schnupfen. Schnupfen wie Husten. Nur ohne Keuchen.«
Sagte ich schon, dass meine Eltern geschieden sind? Ja, sie können sich nicht mehr ausstehen. Wenn es mich nicht gäbe, hätten sie längst jede Verbindung zueinander abgebrochen. Aber da sie mich nun einmal haben, geht das nicht. Ich bin eine Art Brücke oder Klebstoff. Und Mama ist immer noch eifersüchtig. Sie will es nicht sein, aber sie ist es. Mir kann sie nichts vormachen. Es tut ihr jedes Mal wieder weh, wenn sie hört, dass Papa eine Neue hat.
Zum Lügen: Erstens muss man wissen, wann man lügen soll. Zweitens, was die anderen hören wollen. Eine gute Lüge ist nämlich nichts anderes als der Versuch, dem anderen das zu erzählen, was er gerne hören möchte.
Zum Beispiel: Du hast dir Fischstäbchen und Pommes zu Mittag gewünscht. Deine Mama stellt aber Reis mit gedünstetem Gemüse auf den Tisch. Das Ganze schmeckt noch beschissener, als es aussieht. Jetzt kannst du ihr das natürlich sagen. Besser ist es aber, Magenschmerzen zu erfinden. Dann ist sie nämlich nicht beleidigt, sondern sogar besorgt um dich. Sie gibt dir keinen Stubenarrest, sondern kocht dir einen Tee. Mit ein bisschen Glück musst du nicht mal deine Hausaufgaben machen, sondern sie schreibt dir eine Entschuldigung. Die Lüge ist also ein Volltreffer.
Richtig gutes Lügen macht alle Menschen ein bisschen glücklicher. Stell dir vor, du hast eine Fünf im Diktat. Es nützt gar nichts, wenn du deinen Eltern vorlügst, es sei eine Sechs. Nein, das wäre eine total blöde Lüge. Die macht keinen glücklich. Im Gegenteil. Besser ist es, eine Vier zu erfinden. Oder eine Drei. Na klar, wenn man sowieso lügt, warum nicht gleich eine Eins? Tja, das ist eben die besondere Kunst des Lügens. Man sollte versuchen, so nah wie möglich bei der Wahrheit zu bleiben.
Immer klappt das nicht. Manchmal helfen auch die besten Lügen nichts mehr. Jahrelang habe ich versucht, mit Lügen die Ehe meiner Eltern zu retten. Als Papa mal wieder auf einer Sauftour mit seiner Band »Die Piraten« versackt ist, habe ich für Mama sogar Außerirdische erfunden. Ich habe ihr erzählt, die hätten Papa in ihrem Raumschiff entführt. Das hat Mama zwar nicht glücklich gemacht, aber sie war wenigstens nicht wütend auf ihn. Das änderte sich schlagartig, als er unrasiert, pleite und verkatert nach Hause kam. Er grinste Mama an und sagte: »Schau nicht so, Schatz. Ich habe mit meinen Kumpels an einem neuen Song gearbeitet.«
Also, Lügen helfen nur, wenn sie auch glaubhaft sind.
Meine Eltern sind so unterschiedlich, wie Menschen nur sein können. Meine Mama trinkt zum Essen Mineralwasser mit wenig Kohlensäure, mein Papa Bier. Meine Mama findet, Raucher sind dumme Stinker, mein Papa dagegen hält Nichtraucher für verklemmte Gesundheitsapostel. Kein Wunder, dass sie nicht miteinander leben konnten. Aber ich soll es schaffen. Vierzehn Tage wohne ich mit Papa in seiner »überdachten Müllhalde«, wie Mama seine Wohnung in der Gierather Straße nennt. Die Gierather Straße verbindet Köln und Bergisch-Gladbach. Pa wohnt gerade noch in Köln. Ein paar Häuser weiter beginnt schon Bergisch-Gladbach. Für die Kölner ist das schon Bergisch-Gladbach und die Gladbacher behaupten natürlich, es sei Köln.
Die restlichen vierzehn Tage wohne ich bei Mama, über dem Friseursalon in der Bergisch-Gladbacher Straße, in ihrer »keimfreien Puppenstube.« So nennt Papa Mamas Wohnung.
Ich weiß eigentlich nie so richtig, wo ich hingehöre.
Ich erzähle bei Mama nur Gutes über Papa und bei Papa nur Gutes über Mama. Das ist dann entweder erlogen oder erfunden oder zumindest geschummelt. Ich weiß, die zwei kommen nicht mehr zusammen. Aber die Hoffnung habe ich trotzdem nicht aufgegeben. In diesem Fall belüge ich mich wohl selber. Aber wer tut das nicht?
Mein Papa zum Beispiel, der spielt den Rockstar. Er kennt ganz viele echte Stars. Er duzt sie und nennt sie seine Freunde, wenn er über sie redet. Aber sie lassen ihn nicht in ihren Bands mitspielen. An seinem Geburtstag hat ihn auch noch nie einer von ihnen besucht. Aber für ihre Konzerte bekommen wir meistens Freikarten. Wir dürfen sogar hinter die Bühne. Als ich kleiner war, saß ich bei meinem Pa auf den Schultern. Von da konnte ich gut sehen. Jetzt bin ich zu schwer, stehe meistens neben ihm im Gedrängel und sehe nur Hintern, Hüften oder Bäuche. Für mein Alter bin ich nämlich nicht nur ziemlich schlau, sondern leider auch ziemlich klein.
Heute Abend verdient mein Papa mit seinem Saxofon ausnahmsweise mal Geld. Das ist ihm eher peinlich und keiner darf es wissen. Papa spielt diesmal nämlich nicht richtig guten Blues in einem verrauchten Club. O nein, es ist eine Tanzkapelle, wo unter einem Smoking gar nichts läuft. Den hat er sich von dem Typ geliehen, für den er einspringt. Der heißt Gert und hat Grippe. Papa hofft, dass ihn keiner von seinen Freunden dort sieht, denn er macht diesen Job nur fürs Geld und hasst sich regelrecht dafür. Er fühlt sich, als würde er den Blues verraten, bloß um die Miete bezahlen zu können.
Bis zum Wochenende schlafe ich noch bei Mama.
Ich spüre immer gleich, wenn etwas nicht stimmt. Jetzt zum Beispiel. Sie hat ein neues Kostüm an. Dunkelblau oder hellschwarz oder so ähnlich. Darunter eine Bluse, weiß wie frisch gefallener Schnee, und der Kragen hart wie eine zugefrorene Pfütze. Dazu schwarze Strümpfe, die seidig glänzen, und hochhackige Schuhe. Wenn sie einen Abend mit mir zu Hause verbringt, sieht sie normalerweise anders aus. Und vor dem Essen hat sie mich so komisch angesehen.
Sie macht gerade eine Entwässerungsdiät. Blöderweise in der Woche, in der ich bei ihr bin. Also löffle ich genau den gleichen Milchreis wie sie – aber mit Obst und Zimt drauf. Sie isst ihn pur. Den Löffel hält sie mit spitzen Fingern, denn der blutrote Nagellack ist noch nicht ganz trocken. Sie bewegt die Hände so, dass die Fingernägel nichts berühren. Der Lack passt farblich genau zum Lippenstift, auf dem der Milchreis Spuren hinterlässt.
Nach ein paar Löffeln stupst sie mir auf die Nase und flötet: »Na, weißt du, wo dein Vater sich heute Abend rumtreibt?«
So, wie sie das sagt, ahne ich gleich, dass dieser Frage noch etwas folgen wird. Sonst tut sie immer, als sei ihr völlig egal, was »der verlotterte Kerl mit seinem Leben anfängt«.
Vielleicht, denke ich, liebt sie ihn doch noch. Wenigstens ein bisschen. Sonst würde sie nicht fragen.
Ich will ihn nicht verraten. Also erfinde ich eine glaubhafte Lüge.
»Och, wahrscheinlich hängen wieder seine Musikerfreunde bei ihm rum. Sie trinken Bier, üben Lieder oder sehen fern.«
Sie scheint erfreut zu sein, doch diese Lüge kehrt sich sofort gegen mich.
»Könntest du dann heute ausnahmsweise eine Nacht bei Papa schlafen, obwohl jetzt eigentlich meine Felixwoche ist?«
Im Spiegel hinter meiner Mutter sehe ich mein Gesicht. Mein Mund klappt auf und geht nicht wieder zu, als hätte ich zu viel von dem Milchreis in mich hineingestopft. Noch vor kurzem ist sie ausgeflippt, wenn sich meine Übergabe auch nur um eine halbe Stunde verzögert hat. Sie besteht normalerweise darauf, dass die Zeiten genau eingehalten werden. Deswegen konnte ich auch nicht mit zum letzten Open-Air-Konzert. Da wären wir nämlich frühestens Sonntagnacht zurückgekommen. Sie hätte mich also nicht wie immer um 15.00 Uhr bekommen. Papa wollte ihr dafür sogar einen Felixtag mehr geben, aber sie ist hart geblieben. »Ordnung muss sein«, sagt sie. Und jetzt will sie mich freiwillig für eine Nacht, die ihr zusteht, zu ihm lassen? Da stimmt etwas nicht!
Sie streicht sich die Locken aus der Stirn. Ich kenne diese Handbewegung. Jetzt fährt sie mit den Fingern über ihre Wangen. Es sieht aus, als ob sie unsichtbare Spinnweben vor dem Gesicht zerteilen müsste. Das tut sie immer, wenn sie etwas verheimlichen will oder wenn ihr etwas peinlich ist.
Sie wiederholt die Geste drei Mal. Das bedeutet: Sie wird mir nun eine besonders dicke Lüge auftischen. Meine Mama lügt viel wie alle Erwachsenen. Aber sie macht es nicht besonders gut. Wenn ich so einfallslos belogen werde, dann fühle ich mich nicht für voll genommen. Ich werde total sauer, bin richtig beleidigt. Bin ich keine intelligente Lüge wert? Muss man sich mir gegenüber keine Mühe geben?
Mein Papa kann ganz gut lügen. Aber an mich kommt keiner ran. Ich bin der Meister.
Mama holt Luft. Sie wird beim Lügen auch noch kurzatmig wie eine Anfängerin. »Ich … ähm … ich möchte heute Abend gerne ausgehen. Mit einer Freundin.«
Jetzt hält sie einen Moment die Luft an und fragt sich, ob ich die Lüge geschluckt habe. Ich bin doch nicht blöd.
Ihr Ausatmen ist ein einziges Stöhnen. Sie sieht es mir an: Ich glaube ihr kein Wort. »Aber sonst bist du doch immer sauer auf Papa, wenn der mich mal alleine lässt.«
»Ich gehe ja auch nicht jeden Abend in die Kneipe.«
»Papa auch nicht. – Kenne ich deine Freundin?«
Wieder fingert sie an ihren Haaren herum. »Ich glaube nicht.«
»Du kannst ruhig mit ihr ausgehen, Mama. Mir macht das nichts. Ich bin doch kein Baby mehr. Ich fürchte mich nicht. Ich kann ja so lange fernsehen.«
»Aber ich will nicht, dass du viereckige Augen bekommst. Es ist besser, du gehst zu deinem Vater.«
»Aber bei dem sehe ich doch auch nur fern.«
Sie holt tief Luft und ihr Blick weicht meinem aus. Warum fällt es den Leuten nur so schwer, einem in die Augen zu schauen, wenn sie lügen? Die ganz miesen Lügner glotzen auf ihre Fußspitzen, wenn sie ihre fadenscheinigen Erfindungen herunterstammeln. Wer beim Lügen nach unten schaut, weiß, dass ihm keiner glaubt. Er wäre vermutlich selbst nicht blöd genug, den Quatsch zu glauben, den er erzählt.
Ich ahne hinter Mamas stümperhaften Versuchen längst die Wahrheit: Sie hat einen Freund. Zum ersten Mal, seit sie von Papa getrennt ist, hat sie sich neu verliebt. Und ich wette, sie will ihren Verehrer heute Abend mit nach Hause bringen. Vielleicht lädt sie ihn zu einer Tasse Kaffee ein. Sie will nicht, dass ich dabei bin und dann schlecht von ihr denke. Zum Beispiel, dass sie einen genauso lockeren Lebenswandel führen würde wie mein Papa.