Carolin Emcke
Wie wir begehren
FISCHER E-Books
Carolin Emcke, geboren 1967, studierte Philosophie in London, Frankfurt/Main und Harvard. Sie promovierte über den Begriff »kollektiver Identitäten«. Von 1998 bis 2013 bereiste Carolin Emcke weltweit Krisenregionen und berichtete darüber. 2003/2004 war sie als Visiting Lecturer für Politische Theorie an der Yale University. Sie ist freie Publizistin und engagiert sich immer wieder mit künstlerischen Projekten und Interventionen, u.a. die Thementage „Krieg erzählen“ am Haus der Kulturen der Welt. Seit über zehn Jahren organisiert und moderiert Carolin Emcke die monatliche Diskussionsreihe »Streitraum« an der Schaubühne Berlin. Für ihr Schaffen wurde sie mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Theodor-Wolff-Preis, dem Otto-Brenner-Preis für kritischen Journalismus, dem Lessing-Preis des Freistaates Sachsen und dem Merck-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. 2016 erhält sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Bei S. Fischer erschienen ›Von den Kriegen. Briefe an Freunde‹, ›Stumme Gewalt. Nachdenken über die RAF‹, ›Wie wir begehren‹ und ›Weil es sagbar ist: Über Zeugenschaft und Gerechtigkeit‹. Im Oktober 2016 erscheint ihr neues Buch ›Gegen den Hass‹.
Coverabbildung: Cy Twombly, Fifty Days at Iliam: The Fire that Consumes All before It, 1978, Philadelphia Museum of Art © 2011 Cy Twombly Foundation.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-401083-0
Willibald Gluck, Orpheus ed Eurydice, Libretto, zitiert nach http://www.opera-guide.ch/opera.php?vilang=de&id=131# libretto
Nidda V, VII, Babylonischer Talmud in der Übertragung von Lazarus Goldschmidt, Bd. 12, Frankfurt a. M. 1996, S. 500.
Darüber habe ich an anderer Stelle schon mal geschrieben. www.carolin-emcke.de/de/article/54.blog-aus-gaza.html
Martin Dannecker/Reimut Reiche, Der gewöhnliche Homosexuelle. Eine soziologische Untersuchung über männliche Homosexuelle in der BRD, Frankfurt a. M. 1974.
Siehe auch den erschütternden Bericht über sexuellen Missbrauch in der Odenwaldschule: Jürgen Dehmers, Wie laut soll ich denn noch schreien? Die Odenwaldschule und der sexuelle Missbrauch, Reinbek 2011.
Franz Schubert, »Der Erlkönig«, nach einem Gedicht von Johann Wolfgang von Goethe, in: Werke, Band 8, Sanssouci Ausgabe, Potsdam, ohne Jahr, S. 127.
Vgl. den wunderbaren Band von Erwin In Het Panhuis, Aufklärung und Aufregung – 50 Jahre Schwule und Lesben in der BRAVO, hrsg. vom Archiv der Jugendkulturen Verlag KG, Berlin 2010, auf dessen Recherchen und Analysen ich mich im Folgenden auch immer wieder beziehe.
Ebenda, a.a.O., S. 62.
Ebenda, S. 52.
Ebenda, S. 50.
Ebenda, S. 38.
Erst mit Facebook ist ein virtueller Raum entstanden, in dem sich Jugendliche frei artikulieren, in dem sie, in aller Öffentlichkeit, eine eigentlich private Sprache sprechen, eine, die »ich« sagt, die eine Subjektivität erst entwickelt, die ansonsten verwehrt ist. Doch das gab es noch nicht bei unserer ersten Begegnung mit Ibrahim.
Die theologischen Grundlagen dieser Ablehnung der Homosexualität in muslimischen Ländern sind durchaus umstritten. Scott Siraj al-Haqq Kugle argumentiert in seiner beeindruckenden Studie, dass keine Verse im Qu’ran eindeutig Homosexuelle verdammen und einige sogar nahelegen, dass sie toleriert werden könnten. Siehe: ders., Homosexuality in Islam. Critical Reflections on Gay, Lesbian, and Transgender Muslims, Oxford 2010.
Zitiert nach: Ralf Dose, »Der § 175 in der Bundesrepublik Deutschland«, in: Katalog zur Ausstellung »Die Geschichte des § 175 – Strafrecht gegen Homosexuelle«, Berlin 1990, S. 122–145. Siehe auch: Rainer Hoffschildt, »140000 Verurteilungen nach ›§175‹«, in: Fachverband Homosexualität und Geschichte e.V. (Hrsg.), Denunziert, verfolgt, ermordet: Homosexuelle Männer und Frauen in der NS-Zeit, Invertio, Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten, 4. Jahrgang, Hamburg 2002.
Vgl. vor allem die Formulierungen von Juristen wie Dr. Rudolf Klare, zitiert in: Hans Georg Stümke/Rudi Finkler, Rosa Winkel, Rosa Listen – Homosexuelle und »gesundes Volksempfinden« von Auschwitz bis heute, Hamburg 1981, S. 222f. sowie 344.
Zur Paranoia der Ansteckung in der amerikanischen Armee siehe auch: Judith Butler, Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998, S. 149–181.
Zitiert nach: Hans-Georg Stümke, Homosexuelle in Deutschland. Eine politische Geschichte, München 1989, S. 183f.
Zitiert nach Ron Steinke, »Ein Mann, der mit einem anderen Mann … Kurze Geschichte des § 175 in der Bundesrepublik«, in: Forum Recht, Heft 2/2005, S. 60–63.
Zu den verschiedenen »Schutzalter«-Diskussionen siehe: Ralf Dose (Anm. 14), S. 134f.
Interessanterweise wurden in der DDR, ab dem Jahr 1968, als ein eigenes Strafgesetzbuch eingeführt wurde, gemäß § 151 auch Frauen verurteilt, die homosexuelle Handlungen mit Jugendlichen begingen.
Zitiert nach: Ralf Dose (Anm. 14), S. 123.
Zitiert nach: Ralf Dose (Anm. 14), S. 126.
In einem Interview 1964 mit Günter Gaus, Zur Person, Portraits in Frage und Antwort, München 1965, S. 20.
Als Vorlage diente der Urtext, J. S. Bach, Das Wohltemperierte Klavier, Teil 1, Hrsg. Ernst Günter Heinemann, Fingersatz von Andras Schiff, Henle Verlag. Siehe auch die kluge Analyse von Siglind Bruhn, J. S. Bachs Wohltemperiertes Klavier, Analyse und Gestaltung, o.O. 2006.
Glenn Gould, Von Bach bis Boulez, Schriften zur Musik Band 1, München 1986, S. 37.
Georg Büchner, »Leonce und Lena«, in: Werke und Briefe, Erster Band, Frankfurt a. M. 1958/1979, S. 121.
Joseph Brodsky, »Weniger als man«, in: ders., Erinnerungen an St. Petersburg, München 1986/1993, S. 12.
Ebenda, S. 13.
The Shere Hite Reader, New and Selected Writings on Sex, Globalisation, and Private Life, New York/Toronto 2006.
Vgl. Hubert Fichte, Interviews aus dem Palais D’Amour etc., Hamburg 1972, S. 5f.
Siehe: Lydia Cacho, Sklaverei – Im Inneren des Milliardengeschäfts Menschenhandel, Frankfurt a. M. 2011.
Vgl. »Homosexuelle bespitzelt«, Eine Dokumentation des »Hamburger Lesben und Schwulen Verbundes« in Zusammenarbeit mit »Du & Ich«, o.O., 1980.
Vgl. »Der Weg eines Gerüchts«, von Rolf Zundel, erschienen in: DIE ZEIT 09/1984, http://www.zeit.de/1984/09/der-weg-eines-geruechts.
»Kohl: ›Das läuft nicht gut‹«, Titelgeschichte des Spiegel, Ausgabe Nr. 3, 1984, in: Berichterstattung des SPIEGEL zum Thema Homosexualität, 1947 – August 1990, hrsg. von: Verein zur Förderung der Erforschung der Geschichte der Homosexuellen in Nordrhein-Westfalen e.V., Köln o.J., S. 294.
Vgl. »Ein Abgrund von Sumpf hat sich aufgetan«, Der Spiegel, ebenda, S. 305.
Zitiert nach »Soldaten als potentielle Sexualpartner«, Der Spiegel, Nr. 3, 1984, in: ebenda, S. 295.
MAD-Bericht des Brigadegeneral Behrendt, zitiert nach: »Ein Abgrund von Sumpf hat sich aufgetan«, Der Spiegel, ebenda, S. 306.
Ebenda.
»Es geht nicht nur um meine Rehabilitierung«, SPIEGEL-Interview mit dem entlassenen Vier-Sterne-General, Der Spiegel, Nr. 3, 1984, ebenda, S. 293.
Über die Frage des Umgangs mit »falschen« Zuschreibungen oder pejorativ belasteten Zuschreibungen habe ich länger geschrieben in: Carolin Emcke, Kollektive Identitäten – sozialphilosophische Grundlagen, Frankfurt a. M. 2000/2010, S. 121.
Wie furchtbar wirkungsmächtig diese Art von Zuschreibungen heute auch mit Hilfe des Internets sein können, zeigt der Fall des Jungen Joel, der sich das Leben nahm, nachdem er sich im Netz sexuellen Diffamierungen ausgeliefert sah. Siehe dazu: Rebecca Casati, »Geh sterben, Du Schlampe«, in: Süddeutsche Zeitung, 9./10. April 2011, Nr.83, Wochenendbeilage. Die Komplexität dieser Fälle besteht darin, dass sie einerseits die real erlebte Erniedrigung von Jugendlichen oder Erwachsenen beschreiben, die als »schwul« bezeichnet werden und darin eine soziale Diffamierung erleben. Andererseits gelänge diese Diffamierung nicht, wenn die Zuschreibung »Homosexualität«, wahr oder falsch, gar nicht als problematisch markiert wäre.
Ludwig Börne, »74. Brief aus Paris vom 7. Februar 1832«, in: ders., Briefe aus Paris, Auswahl von Manfred Schneider, Stuttgart 1977, S. 146.
Zur Kritik der eindimensionalen Identitätspolitik siehe auch Amartya Sen, Identity and Violence: The Illusion of Destiny, London 2007.
Bewunderungswürdige Ausnahme scheint Maren Kroymann zu sein, die als Schauspielerin nahezu alles spielen kann und darf, ganz unabhängig von ihren privaten Vorlieben, und der das Regisseure auch zutrauen.
Im Internet lassen sich dankenswerterweise ganze Tracklists oder Aufnahmen von damals finden: http://redbullmusicacademyradio.com/shows/640/.
Siehe die kluge Analyse der Repräsentation von Aids von Brigitte Weingart, Ansteckende Wörter, Repräsentation von Aids, Frankfurt a. M. 2002, S. 7f.
»Eine Epidemie, die erst beginnt«, Der Spiegel, Nr. 18/1983, S. 147.
»Ich bin en Tunt, bin kernjesund«, in: Der Spiegel, Nr. 29/1984, S. 134.
Ebenda, S. 133.
Siehe die Information des Lesben- und Schwulenverbands Deutschland zum Adoptionsrecht von Lesben und Schwulen: http://www.lsvd.de/1210.0.html oder auch die Materialsammlung der Bundeszentrale für politische Bildung zur »Rechtlichen Stellung von gleichgeschlechtlichen Eltern«, http://www.bpb.de/themen/BXH32F.html.
Die Thesen von Kauder habe ich schon einmal in einem kurzen Blog-Eintrag diskutiert, siehe: http://www.carolin-emcke.de/de/topic/22.blog.html?start=5.
In der »Musterrichtlinie für die Durchführung der assistierten Reproduktion«, die vom Vorstand der Bundesärztekammer auf Empfehlung der Wissenschaftlichen Beirats herausgegeben wurde, heißt es: »Methoden der assistierten Reproduktion sollen unter Beachtung des Kindeswohls grundsätzlich nur bei Ehepaaren angewandt werden.« www.bundesaerztekammer.de/downloads/Kuenstbefrucht_pdf.pdf.
In einer Erklärung zu den Richtlinien der Bundesärztekammer argumentiert Manfred Bruns, der Sprecher des Lesben- und Schwulenverbandes in Deutschland, die Kommentare der Richtlinie seien »nicht bindende Auslegungshinweise«. Bruns betont, dass sie verfassungsgemäß auszulegen seien, und demnach assistierte Reproduktion auch bei lesbischen Paaren nicht verboten sein könne. »Wie sich aus der Ermächtigungsnorm in den Berufsordnungen bei Landesärztekammern ergibt (jeweils § 13, Abs. 1), sollen die ›Richtlinien zur assistierten Reproduktion‹ unethisches Verhalten der Ärzte bei künstlichen Befruchtungen verhindern. Die künstliche Befruchtung von Lebenspartnerinnen ist nicht unethischer als die von Ehepartnern und festgefügten eheähnlichen Paaren. Auch bei diesen erlauben die Richtlinien die Verwendung von Fremdsamen.« http://lsvd.de/1677.0.html#c7766
Das berühmte Vexierbild wurde erstmals von dem Psychologen Joseph Jastrow verwendet. Joseph Jastrow, Fact and Fable in Psychology, Boston 1900, die Vorlage für das Bild hier ist kopiert aus: http://mathworld.wolfram.com/Rabbit-DuckIllusion.html.
Ludwig von Wittgenstein, »Philosophische Untersuchungen«, in: Werkausgabe Band 1, Frankfurt a. M. 1993, S. 519ff.
P. Brugger und S. Brugger »The Easter Bunny in October: Is It Disguised as a Duck?« in: Perceptual Motor Skills 76, S. 577 bis 578, 1993.
Der amerikanische Autor Daniel Mendelsohn beschreibt eine ähnliche Sehnsucht oder Intuition, die ihm durch die Struktur des klassischen Altgriechisch vermittelt wurde: das Sowohl-als-auch, das »men« und »de«, das einerseits und andererseits, die Gegensätze, die sich nicht ausschließen, die in einem existieren können. »If you spend a long enough time reading Greek literature, that rhythm begins to structure your thinking about other things, too. The world men you were born into; the world de you choose to inhabit.« Daniel Mendelsohn, The Elusive Embrace – Desire and the Riddle of Identity, New York 1999, S. 26.
Wie wir begehren
»Il y a autant de différence de nous à nous-même que de nous à autrui.«
Montaigne
»Die Saite des Schweigens gespannt auf die Welle von Blut …«
Ingeborg Bachmann
»So quälte ich mich mit der Welt,
dass ich begann, mir Sprichwörter auszudenken.
Lange Wahrheiten gibt’s und kurze.
Und folgt die Strafe nicht auf dem Fuß,
musst Du die Schuld ableben durchs Leben.«
Jan Skácel
Vielleicht ist das der Grund für diese Geschichte. Vielleicht muss sie so beginnen: mit der Schuld, einer Schuld, die sich nicht abtragen, sondern nur ableben lässt durchs Leben. Vielleicht ist es eine Illusion, dass sich Schuld abbauen ließe, als sei sie aus Erz oder Kohle, als ließen sich Brocken herausschlagen, kleine Klumpen, die fortgetragen, zerkrümelt, aufgelöst werden könnten. Vielleicht gehört das Erzählen so zum Leben wie das Schweigen zum Tod. Und vielleicht lässt sich nur so, erzählend, die lange Wahrheit dieser Geschichte begreifen.
Warum gerade wir ausgewählt wurden, weiß ich nicht. Die anderen Schüler, vor allem die Jungen, standen um uns herum und stichelten. Vielleicht waren es außer mir auch nur Jungen. Das wäre mir nicht aufgefallen. Es war eine Zeit, in der die Unterschiede noch nicht besonders relevant waren. Oder zumindest für mich nicht. Sie lauerten wie ein Rudel Wölfe, im unförmigen Kreis, ohne klare Ordnung. Linkisch und bissig wagte sich mal einer, mal ein anderer vor und schubste uns, Daniel oder mich, mit einem Schlag gegen die Schulter: »Na los!«
Wir standen am Rand des lehmigen Fussballfeldes, das eigentlich kein richtiges Fussballfeld war, sondern nur eine größere Lichtung im waldigen Hügel, gleich neben dem Schulgebäude. Heutzutage gibt es das vermutlich gar nicht mehr, einen nichtasphaltierten Hof. Damals war der Platz etwas verwildert, neben dem eigentlichen Hof mit den Bänken und Geländern und dem ewig zugigen, grauen Toilettenhäuschen. Es gab zwei Tore ohne Netze und ein Feld ohne Linien.
»Na los!«, sie waren erschrocken über den eigenen Mut, ängstlich vor der eigenen Feigheit, immer darauf bedacht, was die anderen von ihnen denken könnten. »Na los, prügelt euch.« Sie schnappten und wichen wieder zurück, jeder beobachtete jeden, die schmächtigen Körper etwas gebeugt, den Kopf tief, etwas zu aggressiv, etwas zu devot, immer auf der Hut, ob sich die Gewalt, die sie gerade auf uns lenken wollten, im nächsten Moment gegen sie selbst kehren könnte, eine Meute aus Kindern.
Es war der erste Schultag am Gymnasium. Der Tag hatte in der Turnhalle begonnen. Warum die Begrüßungszeremonie der Neuankömmlinge und die Vorstellung der Klassenlehrer für die drei fünften Klassen nicht in der Aula stattfanden, weiß ich nicht. Wir saßen auf hölzernen Bänken neben unseren Müttern oder Vätern und warteten darauf, welcher Klasse wir zugeordnet würden. Was wir von den Lehrern zu erwarten hatten, ob sie beliebt oder unbeliebt waren, konnten wir heraushören am klatschenden Kommentar der älteren Schüler, die der Veranstaltung aus Langeweile oder Gehässigkeit beiwohnten. Wenn ich es heute recht bedenke, muss es sich für die drei Lehrer, die da am Ende der Halle unter dem Basketball-Korb standen, entsetzlich angefühlt haben. Wie ihre Namen aufgerufen wurden, sie mit lauten Pfiffen oder allzu leisem Applaus bedacht wurden und sie so, schon im Moment der Ernennung zum Klassenlehrer, vor ihren neuen Schülern jede Autorität verloren. Vermutlich waren sie deswegen da, die älteren Schüler, weil dies der einzige Moment im Jahr war, an dem sie sich rächen konnten. Ich weiß noch, dass sie mir ein wenig leidtaten, die Lehrer, die sich da ausliefern mussten. Und ich weiß noch, dass mir diese Atmosphäre des kollektiven Urteils, das ich als solches damals gar nicht hätte benennen können, unheimlich war.
Wir verfolgten nur die alphabetischen Namenslisten, warteten unseren Buchstaben ab, hörten unseren Namen und bangten dann, ob auch all die vertrauten Freunde aus der Grundschule genannt würden. Ich hatte Glück. Meine liebsten Spielgefährten aus den vorangegangenen Jahren wurden alle derselben Klasse zugeteilt. Wer die anderen Unbekannten waren, die folgten, war gleichgültig. Entscheidend war nur, nicht allein in diese neue Welt gestoßen zu werden. Dann löste die Versammlung sich auf, die Eltern verabschiedeten sich, und wir gingen in der gerade neusortierten Gruppe hinter der neuen Klassenlehrerin die Treppen zum Gebäude der fünften und sechsten Klassen hinunter. Wir waren etwas abseits, am Fuß des Hügels, in einer eigenen versunkenen Welt, nicht mehr ganz Grundschule, aber auch noch nicht Gymnasium.
Und da standen wir nun. An der Ecke von diesem Fußballfeld. Gleich neben dem mit Brennnesseln bewachsenen Abhang. In einer der ersten Pausen. Sie muss eine kurze Pause gewesen sein. Die lange Pause wurde immer als wirkliche Pause, also zum Fußballspielen genutzt. Die kurzen taugten für nichts Halbes und nichts Ganzes. Da unten, bei den Unterstufengebäuden, gab es keinen Bäcker, keine Eisdiele, nichts, wohin man eben mal hätte verschwinden können. Für eine Raucherecke, wie es sie später geben sollte, waren wir zu jung oder zu wenig verwegen. Vielleicht hatten wir auch einfach zu wenig Phantasie, wie sich die Lust an der Grenzüberschreitung ausdrücken sollte.
Wir wollten nicht, weder Daniel noch ich. Etwas verstohlen schauten wir uns an. Wir kannten uns ja gar nicht. Von welcher Grundschule Daniel auf dieses Gymnasium gewechselt war, wusste ich nicht. Aber ich wusste, dass ich ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Er hatte blonde Haare und weit auseinanderstehende grüne Augen. Er war ein bisschen größer als ich, aber nicht viel. Seine Schultern waren eckig. Die Arme etwas zu lang. Aber auch das ist mir damals bestimmt nicht aufgefallen. Schließlich war bei jedem von uns irgendetwas zu lang oder zu kurz, war jeder von uns irgendwie leicht daneben, und sei es nur, weil wir dachten, die anderen könnten das von uns denken. Daniel hatte eine angenehme Erscheinung. Es gab keinen Grund, warum er ausgewählt wurde in diesem Moment am ersten Schultag. Es war wahllos. Es traf einfach uns.
Ich wusste nicht richtig, was das sollte, warum wir uns denn schlagen sollten. Daniel hatte mir nichts getan. Es gab kein Motiv. Ich hatte mich schon oft gerauft. Schon an meinem ersten Tag im Kindergarten. An meinem ersten Tag in der Grundschule auch. Grundsätzlich sprach also nichts gegen eine Prügelei am ersten Tag auf dem Gymnasium. Ich habe einen älteren Bruder. Raufen gehörte zum gewöhnlichen Repertoire des Überlebens. Aber ich musste wütend sein über etwas, das der andere getan hatte, was ich gemein fand. Einfach so, ohne angegriffen worden zu sein, auf jemanden loszugehen, das konnte ich nicht. Vielleicht verstand ich auch einfach das Spiel nicht: diesen Versuch einer amorphen Gruppe, in sich eine Hierarchie zu schaffen, diesen Versuch jedes einzelnen Schülers, nur ja nicht selbst im Kreis zu landen, nur nicht selbst getestet zu werden, nur nicht selbst, schon am ersten Tag, ausgegrenzt zu werden. Nur deswegen formten sie diesen Kreis, nur deswegen trauten sie sich so viel zu, weil sie sich nichts zutrauten, nur deswegen brauchten sie diese Situationen, in denen andere als Schwächlinge markiert werden konnten.
Als Schwäche konnte allerdings beides gelten: sich zu prügeln wie sich nicht zu prügeln. Wer sich von den anderen aufstacheln ließ, traute sich vielleicht nicht zu, sich gegen die Gruppe zu wehren. Wer sich nicht aufstacheln ließ, traute sich vielleicht nicht zu, gegen einen anderen zu gewinnen. Eine psychische Niederlage das eine, eine physische das andere. Ich gebe zu, dass mich die Aussicht zu verlieren als erfahrene kleine Schwester keineswegs beunruhigte. Das war ich gewohnt. Jede Kraftprobe, jeden athletischen Wettkampf, jede Prügelei verlor ich. Meine ganze Kindheit hindurch. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich die einzelnen Wettkämpfe als besondere Niederlagen empfand, auch wenn sie nur aus einer Aneinanderreihung von Niederlagen bestanden. Ob es mich aus athletischem Ehrgeiz reizte, es zu versuchen, ob es aus Stolz darum ging, gegenzuhalten, das kann ich gar nicht sagen. Vermutlich war ich bloß stur.
Wenn ich überlege, warum ich in dieser Situation, damals, am ersten Schultag, keine Angst vor dem Verlieren hatte, kann ich nur ahnen, dass es etwas damit zu tun haben muss, dass ich ja ohnehin immer verlor. Ich glaube, darüber dachte ich nicht einmal nach. Vielleicht war das, die Angstfreiheit, der beste Schutz.
Die Szene verging, wie sie entstanden war, plötzlich und wortlos. Weil das Pausenzeichen ertönt oder irgendein Lehrer in der Nähe aufgetaucht war. Alle stoben auseinander. Die Anspannung war verflogen, wie sie entstanden war. Die meisten erinnerten schon am nächsten Tag nicht mehr, dass sie uns hatten aufstacheln wollen. Das war meine erste Begegnung mit ihm.
Warum er sich das Leben genommen hat, weiß ich nicht. Ich habe niemanden dazu befragt. Niemanden außer mir selbst. Gewundert habe ich mich nicht. Dabei ist das sonst so üblich. Jemand stirbt durch eigene Hand, und wir tun überrascht. Natürlich war ich erschrocken, als ich Jahre später, Jahre nach diesem ersten Schultag am Gymnasium und einige Zeit, nachdem Daniel unsere Schule verlassen hatte, hörte: »Daniel ist tot.« Da war er noch nicht einmal achtzehn. »Daniel ist tot.« Das klang schäbig. In dem Moment, in dem ich den Satz hörte, ekelte er mich auch schon an. Es war niemals nur ein erschrockener Ton, der angeschlagen wurde mit diesem Satz, immer lag unter der Betroffenheit noch etwas anderes. Erst dachte ich, das Intervall, das ich hörte, wenn über diesen Selbstmord gesprochen wurde, sei die gemeine Lust am Skandal, die mit angestimmt wurde, die voyeuristische Freude an dem Eklat, der dazu dient, im Niedergang des anderen vor allem das eigene Überleben zu feiern. Aber es war noch etwas anderes. »Daniel ist tot«, das war auch eine Art Bestätigung. Je entsetzter die Stimmen taten, die den Freitod kommentierten, desto zufriedener schienen sie zu sein. Als sei der Tod von Daniel ein später Triumph, als sei die Hetzjagd zu einem erfolgreichen Ende gekommen, der Schwächling doch noch ausgemacht.
Natürlich habe auch ich mich gefragt: Warum hat er sich das Leben genommen? Ich wollte wissen, gab es einen Brief, eine Ankündigung, eine Erklärung, etwas, das er hinterlassen hat. Aber ich habe mich das nicht gefragt, weil mir keine Gründe eingefallen wären. Ich habe mich das gefragt, weil mir Gründe einfielen. Weil ich wissen wollte, ob die Gründe, die mir einfielen, auch seine waren. Weil ich wissen wollte, wie viel sein Tod mit uns zu tun hatte, mit all diesen Kreisen, die gezogen werden, die einschließen und ausschließen und die sich nicht immer so schnell wieder auflösen wie jener erste Kreis, damals, am ersten Schultag. Was war an ihm, das ihn nicht überleben ließ? War da überhaupt etwas an ihm? Was fehlte ihm? Gab es eine Schwelle, die er nicht überschreiten konnte, eine, die ihn bewahrt hätte? Gab es eine Schwelle, die wir ihm verstellt hatten? Hatte sein Tod überhaupt mit ihm zu tun? Oder mit uns? Mit der Welt um ihn herum? Warum er und nicht ich? Hätte es nicht genauso viele Gründe für mich geben können? Warum war ich aus dieser Zeit hervorgegangen? Ich war mit ihm im Kreis gewesen. Hätte es nicht genauso für mich gelten können? Ist das nicht willkürlich, wen es trifft? Wer aus dieser Zeit der Kindheit, die keine mehr ist, wer aus diesen Jahren der Unbestimmtheit hervorgeht, ist das vorhersehbar?
War der Grund, warum ich noch Jahre nach dem Abitur gebraucht habe, um mein Begehren zu entdecken, derselbe wie der, warum er sich das Leben genommen hat? War die Sehnsucht, die wir nicht verstehen, nicht entdecken, nicht leben konnten in dieser Zeit, dieselbe?
Die Liste war ordentlich. Der Winkel, an dem sich die beiden Achsen kreuzten, war mit einem Geodreieck gezogen worden. Die Linien alle schnurgerade. Als sei es eine Hausaufgabe gewesen, die uns einer der Lehrer aufgetragen hätte. Als kontrollierten uns die Lehrer noch in all den Bereichen, in denen sie uns nicht kontrollierten. Feinsäuberlich waren die Namen alphabetisch in die Tabelle geschrieben worden. Es gab zwei Listen. Auf der Liste der Jungen verliefen die Namen der Jungen von oben nach unten, die der Mädchen von links nach rechts, die Liste der Mädchen war genau anders herum.
Die Welt teilte sich. Sie spaltete sich auf in Geschlechter, schon bevor die Körper sich dessen bewusst wurden, bevor sie eigentlich noch recht als Geschlechter entdeckt waren. Gewiss hatte es das auch vorher schon gegeben, diesen Riss in der Welt, der sich auftat als ein Naturgesetz ohne jede Natürlichkeit. Aber eigentlich spielte es vorher keine besondere Rolle. Es gab Jungen und Mädchen, Brüder und Schwestern. Natürlich hatten wir uns in unserer Verschiedenheit betrachtet und einander gezeigt. Ich hatte im Alter von gerade mal vier Jahren immerhin einen geliebten Schlumpf hergegeben, um den Nachbarsjungen zu bestechen, mir zu zeigen, wie er seine Vorhaut verschieben konnte. Ich hatte zwar einen Bruder, bei dem ich das auch hätte sehen können. Aber das wäre ganz gewiss niemals so billig zu haben gewesen. Natürlich gab es das schon, die feinen Unterschiede, aber sie bedeuteten bislang nur selten einen Unterschied.
Es gab getrennte Umkleidekabinen beim Sport. Da tauchten wir dann vorübergehend ab. In diese düsteren, etwas moderigen Räume, die die Geschlechtlichkeit von Anbeginn mit Dunkelheit und Schweiß assoziieren lassen sollte. Wir verschwanden aus dem gemeinsamen Leben, halbierten uns gleichsam für diesen kurzen Moment der Nacktheit, um uns direkt danach, angezogen, wieder zusammenzufügen. Am Ende, nach der Sportstunde, gingen wir wieder zurück in die Kabinen und schlüpften in unsere Anziehsachen. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir die verkalkten Duschen, die es gab, jemals benutzt hätten. Der Stundenplan sah auch gar nicht vor, dass Schüler ihre nassgeschwitzten Körper duschen sollten. Wir stoppten mit dem Sport kurz vor der Pause, und dann begann auch gleich die nächste Stunde im anderen Gebäude. Für langes Duschen – von Schminken war ohnehin noch nicht die Rede – blieb keine Zeit. Die Körperlichkeit von Jugendlichen oder das Waschen des jugendlichen Körpers kam den Lehrern oder der Schulleitung gar nicht in den Sinn. Einerseits hielten sie uns für zu jung, als dass wir überhaupt sinnlich genug sein könnten, um auf einen frischen und sauberen Körper Wert legen zu können. Andererseits hielten sie uns aber für zu alt, als dass wir uns noch hätten voreinander entblößen dürfen. Die Gemeinsamkeit, die Einheitlichkeit sollte es nicht geben. Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität waren gesetzt, noch bevor Geschlechtlichkeit oder Sexualität recht herangereift waren.
Mehr als fünfzehn Jahre später lernte ich im Urlaub zum ersten Mal einen Hermaphroditen kennen. Ich wusste bis dahin gar nicht, dass es das gab. Ich kannte nicht einmal das Wort. Zwitter waren göttliche Figuren aus der griechischen Mythologie, ineinandergeschobene Wesen. Etwas anderes kannte ich nicht. Ich hatte mich gerade von meinem Freund getrennt und war mit einer Freundin von der Universität in den Urlaub gefahren. Wir waren bei Freunden zu Gast und betranken uns den Nachmittag über und spielten Trivial Pursuit.
Irgendwann tauchte ein befreundetes Paar der Gastgeber auf. Ein italienischer Fotograf und seine Freundin Nicola. Sie war jung und hübsch, schmal und elegant, und sie spielte vergnügt mit bei diesem absurden Spiel. Es war nichts Besonderes an ihr, außer, dass sie in auffälliger Weise die simpelsten Fragen nicht beantworten konnte. Nun passiert das bei Trivial Pursuit jedem gelegentlich. Die Beliebtheit des Spiels erklärt sich schließlich nicht dadurch, dass es klassische Bildung belohnt. Auch noch so enzyklopädisch Gebildete scheitern an der Frage, wie die Schwiegermutter von Fred Feuerstein heißt oder wer auf der Bahn neben Jürgen Hingsen lief, als der disqualifiziert wurde. Insofern war es nichts Ungewöhnliches, dass jemand passen musste. Aber Nicola schien Fragen nicht nur nicht beantworten zu können, sie schien Fragen nicht einmal einem bestimmten Kontext zuordnen zu können. Es war nicht irritierend, was sie nicht wusste, sondern dass es gar keine Assoziationsfelder zu geben schien, an die sie einzelne Themen hätte koppeln können, keine gestuften Schichten des Wissens, in denen sich hätte suchen lassen. Nicola hatte anscheinend Blüten von Wissen, wie vereinzelt auf einer Wasseroberfläche, hin und her gespült, vom Wind herangetragen, ohne Anbindung.
Sie war keineswegs unglücklich über den Spielverlauf, sie schien noch nicht einmal zu bemerken, dass es unterschiedliche Arten von Fragen gab, leichtere und schwerere, Fragen, die Peripherien des Wissens erkundeten, und solche, die aus den geläufigeren Gebieten stammten. Sie lachte über ihre Ahnungslosigkeit und über unsere, sie zog Karte um Karte mit der gleichen Hoffnung, nun eine Frage erfolgreich beantworten zu können. Sie fischte wie mit einem großmaschigen Netz im Wasser und freute sich über jede Blüte, die sich darin verfing. Ihre Sorglosigkeit vor der eigenen Ignoranz war ansteckend und befreiend, und so lachten wir, tranken und spielten und wunderten uns nur ein wenig über diese charmante Frau.
Etwas später gingen einige zum Schwimmen zum Strand. Ich blieb im Haus und begann zu kochen. Ich wusch Zucchini und Auberginen, halbierte sie der Länge nach, dann pellte ich Knoblauchzehen langsam aus ihrer Haut und schnitt sie in dünne Scheibchen, ich weiß nicht, warum ich mich daran noch so genau erinnere, ich ging auf die Terrasse, um etwas Oregano aus dem Gewürzkasten zu pflücken, als meine Freundin plötzlich neben mir stand und sagte: »Etwas stimmt nicht.« Sie hatte nicht gesagt: »Etwas stimmt nicht mit ihr« – und doch war sofort klar, über wen sie sprach. Beim Schwimmen war sichtbar geworden, dass die junge, schöne Frau einen männlichen Unterleib hatte. Keiner sprach, worüber alle den Rest des Abends nachdachten. Bis Nicola und ihr Freund wieder gegangen waren. Dann erzählten uns unsere Gastgeber, was sie wussten von Nicola.
Nicola hatte einen Körper, der sich keinem eindeutigen Geschlecht zuordnen ließ. Sie war nicht transsexuell, sie hatte keine operative Geschlechtsumwandlung hinter sich, sondern sie war intersexuell. Sie war nicht in einen Körper hineingeboren, dessen eindeutiges Geschlecht ihr fremd war. Sondern sie war in einen Körper hineingeboren, der zwei Geschlechter entwickelt hatte und gleichsam unentschieden geblieben war. Ihre Pubertät, in der sich die Brüste gleichzeitig zu ihrem Penis ausbildeten, war eine Geschichte der fortlaufenden Ausgrenzung, weil die Ambivalenz ihres Geschlechts vor allem als soziale Bedrohung wahrgenommen worden war. Eine der qualvollsten Erfahrungen ihrer Schulzeit waren ausgerechnet die Umkleidekabinen beim Schulsport gewesen: Orte der Normierung, in die sie nicht eingelassen wurde, weil sie Eindeutigkeit verlangten. Sie hatte irgendwann die Schule aufgegeben. Nicht, weil sie die Anforderungen nicht hätte erfüllen können oder nicht gerne lernen wollte, sondern weil sie nicht passte in diese aufgeteilte Welt. Das war der Grund für ihre Wissenslücken.
Nicola führte vor, was für uns andere genauso galt: die Verordnung der Geschlechtlichkeit, die uns selbstverständlich erscheinen soll und die wir als Unhinterfragbares annehmen, weil es uns, in unseren Körpern, leichter fällt. So gleiten wir hinein in Normen wie in Kleidungsstücke, ziehen sie uns über, weil sie bereitliegen für uns, weil sie uns übergestülpt werden, weil sie sich anpassen oder weil wir, unbemerkt, uns anpassen. Normen als Normen fallen uns nur auf, wenn wir ihnen nicht entsprechen, wenn wir nicht hineinpassen, ob wir es wollen oder nicht. Wer eine weiße Hautfarbe hat, hält die Kategorie Hautfarbe für irrelevant, weil im Leben eines Weißen in der westlichen Welt Hautfarbe irrelevant ist. Wer heterosexuell ist, hält die Kategorie sexuelle Orientierung für irrelevant, weil die eigene sexuelle Orientierung im Leben eines Heterosexuellen irrelevant sein kann. Wer einen Körper besitzt, in dem er oder sie sich wiedererkennt, dem erscheint die Kategorie Geschlecht selbstverständlich, weil dieser Körper niemals in Frage gestellt wird.
Wer den Normen entspricht, kann es sich leisten zu bezweifeln, dass es sie gibt.
Besonders kurios war diese Zweiteilung beim Schwimmen im Freibad, das zum Gymnasium gehörte und zu dem wir, lange bevor es auch nur annähernd sommerlich und warm wurde, jedes Jahr genötigt wurden. In meiner Erinnerung gab es weder Schließfächer noch richtige Bänke, auf denen wir unsere Sachen ablegen konnten. Eigentlich gab es gar nichts außer dieser Trennung von Jungen und Mädchen. Was mich allerdings keineswegs daran hinderte, noch in Badehose zu schwimmen. Solange es bei mir nichts gab, das durch einen Badeanzug zu verdecken gewesen wäre, solange gab es für mich keinen Grund, einen Badeanzug zu tragen. Einfach als Marker weiblicher Identität leuchtete mir der Badeanzug nicht ein. Meiner Mutter glücklicherweise auch nicht. Das war noch nicht einmal ein bewusster Akt der Rebellion, kein Widerwillen dagegen, etwas Mädchenhaftes zu verkörpern. Ich verkörperte es ja kaum. Das war’s ja gerade. Wozu also ein Badeanzug? Vermutlich hätte ich es andersherum genauso wenig gewollt: wenn alle Kinder zunächst einen Badeanzug getragen hätten, und dann, ab einem bestimmtem Alter, die eine Gruppe zu einer Badehose hätte wechseln sollen. Vermutlich hätte ich das auch vermeiden wollen: anders zu werden als die anderen, sich plötzlich unterscheiden zu sollen von dem, was vorher einmal als normal gegolten hatte.
Wie wäre es wohl gewesen, wenn es diese Trennung nicht gegeben hätte? Wenn die Verschiedenheit als nicht bedeutsam gegolten hätte? Wenn Jungen und Mädchen als Kategorien irrelevant gewesen wären? Wenn das Geschlecht so wie die Haarfarbe eingestuft worden wäre: als Eigenschaft, als individuelle Körperlichkeit, die unterschiedlich ausfallen könnte, aber die keinerlei soziale Folgen hätte, die keinerlei kollektive Kasten schaffte? Und was wäre, wenn die Tabelle nicht nach Mädchen und Jungen unterschieden hätte, sondern einfach nur die Namen der Schüler untereinandergereiht hätte. Das war uns ja nicht einmal als Möglichkeit erschienen, dass auch Jungs hätten Jungs und Mädchen hätten Mädchen mögen können.
Sie kursierte, diese Tabelle, wanderte von Tisch zu Tisch, und dann trugen wir uns ein, mit dem gebeugten Arm vor unserem Nachbarn geschützt, als würde der nicht wenige Minuten später alles sehen können, und schrieben in die Zeile hinter unserem Namen in jedes Feld eines jeden Jungen eine Note. 2, 3–, 5, 1– oder 4+. Wir bekundeten unsere Zuneigung oder Abneigung, nicht im direkten Gespräch, nicht im heimlichen Liebesbrief, sondern in einer Liste, die durch die ganze Klasse gereicht wurde. Mit Noten, als sei es ein Leistungsnachweis, zeigten wir unsere Gefühle oder das, was wir dafür hielten. Eine andere Sprache hatten wir nicht. So trugen wir diese Ziffern ein, so vergaben wir Zahlen und Urteile, für jeden einzelnen in der Klasse, für jeden einzelnen des anderen Geschlechts zumindest, selbst für diejenigen, für die wir eigentlich gar nichts empfanden, weder Zuneigung noch Abneigung. Die bekamen dann eine 3– oder eine 3+, etwas Belangloses. Und wir vergaben hemmungslos, ohne Zögern, schlechte Noten für die, die uns nervten oder ekelten, die uns sonderbar erschienen oder unheimlich und wofür wir keine andere Form des Ausdrucks hatten als diese Liste. Ob die Betroffenen dann enttäuscht waren oder gekränkt, das bekümmerte niemanden.
Woher kam das? Wer hatte diese entsetzliche Idee gehabt? Hatte das jemand aus meiner Klasse erfunden, oder übernahmen wir nur etwas, das alle neuen Jahrgänge am Gymnasium wiederholten, zitierten wir eine Tradition, ohne sie als solche zu erkennen, so wie man im Herbst das Laub zusammenkehrt und verbrennt, allein weil das die Jahreszeit zu diktieren scheint?
Es war grauenhaft. Da lasen wir nun, im Wissen darum, dass alle anderen es auch lasen, dass der Junge, den wir mochten, uns unausstehlich fand oder, mindestens so schlimm, dass der Junge, den wir mochten, von allen anderen genauso gemocht wurde oder … Es gab zahllose Möglichkeiten der Demütigung und der Pein. Die Liste wurde durch die Reihen gereicht, und jeder wurde Zeuge der eigenen Beliebtheit oder Unbeliebtheit. Heutzutage ersetzt Facebook diese handgefertigten öffentlichen Arenen, aber das ändert nichts an der Sichtbarkeit der eigenen Verletzung, die darin möglich gemacht wird. Warum machten wir das?
Daniel und ich hatten Glück. Wir kamen davon auf diesen Listen. Wir bewegten uns im oberen Bereich, versammelten gute Noten und konnten uns darauf konzentrieren, ob wir die beste Note auch von denen bekamen, von denen wir sie auch haben wollten.
Sie wanderten eine Weile lang herum, diese Zettel, wurden neu ausgefüllt, die einzelnen Kandidaten neu bewertet, und dann, eines Tages, nachdem auch bei der x-ten Wiederholung dieselben Namen immer die guten Noten auf sich vereinten und dieselben Namen immer nur die schlechten Noten sammelten, wurde die Liste verkürzt. Wer sich das ausgedacht hatte, weiß ich nicht. Als spielten die weniger Beliebten gar keine Rolle mehr, als seien sie überflüssig, als wären sie so aussichtslos unbeliebt, bei allen und jedem, dass es gar keinen Sinn mehr hatte, sie überhaupt auch nur zu bewerten, als gehörten sie nicht mehr dazu, wurden sie ausgeschlossen und weggelassen. Es wurde eine neue Liste entworfen. Wieder mit den Namen der Jungen in der senkrechten Achse und den Mädchen in der waagerechten für die Jungen und eine andersherum für die Mädchen. Doch jetzt gab es nur noch sechs und sechs Namen. Die Liste der Jungen und die Liste der Mädchen waren jetzt so kurz, dass beide Skalen auf einen Zettel passten.