P.C. Cast | Kristin Cast
»House of Night« Paket 4 (Band 10-12)
Verloren / Entfesselt / Erlöst
FISCHER digiBook
P. C. Cast ist zusammen mit ihrer Tochter Kristin Cast Autorin der House-of-Night-Bestseller. Die beiden sind das erfolgreichste Mutter-Tochter-Autorengespann weltweit. Die Serie »House of Night« hat Millionen von Fans in über 40 Ländern. Die Serie »Mythica« hat P. C. Cast ohne ihre Tochter geschrieben. Sie umfasst sieben Bände, die alle bei FISCHER lieferbar sind.
Erschienen bei FISCHER E-BOOKS
Verloren: Veröffentlicht im Fischer Taschenbuch Verlag, einem Unternehmen der S. Fischer Verlag GmbH,
Frankfurt am Main, Januar 2014
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Hidden. A House of Night Novel«
© 2012 by P.C.Cast and Kristin Cast
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
Entfesselt: Veröffentlicht im Fischer Taschenbuch Verlag, einem Unternehmen der S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, Januar 2015
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Revealed. A House of Night Novel«
© 2013 by P.C.Cast and Kristin Cast
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2013
Erlöst: Veröffentlicht im Fischer Taschenbuch Verlag, einem Unternehmen der S. Fischer Verlag GmbH,
Frankfurt am Main, Dezember 2015
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel »Redeemed. A House of Night Novel«
© 2014 by P.C.Cast and Kristin Cast
Für die deutsche Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2014
Alle drei Bände wurden im Auftrag von St. Martin's Press LLC durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen, vermittelt.
Covergestaltung: bürosüd°, München
ISBN 978-3-10-490563-1
Für alle von euch, die schon einmal Fehler gemacht haben und so mutig waren, sie zu berichtigen – und weise genug, um aus ihnen zu lernen.
Wie immer danken Kristin und ich unserer Familie bei St. Martins. Wir sind so froh, dass ihr die Welt von House of Night ebenso sehr liebt wie wir! Ein ganz besonderes DANKE!!! an die hart arbeitende Produktionsabteilung, die es immer wieder schafft, die straffen Zeitpläne einzuhalten. Ihr seid einfach der Hammer!
Und wieder einmal möchten wir der Bevölkerung von Tulsa unseren Dank aussprechen. Wir sind geehrt und beeindruckt von eurer Unterstützung und eurer Begeisterung. Wir sind stolz darauf, Tulsa unsere Heimat zu nennen.
Danke, CZ. Du weißt schon, wofür. XXXOOO
Wie immer danken wir unserer Freundin und Agentin Meredith Bernstein, ohne die House of Night nicht existieren würde. Du bist ein Schatz!
Lenobia schlief so unruhig, dass dem vertrauten Traum eine nie gekannte Intensität anhaftete. Von Anfang an schien er den ätherischen Raum der Spiegelungen und Phantasien des Unbewussten zu überschreiten und etwas schmerzlich Reales zu erlangen.
Es begann mit einer Erinnerung. Die Jahrzehnte, ja Jahrhunderte fielen von ihr ab. Sie war wieder jung und naiv und stand im Laderaum des Schiffes, das sie von Frankreich nach Amerika brachte – von einer Welt in eine andere. Auf dieser Reise hatte sie Martin kennengelernt, den Mann, von dem sie sich gewünscht hätte, er möge sie ein Leben lang als Gemahl begleiten. Doch dann war er viel zu jung gestorben und hatte ihre Liebe mit sich ins Grab genommen.
In ihrem Traum spürte Lenobia wieder das sanfte Rollen des Schiffs und roch die Pferde, das Heu, den Ozean, die Fische – und Martin. Martin, auf immer und ewig. Er stand vor ihr und sah sie mit seinen olivfarbenen Augen an, in denen ein Hauch von Bernstein und viel Sorge lag. Sie hatte ihm soeben eröffnet, dass sie ihn liebte.
»Es ist unmöglich.« Noch einmal lief die Erinnerung in ihrem Traum ab. Martin streckte die Hand nach ihrer aus, nahm sie und hob sie sacht an. Dann hob er seinen eigenen Arm dicht daneben, Seite an Seite. »Siehst du ihn, den Unterschied?«
Der träumenden Lenobia entfuhr ein leiser, gepeinigter Laut. Der Klang seiner Stimme! Dieser unverwechselbare kreolische Akzent – tief, sinnlich, unvergleichlich. Der bittersüße Klang seiner Stimme und dieser wunderschöne Akzent waren der Grund, warum sie seit über zweihundert Jahren New Orleans nicht mehr betreten hatte.
»Nein«, hatte die junge Lenobia geantwortet, während sie die beiden Arme betrachtete – seinen braunen und ihren weißen –, die sich aneinanderpressten. »Ich sehe nur dich.«
In ihrem tiefen Schlaf warf sich Lenobia, Pferdeherrin des House of Night von Tulsa, unruhig hin und her, als versuchte ihr Körper, ihren Geist zum Aufwachen zu bewegen. Doch in dieser Nacht gehorchte ihr Geist nicht. In dieser Nacht regierten die Träume und das, was hätte sein können.
Ihre Erinnerungen machten einen Sprung zu einer neuen Szene, noch immer war sie im Laderaum desselben Schiffes, noch immer mit Martin zusammen, doch Tage später. Er hielt ihr eine lange Lederschnur mit einem kleinen, saphirblau gefärbten Lederbeutel hin. »Der gris-gris wird dich beschützen, chérie«, sagte er, während er ihn ihr über den Kopf streifte.
Einen Herzschlag lang wankte die Erinnerung, und die Zeit wurde um ein Jahrhundert weiterkatapultiert. Eine ältere, klügere, zynischere Lenobia strich zärtlich über den brüchigen Lederbeutel in ihrer Hand. Dieser riss auf, und sein Inhalt – dreizehn Dinge, genau wie Martin gesagt hatte – fiel heraus. Die meisten waren im Lauf der hundert Jahre, in denen sie den Talisman getragen hatte, unkenntlich geworden. Lenobia erinnerte sich noch an einen Hauch von Wacholder, daran, wie weich sich der kleine Lehmbrocken angefühlt hatte, ehe er zu Staub zerfiel, und an die winzige Taubenfeder, die sich unter ihren Fingern auflöste. Doch am besten erinnerte sie sich noch an das unbeschreibliche Glücksgefühl, das sie überkommen hatte, als sie mitten zwischen den zerfallenden Überbleibseln von Martins Liebe und Fürsorge etwas entdeckte, dem der Zahn der Zeit nichts hatte anhaben können. Einen Ring – einen goldenen Reif mit einem herzförmigen, von winzigen Diamanten umrahmten Smaragd.
»Das Herz deiner Mutter – dein Herz – mein Herz«, hatte sie geflüstert und ihn sich über den Ringfinger gestreift. »Ich vermisse dich noch immer, Martin. Ich habe dich nie vergessen – wie ich es dir versprochen habe.«
Und dann schnellte der Traum wieder viele Jahre zurück, zu Martin, nur waren sie nicht mehr auf See, wo sie sich im Laderaum kennen und lieben gelernt hatten. Diese Erinnerung war finster und schrecklich. Selbst im Traum wusste Lenobia noch das exakte Datum und den genauen Ort: Nouvelle-Orléans, 21. März 1788, nicht lange nach Sonnenuntergang.
Der Stall war in Flammen aufgegangen, und Martin hatte sie hinausgetragen und ihr das Leben gerettet.
»Oh Gott, Martin! Nein!«, hatte sie damals geschrien. Nun wimmerte sie nur leise, während sie verzweifelt versuchte aufzuwachen, ehe sie das grausame Ende der Erinnerung noch einmal durchleben musste.
Doch sie erwachte nicht. Stattdessen hörte sie die einzige Liebe ihres Lebens noch einmal die Worte sagen, die ihr vor zweihundert Jahren das Herz gebrochen hatten, und es war, als wäre die Wunde wieder frisch und blutete.
»Zu spät, chérie. Zu spät für uns in dieser Welt. Aber ich werde dich wiedersehen. Ich verspreche es dir. Meine Liebe bleibt. Meine Liebe für dich, sie wird niemals enden … Ich finde dich wieder, chérie. Ich schwöre.«
Und er packte den bösen Menschenmann, der versucht hatte, sie in seine Gewalt zu bringen, und schleppte ihn zurück in den brennenden Stall – womit er ihr ein zweites Mal das Leben rettete. Völlig verkrampft und laut schluchzend gelang es Lenobia endlich zu erwachen. Sie setzte sich auf und schob sich mit zitternder Hand das schweißnasse Haar aus dem Gesicht.
Ihr erster Gedanke galt ihrer Stute. Durch ihre telepathische Verbindung zu ihr spürte sie, dass Mujaji erregt, ja der Panik nahe war. »Schhh, meine Schöne. Schlaf wieder ein. Mir geht es gut«, sagte sie laut und vermittelte der schwarzen Stute Ruhe und Sicherheit. Es tat ihr leid, Mujaji beunruhigt zu haben.
Mit gesenktem Kopf drehte sie den Smaragdring wieder und wieder um den Ringfinger. »Sei nicht so närrisch«, redete sie sich fest zu. »Es war nur ein Traum. Alles ist gut. Ich bin nicht mehr dort. Was damals passiert ist, kann mir nicht noch mehr Leid zufügen, als es schon getan hat.« Aber das war eine Selbsttäuschung. Es gibt noch mehr Leid als das. Falls Martin zurückgekommen ist – wirklich zurückgekommen ist –, dann kann mein Herz noch einmal brechen. Wieder wollte sich ihr ein Schluchzen entringen, aber sie presste die Lippen fest aufeinander und zwang ihre Gefühle nieder.
Vielleicht ist er ja gar nicht Martin, sagte sie sich rational. Travis Foster, der Mensch, den Neferet angestellt hatte, damit er ihr in den Ställen half, war bestimmt nur eine nette Ablenkung – er und seine riesige, wunderschöne Percheronstute. »Genau das hatte Neferet wohl im Sinn, als sie ihn angestellt hat«, brummte sie. »Mich abzulenken. Und sein Percheron ist nichts als ein kurioser Zufall.«
Sie schloss die Augen, unterdrückte die lange vergangenen Erinnerungen, die in ihr aufstiegen, und wiederholte laut: »Travis ist wahrscheinlich nicht der wiedergeborene Martin. Ich weiß, ich reagiere ungewöhnlich stark auf ihn, aber es ist lange her, dass ich einen Geliebten hatte.« Und du hattest nie einen menschlichen Geliebten – das hattest du versprochen, mahnte ihr Gewissen sie. »Es ist wohl an der Zeit, dass ich mir wieder einmal einen Vampyr-Geliebten nehme, und sei es auch nur kurzfristig. Diese Art Ablenkung ist definitiv gut für mich.« Sie versuchte, sich damit zu beschäftigen, eine Liste gutaussehender Söhne des Erebos zu erstellen – und sofort wieder zu verwerfen. Vor ihrem inneren Auge standen nicht ihre kräftigen, muskulösen Körper, sondern whiskybraune Augen mit einem Hauch des vertrauten Olivgrüns, die immer zu einem Lächeln bereit waren …
»Nein!« Sie würde nicht daran denken. Nicht an ihn denken.
Aber wenn in Travis vielleicht doch Martins Seele steckt?, flüsterte Lenobias irrender Geist ihr verführerisch zu. Er hat mir sein Wort gegeben, dass er mich wiederfinden würde. Vielleicht hat er das ja jetzt getan. »Und was dann?« Sie stand auf und ging rastlos im Zimmer umher. »Ich weiß viel zu gut, wie zerbrechlich die Menschen sind. Sie sterben viel zu leicht, und heute ist die Welt sogar noch gefährlicher als 1788. Einmal schon hat die Liebe für mich mit Flammen und einem gebrochenen Herzen geendet. Einmal ist genug.« Sie blieb stehen und verbarg das Gesicht in den Händen. Tief in ihr drin wusste sie die Wahrheit, und ihr Herz pumpte diese Erkenntnis mit jedem seiner Schläge in ihren Körper und ihren Geist, wurde real. »Ich bin feige. Wenn Travis nicht Martin ist, wage ich es nicht, mich ihm zu öffnen, weil ich nicht das Risiko eingehen will, noch einmal einen Menschen zu lieben. Und wenn er wirklich Martin ist, kann ich es nicht ertragen, dass ich ihn unweigerlich noch einmal verlieren werde.«
Schwer ließ sie sich in den alten Schaukelstuhl neben ihrem Schlafzimmerfenster fallen. Hier las sie gern, und wenn sie nicht einschlafen konnte, blickte sie durch das ostwärts gerichtete Fenster hinaus auf die Wiese neben den Ställen und beobachtete den Sonnenaufgang. Obwohl ihr die Ironie nicht entging, freute sie sich stets auf das Morgenlicht. Vampyr oder nicht – tief drinnen würde sie immer ein kleines Mädchen bleiben, das Sonnenaufgänge, Pferde und einen großgewachsenen Menschen mit cappuccinofarbener Haut liebte, der vor sehr langer Zeit viel zu jung gestorben war.
Ihre Schultern sackten nach vorn. Seit Jahrzehnten hatte sie nicht mehr so viel an Martin gedacht. Die erneute Erinnerung war ein zweischneidiges Schwert – einerseits war es wunderschön, sich sein Lächeln, seinen Duft, seine Berührung ins Gedächtnis zu rufen. Andererseits wurde durch sie die Leere spürbarer, die sein Tod hinterlassen hatte. Über zwei Jahrhunderte schon trauerte Lenobia um diese verlorene Gelegenheit, dieses verschwendete Leben.
»Unsere Zukunft verbrannte vor meinen Augen. Vernichtet durch die Flammen des Hasses, der Besessenheit und des Bösen.« Sie schüttelte den Kopf und rieb sich die Augen. Sie musste ihre Gefühle wieder unter Kontrolle bekommen. Auch heute noch brannte das Böse eine Schneise durch alles Gute und Lichte. Sie holte tief Luft und wandte sich einer Sache zu, die immer beruhigend auf sie wirkte, egal wie chaotisch die Welt um sie her war – Pferde, insbesondere Mujaji. Ruhiger als zuvor tastete Lenobia noch einmal nach ihrer Stute – mit jener besonderen Region ihres Geistes, worin sich in dem Augenblick, da sie als sechzehnjähriges Mädchen Gezeichnet worden war, durch Nyx’ Berührung ihre Affinität für Pferde manifestiert hatte. Mühelos fand sie Mujaji und hatte sofort ein schlechtes Gewissen, da diese noch immer ihretwegen aufgewühlt schien.
»Schhh«, sprach Lenobia ihr wieder zu, wobei der Laut ihr half, beruhigende Gefühle durch ihr gedankliches Band zu senden. »Ich kann mich nur nicht beherrschen und versinke in dummen Gedanken. Das vergeht wieder, meine Süße, ich verspreche es dir.« Lenobia sandte ihrer nachtschwarzen Stute eine Woge der Liebe und Wärme, und wie immer fand auch Mujaji wieder Ruhe.
Lenobia schloss die Augen und ließ ihren Atem als langgezogenen Luftstrom entweichen. Vor sich sah sie ihr Pferd, so schön und dunkel wie die Nacht, wie es sich endlich wieder entspannte, ein Hinterbein anwinkelte und in einen traumlosen Schlaf fiel.
Indem sie sich auf die Stute konzentrierte, gelang es der Pferdeherrin, den Aufruhr von sich wegzuschieben, der seit der Ankunft des jungen Cowboys in ihr herrschte. Morgen, nahm sie sich schläfrig vor, morgen werde ich Travis klarmachen, dass wir nie mehr sein werden als Arbeitgeberin und Angestellter. Wenn ich meine Distanz zu ihm wahre, werden seine Augenfarbe und die Gefühle, die er in mir auslöst, an Bedeutung verlieren. Ganz bestimmt … ganz sicher …
Und endlich schlief Lenobia ein.
Obwohl sie kein geistiges Band mit Shadowfax hatte, folgte dieser bereitwillig Neferets Ruf. Zum Glück war der Unterricht für heute bereits zu Ende, daher war die Sporthalle nur noch schwach erleuchtet, als der große Maine Coon und sie sich dort trafen. Kein Schüler war in Sicht, und auch Dragon Lankford war abwesend, wenn auch vermutlich nur vorübergehend. Auf dem Hinweg waren ihr nur ein paar rote Jungvampyre begegnet. Bei dem Gedanken, wie sie die abtrünnigen Roten in das House of Night integriert hatte, lächelte Neferet zufrieden. Welch wunderbare Möglichkeiten boten sich dadurch, Chaos zu säen – vor allem, sobald sie dafür gesorgt hätte, dass Zoeys Kreis brach und ihre beste Freundin Stevie Rae nach dem Tod ihres Geliebten in Trauer versank.
Es gefiel Neferet ungemein, dass sie im Begriff war, Zoey auf Dauer Leid und Schmerz zuzufügen, aber sie war zu diszipliniert, um sich daran zu weiden, ehe sie nicht den Opferzauber gesprochen und ihre Befehle auf den Weg geschickt hatte. Sie musste zügig vorangehen – die Schule mochte heute Nacht ungewöhnlich ruhig, fast verlassen wirken, aber tatsächlich konnte jeden Moment jemand in die Sporthalle kommen. Später bliebe noch reichlich Zeit, um sich an den Früchten ihrer Arbeit zu erfreuen.
Leise redete sie dem Kater zu, lockte ihn zu sich, und als er ganz nahe war, ging sie auf die Knie, um auf seiner Höhe zu sein. Sie hatte befürchtet, er würde misstrauisch sein – Katzen spürten so einiges. Sie waren viel schwerer zu täuschen als Menschen, Jungvampyre oder selbst Vampyre. Skylar, Neferets eigener Kater, hatte sich geweigert, mit ihr in ihre Penthouse-Suite im Mayo Hotel umzuziehen. Er zog es vor, auf dem Gelände des House of Night im Schatten zu lauern und sie wissend aus großen grünen Augen zu beobachten.
Doch Shadowfax war nicht so argwöhnisch.
Neferet lockte ihn mit der Hand. Langsam kam der große Kater so nahe, dass sie ihn berühren konnte. Nicht freundschaftlich – er rieb sich nicht an ihr, um sie aus Zuneigung mit seinem Duft zu prägen –, aber er kam. Sein Gehorsam war alles, was Neferet interessierte. Sie brauchte seine Zuneigung nicht – sie brauchte sein Leben.
Die Tsi Sgili, die unsterbliche Gefährtin der Finsternis und einstige Hohepriesterin des House of Night, verspürte nur einen vagen Hauch von Bedauern, während sie mit der Linken über den graugestreiften Rücken des getigerten Maine Coon strich. Er hatte einen schlanken, athletischen Körper und ein weiches, dichtes Fell. Wie Dragon Lankford, der Krieger, den er sich ausgesucht hatte, war Shadowfax stark und im besten Alter. Wie schade, dass er einem größeren Ziel geopfert werden musste. Einem höheren Ziel.
Neferets Bedauern war nicht so groß, dass sie gezögert hätte. Mit ihrer göttingegebenen Affinität zu Katzen sandte sie dem bereits vertrauensvollen Tier Wärme und Sicherheit. Während sie ihn mit der Linken streichelte, bis er einen Buckel machte und zu schnurren begann, ließ sie ihre Rechte, in der sie ihr rasiermesserscharfes Athame hielt, auf seine andere Seite wandern, und blitzschnell und sauber schnitt sie ihm die Kehle durch.
Der große Kater gab keinen Laut von sich. Sein Körper bäumte sich auf, versuchte, von ihr wegzuzucken, doch ihre Hand krallte sich in sein Fell und hielt ihn dicht neben sich, so dass sein Blut heiß und dick über das Mieder ihres grünen Samtkleides sprudelte.
Die Fäden der Finsternis, die sich stets um Neferet scharten, erbebten und pulsierten in freudiger Erwartung.
Neferet ignorierte sie.
Der Kater starb schneller, als sie geglaubt hätte, worüber Neferet nur froh war. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er sie anstarren würde, aber selbst nachdem er auf dem Sandboden der Sporthalle zusammengebrochen war und sich nicht mehr gegen sie wehren, sondern nur noch flach atmend mit den Gliedern zucken konnte, ließ der Kater des Kriegers sie nicht aus den Augen.
Noch während er lebte, fing sie rasch mit dem Zauber an. Mit der Klinge ihres Ritualdolchs zog sie einen Kreis um den sterbenden Shadowfax, so dass das Blut, das aus seinem Leib pumpte, sich darin sammelte wie in einem scharlachroten Miniatur-Burggraben.
Dann drückte sie eine Handfläche in das frische, warme Blut, blieb dicht vor dem Kreis stehen, hob beide Hände – eine blutbeschmiert, die andere noch immer mit der scharlachblitzenden Klinge – und rezitierte:
»Durch dieses Opfer stark und warm
leih’ Finsternis mir ihren Arm.
Aurox, höre mein Gebot
und bringe Rephaim den Tod!«
Neferet hielt inne und erlaubte den klebrigen Fühlern aus eisiger Schwärze, sich an sie zu schmiegen und um den kleinen Kreis herumzuwimmeln. Sie spürte, wie begierig, wie unersättlich und gefährlich sie waren. Doch vor allem waren sie mächtig.
Um den Zauber zu vollenden, tauchte sie das Athame in das Blut und schrieb damit die letzten Worte der Beschwörung in den Sand:
»Für diesen Preis aus Blut und Leben
erfülle das Gefäß mein Streben!«
Mit Aurox’ Bild vor ihrem geistigen Auge trat Neferet in den Kreis und stieß den Dolch so tief in Shadowfax’ Körper, dass er am Boden festgespießt wurde. Dann gab sie den Fäden der Finsternis die Erlaubnis, sich an dem Mahl aus Blut und Schmerz zu laben.
Als der Kater allen Blutes beraubt und unwiederbringlich tot war, sprach Neferet: »Das Opfer ist gebracht, der Zauber gesprochen. Nun tut, wie ich befahl. Zwingt Aurox, Rephaim zu töten. Lasst Stevie Rae den Kreis brechen. Der Enthüllungszauber muss misslingen! Geht!«
Wie ein Knäuel sich windender Schlangen glitten die Diener der Finsternis in die Nacht hinaus, fort von der Sporthalle, auf das Lavendelfeld zu, auf dem das Ritual bereits in vollem Gange war.
Zufrieden lächelnd sah Neferet ihnen nach. Als eine besonders dicke Ranke aus Finsternis – so dick wie ihr Unterarm – sich peitschend durch die Tür zwischen Sporthalle und Stallungen schlängelte, hörte sie das Geräusch zerbrechenden Glases.
Neugierig glitt die Tsi Sgili darauf zu. In Schatten gehüllt, sorgsam darauf bedacht, kein Geräusch zu verursachen, spähte sie in den Stall. Ihre smaragdfarbenen Augen weiteten sich in freudiger Überraschung. Das dicke Tentakel war ungeschickterweise gegen eine Gaslaterne gestoßen, die an einem Haken nicht weit von den ordentlich aufgestapelten Heuballen hing, auf deren Qualität Lenobia immer so sorgfältig achtete. Fasziniert sah Neferet zu, wie ein erstes kleines Heubüschel Feuer fing, erst ein wenig flackerte und dann mit neuer Heftigkeit und einem mächtigen Wuuusch! gänzlich in Flammen aufging.
Neferet blickte die lange Reihe geschlossener hölzerner Boxen entlang. Nur wenige dunkle Silhouetten waren darin zu sehen. Die meisten Pferde schliefen, andere kauten gemächlich vor sich hin, in träger Erwartung des Sonnenaufgangs, der ihnen ihre wohlverdiente Ruhe bringen würde, bis der Abend und damit die Schüler kommen würden – ein weiterer Schultag von unzähligen in einer eintönigen, niemals endenden Reihe.
Sie blickte wieder auf das Heu. Schon stand ein ganzer Ballen in Flammen. Der Rauch trieb zu ihr her, und sie hörte das Knacken, mit dem das Feuer sich wie ein entfesseltes Ungeheuer weiterfraß und wuchs.
Neferet wandte sich ab und schloss sorgfältig die dicke Tür zwischen Stall und Sporthalle. Mir scheint, nach dieser Nacht wird vielleicht nicht nur Stevie Rae trauern. Der Gedanke war sehr befriedigend. Sie kehrte der Sporthalle und dem Blutvergießen, das sie dort angerichtet hatte, den Rücken, ohne zu bemerken, wie eine kleine weiße Katze sich Shadowfax’ reglosem Körper näherte, sich neben ihm zusammenrollte und die Augen schloss.
Die Pferdeherrin erwachte mit einem schrecklichen Vorgefühl. Verwirrt rieb sie sich das Gesicht. Sie war in dem Schaukelstuhl neben ihrem Fenster eingeschlafen, und dieses plötzliche Erwachen schien eher ein Albtraum zu sein als die Realität.
»Ich werde noch verrückt«, murmelte sie. »Ich muss meine Mitte wiederfinden.« In der Vergangenheit hatte es ihr oft geholfen, zu meditieren, um sich zu beruhigen. Entschlossen nahm Lenobia einen tiefen Atemzug.
Und mit diesem Atemzug roch sie es – Feuer. Ein brennender Stall, um genau zu sein. Sie biss die Zähne zusammen. Lasst mich in Ruhe, ihr Geister der Vergangenheit. Ich bin zu alt, um solche Spiele zu spielen. Doch ein ominöses Knacken brachte sie dazu, auch den Rest Schläfrigkeit von ihrem Verstand abzuschütteln, eilig ans Fenster zu treten und die schweren Vorhänge zur Seite zu ziehen. Als die Pferdeherrin auf ihren Stall hinabblickte, entfuhr ihr ein entsetzter Schrei.
Es war kein Traum gewesen.
Und auch keine Einbildung.
Der Albtraum war Realität.
Flammen leckten an den Gebäudemauern, und während sie noch hinstarrte, wurde die Doppeltür am Rande ihres Sichtfelds aufgestoßen, und die Silhouette eines hochgewachsenen Mannes führte ein großes graues Percheron und eine nachtschwarze Stute nach draußen. Sofort ließ er sie los und scheuchte sie auf die Wiese hinaus, weg von dem brennenden Stall, dann hastete er zurück ins flammende Innere des Gebäudes.
Bei Travis’ Anblick erlosch jeder Zweifel, jede Furcht in Lenobia, und sie sprang auf.
»Nein, Göttin. Nicht noch einmal. Ich bin kein verängstigtes Mädchen mehr. Diesmal wird es anders enden!«
Sie stürzte aus dem Zimmer und rannte die kurze Treppe von ihrer Wohnung zu den Ställen im Erdgeschoss hinunter. Unter der Tür am Ende der Treppe kroch Rauch hindurch. Sie unterdrückte ihre Panik und presste die Hände gegen das Holz. Es fühlte sich nicht warm an, also riss sie die Tür auf und erfasste mit einem Blick die Situation im Stall. Am heftigsten brannte das Feuer am anderen Ende, wo Einstreu und Futter lagerten. Gleich daneben lagen sowohl Mujajis Box als auch die große Abfohlbox, in der Travis mit seiner Percheronstute Bonnie Quartier bezogen hatte.
»Travis!«, brüllte sie, schirmte ihr Gesicht mit dem erhobenen Arm vor der wachsenden Hitze ab, rannte in den Gang und begann, Boxen zu entriegeln und die Pferde darin freizulassen. Raus, Persephone, raus!, vermittelte sie der Rotschimmelstute, die, vor Furcht erstarrt, ihre Box nicht verlassen wollte. Als das Tier an ihr vorbei zum Ausgang trabte, schrie sie ein zweites Mal: »Travis! Wo sind Sie?«
»Ich lass die Viecher hier hinten frei!«, rief er aus der Ecke, wo der dichteste Rauch waberte. Im selben Moment donnerte von dort eine junge Graue auf sie zu und hätte sie fast umgetrampelt.
»Ruhig, Anjo! Ruhig«, redete Lenobia auf das verängstigte Tier ein und trieb es zum Ausgang.
»An den anderen Ausgang komm ich nicht ran, da brennt’s schon lichterloh. Ich –« Travis brach ab, als mit einem mörderischen Klirren die Fenster der Sattelkammer zerbarsten und es überall heiße Glasscherben regnete.
»Hauen Sie da ab, Travis, und rufen Sie die 911 an!«, schrie Lenobia, während sie einen Wallach aus der nächsten Box zog. Sie war wütend darüber, dass sie nicht selbst daran gedacht hatte, die Feuerwehr zu rufen, ehe sie aus der Wohnung gestürzt war.
»Hab ich gerade gemacht!«, rief da eine unbekannte Stimme. Lenobia spähte in den Rauch und die Flammen. Nur einen Moment später tauchte dort eine Jungvampyrin auf, die eine völlig panische Fuchsstute am Halfter hielt.
»Alles ist gut, Diva«, beruhigte Lenobia diese automatisch und nahm dem Mädchen den Führstrick ab. Bei ihrer Berührung wurde das Pferd ruhiger. Lenobia hakte den Strick aus und trieb die Stute dem Ausgang zu, den anderen Pferden hinterher. Dann zog sie das Mädchen mit sich, weg von der steigenden Hitze, und fragte: »Wie viele Pferde sind noch –«
Die Worte blieben ihr im Hals stecken, als sie sah, dass die Mondsichel auf der Stirn des Mädchens rot war.
»Ich glaub’, nicht mehr viele«, keuchte die rote Jungvampyrin und wischte sich mit zitternder Hand Schweiß und Ruß aus dem Gesicht. »Ich – ich hab Diva rausgeholt, weil ich sie immer so gern mochte. Ich dachte, sie würde mich wiedererkennen. Aber sie hatte nur Panik. Wahnsinnspanik.«
Lenobia fiel der Name des Mädchens ein – Nicole. Bevor sie gestorben und ›entstorben‹ war und sich Dallas’ Abtrünnigen angeschlossen hatte, hatte sie Geschick im Umgang mit Pferden und ein natürliches Talent fürs Reiten gezeigt. Nun, jetzt blieb keine Zeit für Misstrauen. Jetzt mussten die Pferde gerettet werden – und Travis. »Gut gemacht, Nicole. Traust du dich noch mal da rein?«
Nicole nickte heftig. »Ich will nicht, dass sie verbrennen. Sagen Sie mir, was ich machen soll.«
Lenobia legte ihr die Hand auf die Schulter. »Du musst nur die Boxen aufmachen. Ich führe die Pferde dann raus.«
Sie nickte. »Okay. Kein Problem.« Sie klang atemlos und verängstigt, aber ohne zu zögern folgte sie Lenobia, als diese zurück in die tobende Hitze des Stalls eilte.
»Travis!«, krächzte Lenobia und versuchte, durch den immer dicker werdenden Rauch zu spähen. »Hören Sie mich?«
Über das Zischen der Flammen hinweg ertönte seine Stimme: »Ja! Bin hier hinten! Box klemmt!«
Lenobia weigerte sich, ihrer Panik nachzugeben. »Brechen Sie sie auf! Brechen Sie sie alle auf! Ich kann die Pferde zu mir rufen, in Sicherheit. Ich bringe euch alle raus!«
»Hab’s!«, schrie Travis einen Moment später aus dem Inferno aus Rauch und Hitze.
»Meine sind auch alle offen!«, rief Nicole irgendwo aus ihrer Nähe.
»Dann folgt den Pferden aus dem Stall raus, alle beide!«, schrie Lenobia und begann, rückwärts vor dem Feuer zurückzuweichen, in Richtung der weitgeöffneten Doppeltür hinter sich. Auf der Schwelle blieb sie stehen, breitete die Arme aus, die Handflächen nach oben, und stellte sich vor, sie schöpfe Kraft direkt aus Nyx’ mystischen Gefilden der Anderwelt. Sie öffnete sich dieser Macht mit allem, was sie besaß – Herz, Seele, Leib und die Gabe ihrer Göttin – und schrie: »Kommt, meine herrlichen Töchter und Söhne, folgt meiner Stimme und meiner Liebe und lebt!«
Aus den Flammen und dem tintenschwarzen Rauch brach jetzt ein Heer von Pferden heraus. Ihre Panik war greifbar, und Lenobia wusste nur zu gut darum. Diese Angst vor dem Feuer, den Flammen, dem Tod – während die Tiere an ihr vorüber auf das weite Schulgelände galoppierten, leitete sie Ruhe und geistige Stärke durch sich hindurch in sie hinein.
Hustend stolperte die rote Jungvampyrin ihnen nach. »Das waren alle. Ist keines mehr drin.« Und sie brach auf dem Gras zusammen.
Lenobia schenkte ihr kaum ein Nicken. Ihre Gefühle galten der entfesselten Herde hinter ihr – und ihre Blicke dem dicker werdenden Rauch und den leckenden Flammen vor ihr, aus denen kein Travis auftauchte.
»Travis!«, brüllte sie.
Keine Antwort.
»Das Feuer greift schnell um sich«, sagte das Mädchen, noch immer hustend. »Vielleicht ist er tot.«
»Nein«, sagte Lenobia fest. »Dieses Mal nicht.« Sie warf einen Blick über die Herde und rief: »Mujaji!« Ihre geliebte schwarze Stute schnaubte und trabte auf sie zu. Lenobia hielt sie mit der erhobenen Hand auf. »Ruhig, meine Süße. Wache über den Rest meiner Kinder. Gib deine Kraft und Ruhe an sie weiter – und meine Liebe.« Widerwillig, aber gehorsam begann die Stute, die verstreuten Häuflein verängstigter Pferde zu umkreisen und sie zusammenzutreiben. Zufrieden wandte Lenobia sich ab, holte einige Male tief Luft und rannte in den Schlund des brennenden Stalles hinein.
Die Hitze war entsetzlich. Der Rauch war so dicht, dass es schien, als versuche sie, kochende Flüssigkeit zu atmen. Einen Moment lang war Lenobia wieder in einem anderen Stall in jener schrecklichen Nacht in New Orleans. Die dicken Narben auf ihrem Rücken schmerzten in der Erinnerung an den damaligen Schmerz, und Panik drohte sie zu überwältigen und unwiderruflich in die Vergangenheit zu ziehen.
Dann hörte sie ihn husten. Hoffnung ließ ihre Panik zerschellen, und die Gegenwart und ihre Willenskraft vermochten, ihre Ängste zu überwinden. »Travis! Ich kann dich nicht sehen!«, schrie sie, während sie ein großes Stück ihres Nachthemds abriss, in die nächste Box trat und es in die Tränke tauchte.
»Hau – ab –«, krächzte er heftig hustend.
»Nein, verdammt. Ich habe schon einmal miterleben müssen, wie meinetwegen ein Mann verbrennt. Ich hasse das.« Sie warf sich das tropfnasse Stück Stoff wie einen Mantel mit Kapuze über und bewegte sich auf Travis’ Husten zu, tiefer in Rauch und Glut hinein.
Sie fand ihn neben der offenen Tür einer Box, auf Händen und Knien, hustend und würgend. Lenobia zögerte keinen Augenblick. Sie sprang in die Box und tauchte den Kleiderfetzen noch einmal ins Wasser. Dann klatschte sie sich selbst Wasser über Gesicht und Haar.
»Was zum –?« Er blinzelte hustend zu ihr auf. »Nein! Geh –«
»Keine Zeit zum Streiten. Leg dich hin.« Als er sich nicht schnell genug bewegte, schubste sie ihm die Beine unter dem Leib weg. Mit einem Grunzen fiel er auf den Rücken, und sie breitete ihm das nasse Tuch über Gesicht und Brust. »Ja, genau so. Flach.« Und ehe er protestieren oder ihren Plan durchkreuzen konnte, indem er sich bewegte, packte sie ihn an den Beinen und zog.
Musste er denn so groß und schwer sein? Ihre Gedanken versanken in Watte. Um sie herum tosten die Flammen, und sie glaubte, brennendes Haar zu riechen. Nun, Martin war auch groß und kräftig … Und dann dachte sie gar nichts mehr. Ihr Körper bewegte sich automatisch, gesteuert einzig von dem Urbedürfnis, diesen Mann aus der Gefahrenzone zu ziehen.
Plötzlich waren da starke Hände, die ihr ihre Last abnehmen wollten. »Da ist sie!« Lenobia wehrte sich. Diesmal wird der Tod nicht gewinnen! Nicht diesmal!
»Professor Lenobia, alles ist gut. Sie haben’s geschafft.« Da wurde ihr bewusst, dass die Luft um sie herum kühler war, und endlich gelang es ihrem Gehirn, Sinn in das Geschehen zu bringen. Während sie keuchend die frische Luft einsog und Hitze und Rauch aushustete, halfen sanfte Hände ihr, sich hinzulegen, und ihr wurde eine Maske über Nase und Mund gestreift, durch die noch süßere Luft in ihre Lungen drang.
Mit dem Sauerstoff klärte sich ihr Denken wieder. Auf dem Gelände waren unzählige menschliche Feuerwehrleute. Auf den brennenden Stall waren mehrere starke Wasserschläuche gerichtet. Über ihr ragten zwei Sanitäter auf, die verwirrt und ratlos zusahen, wie schnell sie sich erholte.
Sie riss sich die Maske vom Gesicht. »Nicht mir. Ihm!« Sie zog das Tuch von Travis’ viel zu reglosem Körper. »Er ist ein Mensch, helfen Sie ihm!«
»Ja, Ma’am«, stotterte der eine, und sie wandten sich Travis zu.
»Trinken Sie das, Lenobia.« Ihr wurde ein Kelch in die Hand gedrückt, und als Lenobia aufsah, knieten die beiden Vampyrheilerinnern aus der Krankenstation, Margareta und Sapphire, neben ihr. In einem einzigen Zug trank Lenobia den Wein aus, der stark mit Blut versetzt war, und spürte die darin enthaltene Lebensenergie sofort im ganzen Körper kribbeln.
»Sie sollten mit uns kommen, Professor«, sagte Margareta. »Sie werden noch mehr davon brauchen, um wieder ganz fit zu werden.«
Lenobia ließ den Kelch fallen. »Später.« Ohne die Heilerinnen, die jaulenden Sirenen, das Stimmengewirr und überhaupt das Chaos um sich herum zu beachten, kroch sie zu Travis. Die Sanis waren nicht untätig gewesen. Der Cowboy trug nun auch eine Sauerstoffmaske, und gerade wurde ihm eine Infusion gelegt. Seine Augen waren geschlossen. Unter dem Ruß sah sie, dass sein Gesicht rot und verbrannt war. Das T-Shirt, das er sich offenbar hastig übergeworfen hatte, hing über der Hose, und an seinen Armen bildeten sich schon Brandblasen. Aber erst seine Hände – seine Hände waren so verbrannt, dass sie bluteten.
Sie musste ihrer inneren Pein über diese Entdeckung durch einen Laut Luft gemacht haben, denn Travis öffnete in diesem Augenblick die Augen. Sie sahen genau so aus, wie sie sie in Erinnerung hatte: whiskybraun mit einer Spur Olivgrün.
»Wird er überleben?«, fragte sie den Sanitäter neben sich, ohne den Blick von Travis zu wenden.
»Ich hab schon Schlimmeres gesehen. Die Hände werden Narben zurückbehalten, aber wir müssen ihn so schnell wie möglich ins St. John’s Krankenhaus bringen. Denn die Rauchvergiftung ist schlimmer als die Verbrennungen.« Der Mann hielt inne, und Lenobia hörte seiner Stimme ein Lächeln an. »Er hat Glück gehabt. Sie haben ihn gerade noch rechtzeitig gefunden.«
»Tatsächlich habe ich zweihundertundvierundzwanzig Jahre gebraucht, um ihn zu finden. Aber gut, dass es noch rechtzeitig war.«
Travis wollte etwas sagen, aber es kam nur ein schrecklicher, würgender Hustenanfall.
»Entschuldigen Sie, Ma’am, die Trage ist da.«
Lenobia trat zur Seite, während die beiden Sanitäter Travis auf die Trage hoben, aber ihr Blick ließ den seinen immer noch nicht los. Sie ging neben ihm her, während sie ihn zum Krankenwagen schoben. Im letzten Augenblick, bevor es die Rampe hinaufging, schob er sich die Maske vom Gesicht und fragte mit krächzender Stimme: »Bonnie? Gut?«
»Mit Bonnie ist alles in Ordnung. Ich spüre sie. Sie ist bei Mujaji. Ich passe auf sie auf. Auf sie alle.«
Da hob er die Hand, und ganz vorsichtig berührte sie seine wunde, blutige Haut mit den Fingern. »Auf mich auch?«, gelang es ihm zu keuchen.
»Ja, Cowboy. Darauf kannst du deine wunderschöne Stute verwetten.« Und ohne sich darum zu kümmern, wie viele Blicke sie auf sich spürte – Menschen, Jungvampyre, Vampyre –, beugte Lenobia sich hinunter und küsste ihn sanft auf die Lippen. »Pferde und Glück. Wo das ist, findest du auch mich. Und diesmal passe ich auf dich auf.«
»Gut zu wissen. Meine Momma meinte immer, ich bräuchte jemanden, der auf mich aufpasst. Hoffe, sie liegt jetzt ruhiger im Sarg, wo sie weiß, dass ich einen habe.« Er hörte sich an, als sei seine Kehle voller Sandpapier.
Lenobia lächelte. »Vielleicht solltest du lernen, ruhiger liegen zu bleiben.«
Seine Fingerspitzen berührten ihre Hand. »Ich glaube, das kann ich jetzt. Ich musste nur endlich nach Hause kommen.«
Lenobia blickte in seine Bernstein- und Olivenaugen, die ihr so vertraut waren – so sehr wie die von Martin –, und glaubte fast, ganz tief hinein zu jener vertrauten Seele blicken zu können, dieser sanften, starken, aufrichtigen und liebenden Seele, der es irgendwie gelungen war, ihr Versprechen einzulösen und zu ihr zurückzukehren. Tief drinnen wusste Lenobia: Auch wenn der Rest des schlaksigen, drahtigen Cowboys überhaupt nicht so aussah wie ihr verlorener Geliebter, sie hatte dennoch ihr Herz wiedergefunden. Sie war so überwältigt, dass ihr die Stimme versagte, und sie konnte nur lächeln, nicken und ihre Hand umdrehen, so dass seine Fingerspitzen auf ihrer Handfläche ruhten – warm, stark und unwahrscheinlich lebendig.
»Wir müssen ihn jetzt mitnehmen, Ma’am«, sagte der Sanitäter.
Widerstrebend entzog Lenobia Travis ihre Hand und wischte sich die Augen. »Nehmen Sie ihn mit, aber nicht zu lange. Ich will ihn wiederhaben. Bald.« Und mit ihrem Sturmwolken-Blick befahl sie dem weißgekleideten Menschen: »Behandeln Sie ihn nur gut. Wenn nicht, werden Sie meinen Zorn erleben, und dagegen war dieser Stallbrand ein winziges Feuerchen.«
»J-ja, Ma’am«, stammelte der Sanitäter und schob Travis eilig in den Wagen. Bevor er die Tür schloss und der Krankenwagen mit blitzendem Blaulicht davonbrauste, glaubte sie, noch Travis’ leises Lachen zu hören, das in einen gewaltigen Hustenanfall überging.
Während sie dastand, dem Krankenwagen nachsah und sich Sorgen machte, räusperte sich jemand in ihrer Nähe ziemlich betont. Sofort sah sie sich um. Und dabei wurde sie all dessen gewahr, was sie wegen ihrer tunnelblickartigen Konzentration auf Travis bisher nicht bemerkt hatte. Die Schule schien explodiert zu sein. Alle Pferde tummelten sich unruhig ganz hinten bei der Ostmauer. Um den Stall herum parkten mehrere Feuerwehrfahrzeuge, aus denen gewaltige Schläuche wahre Wassermassen auf das noch immer brennende Gebäude spritzten. Überall standen hilflose Vampyre und Jungvampyre herum.
Lenobia schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Gabe, die ihre Göttin ihr vor nun über zwei Jahrhunderten verliehen hatte. »Ruhig, Mujaji … ruhig. Alles ist wieder gut, meine Schöne.« Die schwarze Stute reagierte sofort. Mit einem Schnauben machte sie dem letzten Rest ihrer Anspannung Luft. Lenobia verlagerte ihre Aufmerksamkeit auf die große Percheronstute, die nervös mit den Hufen scharrte und deren Ohren spielten, als lausche sie auf ein Zeichen von Travis. »Es geht ihm gut, Bonnie. Du musst keine Angst um ihn haben.« Mit den leisen Worten verlieh sie den Gefühlen Ausdruck, die sie dem nervösen Tier sandte. Auch Bonnie beruhigte sich schnell, worüber Lenobia sehr froh war. Nun konnte sie sich auf den Rest der Herde konzentrieren. »Persephone, Anjo, Diva, Little Biscuit, Okie Dodger«, suchte sie einige Tiere heraus und sandte ihnen besonders viel Ruhe und Trost. »Haltet euch an Mujaji. Seid ruhig und stark. Alles ist gut.«
Das nahe Räuspern ertönte zum zweiten Mal, und ihre Konzentration riss ab. Etwas verärgert hob sie den Blick. Vor ihr stand ein Mensch in Feuerwehruniform, der sie mit erhobenen Augenbrauen und unverhohlener Neugier beobachtete. »Reden Sie mit den Pferden?«
»Sozusagen, aber eigentlich ist es noch ein bisschen mehr. Sehen Sie.« Sie zeigte auf die Herde. Er folgte ihrem Blick und zeigte sich auf einmal sehr erstaunt. »Verrückt. Sie sind viel ruhiger als noch gerade eben.«
»Verrückt hat so etwas Negatives. Ich bevorzuge das Wort wundersam.« Sie nickte dem Feuerwehrmann noch einmal zu und schritt auf die Gruppe Jungvampyre zu, die sich um Erik Night und Professor P geschart hatten.
Der Feuerwehrmann eilte ihr nach und verfiel dabei fast in Trab. »Ma’am, ich bin Captain Alderman, Steve Alderman. Wir werden das Feuer bald unter Kontrolle haben, aber ich muss wissen, wer hier das Sagen hat.«
»Das wüsste ich auch gern, Captain Alderman«, gab Lenobia grimmig zurück. »Kommen Sie mit«, fügte sie dann hinzu. »Ich kläre das.« Die Pferdeherrin trat zu Erik und Prof P, bei denen sich ein Sohn des Erebos, Kramisha, Shaylin und einige blaue Jungvampyre aus der Unter- und Oberprima befanden. »Penthesilea, ich weiß, dass Thanatos mit Zoey und ihrem Kreis wegen dieses Rituals bei Zoeys Großmutter ist, aber wo ist Neferet?«, fragte sie scharf.
»Ich – ich habe keine Ahnung!« Die Literaturlehrerin wirkte völlig aufgelöst. Sie schien unfähig, den Blick von den brennenden Stallungen zu lösen. »Als ich das Feuer sah, bin ich persönlich zu ihr gegangen, um sie zu wecken, aber da war keine Spur von ihr.«
»Was ist mit Handy? Hat noch niemand versucht?«, fragte Kramisha.
»Sie nimmt nicht ab«, antwortete Erik.
»Na toll«, murmelte Lenobia.
»Darf ich annehmen, dass Sie in Abwesenheit der Personen, die Sie gerade erwähnt haben, selbst die Verantwortung tragen?«, fragte Captain Alderman sie.
»Nun, sieht wohl so aus.«
»Gut. Sie müssen dringend eine Anwesenheitsliste aller Bewohner erstellen. Alle Lehrer sollten sich sofort vergewissern, wo sich jeder einzelne ihrer Schüler aufhält.« Er deutete mit dem Daumen hinter sich. »Dieses Mädchen – die mit dem roten Mond auf der Stirn – ist die einzige Schülerin, die wir in der Nähe des Stalls gefunden haben. Sie ist nicht verletzt, nur ein bisschen verstört. Der Sauerstoff wirkt bei ihr ungewöhnlich schnell. Trotzdem sollte sie vielleicht ins St. John’s gebracht werden.«
Lenobia folgte seiner Geste. Dort saß Nicole auf einer Bank und atmete tief durch eine Sauerstoffmaske, während ein Sanitäter sie durchcheckte. Nebenan warteten Margareta und Sapphire und blickten den Menschen an, als sei er ein besonders ekliges Insekt.
»Unsere Krankenstation ist besser in der Lage, sich um verletzte Jungvampyre zu kümmern, als ein Krankenhaus für Menschen.«
»Wie Sie meinen, Ma’am. Sie haben hier das Sagen, und ich weiß, dass ihr Vampyre anders tickt als wir Menschen.« Er unterbrach sich und fügte hinzu: »Nichts für ungut, Ma’am. Mein bester Highschool-Freund wurde auch Gezeichnet und hat sich inzwischen gewandelt. Wir sind immer noch befreundet.«
Es gelang Lenobia, zu lächeln. »Kein Problem, Captain Alderman. Sie haben nur die Tatsachen ausgesprochen. Vampyre haben in der Tat eine andere Physiologie als Menschen. Wir werden uns um Nicole kümmern.«
»Gut. Dann schicke ich jetzt am besten ein paar meiner Jungs in diesen Sportkomplex und schaue nach, ob sich dort noch jemand aufhält. Sieht zwar aus, als könnten wir den Brand eindämmen, aber sicher ist sicher.«
Die Ställe teilten sich eine Wand mit der großen, überdachten Sporthalle. Lenobia folgte ihrem Bauchgefühl und sagte: »Ich denke, die Sporthalle zu durchsuchen wäre nur Zeitverschwendung für Ihre Leute.
Na, wenigstens eine erfreuliche Nachricht, dachte Lenobia, die sich bemühte, nicht auf das qualmende Wrack ihrer Stallungen zu blicken. Sie wandte sich wieder der Gruppe zu. »Wo ist denn Dragon? Etwa in der Sporthalle?«
»Dragon wird vermisst?« Bisher hatte sie keinen Gedanken an den Anführer der Söhne des Erebos verschwendet, aber nun, da sie darüber nachdachte, erschien es ihr höchst bedenklich, dass er in einer solchen Notsituation nicht auftauchte. »Neferet und Dragon – was ist denn los, dass beide nicht da sind? Das kann nichts Gutes für die Schule bedeuten.«
Alle wandten den Blick dem zierlichen Mädchen zu, deren Fülle dichten, dunklen Haars ihr zartes Gesicht noch puppenhafter aussehen ließ. Schnell konnte Lenobia sie einordnen – Shaylin, die neueste Jungvampyrin am House of Night und die einzige, deren Mal von Anfang an rot gewesen war. Schon als Lenobia sie vor ein paar Tagen zum ersten Mal gesehen hatte, hatte sie das Gefühl gehabt, dass das Mädchen ein wenig merkwürdig war. Sie kniff die Augen zusammen. »Du hast Neferet gesehen? Wann? Wo?«
»Und was war mit Neferet, Shaylin?«, drängte Erik sie.
finster
»Shaylin sieht Leute auf ihre eigene Weise«, unterbrach Erik sie. Sie sah, wie er Shaylin beruhigend die Hand auf die Schulter legte. »Wenn sie sagt, Neferet sah finster aus, dann ist es wahrscheinlich nur gut, dass Sie die Feuerwehr davon abgehalten haben, die Sporthalle zu durchsuchen.«
»Bin ich Dichterin. Kann ich jambische Pentameter machen, kann ich auch paar verschreckte, verpennte Kids rumkommandieren.«
Dich
Während Kramisha die verstreuten Jungvampyre zusammenrief, wandte sich Lenobia an Erik und Shaylin. »Wir drei sollten die Sporthalle durchsuchen.«
Aber Shaylin blieb stehen, und Lenobia bemerkte, dass sie Eriks Hand abschüttelte, wenn auch eher gedankenverloren als verärgert oder absichtlich verletzend. Die rote Jungvampyrin sah zum Himmel auf und seufzte. Sie strahlte eine gewisse Ungeduld aus, als wartete sie oder wünschte sich etwas.
Shaylin sah weiter nach oben. »Wo ist der Regen, wenn man ihn braucht?«
»Regen. Ich wollte wirklich, es würde regnen.« Endlich sah das Mädchen ihn an und wirkte ein bisschen verlegen. »Ich schwöre, ich kann ihn in der Luft riechen. Das wäre eine Riesenerleichterung für die Feuerwehr und außerdem eine Garantie, dass das Feuer sich nicht weiter ausbreiten kann.«
»Die Menschen bekommen das Feuer schon in den Griff. Wir müssen uns um die Sporthalle kümmern. Es gefällt mir nicht, dass Neferet dorthin unterwegs war.«
»Hey, es ist wichtig«, sagte er leise und dringlich. »Komm, lass uns mit Lenobia die Sporthalle absuchen. Die Feuerwehr bekommt alles andere schon unter Kontrolle.« Als Shaylin sich immer noch weigerte, wurde er lauter. »Was ist los? Weder Thanatos noch Dragon sind da, nicht mal Zoey und ihre Leute, da sollten nicht alle mitkriegen, was wir –«
ihr
»Das ist doch eine von Dallas’ Roten. Würde mich nicht wundern, wenn sie was mit dem Feuer zu tun hätte«, sagte Erik sichtlich verärgert. »Lenobia, vielleicht sollten Sie dafür sorgen, dass Nicole in die Krankenstation kommt und nicht mehr rausgelassen wird, bis wir wissen, was zum Teufel hier eigentlich passiert ist.«
»Shaylin, du hast doch keine Ahnung. Nicole gehört zu Dallas’ Leuten«, sagte Erik.
»Tatsächlich hat sie mir geholfen, die Pferde zu befreien«, bemerkte Lenobia. »Wenn sie etwas mit dem Brand zu tun gehabt hätte, wäre eher zu erwarten gewesen, dass sie sich in dem Rauch davongestohlen hätte. Dann hätte keiner je geahnt, dass sie da war.«
Da erscholl eine donnernde Stimme. »Welch eine Untat ist hier heute Nacht begangen worden?« Eine Phalanx von Vampyren und Jungvampyren bewegte sich über das Schulgelände auf die drei zu – Thanatos an der Spitze, Zoey und Stevie Rae zu ihren Seiten und erstaunlicherweise direkt dahinter, mit kampfbereit ausgebreiteten Schwingen, Kalona – als wäre er plötzlich ein Schutzengel des Todes geworden.