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Impressum

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel «Sula» 1974 als Borzoi Book im Verlag Alfred A. Knopf, Inc., New York.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, März 2019

Copyright ©1980, 1984, 2004 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«Sula» Copyright © 1974 by Toni Morrison

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Umschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt

Umschlagabbildung Philippe Bourseiller/Agentur FOCUS

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

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ISBN Printausgabe 978-3-499-23815-4 (2. Auflage 2018)

ISBN E-Book 978-3-644-00468-9

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-00468-9

Es ist ein reiner Glücksfall, wenn uns jemand fehlt, lange bevor er uns verlässt.

Dieses Buch ist für Ford und Slade, die mir fehlen, obwohl sie mich nicht verlassen haben.

Nobody knew my rose of the world but me … I had too much glory.

They don’t want glory like that in nobody’s heart.

The Rose Tattoo

Es wird nichts übrig bleiben vom Bottom (die Fußgängerbrücke über den Fluss ist schon weg), aber vielleicht ist das nicht weiter schlimm, weil es doch keine richtige Stadt war: nur eine Siedlung, aus der die Leute in den Talhäusern an ruhigen Tagen manchmal Singen, manchmal Banjos hörten, und wenn ein Mann aus dem Tal geschäftlich in den Hügeln dort oben zu tun hatte – Miete oder Versicherungsbeiträge kassieren –, sah er vielleicht eine dunkelhäutige Frau in einem geblümten Kleid ein paar Schritte Cakewalk tanzen, ein paar Schritte Blackbottom, ein bisschen «herumhampeln» zu den schwungvollen Klängen einer Mundharmonika. Und ihre nackten Füße wirbelten den safrangelben Staub auf, der herabschwebte auf den Overall und die an den Ballen aufgeplatzten Schuhe des Mannes, der die Musik in seine Mundharmonika hineinatmete und aus ihr heraussog. Die Schwarzen, die ihr zusahen, lachten und rieben sich die Knie, und es konnte leicht geschehen, dass der Mann aus dem Tal das Gelächter hörte und den erwachsenen Schmerz nicht bemerkte, der irgendwo unter den Augenlidern ruhte, irgendwo unter ihren Kopftüchern und unter den weichen Filzhüten, irgendwo in der Handfläche, irgendwo hinter den zerfransten Jackenaufschlägen, irgendwo in der Muskelwölbung. Er hätte einmal hinten in der großen Saint-Matthew-Kirche stehen und sich von der Stimme des Tenors in Seide hüllen lassen müssen oder die Hände der Löffelschnitzer berühren (die seit acht Jahren nicht mehr gearbeitet

Ein glucksendes, knieschlagendes, nassäugiges Gelächter, das sogar beschreiben und erklären konnte, wie es kam, dass sie waren, wo sie waren.

Ein Witz. Ein Niggerwitz. So hatte es angefangen. Nicht mit der Stadt natürlich, sondern mit dem Teil der Stadt, wo die Neger lebten, dem Teil, den sie den Bottom nannten, obwohl er oben in den Hügeln war. Nur ein Niggerwitz. Von der Art, wie ihn weiße Leute erzählen, wenn die Fabrik zumacht und sie irgendwo nach ein wenig Trost suchen. Von der Art, wie ihn schwarze Leute über sich selbst erzählen, wenn kein Regen kommt oder wenn es wochenlang regnet und sie irgendwie nach ein wenig Trost suchen.

Ein guter weißer Farmer versprach seinem Sklaven die Freiheit und ein Stück Land im Tal, wenn er einige sehr schwierige Aufgaben verrichten würde. Als der Sklave die Arbeit vollbracht hatte, bat er den Farmer, zu seinem Teil der Abmachung zu stehen. Freiheit war einfach – dagegen hatte der Farmer nichts einzuwenden. Aber er wollte kein Land abgeben. Darum erklärte er dem Sklaven, es tue ihm sehr Leid, dass er ihm Talland geben müsse. Er habe gehofft, er könne ihm ein Stück vom Bottom geben. Der Sklave zwinkerte mit den Augen und sagte, er habe gedacht, Talland sei Bottomland. Der Master sagte: «O nein! Siehst du die Hügel dort? Das ist Bottomland, schwer und fruchtbar.»

«Von uns aus ist es hoch oben», sagte der Master. «Aber wenn Gott hinunterschaut, ist es unten, der Bottom. Darum nennen wir es so. Es ist der Bottom des Himmels – das beste Land, das es gibt.»

Der Sklave bestürmte seinen Herrn, doch zu versuchen, ein Stück für ihn aufzutreiben. Er ziehe es dem Tal vor. Und so geschah es. Der Nigger kriegte das Hügelland, wo das Bepflanzen zermürbend war, wo der Boden abrutschte und die Saat mitriss und wo der Wind den ganzen Winter über nicht wich.

Was erklärte, warum Weiße den schweren Talboden bewohnten in jener kleinen Flussstadt in Ohio und die Schwarzen die Hügel über dem Tal besiedelten, wobei es ihnen nur ein schwacher Trost war, dass sie Tag für Tag buchstäblich hinunterschauen konnten auf die weißen Leute.

Und doch war es wunderschön oben im Bottom. Als die Stadt wuchs und aus dem Ackerland ein Dorf wurde und aus dem Dorf eine Stadt und die Straßen von Medallion heiß und staubig waren vor Fortschritt, waren die ausladenden Bäume, die die Hütten oben im Bottom beschirmten, wunderschön anzusehen. Und die Jäger, die manchmal dort hinaufkamen, fragten sich im Stillen, ob nicht vielleicht der Farmer doch Recht gehabt habe. Vielleicht war es der Bottom des Himmels.

Die Schwarzen wären anderer Meinung gewesen, aber sie hatten keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie waren viel zu sehr in Anspruch genommen von

1919

 

Als Shadrack die Augen öffnete, lag er aufgestützt in einem schmalen Bett. Vor ihm, auf einem Tablett, befand sich ein großer, in drei Dreiecke unterteilter Blechteller. In einem Dreieck war Reis, in einem anderen Fleisch, und im dritten waren gedünstete Tomaten. Eine kleine

«Private? Wir werden doch heute keine Scherereien machen, oder? Oder, Private?»

«Na los. Nehmen Sie den Löffel da in die Hand. Nehmen Sie ihn schon, Private. Keiner wird Sie ewig füttern.»

Schweiß rann Shadrack von den Achselhöhlen über die Seiten. Er könnte es nicht ertragen, seine Hände wieder wachsen zu sehen, und er fürchtete sich vor der Stimme im apfelgrünen Anzug.

«Nehmen Sie ihn in die Hand, hab ich gesagt. Es hat doch keinen Zweck …» Der Pfleger griff unter der Decke nach Shadracks Handgelenk, um die grässliche Hand hervorzuziehen. Shadrack riss sie zurück und warf das Tablett um. In panischem Schrecken erhob er sich auf die Knie und versuchte, seine schrecklichen Finger abzuschütteln und fortzuwerfen, schaffte es aber nur, den Pfleger in das Bett nebenan zu stoßen.

Als sie Shadrack in eine Zwangsjacke steckten, war er sowohl erleichtert als auch dankbar, denn nun waren seine Hände endlich verhüllt und auf den Umfang beschränkt, welcher auch immer es sein mochte, den sie angenommen hatten.

Eingeschnürt und stumm versuchte er in dem schmalen Bett, die Gedankenfetzen, die ihm durch den Kopf gingen, miteinander zu verbinden. Er wünschte sich verzweifelt, sein Gesicht zu sehen und eine Verbindung herzustellen zwischen seinem Gesicht und dem Wort

Er sah ein Fenster, das auf einen Fluss hinausging, von dem er wusste, dass er voller Fische war. Jemand sprach leise gerade vor der Tür …

 

Shadracks Gewalttätigkeit und eine Verlautbarung der Krankenhausverwaltung, in der es um die Verteilung von Patienten auf Abteilungen für besonders schwere Fälle ging, fielen zusammen. Man brauchte eindeutig Platz. Die Dringlichkeit oder die Gewalttätigkeit brachten Shadrack seine Entlassung ein, 217 Dollar in bar, einen kompletten Anzug und einige sehr amtlich aussehende Schreiben.

Als er aus der Krankenhaustür trat, überwältigten ihn die Anlagen: die gestutzten Sträucher, die eingefassten Rasenflächen, die wie mit dem Lineal gezogenen Gehwege. Shadrack schaute auf die Betongeraden: Jede von ihnen führte zielbewusst zu irgendeinem vermutlich wünschenswerten Bestimmungsort. Es gab keine Zäune, keine Verbotstafeln, überhaupt keine Hindernisse zwischen Beton und grünem Gras, man konnte also den

Shadrack stand am Fuße der Treppe zum Krankenhaus und beobachtete, wie die Kronen der Bäume hin und her schwankten, wehmütig, aber harmlos, weil ihre Stämme zu tief im Boden verwurzelt waren, als dass sie ihn bedrohen könnten. Nur die Wege beunruhigten ihn. Er verlagerte sein Gewicht und fragte sich, wie er zur Pforte gelangen könne, ohne den Beton zu betreten. Während er seinen Weg plante – wo er einen Sprung machen müsste, wo eine Gruppe von Büschen umgehen –, schreckte ihn plötzlich ein schallendes Gelächter auf. Zwei Männer gingen die Treppen hinauf. Und dann stellte er fest, dass viele Menschen in seiner Nähe waren und dass er sie erst jetzt sah oder aber dass sie erst eben Gestalt angenommen hatten. Es waren schmächtige Figürchen, wie Ausschneidepuppen, die die Wege hinunterschwebten. Einige saßen in Stühlen mit Rädern und wurden von anderen Papierfiguren von hinten geschoben. Alle schienen zu rauchen, und ihre Arme und Beine krümmten sich in der Brise. Ein schöner starker Wind würde sie hoch- und fortblasen, und sie würden vielleicht in den Baumkronen landen.

Shadrack wagte es. Vier Schritte, und er war auf dem Gras, in Richtung Pforte. Er hielt den Kopf gesenkt, weil er es vermeiden wollte, die Papiermenschen hin und her schwanken und sich krümmen zu sehen, und er kam von seinem Weg ab. Als er aufsah, stand er neben einem niedrigen roten Gebäude, das vom

Sobald er auf der Straße war, wandte er sich nach Westen. Der lange Aufenthalt im Krankenhaus hatte ihn geschwächt, er war zu schwach, um festen Schrittes auf dem Kiesbankett der Straße zu marschieren. Er schlurfte, wurde schwindelig, blieb stehen, um Atem zu schöpfen, setzte sich wieder in Bewegung, stolpernd und schwitzend, wollte sich aber die Schläfen nicht wischen, weil er sich noch immer davor fürchtete, seine Hände anzuschauen. Insassen von dunklen, eckigen Autos verschlossen die Augen vor dem, was sie für einen betrunkenen Mann hielten.

Die Sonne stand schon direkt über ihm, als er zu einer Stadt kam. Einige wenige Blocks schattiger Straßen, und er war schon im Zentrum einer hübschen, unauffällig regulierten Innenstadt.

Erschöpft, seine Füße nur noch schmerzende Klumpen, setzte er sich an der Bordkante hin, um sich die Schuhe auszuziehen. Er schloss die Augen, damit er vermied, seine Hände zu sehen, und fummelte mit den

Durch die Tränen hindurch sah er, wie die Finger sich mit den Schnürbändern verbanden, zögernd zuerst, dann rasend schnell. Die vier Finger einer jeden Hand verschmolzen mit dem Gewebe, verknoteten sich selbst und fuhren im Zickzack in die winzigen Ösen und wieder heraus.

Wie Mondlicht, das sich unter einer Jalousie einschleicht, stahl sich eine Idee bei ihm ein: sein früheres Verlangen, sein eigenes Gesicht zu sehen. Er sah sich nach einem Spiegel um – es gab keinen. Schließlich machte er sich, die Hände sorgsam hinter dem Rücken versteckt, auf den Weg zur Toilettenschüssel und blickte verstohlen hinein. Das Wasser wurde von der Sonne ungleichmäßig beleuchtet, sodass er nichts erkennen konnte. Er ging zu seiner Pritsche zurück, nahm die Decke und bedeckte sich den Kopf, wodurch das Wasser dunkel genug wurde, um ihn sein Spiegelbild sehen zu lassen. Dort im Wasser der Toilette sah er ein ernstes schwarzes Gesicht. Ein so bestimmtes, so eindeutiges Schwarz, dass es ihn überraschte. Er hatte unruhige Befürchtungen gehegt, dass er nicht wirklich sei, dass er gar nicht existiere. Aber als die Schwärze ihm mit nicht zu

Shadrack erhob sich und ging zur Pritsche zurück, wo er in den ersten Schlaf seines neuen Lebens fiel. Einen Schlaf, der tiefer war als die Krankenhausdrogen, tiefer als die Kerne von Pflaumen, ruhiger als der Flügel des Kondors, gelassener als die Wölbung von Eiern.

Der Sheriff schaute durch das Gitter auf den jungen Mann mit dem verfilzten Haar. Er hatte die Papiere seines Gefangenen durchgesehen und einen Farmer kommen lassen. Als Shadrack aufwachte, händigte der Sheriff ihm seine Papiere aus und begleitete ihn an die Rückseite eines Fuhrwerks, Shadrack stieg ein, und in weniger als drei Stunden war er wieder in Medallion, denn er war nur zweiundzwanzig Meilen entfernt gewesen von seinem Fenster, seinem Fluss und seinen leisen Stimmen gerade vor der Tür.

Hinten im Fuhrwerk, gegen Säcke mit Melonen und Kürbisberge gelehnt, begann Shadrack einen Kampf, der zwölf Tage dauern sollte, einen Kampf um Ordnung und Zusammenfassung seiner Erfahrungen. Es ging darum, der Angst sowohl einen Platz einzuräumen als auch eine Möglichkeit zu finden, sie in Grenzen zu halten. Er kannte den Geruch des Todes und hatte große Furcht vor ihm, denn man konnte ihn nicht vorausahnen. Es war nicht der Tod oder das Sterben, was ihn in Schrecken versetzte, sondern das Unerwartete von beidem. Während er versuchte, eine Ordnung in all das zu bringen,

 

Am dritten Tag im neuen Jahr ging er mit einer Kuhglocke und einem Henkersseil die Carpenter’s Road hinunter durch den Bottom und rief die Leute zusammen, wies sie darauf hin, dass dies ihre einzige Chance sei, sich selbst oder einander zu töten.

Zuerst fürchteten die Menschen in der Stadt sich. Sie wussten, dass Shadrack verrückt war, aber das bedeutete nicht, dass er nicht bei Verstand sei oder, noch wichtiger, dass er keinen Einfluss habe. Seine Augen waren so wild, sein Haar so lang und verfilzt, seine Stimme so kraftvoll und donnernd, dass er am ersten oder konstituierenden Nationalen Selbstmordtag im Jahre 1920 eine Panik verursachte. Der nächste, im Jahre 1921, war nicht mehr ganz so furchterregend, aber immer noch beunruhigend. Die Leute hatten ihn inzwischen ein Jahr lang gesehen. Er wohnte in einer Hütte am Flussufer, die einst seinem schon lange toten Großvater gehört hatte. Dienstags und freitags verkaufte er den Fisch, den er am gleichen Morgen gefangen hatte, die übrige Woche war er betrunken, laut, obszön, komisch und abscheulich. Aber er rührte nie jemanden an, hatte nie Schlägereien, liebkoste nie jemanden. Nachdem die Leute einmal die Grenzen und die Art seiner Verrücktheit verstanden, konnten sie ihn, sozusagen, ins Schema des Gewohnten einordnen.

Im Lauf der Zeit beachteten die Leute den dritten Januar immer weniger oder glaubten das zumindest von sich, glaubten, sie hätten keine wie auch immer gearteten Einstellungen oder Empfindungen bezüglich Shadracks einmal im Jahr stattfindender einsamer Demonstration. Tatsächlich hatten sie einfach nur aufgehört, sich zu dem Feiertag zu äußern, weil sie ihn in ihre Gedanken, in ihre Sprache, in ihr Leben aufgenommen hatten.

Jemand sagte zu einer Freundin: «Hast ganz schön lange gebraucht, das Kind zu kriegen. Wie lange hat die Geburt gedauert?»

Und die Freundin antwortete: «So um drei Tage. Die Wehen haben am Selbstmordtag angefangen und bis zum Sonntag drauf gedauert. Ist am Sonntag geboren. Sind alle Sonntagsjungs, meine Jungs.»

Ein Mann sagte zu seiner Braut: «Machen wir’s lieber nach Neujahr, nicht vorher. Silvesterabend krieg ich mein Geld.»

Und sein Schatz antwortete: «Okay, aber auf keinen Fall am Selbstmordtag. Ich hab keine Lust, Kuhglocken zu hören, wenn wir Hochzeit machen.»

Dann griff Reverend Deal es auf und sagte, die gleichen Leute, die Verstand genug hätten, Shadracks Ruf aus dem Wege zu gehen, seien es auch, die darauf bestünden, sich zu Tode zu trinken oder zu Tode zu huren. «Könnten ebenso gut mit Shad gehen und dem Lamm die Mühe der Erlösung sparen.»

Glatt und leise wurde der Selbstmordtag ein Teil des Gewebes, aus dem das Leben bestand oben im Bottom von Medallion, Ohio.

1920

Als daher Wiley Wright kam, um seine Großtante Cecile in New Orleans zu besuchen, wurde aus seinem Entzücken über die hübsche Helene ein Heiratsantrag – unter dem Druck beider Frauen. Er war ein Seemann (oder vielmehr ein Seenmann: Er war Schiffskoch bei einer der Großen-Seen-Linien), alle sechzehn Tage nur drei Tage an Land.

Er nahm seine junge Frau mit nach Medallion, wo er zu Hause war, und brachte sie in ein wunderschönes

Ihre Tochter war mehr Trost und Sinn, als sie in diesem Leben je zu finden gehofft hatte. Sie zeigte sich dem Ereignis der Mutterschaft großartig gewachsen – dankbar, tief im Innersten, dass das Kind nicht die große Schönheit geerbt hatte, die sie selbst ihr Eigen nannte: dass es in der Haut ihrer Tochter dunkle Töne gab, dass ihre Wimpern ansehnlich, doch nicht würdelos waren in ihrer Länge, dass sie Wileys breite, flache Nase hatte (Helene hoffte allerdings, sie noch etwas veredeln zu können) und seine vollen Lippen.

Unter Helenes Hand wurde das Mädchen gehorsam und höflich. Etwaige Anzeichen von Begeisterung für irgendetwas bei der kleinen Nel wurden von der Mutter besänftigt, bis sie schließlich die Phantasie ihrer Tochter ganz verdrängte.

Helene Wright war eine beeindruckende Frau, zumindest war sie das in Medallion. Volles Haar in einem Knoten, dunkle Augen, gewölbt in der ständigen Frage nach den Manieren anderer Leute. Eine Frau, die alle gesellschaftlichen Gefechte gewann, mit Haltung und überzeugt von der Rechtmäßigkeit ihrer Autorität. Da es zu der Zeit keine katholische Gemeinde in Medallion gab, trat sie der konservativsten schwarzen Religionsgemeinschaft bei. Und herrschte. Es war Helene, die beim Gottesdienst nie den Kopf wandte, wenn jemand zu

Alles in allem war ihr Leben ein zufrieden stellendes Leben. Sie liebte ihr Zuhause und genoss es, ihre Tochter und ihren Mann zu lenken. Sie seufzte manchmal kurz vor dem Einschlafen bei dem Gedanken, dass sie in der Tat weit genug vom Sundown House weggegangen sei.

So kam es, dass sie mit außerordentlich gemischten Gefühlen einen Brief von Mr. Henri Martin las, in dem die Krankheit ihrer Großmutter beschrieben und der Vorschlag gemacht wurde, dass sie umgehend hinunterkomme. Sie wollte nicht fahren, konnte es aber nicht übers Herz bringen, die stumme Bitte der Frau zu ignorieren, die sie gerettet hatte.

Es war November. November 1920. Sogar in Medallion stolzierten die weißen Männer siegesbewusst einher, und eine matte Erregung glomm in den Augen der farbigen Kriegsteilnehmer.

Helene hegte schwere Bedenken hinsichtlich der Reise nach Süden, kam aber zu dem Schluss, dass sie bestens geschützt sei: durch ihr Auftreten und ihr Verhalten, denen sie noch ein schönes Kleid hinzufügen würde. Sie kaufte einen tiefbraunen Wollstoff und eine drei viertel Elle dazu passenden Samt. Davon machte sie sich ein