Silke Schütze

Wir nannten es Freiheit

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Silke Schütze

Silke Schütze, Jahrgang 1961, lebt in Hamburg. Nach ihrem Studium der Philologie war sie Pressechefin bei einem Filmverleih und Chefredakteurin der Zeitschrift CINEMA. Sie hat bereits zahlreiche Romane und Kurzgeschichten veröffentlicht und hält Schreiben für die zweitschönste Sache der Welt. 2008 wurde Silke Schütze vom RBB und dem Literaturhaus Berlin mit dem renommierten Walter-Serner-Preis ausgezeichnet.

Impressum

© 2019 der eBook-Ausgabe Knaur eBook

© 2019 Knaur Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: lüra – Klemt & Mues GbR

Covergestaltung: U1berlin / Patrizia Di Stefano

Coverabbildung: © Michalina Wozniak/Trevillion Images; © LoudredCreative/Getty Images

ISBN 978-3-426-44304-0

Hinweise des Verlags

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Für meine Geschwister

 

 

 

 

Die Welt wird schöner mit jedem Tag. Wenn ich noch einmal anfangen sollte, ich möchte das meiste noch einmal erleben.

Alfred Kerr

 

 

Sich um die Liebe zu betrügen ist der fürchterlichste Betrug; es ist ein ewiger Verlust, der sich nie ersetzen lässt, weder in der Zeit noch in der Ewigkeit.

Sören Kierkegaard

Kapitel 1

So schnell sie konnte, rannte Lene durch die dunkle, menschenleere Straße. Die Schritte ihres Verfolgers hallten zwischen den Häusern. Es war ein kalter Berliner Märzmorgen, und die Luft roch nach Gas, feuchtem Holz und Schnee. Eine einzige Straßenlaterne spendete ein gelbliches Licht. Lene rutschte auf den nassen Steinen aus, wäre beinahe gestürzt, fing sich im letzten Augenblick und lief weiter. Die Schritte kamen näher.

Irgendjemand musste die Übergabe beobachtet haben. Angstschweiß brach ihr aus. Einer von der Schmugglerbande aus der Hasenheide? Oder die Polizei? Jetzt im zweiten Kriegsjahr wurden die Lebensmittel noch knapper, und die Gendarmen hatten den Schwarzmarkt verschärft im Visier. Vor ein paar Tagen hatte die Regierung sogar ein »Kuchenbackverbot« ausgesprochen. Nur noch zu Brot durfte Mehl gebacken werden. Aber an Mehl war ja sowieso kaum mehr zu kommen.

Lene behielt das hohe Tempo bei, obwohl sie kaum noch Luft bekam. Sie musste die Lieferung unbedingt vor dem Unterricht loswerden. Die Zietenstraße, die sie nun entlanghetzte, trennte wie eine Grenze Schöneberg von Berlin. Lene hatte selten in Berlin zu tun, aber für ihre geheimen Aktionen war es besser, das vertraute Schöneberg zu meiden.

Bis jetzt war es immer gut gegangen. Aber heute hatte der Bote auf sie warten müssen, weil das Fieber ihrer Mutter erneut gestiegen war. Lene war bei ihr geblieben, bis sie wieder schlief.

Sie sah sich um, konnte aber in der Dunkelheit nichts erkennen. Sie musste von der Straße verschwinden. Die Schultertasche fest an den Körper gedrückt, lief sie in einen Hauseingang. Sie stemmte sich mit aller Kraft gegen die schwere Holztür, die unter ihrem Druck nachgab. Nach Atem ringend blieb sie im Windfang stehen.

Sie befand sich im Treppenhaus eines typischen Berliner Mietshauses. Linker Hand führten Stufen hinauf zu den Wohnungen des vierstöckigen Vorderhauses. Vor ihr lag die Pforte zum ersten Hinterhof. Wenn es ihr gelang, in den Hof zu flüchten, konnte sie sich im Gewirr der Hinterhäuser und Höfe in Sicherheit bringen. Sie zwängte sich in eine Ecke neben der Haustür und lauschte. Die Schritte näherten sich, wurden langsamer. Lene versuchte, ihren stoßweisen Atem zu kontrollieren. Die Tür schwang auf, im Schein der Straßenlaterne sah sie die Silhouette eines Mannes mit Schiebermütze. Sie presste ihre Hand auf den Mund und schloss die Augen wie ein Kind, in der irrsinnigen Hoffnung, unentdeckt zu bleiben.

Als sie nach quälend langen Minuten hörte, wie der Mann sich umdrehte und dann die Tür knarrte, wagte sie schließlich, ihre Augen zu öffnen. Der Verfolger war nicht mehr da.

Lene ließ den Treppenaufgang im Vorderhaus links liegen und rannte zur Hoftür, versuchte, sich in dem dämmrigen Hof zu orientieren. Aus einigen Fenstern in den Hinterhäusern fiel bereits Licht. Im Hof standen Ascheneimer, ein Viereck war mit einer Wäscheleine abgezäunt. Lene entschied sich, den Eingang des rechten Hinterhauses anzusteuern. Vielleicht konnte sie über den Dachboden weiterkommen.

Sie hatte bereits die Mitte des Hofes erreicht, als ihr Lauf unversehens aufgehalten wurde. Sie stieß gegen einen menschlichen Körper, geriet ins Straucheln.

»Was zum Teufel …?«, stieß sie hervor und hielt sich unbeholfen an dem Hindernis fest.

Es war ein Schuljunge, der wie aus dem Nichts plötzlich vor ihr stand. Er war vielleicht zehn Jahre alt. Ein hartes, kleines Gesicht, blass und mit großen Hungeraugen. Der Junge steckte in einer zerlöcherten, schmutzigen Jacke. Bei dem Zusammenstoß war ihm ein abgeschabter Lederranzen vom Rücken gerutscht. Die Klappe hatte sich geöffnet, und der Inhalt lag nun verstreut auf dem Boden.

Der Junge kauerte sich auf die Erde, um seine Habseligkeiten wieder in den Tornister zu räumen. Lene bückte sich, um ihm zu helfen. In diesem Moment ertönte hinter ihnen eine scharfe Stimme.

»Stehen geblieben!«

Lene und der Junge erstarrten. Zwei Gendarmen marschierten in den Hof. Sie trugen Schlagstöcke. Der Ältere der beiden baute sich bedrohlich vor Lene und dem Jungen auf, der andere durchmaß den Hof, sah in die Hauseingänge und Treppenhäuser, hinter die Ascheneimer und kam dann unverrichteter Dinge zurück. »Nichts. Er ist weg.«

Der Ältere nickte. »Dann gucken wir mal, was wir hier haben.«

Als Lene sich langsam aufrichtete, fühlte sie seinen strengen Blick auf sich ruhen.

»Wachtmeister Laschke«, sagte er, ehe er auf seinen Kollegen deutete. »Wachtmeister Dühmchen.«

Lene sah von einem zum anderen und nickte beklommen. Wachtmeister Laschke legte sein Gesicht gewichtig in Falten. »Name? Adresse?«

»Fräulein Lene Lehmann, Sedanstraße 17, Schöneberg, 1. Stock, Seitenhaus.«

»Was machen Sie hier?«

»Ich bin auf dem Weg zur achten Volksschule in der Hohenstauffenstraße, ich arbeite dort als Handarbeitslehrerin.«

»Was machen Sie hier im Hof?«

»Ein Mann hat mich belästigt, und ich wollte mich hier vor ihm verstecken.«

»Ein Mann? Seit wann hat er Sie verfolgt?« Wachtmeister Dühmchen klang sehr interessiert.

»Da oben am Platz fing das an.« Sie machte eine unbestimmte Bewegung mit der Hand.

»Was war mit dem Mann? Wie sah er aus?«

»Es ist doch noch dunkel. Ich habe nur gesehen, dass es ein Mann war. Dass er immer hinter mir hergelaufen ist. Ich hatte Angst.«

Die Gendarmen wechselten einen Blick. »Und du?« Wachtmeister Dühmchen schaute den Jungen auffordernd an.

Der wurde bleich vor Schreck. Er blickte zu Lene, dann wieder zu den Gendarmen. Schließlich murmelte er: »Ich wohne hier.« Er zeigte auf das rechte Hinterhaus. »Karl Schulze.«

Wachtmeister Laschke wandte sich an Lene. »In der Dunkelheit zu Fuß von der Sedanstraße? Wieso nehmen Sie nicht die Straßenbahn?«

Lene schob ihre Hände wärmesuchend in die Manteltaschen. »Ist ja nicht sehr weit. Das Geld spare ich mir, wir haben es nicht so dicke.« Sie sah Wachtmeister Laschke zutraulich an. »Mein Vater ist tot, meine Mutter krank, und ich bin noch nicht fest angestellt, erst auf Probe. Da gibt man nicht mal eben fünf oder vielleicht sogar 15 Pfennig für eine Fahrt mit der Straßenbahn aus. Wissen Sie, wie teuer Medikamente sind?«

»Woran leidet Ihre Mutter?«

»Ich würde mal sagen: krank geschuftet. Sie putzt bei verschiedenen Herrschaften, reibt sich die Knochen auf, und jetzt hat sie auch noch Bronchitis.« Lene sah, wie der jüngere Gendarm gelangweilt die Augen verdrehte, und konnte sich seine Gedanken vorstellen. Die Leier kannte er. Allen ging es schließlich schlecht. Ihm war sicherlich auch kalt, und er hatte stundenlang in der Nacht Dienst geschoben. Vielleicht hatten die Gendarmen einen Schwarzmarkthändler schon bei einer Verhandlung überrascht, ihn aber nicht erwischen können. Der Mann war für sie zu schnell gewesen. Immerhin waren sie ihm, und damit auch ihr, bis in die Zietenstraße gefolgt.

Wachtmeister Dühmchen schimpfte: »Haben wir den falschen Eingang genommen? Ich werde beim nächsten Einsatz darum bitten, Hunde mitnehmen zu dürfen. Mit einem Hund hätten wir bestimmt einen fetten Fang gemacht. Hunde und mehr Personal!«

Der Ältere schüttelte den Kopf, aber Dühmchen ließ sich nicht aufhalten. »Es sind halt so viele an der Front. Mangel, wohin man schaut. Kein Wunder, dass uns der Kerl entwischt ist. Das war bestimmt derselbe, der die Bahnlieferungen organisiert.« Er schnaubte wütend.

»Welche Bahnlieferungen?« Wachtmeister Laschke rieb sich die Nase.

Dühmchen verdrehte erneut die Augen. »Lieferungen ist das falsche Wort. Wir haben doch von der Dienststelle die Information bekommen, dass immer wieder Güter auf der Zugfahrt ›verloren gehen‹.« Wieder schnaubte er. »Verloren – von wegen! Wir sollten die Gelände längs der Bahnlinien überwachen. Da würden wir schon sehen, was da so alles verloren geht. Die Schwarzmarkthändler haben das alles im Griff. Und einer von denen wäre uns heute fast ins Netz gegangen. Fast! Aber statt ihn zu verknacken, stehen wir hier mit einer …« Er suchte vergeblich nach dem richtigen Ausdruck und legte schließlich eine Mischung von Unverständnis und Verachtung in seine nächsten Worte: »… einer Lehrerin und einem Straßenjungen.«

Wachtmeister Laschke nahm ihn am Arm und beschied Lene und dem Jungen: »Ihr bleibt hier!« Er zog seinen jungen Kollegen ein Stück zur Seite. »Was ist denn nur in Sie gefahren? Beruhigen Sie sich!«

Dühmchen stieß einen ärgerlichen Seufzer aus. »Aber Sie müssen mir doch recht geben! Wir waren dem Schwarzmarkthändler auf den Fersen, folgen ihm in diese Straße, und jetzt das. Wo ist der Kerl? Hat er sich in Luft aufgelöst? Und was haben das Fräulein und der Schuljunge damit zu tun? Das ist vielleicht gar kein Zufall, oder?«

»Jetzt sehen Sie mal keine Gespenster. Diese Lehrerin ist doch fast noch ein Mädchen. Und recht hübsch. Sie hatten doch auch schon mal einen Schatz.«

Lene, die die geflüsterte Unterhaltung mit anhören konnte, sah, dass der junge Gendarm rot wurde, und musste unwillkürlich lächeln. Vielleicht hatten ihn zwei, drei missglückte Liebschaften bereits gelehrt, dass Frauen viele Gesichter hatten. Für einen Gendarmen hat er erstaunlich offene Züge, dachte sie. Man konnte in ihnen lesen wie in einem offenen Buch.

Sie hörte, wie er Wachtmeister Laschke zuflüsterte: »Also noch einmal: Was, wenn das Fräulein etwas mit der Sache zu tun hat? Vielleicht ist diese ach so brave Lehrerin das Liebchen des Banditen?« Der Ältere wollte abwehren, aber Dühmchen wandte sich bereits an Lene: »Sie leben allein bei Ihrer Mutter? Noch nicht verlobt?«

Lene funkelte ihn an: »Ich wüsste nicht, was Sie das angeht!«

Laschke mischte sich wieder ein: »Fräulein, antworten Sie.«

»Ich bin verlobt, mein Zukünftiger kämpft in Frankreich. Verdun.«

Während Wachtmeister Laschke teilnahmsvoll nickte, blieb Dühmchen hartnäckig. »Sie wissen wirklich nicht, was der Mann von Ihnen wollte? Sie kannten ihn nicht? Sie hatten nicht etwa vor, hier Schwarzmarktware zu kaufen oder zu verkaufen?« Er ignorierte den Blick seines älteren Vorgesetzen, der ihn irritiert musterte.

Obwohl ihr die Angst den Atem abdrückte, zwang sich Lene, ihr Gesicht empört zu verziehen und einen resoluten Tonfall anzuschlagen. »Was wollen Männer wohl? An mein Geld wollte er bestimmt nicht.« Sie zitterte. An dem betretenen Gesicht des älteren Gendarmen erkannte sie, dass er ihr Zittern zum Glück als Zeichen von Empörung wertete. Bestimmt nahm er sich vor, später mit dem jungen Kollegen ein ernstes Wörtchen zu reden.

Betont entrüstet fuhr sie fort: »Herr Wachtmeister, wollen Sie Ihre Enttäuschung darüber, dass Ihnen ein Schwarzmarkthändler entkommen ist, an einer harmlosen Lehrerin auslassen?«

Ihre Worte machten auf den Alten sichtbar Eindruck. Es war ihm jedoch anzusehen, dass er sich in einem Dilemma befand: Er konnte seinen jungen Kollegen nicht vor ihr abkanzeln. Aber als Wachtmeister Dühmchen weiterfragen wollte, schnitt er ihm das Wort ab und sagte besänftigend: »Fräulein, wir müssen uns doch ein umfassendes Bild machen.« Er sah den jungen Kollegen bedeutungsvoll an. Der schob trotzig die Unterlippe vor, schwieg aber.

Lene unterdrückte ihr Zittern. Sie musste jetzt die Situation nutzen, in der ihre Widersacher offensichtlich miteinander beschäftigt waren. »Ich kann das gar nicht mit ansehen, wenn die Schulsachen hier so im Dreck liegen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, bückte sie sich. »Karl? Du heißt doch Karl?«

Der Junge nickte.

»Na, dann hilf mir mal. Du brauchst vor den Gendarmen keine Angst zu haben.«

Wachtmeister Laschke wirkte immer noch etwas betreten über das rüde Auftreten seines Kollegen, wie Lene befriedigt feststellte. Ihre Taktik schien aufzugehen. »Und wisch dir mal den Schnodder von der Nase.« Sie öffnete ihre Tasche und reichte dem Jungen ein kariertes Taschentuch.

Der Junge entfaltete das Tuch vorsichtig, seine Fingernägel waren schwarz. Er schnäuzte sich geräuschvoll und wollte Lene das Tuch wieder zurückgeben.

Lene sah so konsterniert auf das Tuch, dass die Gendarmen unwillkürlich lachen mussten. Sie schüttelte den Kopf. »Nee, lass mal, das gibst du deiner Mutter zum Waschen.« Sie griff noch einmal in ihre Tasche. »Hier, und nimm dieses alte Wolltuch. Nur mit der Jacke holst du dir doch den Tod!« Sie stopfte das gerollte Tuch in den Tornister und bemerkte, dass der ältere Gendarm die Aktion beinahe gerührt beobachtete.

Wachtmeister Dühmchen allerdings legte einen herablassenden Gesichtsausdruck an den Tag. Sicher stammte er aus einer Polizistenfamilie und war stolz darauf, später Anspruch auf eine Pension zu haben. Er bellte: »Das Tuch werden Sie nie wiedersehen, Fräulein, so viel ist mal klar! Und …«

Er verstummte, als Lene sich direkt vor ihn stellte und ihn wütend ansah. »Ist der Junge jetzt auch schon ein Dieb?«

Wachtmeister Laschke mischte sich erneut ein: »Das hat er nicht so gemeint, und ich habe auch gar nichts gehört. Machen Sie jetzt mal voran.«

Lene schnaubte noch einmal hörbar, dann hockte sie sich wieder zu dem Jungen.

Der Himmel über den Dächern wurde heller, und der Hof lag nicht mehr vollständig im Dunkeln. Lene und der Junge steckten eine zerschrammte Schiefertafel, ein Kreidekästchen und einen zerfledderten Schwamm in den Ranzen.

»So!« Lene schob Karl den Tornister zu, damit er die Schnallen schließen konnte. Sie half ihm, ihn wieder aufzusetzen. Auf der Erde war noch ein wenig Kreidestaub zu sehen, den sie beiläufig mit der Spitze ihres Stiefels verwischte. »Sind wir hier jetzt fertig, die Herren Wachtmeister?«

Der ältere Gendarm nickte.

Lene klopfte Karl auf die Schulter. »Pass beim nächsten Mal auf, wenn du im Dunkeln über den Hof läufst.« Sie wandte sich erneut an die Gendarmen. »Der Steppke ist so schnell wie eine Dampflok über den Hof gerast. Hat man selten, dass ein Kind es so eilig hat, zur Schule zu kommen.«

Die Männer lachten wieder.

Lene gab dem Kind einen aufmunternden Stups. »Bewahre dir diesen Wissensdurst!«

Karl sah vorsichtig zu den Gendarmen hinüber. Wachtmeister Laschke nickte und machte eine Bewegung mit dem Kopf Richtung Hoftür. Karl stob davon.

Lene sah ihm erleichtert nach. Jetzt musste sie nur noch selbst aus dem Hof hinauskommen. Sie wandte sich zum Gehen.

»Da wäre noch etwas, Fräulein Lehmann.«

Lene erstarrte. »Was denn noch?«

»Eine kleine Sache.« Das war wieder Wachtmeister Dühmchen. »Reine Routine. Aber … zeigen Sie mir doch mal, was Sie in Ihrer Tasche haben.«

Lene sah den älteren Gendarmen an. »Wie bitte?«

Wachtmeister Laschke hielt ihrem Blick stand. »Der Kollege hat recht. Reine Routine.« Er gab dem Jüngeren ein Zeichen.

Dieser nahm Lene die Tasche ab, öffnete sie und sah hinein. »Ein Heft, ein Federmäppchen, zwei Bücher, ein Kamm und …?« Er griff in die Tasche und stieß gleich darauf einen Schrei aus. »Was ist das?« Er hob anklagend seinen Zeigefinger, an dem sich ein Blutstropfen zeigte.

Lene lachte. »Mein Stopfzeug. Das war wohl die Stopfnadel. Ich bin doch Handarbeitslehrerin.«

Wachtmeister Laschke musste ein Grinsen unterdrücken. »Also nichts?«

Der jüngere Gendarm nickte grimmig. »Bis jetzt.«

Lene räusperte sich. »Was suchen Sie denn?«

»Nun werden Sie mal nicht so keck, Fräulein Lehmann. Die Fragen stellen wir.« Wachtmeister Dühmchen wühlte weiter in der Tasche, schüttelte dann den Kopf. »Nichts.«

Lene schoss das Blut in den Kopf, und die Wut, die sie jetzt erfüllte, war beinahe echt, obwohl sie vor allem erleichtert war. Sie riss die Tasche wieder an sich und spielte die Empörte. »Was haben Sie denn gedacht? Dass ich Goldbarren im Handarbeitsunterricht polieren lasse? Zigaretten für die Rechenstunde dabeihabe? Oder Kaviar im Hauswirtschaftsunterricht durchnehme? Fräulein Lehmann, die Schwarzmarktkönigin von Schöneberg?«

Wachtmeister Dühmchen schüttelte ärgerlich den Kopf. »Nein, nein. Aber Sie wissen doch, wir müssen genau sein. Außerdem sehen Kriminelle nicht immer aus wie Kriminelle. Gibt auch Omas mit gemütlichem Dutt, die schmuggeln. Alles schon mal da gewesen. Also, warum nicht Sie? Ich hab schon Pferde vor der Apotheke kotzen sehen.«

Wachtmeister Laschke, den das forsche Vorpreschen des jungen Kollegen sichtlich ärgerte, schaltete sich wieder ein. »Eine letzte Frage habe auch ich noch, Fräulein Lehmann.«

Lene hob die Augenbrauen und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Es ist pure Neugier. Wie sind Sie Lehrerin geworden?«

Lene sah ihn überrascht an. Dann stemmte sie die Hände in die Hüften. »Sie meinen wohl: Warum ausgerechnet ich? Ich mach es kurz: Ich bin zu schlau, um wie meine Mutter für irgendwelche Herrschaften den Dreck wegzuputzen.«

»Immerhin hat Ihre Mutter es geschafft, Ihnen das Lehrerinnenseminar zu bezahlen.«

»Steht jetzt meine Mutter plötzlich im Verdacht, durch Schwarzmarktgeschäfte für meine Ausbildung aufgekommen zu sein? Nein, meine arme Mutter, die uns allein durchgebracht hat, seit mein Vater gestorben ist, hätte sich das nicht leisten können. Ich war damals so alt wie dieser Junge, dieser Karl.« Sie zeigte auf das Seitenhaus. »Sie putzte schon immer bei einer adligen Familie in Wannsee. Da hat sie mich mal mitgenommen, und ich habe in der Küche dem Sohn des Hauses die Rechenaufgaben erklärt. Ich war schon immer gut im Rechnen.«

Sie sah, wie Wachtmeister Dühmchen ein Gähnen unterdrückte. Offensichtlich langweilte ihn ihre Erzählung. Sie nickte ihm zu. »Sie denken bestimmt: ›Naseweiser Blaustrumpf!‹ Stimmt’s?« Der junge Gendarm wirkte so ertappt, dass Lene grinste. »Natürlich, ich weiß – ein Mädchen, das rechnen kann. So eine Frau interessiert Sie nicht.«

»Sie werden schon wieder so kess«, nahm Wachtmeister Laschke seinen Kollegen in Schutz. »Erzählen Sie lieber weiter.«

Lene schüttelte den Kopf, aber dann fuhr sie doch fort: »Die Mutter des Jungen hat meine Rechenlektion miterlebt und dafür gesorgt, dass ich erst das Lyzeum, dann das Seminar besuchen durfte.« Sie lächelte grimmig. »Ich, das Arbeitermädchen, das nur zwei Kleider besaß und ein Paar Winterstiefel.« Sie verstummte, dann gab sie sich einen Ruck. »Wenn nichts gegen mich vorliegt, würde ich jetzt gern gehen. Ich muss zum Unterricht.« Sie zeigte nach oben. »Und die anderen müssten wohl auch zur Arbeit.«

Die Augen der Gendarmen folgten der Bewegung ihrer Hand. An den Fenstern in den Seitenhäusern und dem Vorderhaus waren Menschen zu erkennen, die neugierig heruntersahen. Wachtmeister Laschke sagte: »Natürlich, Fräulein Lehmann. Nichts für ungut.«

Lene nickte den Schutzleuten zu. »Guten Tag, die Herren.« Sie zwang sich, sich ruhig umzudrehen, und ging mit großen, energischen Schritten davon. Unter ihrer schwarzen Kappe floss ihr rotblonder Zopf den Rücken hinunter. In dem Moment, in dem sie die Hoftür hinter sich ins Schloss fallen hörte, begann sie zu laufen. Sie rannte durch das Vorderhaus und dort die Treppe in den ersten Stock hinauf. Erst musste sie sichergehen, dass die Polizisten das Haus und die Straße verlassen hatten, bevor sie sich nach Karl erkundigen konnte. Gleich darauf hörte sie, wie die Gendarmen unten die Tür öffneten, und hielt unwillkürlich den Atem an.

Die Stimme von Wachtmeister Laschke drang zu ihr herauf. »Warum haben Sie denn so auf dem armen Ding rumgehackt? Die kurbelt einfach ihren Leierkasten, so gut sie kann. Ist doch großartig! Kommt aus dem Kehricht und wird Lehrerin. Ein kluges Mädchen.«

Wachtmeister Dühmchen antwortete: »Eben. Zu klug für das Theater, das sie hier aufgeführt hat. Und dann diese rührselige Geschichte über die arme Mutter und die reiche Gönnerin. Kannte sie den Jungen vielleicht schon vorher? War es wirklich Zufall, dass wir die beiden hier angetroffen haben? Mir kommt es vor, als hätten wir irgendetwas übersehen.«

Lene hörte an ihren Schritten, dass sie nebeneinander zur Haustür gingen. Sie atmete erleichtert aus. Aber dann rief der junge Gendarm plötzlich: »Wo wohnt der Junge? Was hat er gesagt?«

»Rechtes Seitenhaus. Karl Schulze.«

Lene brach der kalte Angstschweiß aus. Die Lüge würde jetzt auffliegen. Bang dachte sie daran, dass sie den Polizisten ihre Adresse verraten hatte.

Die Hoftür wurde wieder geöffnet, die Schritte verloren sich im Hinterhof. Lene schlich auf Zehenspitzen an das Fenster im Treppenhaus und blickte hinunter. Sie sah, wie Wachtmeister Dühmchen zum Seitenhaus lief und im Eingang verschwand. Sein älterer Kollege spazierte wartend draußen umher. Lene duckte sich, als er nach oben sah. Sie drückte sich an die Wand des Treppenhauses und versuchte dann, wieder in den Hof hinunterzusehen, ohne selbst bemerkt zu werden.

Der junge Gendarm kehrte aus dem Seitenhaus zurück. Lene sah deutlich, wie wütend er war. Er trat gegen einen der Aschenbehälter und fuchtelte mit den Armen. Also war ihnen jetzt klar, dass das Treffen im Hinterhof kein Zufall gewesen war, denn natürlich wohnte im Seitenhaus keine Familie Schulze. Die Gendarmen wandten sich dem Vorderhaus zu, und Lene hockte sich hinter das Treppengeländer, als ob die Holzbalken ihr Schutz geben würden. Gleich darauf erkannte sie die Stimme von Wachtmeister Dühmchen. »Ich wusste es! Der Rotzlöffel hat uns angelogen.«

Laschke beruhigte ihn: »Lassen Sie es gut sein. Schreiben Sie es in Ihren Bericht, wenn Sie wollen. Hoffen wir, dass es auf der Wache heute mal Kaffee gibt.« Die Haustür wurde geöffnet. »Das heißt ja noch lange nicht, dass dieses Fräulein etwas damit zu tun hatte. Die kannte das Kind doch auch nicht.«

Lene atmete erleichtert aus. Das Letzte, was sie von den Gendarmen hörte, war die Stimme von Wachtmeister Laschke: »Das ist der Krieg. Das sind kleine Fische. Geradezu Silberfischchen.«

Lene wartete noch einen Moment, dann verließ sie ihren Beobachtungsposten und klopfte wenig später nur zwei Häuser weiter an eine Tür im dritten Stock.

Die Tür wurde sofort geöffnet, und eine alte Frau mit einer fleckigen Schürze zog Lene in eine kleine Küche.

»Fräulein Lehmann, kommen Sie rein. Der Karl war vorhin da und hat ein Säckchen Mehl gebracht. Vielen Dank! Ich hab es natürlich sofort zu Teig verrührt … also, was man heute so Teig nennt, ohne Eier und Butter. Der Karl war so aufgeregt! Was ist denn passiert?«

»Wir sind in eine Polizeikontrolle geraten, Mutter Koschinski.«

Die alte Frau erschrak. »Das hat der Karl gar nicht erzählt.«

Lene wusste, wie sehr sie an ihrem Enkel hing. »Machen Sie sich keine Sorgen. Die Gendarmen haben nichts bemerkt.« Sie wechselte das Thema. »Wie viele Fladen können Sie denn aus dem Mehl backen?«

Die alte Frau rührte in ihrer Teigschüssel. »Genug für Ihre Handarbeitsklasse, für Karl, Vater Koschinski und für Ihre Mutter. Kommen Sie einfach nach der Schule vorbei.«

Als Lene wieder auf der Straße stand, bohrte sich gerade die fahle Wintersonne durch den grauen Himmel über Berlin.

Die Anspannung der letzten Stunden fiel von Lene ab. Sie sah sich um, als wäre sie zum ersten Mal in dieser Gegend. Ein Mann schob einen Handkarren vor sich her, eine Droschke, gezogen von einem ausgemergelten alten Pferd, rumpelte über das Kopfsteinpflaster, Menschen mit blassen Morgengesichtern, Bettler und Tagelöhner, Schulkinder und Arbeiterinnen, drängten sich den Gehweg entlang. Lene aber wurde durchströmt von Glück und Zuversicht. Es war noch einmal gut gegangen, Mama und sie und die Kinder würden wenigstens morgen etwas zu essen haben. Und vielleicht kam heute sogar ein Brief von Paul. Dass die Gendarmen nicht bemerkt hatten, wie sie das Säckchen Mehl in das Tuch geschlagen und in Karls Ranzen geschoben hatte! Wie hatte sie sich genannt? Die Schwarzmarktkönigin von Schöneberg? Fast hätte sie laut gelacht. Königin? Wer wollte schon eine Königin sein? So ein Unsinn.

Lene richtete ihre Gedanken auf den Tag, der vor ihr lag, und nickte sich innerlich zu. »Jetzt mal los, Fräulein Lehmann!« Sie wusste, es war eine alberne Angewohnheit, dass sie sich selbst in der dritten Person ansprach. Aber es machte ihr Mut, und sie brachte sich damit manchmal selbst zum Lachen.

Ihre Mutter schüttelte immer den Kopf über diese Marotte. »Du warst als Kind zu viel allein, da hast du wohl angefangen, mit dir selbst zu sprechen.«

Aber Lene pflegte dagegenzuhalten: »Immerhin sind es Gespräche mit jemandem, der mich wirklich gut kennt.«

Jetzt schloss sie den obersten Knopf an ihrem Mantel, hob unternehmungslustig das Kinn und setzte sich in Bewegung. Lene Lehmann war unterwegs zu dem Ort, der immer ihr Ziel gewesen war: die Schule. Als Lehrerin.

Kapitel 2

Lene achtete sorgfältig auf ihre Schritte, als sie das Kopfsteinpflaster der Zietenstraße überquerte. Sie wollte auf keinen Fall mit einem ihrer Füße in eine Rille zwischen den Steinen geraten. Abgesehen davon, dass sie sich schon einmal fast den Knöchel verstaucht hätte, konnten die scharfen Steinkanten schnell ein Loch in das Stiefelleder reißen.

Sie bog in die Alvenslebenstraße ein und wandte sich Richtung Victoria-Luise-Platz. Von dort war es nur noch ein Katzensprung zur Schule. Sie fühlte einige Regentropfen auf den Wangen und sah nach oben. Der Himmel hatte sich wieder zugezogen, und dicke, graue Wolken standen über den Dächern. Es begann zu regnen. Seufzend trat Lene in den nächsten Hauseingang, wo schon mehrere Menschen Schutz suchten.

»Ist nur eine Husche«, sagte eine ältere Frau, die in ihrem dünnen Mantel sichtbar zitterte.

»Echtes Mistwetter eben«, pflichtete ihr eine junge Frau bei. Lene bewunderte ihren kleinen Hut. Wahrscheinlich ein Bürofräulein. Das Bürofräulein wippte nervös auf den Hacken und meckerte: »Heute Morgen sah es noch nach schönem Wetter aus. Und jetzt das … Ich habe keine Lust, klatschnass ins Büro zu kommen.«

Sie zwinkerte Lene um Bestätigung heischend zu. Lene machte einen zustimmenden Laut. Der Regen pladderte nun in großen Tropfen auf das Pflaster. Lene beobachtete die vorbeieilenden Passanten, manche tief geduckt unter Regenschirmen. Wie normal das alles aussah! Es war März 1916, der Krieg war schon knapp zwei Jahre alt, und das Leben lief in Schöneberg und in Berlin weiter wie gehabt.

Lene wischte sich Regentropfen von der Wange. Aber natürlich war nichts wie gehabt. Immer mehr Männer verschwanden und kamen nicht wieder. In den Läden gab es nur noch wenig zu kaufen, und trotzdem schienen alle Normalität zu spielen. Lene beobachtete eine Mutter, die ihrem Kind aufhalf, das in eine Pfütze gestolpert war. Ein altes Ehepaar schlurfte vorbei. Der Bäcker zankte einen Lehrling auf der Treppe seines Geschäftes aus.

Lene fühlte sich, als ob sie alle – ihre Nachbarn und Freunde, die Menschen auf den Straßen, die Kolleginnen und, ja, wahrscheinlich auch die Kaiserfamilie – in einer unwirklichen Märchenstadt lebten, vor deren Toren ein schreckliches Monstrum mit dem Namen »Krieg« lauerte. Und alle bemühten sich, innerhalb der Stadtmauern ihren alltäglichen Beschäftigungen möglichst geräuschlos nachzugehen, um die Bestie nicht auf sich aufmerksam zu machen. Wie in einem Kinofilm, in dem die Eingeborenen von einem Geist bedroht wurden. Ein Geist, der ihnen vorgaukelte, dass das Ungeheuer Krieg verschwinden würde, wenn man einfach so tat, als existierte es nicht. Als wäre irgendwann alles wie zuvor, wenn man nur weiterhin seine Kinder nach einem Sturz tröstete, wenn man Kartoffeln schälte und für Brot anstand. Doch der Krieg ließ sich nicht aus dem Leben heraushalten. Auch wenn auf das Berliner Schloss oder den Schöneberger Gasometer keine Bomben fielen, lag er wie Mehltau über allem, wie ein Druck auf dem Herzen, der sich jeden Tag ein wenig verstärkte. Wenn Lene einatmete, konnte sie diesen Druck spüren.

Die Stimme des Bürofräuleins holte Lene aus ihren Gedanken. »Ich glaube, der Regen lässt etwas nach.« Die junge Frau drückte den Hut tiefer in die Stirn und streckte die Hand prüfend in die Luft, nickte dann Lene zu und lief aus dem Hauseingang.

Lene folgte ihr langsam. So plötzlich, wie der Regen angefangen hatte, hörte er auch wieder auf, und der Himmel leuchtete blau. Welches Wetter erlebte Paul wohl gerade in Frankreich?, fragte sich Lene, während sie in die Hohenstaufenstraße einbog. Hoffentlich hatten die Soldaten genügend Kleidung zum Wechseln dabei. Wer kümmerte sich um solche Dinge beim Militär? Sollte sie Paul in ihrem nächsten Brief mal danach fragen? Nein, ihre Briefe waren für schönere Dinge reserviert.

Für ihr gemeinsames Leben nach dem Krieg. Für Erinnerungen und Pläne. Für die Liebe.

»Fräulein Lehmann, warten Sie!«

Lene drehte sich um. Ihre Kollegin, Fräulein Oldenburg, eine schmale Blondine mit spitzer Nase, lief auf sie zu. Lene blieb überrascht stehen. Sie fuhr sich über die feuchten Haare und steckte eine lose Strähne hinters Ohr. Sie kannte Fräulein Oldenburg nicht näher. Sie waren ungefähr im selben Alter, aber die Kollegin war fest angestellt, und außer einem höflichen Nicken hatte es zwischen ihnen bisher keinen näheren Kontakt gegeben.

»Guten Morgen!« Fräulein Oldenburg hatte sie erreicht. »Sie haben aber ein Tempo drauf, Fräulein Lehmann!«

»Guten Morgen, Fräulein Oldenburg.«

Gemeinsam gingen sie weiter. Unsicher starrte Lene geradeaus. Sollte sie eine Unterhaltung beginnen? Wurde es von ihr erwartet zu schweigen, bis das Wort an sie gerichtet wurde? Fräulein Oldenburg enthob Lene aller Überlegungen, indem sie munter fragte: »Sie waren mit Fräulein Mebrié auf dem Lehrerinnenseminar, nicht wahr?«

Lene nickte. »Drei Jahre bis zum Examen zur Volksschullehrerin.«

»Das ist sicher nicht leicht gewesen.«

Lene sah die Kollegin rasch von der Seite an. Sie hatte ihr Examen nicht mit Auszeichnung abgelegt. Sie war noch nicht einmal unter den Besten der Klasse gewesen. Natürlich nicht. Die meisten ihrer zukünftigen Kolleginnen kamen aus adligen oder großbürgerlichen Familien und hatten einfach mehr Zeit zum Lernen gehabt. Obwohl Frau von dem Hofe, Lenes Gönnerin, die Seminarkosten übernommen hatte, hatte Lene neben der Ausbildung weiter als Vorleserin und Näherin arbeiten müssen, um zur Haushaltskasse beizutragen.

»Ich musste neben der Ausbildung Geld verdienen. Und ich habe bestanden, darum ging es mir.«

Erst als Fräulein Oldenburg erschrocken die Luft einsog, wurde Lene klar, dass ihre Antwort viel brüsker und lauter ausgefallen war, als sie vorgehabt hatte. Aber bevor sie etwas sagen konnte, entschuldigte sich Fräulein Oldenburg.

»Ich wollte damit nichts andeuten, Fräulein Lehmann. Auch ich komme nicht aus einem reichen Elternhaus. Mein Vater war im Büro bei Siemens, bevor er krank wurde. Meine Mutter ist vor einigen Jahren erblindet, wie Sie vielleicht schon wissen. Ich musste also auch immer viel im Haushalt helfen. Mir ist das Examen nicht leichtgefallen, und nur das wollte ich sagen.«

»Also sind Sie jetzt die Hauptverdienerin?«

Der Tonfall von Fräulein Oldenburg klang überrascht. »Wie sich das anhört! Hauptverdienerin.« Sie dachte nach. »Aber Sie haben recht. Mein Vater bekommt eine kleine Pension, das reicht aber nicht für ihn und meine Mutter.« Fräulein Oldenburg warf Lene einen schüchternen Blick zu. »Aber immerhin bin ich fest angestellt. Sie sind Vertretungslehrerin, stimmt’s? Ich glaube, Sie müssen sich keine Sorgen machen, nach der Vertretungszeit auch fest angestellt zu werden. Die Männer, deren Stellen die Vertretungslehrerinnen besetzen, werden wohl noch eine Weile nicht zurückkommen.«

»Wenn sie überhaupt zurückkommen.«

Einen Moment lang schwiegen beide. Vor ihnen tauchte das Schulgebäude auf.

Fräulein Oldenburg nahm den Gesprächsfaden wieder auf. »Sie unterrichten Handarbeiten, Zeichnen und Deutsch?«

»Ja.«

»Kommen Sie mit dem Vertretungsgehalt denn über die Runden?«

Lene hatte nicht vor, ihre finanzielle Situation zu besprechen. Auf keinen Fall durfte ihre Schwarzmarkttätigkeit jemals in der Schule bekannt werden, und der Schreck über die Begegnung mit den Polizisten saß ihr noch in den Knochen.

Deshalb antwortete sie ausweichend: »Das Wichtigste ist doch, ein regelmäßiges Gehalt zu bekommen, oder? In zwei Familien, für die meine Mutter putzt, betreue ich die Kinder der Herrschaften bei den Schularbeiten. Das ist ein zusätzlicher Verdienst.«

»Da sind Sie ja dann so etwas wie eine Erzieherin. Das ist eine gute Idee. Schon beachtlich, wie Sie sich ihren Weg bis zum Seminar erkämpft haben. Und dass …« Die andere suchte, augenscheinlich verlegen, nach Worten, zögerte und stieß stockend hervor: »Und dass Sie sich nicht dafür schämen, dass Ihre Mutter als Putzfrau arbeitet.«

Lene wurde blass. Warum musste Fräulein Oldenburg so verletzend sein? Zorn schoss in ihr hoch, und sie wollte gerade eine hitzige Antwort geben, als Fräulein Oldenburg überraschend fortfuhr: »Ich werde versuchen, mir an Ihnen ein Beispiel zu nehmen.«

»Ich verstehe Sie nicht.«

Ohne ihren Schritt zu verlangsamen, sah sich Fräulein Oldenburg um, als hätte sie Angst, von irgendjemandem gehört zu werden. Schließlich sagte sie leise: »Ich habe im Kollegium bisher noch niemandem erzählt, wie es um meine Eltern bestellt ist. Vor allem solchen Kolleginnen wie Fräulein Mebrié nicht. Ich kann gut auf Mitleid verzichten.«

Obwohl sich Lene von Fräulein Oldenburgs letzter Äußerung geschmeichelt fühlte, protestierte sie laut: »Caroline ist aber nicht so. Ihr ist es völlig gleichgültig, wie viel Geld jemand besitzt.«

Fräulein Oldenburg klang spitz, als sie antwortete: »Bis sie irgendwann heiratet, die Schule verlässt und mit einem Herrn von und zu durch den Park bummelt.«

Lene schwieg. Was sollte sie auch dazu sagen? Doch das Fräulein schätzte Caroline wirklich falsch ein. Versöhnlich sagte sie: »Das hat doch für uns keine Bedeutung. Eine Festanstellung kommt mir viel aufregender vor, als mit einem Herrn von und zu durch den Park zu bummeln.« Sie lächelte Fräulein Oldenburg an.

Diese erwiderte ihr Lächeln und überlegte dann laut: »In Friedenszeiten musste man als Vertretungslehrerin ungefähr fünf Jahre auf eine Festanstellung warten. So war es jedenfalls bei mir. In fünf Jahren ist sicher auch der Krieg vorbei.«

In fünf Jahren, dachte Lene bei sich, ist nicht nur der Krieg schon vorbei. Sondern ich bin mit Paul verheiratet.

»Ach, Paul«, flüsterte sie, unhörbar für Fräulein Oldenburg. Wie immer durchfluteten sie Überraschung und Liebe und ein großes, dankbares Erstaunen, wenn sie an Paul dachte. Dass sie, Lene, tatsächlich geliebt wurde. Dass sie geküsst worden war. Dass sie in der großen Welt von jemandem gefunden worden war, der zu ihr gehören wollte. Ihr Paul. Ihr Verlobter, der jetzt so weit fort war. Im Krieg.

»Hoffentlich kommt der Frieden schneller als erst in fünf Jahren«, fuhr Fräulein Oldenburg fort. Unvermittelt huschte ein schalkhaftes Lächeln über ihre Züge. »Ich weiß nämlich nicht, wie lange ich es noch aushalte, mir Dr. Frambosius’ Vorträge über die Heimatfront anzuhören.«

Lene kicherte erleichtert. Also war sie nicht die Einzige, die mit dem Schuldirektor ihre Schwierigkeiten hatte. Vergnügt sahen sie einander an. Aber dann wurde Fräulein Oldenburg plötzlich sehr ernst und sehr hektisch.

»O nein, jetzt sind wir ins Plaudern geraten! Sehen Sie mal die Schuluhr! Gleich klingelt es.« Sie drückte Lenes Arm und sagte knapp: »Ich nehme den linken Seiteneingang, da bin ich gleich im Erdkunderaum. Bis später.« Sie lief davon.

Lene sah ihr hinterher. Sie wusste noch nicht, ob sie Fräulein Oldenburg nett finden sollte oder nicht. Sie hatte sich Lene anvertraut, und es hatte zweifellos eine gewisse Nähe zwischen ihnen gegeben. Sie hatte sogar Lenes Arm berührt, wie man das bei einer guten Bekannten tut. Oder bei einer Freundin. Aber ihr Abschied war wieder so unverbindlich gewesen, als ob ihr Gespräch nie stattgefunden hätte.

Kapitel 3

Während Lene durch das Schultor trat, dachte sie darüber nach, wie der Krieg die Dinge verwirrte. In Friedenszeiten hätte sie, wie Fräulein Oldenburg vorhin festgestellt hatte, sicherlich nicht so schnell nach ihrem Abschluss eine Stelle antreten können. Im Grunde verdankte sie also ihr Glück der Tatsache, dass viele Lehrer mittlerweile eingezogen waren, und profitierte so auf ihre Weise vom Krieg. Sie tröstete sich damit, dass der Handarbeitsunterricht auch vor dem Krieg in weiblicher Hand gelegen hatte. Und was ihre beiden anderen Fächer Zeichnen und Deutsch anging, beruhigte sie sich mit dem Gedanken, dass irgendjemand die Kinder doch unterrichten musste. Ob die Schulleiter es schätzten oder nicht – sie brauchten die jungen Lehrerinnen.

Nun, ihr Direktor, Dr. Frambosius, schätzte es nicht.

Dr. Julius Frambosius, ein klein gewachsener, dürrer Mann von Ende 30, war gleich bei Ausbruch des Krieges 1914 als Freiwilliger begeistert ins Feld gezogen. Tragischerweise gehörte er auch zu den ersten Kriegsversehrten, die zurückgekommen waren. Nun humpelte er jeden Tag in die Schule und erklärte, wann immer sich ihm die Gelegenheit dazu bot, dass er sich sehr wohl für kriegstauglich hielt und dass dem Musterungsamt ein gravierender Fehler unterlaufen sei. »Mir wurden nur die Zehen abgeschossen. Und das nur am linken Fuß. Ich könnte im Felde sehr wohl noch von Nutzen sein!« Meist richtete er sich dann kerzengerade auf und verkündete: »Daher gilt es nun, umso tatkräftiger unsere Soldaten von der Heimatfront aus zu unterstützen!« Dann streifte sein Blick mitunter zwei Kolleginnen, die als Kriegerwitwen und schlecht besoldete Vertretungslehrerinnen in den unteren Klassen tätig waren. »Werte Kolleginnen, Sie wissen, wovon ich spreche.«

Die Heimatfront war sein Hauptthema geworden, doch dass er diese Unterstützung nun vor allem mit aus seiner Sicht untauglichen weiblichen Lehrkräften leisten musste, erhöhte seinen Gram. »Frauen gehören nicht in den Beruf. Sie gehören an den heimischen Herd«, verkündete Dr. Frambosius immer wieder.

Und wenn der Mann im Krieg fällt, sterben die Frauen und Kinder vor Hunger gleich mit, dachte Lene verächtlich.

Dr. Frambosius wusste natürlich nichts von diesen Gedanken, sondern untermauerte seine Vorträge noch mit Schiller-Zitaten. Besonders gern zitierte er aus der Glocke.

»Und drinnen waltet die züchtige Hausfrau, / Die Mutter der Kinder, / Und herrschet weise / Im häuslichen Kreise.«

Lene wusste, dass Dr. Frambosius sie, wie man so sagte, »auf dem Kieker« hatte. Denn gerade der praktische Handarbeitsunterricht stellte für den kriegsbesessenen Doktor ein Hauptspielfeld dar. Immer wieder tauchte er in Lenes Unterricht auf, dehnte den Begriff »Handarbeiten« nach Lust und Laune zu »Haushaltsführung und Wirtschaften« aus und hielt den Schülerinnen und Lene lange Vorträge über den vernünftigen Umgang mit Brotkarten oder das Sammeln von Altmetall.

Gerade in solchen Augenblicken fühlte sich Lene in der Schule besonders allein, denn sie musste den Auslassungen des Rektors mit ungeteilter Aufmerksamkeit lauschen und durfte sich ihre eigene Haltung dazu nicht anmerken lassen. Aber wie gern hätte sie sich mit einer Kollegin darüber ausgetauscht! Sogar mit Caroline schien sich nie die Möglichkeit für ein längeres Gespräch zu ergeben. So begeistert Lene unterrichtete und so gern sie ihre Schülerinnen hatte, so bedrückt war sie, wenn sie an das Kollegium dachte. Obwohl sie jetzt schon fast anderthalb Jahre an der Schule war, hatten sich keine Freundschaften ergeben.

Als Lene an diesem Morgen im Laufschritt den Schulhof überquerte, ertönte gerade das erste Klingeln. Der Hof war voller Mädchen, die eingehängt, zu zweit oder sogar manchmal zu viert umherspazierten. Einige sahen neugierig zu ihr herüber und lachten. Lene konnte sich gut vorstellen, welchen Anblick sie ihnen bot: hektische rote Flecken auf den Wangen, verrutschter Kragen. Sie fühlte Schweißtropfen auf ihrer Stirn, und den Zopf musste sie auch unbedingt vor dem Unterricht noch einmal richten.

»Jetzt aber schnell, Fräulein Lehmann! Gleich klingle ich zum zweiten Mal.« Willi Pasulke, der grauhaarige Schuldiener, hielt ihr die Schwingtür auf.

»Guten Morgen, Herr Pasulke! Lassen Sie sich doch noch ein bisschen Zeit …«

Pasulke schüttelte den Kopf. »Na, das wäre ja noch schöner! Da bin ich unbestechlich.« Er zeigte auf ein Amtsblatt, das in einem Schaukasten im Eingangsbereich hing. »Gucken Sie mal: Jetzt werden sie alle total bekloppt.«

Lene las: Magistrat Schöneberg. Kundmachung: Sommerzeit für das Jahr 1916, und fragte: »Was heißt das?«

Pasulke kratzte sich den kahlen Schädel. »’ne Stunde früher sollen wir jetzt aufstehen.«

»Ab wann?«

»Soll am 30. April losgehen.«

»Aber wie kann das funktionieren?« Lene trat näher an das Blatt heran.

»Am 30. April 1916 um elf Uhr abends sollen wir die Uhr auf zwölf stellen.«

Sie runzelte die Stirn. »Warum …«

»Weniger Dunkelheit, Fräulein Lehmann. Das heißt, weniger Verbrauch von Gas und Kohle. Das ist kriegswichtig.« Pasulke nickte bedeutungsvoll. Dann beugte er sich vor und flüsterte: »Bekloppt ist es trotzdem. Und ob’s was nutzt?« Plötzlich schrak er zusammen. »Mensch, ich muss doch klingeln!« Er drehte sich um und schlurfte in seine Nische. Bevor er auf den Knopf drückte, rief er Lene noch zu: »Passen Sie mal auf, dass Sie nicht dem Direktor in die Arme laufen. Der ist mal wieder auf Kontrollgang.«

Lene winkte ihm dankbar zu. »Das mache ich.« Sie schob sich durch die innere Tür und erklomm die fünf Stufen zum Hochparterre. Hinten im Korridor hatten sich bereits Gruppen von Schülerinnen aufgestellt, um geordnet in Zweierreihen in ihre Klassenräume in den oberen Etagen zu gehen. Lene sah Caroline Mebrié bei ihnen stehen und winkte schnell hinüber.

Das zweite Klingeln ertönte. Irgendwo wurde gesungen, man hörte Füßetrappeln, Türenknallen, ehe es ruhiger wurde. Lene würde in jedem Fall zu spät kommen, aber vielleicht fiel es nicht auf. Sie kam gut aus mit den großen Mädchen ihrer Handarbeitsklasse, die nur wenige Jahre jünger waren als sie. Sie verhielten sich gewiss leise und diszipliniert.

Lene eilte zur Treppe – und stieß dort prompt mit Dr. Frambosius zusammen.

»Du liebe Güte!«, stieß dieser hervor. Er griff nach Lenes Oberarmen, stoppte ihren Lauf und hielt sie auf Armeslänge von sich entfernt.

»Oh, Herr Doktor!« Lene machte ein zerknirschtes Gesicht »Guten Morgen.«

Dr. Frambosius musterte sie ärgerlich. »Ob der Morgen so gut ist, wage ich zu bezweifeln, Fräulein Lehmann!« Er ließ sie los. »Wann fangen Sie endlich an, sich Ihrer Stellung gemäß zu benehmen? Sie könnten ja glatt als eine unserer Schülerinnen durchgehen!«

Lene senkte betreten den Blick.

»Wo wollen Sie überhaupt hin? Sollten Sie nicht längst oben im Unterricht sein?«

Lene nickte. »Selbstverständlich, Herr Doktor.« Dann schwindelte sie: »Aber ich muss noch einmal ins Lehrerzimmer, um Material zu holen.«

»Was denn für Material?«

Geistesgegenwärtig gab Lene die eifrige Lehrkraft im unermüdlichen Einsatz für die Heimatfront. »In den vergangenen Tagen haben meine Schülerinnen Wollreste gesammelt. Der Sack steht im Lehrerzimmer. Die Reste müssen aufgeribbelt werden. Aus den gewonnenen Fäden werden dann Socken gestrickt. Für unsere Soldaten. Ein warmer Gruß aus der Heimat.«

Sie sah Dr. Frambosius an, dass er nicht genau wusste, wie er auf diese Mitteilung reagieren sollte. Einerseits war er sicher sehr angetan von Lenes Einsatz für die Heimatfront, andrerseits … hatte in ihrem Tonfall vielleicht zu viel Spott gelegen?

Schnell fügte sie hinzu: »Und dann wollte ich im Lehrerzimmer noch sehen, ob es vielleicht ein Merkblatt zur bevorstehenden Sommerzeit gibt. Ich würde die Schülerinnen gern darauf vorbereiten.«

Dr. Frambosius nickte erfreut. »Gut, dass Sie davon anfangen, Fräulein Lehmann. In der Tat wurden vom Ministerium Postkarten zu dem Thema angeliefert, die in den Klassen verteilt werden sollten. Kommen Sie, ich begleite Sie ins Lehrerzimmer und dann in den Unterricht.« Aufgeräumt machte er eine kleine Verbeugung vor ihr und leitete sie dann so galant den Korridor hinunter, wie er es mit seiner Kriegsverletzung vermochte. Unterwegs hob er wieder an: »Was sagen Sie denn zu diesem überaus weitsichtigen Plan des Kaisers, Fräulein Lehmann?«

Lene wusste genau, dass Dr. Frambosius keine differenzierte Antwort zu diesem Thema erwartete. Schließlich war sie eine junge Frau – in anderer Begleitung hätte Frambosius bestimmt von einem »Frauenzimmer« gesprochen –, und die Beurteilung eines kaiserlichen Erlasses kam ihr seiner Meinung nach sicherlich nicht zu. Deswegen stieß sie nur einen bewundernden Laut aus.

Frambosius nickte. »Ja, das ist wirklich großartig. Als erstes Staatsoberhaupt der Welt führt unser Kaiser die Sommerzeit ein!«

Während sie neben ihrem Direktor Richtung Lehrerzimmer trabte, dachte Lene an ihre lebenserfahrenen Nachbarn in den Seitenhäusern und Hinterhöfen. Dort sprach man zwar kaum mit weniger Respekt von dem Kaiser, und jeden Sonntag wurde für ihn in der Kirche gebetet. Dennoch war allen bewusst, dass der Kaiser ihre Situation nicht wesentlich beeinflusste. Wie hatte die alte Frau Koschinski letztens gesagt: »Wir hungern. Ob mit Kaiser oder ohne Kaiser.« Dass er nun die Sommerzeit einführte, würde bei Menschen wie Frau Koschinski wohl kaum dieselbe Begeisterung auslösen wie bei Dr. Frambosius.

Lene unterdrückte ein Lächeln, als sie sich einen möglichen Kommentar von Oma Koschinski zur Sommerzeit vorstellte: »Na, der Kaiser wird ja wohl nicht dabei sein, wenn wir eine Stunde früher aufstehen.«

Dr. Frambosius öffnete die Tür zum Lehrerzimmer. Er grüßte einige Kolleginnen und Kollegen, die dort am großen Tisch über Klassenarbeitskorrekturen oder Büchern saßen. Während Lene den Sack mit den Wollresten unter dem Stuhl an ihrem Platz hervorzog, entnahm Dr. Frambosius einem Regalfach einen großen Umschlag. »Ah, da sind sie ja.« Aufgeregt fächerte er etliche Postkarten auf den Tisch. Zu sehen war ein Schulmädchen mit Zopf und Matrosenbluse, das mit einem Pinsel und einem Tintenfass aus der Elf auf einer Uhr eine Zwölf machte. »Was wir da an Energiekosten sparen werden!«, schwärmte Dr. Frambosius.

Fräulein Muthesius, eine grauhaarige Geschichtslehrerin mit wachen, klugen Augen, wiegte den Kopf nachdenklich hin und her. »Ob wir dann auch alle gut schlafen, wenn es abends noch so lange hell ist?«

Lene bewunderte Fräulein Muthesius. Sie war eine elegante Erscheinung, groß, schlank, gepflegt, immer heiter und ausgleichend. Eine Dame, die dem aufgeregten Direktor mit ihrer ruhigen Art stets Paroli bot.

Dr. Frambosius schüttelte energisch den Kopf. »Werte Kollegin, ich erwarte von Ihnen mehr Unterstützung der großartigen Ideen seiner Majestät! Wir müssen alle Opfer bringen. Denken Sie an unsere tapferen Kämpfer im Felde.« Er wies auf die Karten. »Ich bitte alle Kollegen, dies in den Klassen zu verteilen.« Dann nickte er noch einmal in die Runde, sagte: »Fräulein Lehmann, kommen Sie«, und humpelte aus dem Raum.

Während Lene hinter Dr. Frambosius herlief, hörte sie Fräulein Muthesius sagen: »Was kommt als Nächstes? Mitternachtsunterricht?«