Dieter Kühn
Clara Schumann, Klavier
Ein Lebensbuch
FISCHER E-Books
Erweiterte Neufassung
Dieter Kühn, 1935 geboren, lebt heute in Brühl bei Köln. Für seine Romane, Erzählungen, Biographien und Hörspiele erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Hermann-Hesse-Preis, den Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und zuletzt die Carl-Zuckmayer-Medaille. Seine Werke liegen vor im S. Fischer Verlag und im Fischer Taschenbuch Verlag, darunter Dieter Kühns hochgerühmtes ›Mittelalter-Quartett‹ – ›Der Parzival des Wolfram von Eschenbach‹, ›Neidhart und das Reuental‹, ›Tristan und Isolde des Gottfried von Straßburg‹, ›Ich Wolkenstein‹ –, sowie die großen Biographien ›Gertrud Kolmar‹ und ›Frau Merian!‹, die Romane ›Stanislaw der Schweiger‹, ›Geheimagent Marlowe‹ und ›Die Präsidentin‹. Zuletzt erschienen die autobiographischen Bände ›Das Magische Auge‹ und ›Die siebte Woge‹.
Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de
Clara Schumanns Lebensgeschichte ist Legende geworden. Ihre entsagungsreiche Kindheit, ihr außergewöhnliches Talent, die frühe, gegen den Vater durchgesetzte Liebe zu Robert Schumann und die Erziehung von sieben Kindern geben genug Stoff für Mythen und Klischees ab. Clara Schumann gilt seither als musikalisches Wunderkind, Idol romantisch-verklärter Liebesvorstellungen, als vorbildliche Mutter und oft verkannte Komponistin.
Dieter Kühn zeichnet, halb als Roman, halb als Biographie, den Lebensweg von Clara Schumann jenseits der tradierten Vorurteile nach, horcht auf feine Zwischentöne und entdeckt oftmals überraschende Disharmonien. Angeregt durch neueste Forschungsergebnisse, gelingt es Kühn in dieser erweiterten Neufassung seines Buches, auch die Zeit nach Robert Schumanns Tod genauer zu beleuchten und so das Porträt einer hochsensiblen und selbstbewußten Frau zu vervollständigen, in deren Leben sich das 19. Jahrhundert aufs genaueste widerspiegelt.
Covergestaltung: Buchholz/Hinsch/Hensinger
Coverabbildung: Franz Hanfstaengl, ›Clara Schumann‹. München © Robert-Schumann-Haus, Zwickau
Erschienen bei FISCHER E-Books
S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1996
Für die erweiterte Neufassung: © Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1998
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403417-1
Der Vater! Zwanzig Jahre lang beherrscht er das Leben seiner Tochter Clara. Mit ihm muß dieses Buch beginnen.
Als Clara geboren wird, ist er Mitte Dreißig. Was hat er in diesen dreieinhalb Jahrzehnten erlebt, was könnte ihn geprägt haben, was könnte prägend weiterwirken?
Friedrich Wieck, Jahrgang 1785. Sein Vater Kaufmann, die Mutter Pastorentochter. Über den Kaufmann in Pretzsch bei Torgau wurde in der Familie nicht viel erzählt; die Geschäfte des Carl Friedrich Gotthelf Wieck schienen anfangs recht gut, zuletzt ziemlich schlecht zu gehen – das bekam der Sohn zu spüren. Seine Eltern konnten die Weiterbildung am Gymnasium nicht bezahlen, doch fanden sich Helfer, Gönner. »Ich war sehr arm und lebte kalt von Butter und Brot etc., was mir meine arme Mutter, die noch für fünf Jungen sorgen sollte, aus Pretzsch mit dem Salzwagen zuschickte. Doch Sonnabends schickten mir die guten Schmidts und der arme Palm warme Suppe auf die Stube, worauf ich mich immer einige Tage vorher freute. Doch bald bekam ich bei dem Advokaten Schultze einen reellen Eßtisch, auf den ich mich als schwächlicher, empfindsamer junger Mensch die ganze Woche durch freute, und wo mein Leibessen – Schöpsenbraten mit Bohnen oder Schoten – fast den ganzen Sommer hindurch mich erquickte, tröstete, aufrichtete.« Der Junge wirkte schwach, schwindsüchtig.
Er wollte Musiker werden. Dafür hatten seine Eltern in der mittlerweile chronischen Notlage kein Verständnis, sie bestanden auf einem Brotberuf. Auch die Gönner brachten kein Geld auf für Musikunterricht – so wurde Wieck Autodidakt. Das Klavierspielen lernte er auf einem »alten Klavier, welches auf den Tisch gelegt werden mußte«, so lese ich bei Kohut – ein Clavichord? Zusätzlich lernte er Harfe und Horn, probierte auch Geige und Kontrabaß aus. In den Chor des Gymnasiums konnte er nicht aufgenommen werden – er wurde zu rasch heiser.
Kurzer Lichtblick: der Münchner Klavierlehrer Johann Peter Milchmeyer, ein Schwergewicht, das mit einer Maschinerie aus dem Bett gehievt werden mußte, erteilte Unterricht in der Familie eines Oberforstmeisters; Wieck suchte Milchmeyer auf, spielte ihm vor, erhielt einige Freistunden.
An ein Musikstudium war dennoch nicht zu denken, also studierte Wieck Theologie in Wittenberg. Vor dem Königlich Sächsischen Oberkonsistorium bestand der Studiosus Theologiae Johann Gottlob Friedrich Wieck das Examen; seine Probepredigt wurde als »genüglich« bezeichnet. Das reichte offenbar nicht für eine Pfarrstelle. So wurde er Hauslehrer, in Adelsfamilien. Wieck besaß pädagogischen Eros, in Aufzeichnungen reflektierte er über intellektuelle Erziehung und moralische Bildung. Neun Jahre lang war er »Hofmeister« auf Landgütern. Dann mußte er aufgeben: »Gesichtsschmerzen«, Trigeminus. Ihm wurde ein Arzt empfohlen, Samuel Hahnemann, der Begründer der Homöopathie. Der heilte ihn nicht nur, der lehrte ihn auch gesunde Lebensweise. Vor allem: viel spazierengehen!
Wieck blieb in Leipzig. Er gründete, noch keine dreißig, eine »Pianoforte-Fabrik« und eine »Musikalien-Leihanstalt«. Das Startkapital lieh ihm der frühere Kommilitone Streubel, amtierender Polizeipräsident von Leipzig. Kein verlorenes Geld – Wieck wurde ein tüchtiger Kaufmann. Er importierte Flügel, vor allem aus Wien, von den führenden Firmen Graf, Stein, Tomaschek, brachte Verbesserungen ein, vor allem in der Mechanik, intonierte die Flügel. Er baute auch eigene Instrumente. Stolz pries er sie an: »Die Kästen sind viel solider als alle anderen, welche hier gemacht werden, z.B. die Böden inwendig mit Eichenholz furniert – durchgängig zweichörig und mit einer schulgerechten Spielart versehen, daß sie jedem Kenner genügen müssen und werden.« Er versprach sechs Jahre Garantie.
Der erfolgreiche Geschäftsmann gab zudem Klavierunterricht. Auch hier wieder: begleitende Reflexionen. »Ein Klavierlehrer von Geist und Herz muß die Gesangskunst verstehen, wenigstens soll er ein hohes Interesse dafür haben.« Einer seiner Leitsätze, Schlüsselsätze: »In vielen Dingen müssen sich Gesang und Klavier gegenseitig erklären und ergänzen.« Wieck griff auf und führte weiter, was (auch) Milchmeyer lehrte (heute als »Wegbereiter einer modernen Klaviermethodik« bezeichnet): den »schönsten Gesangston« auf dem Klavier, den »singenden Anschlag«. Dies wird später Clara von ihm lernen, man wird ihren »singenden Anschlag« rühmen …
Wieck komponierte auch, vor allem Lieder. Seinem verehrten Vorbild Carl Maria von Weber legte der Dreißigjährige acht Probestücke vor. Weber antwortete aus München: »Empfangen Sie vor allem meinen besten Dank für Ihre schön gefühlten Gesänge. (…) Ihre Melodien sind zart und innig gedacht und fassen meist glücklich den Dichter auf.« Es schloß sich produktive Detailkritik an. Wieck, der »Weber-Narr«, war beglückt, dedizierte dem Meister die Acht Gesänge.
Doch Wieck wurde nicht Komponist, sondern Unternehmer. In seiner kleinen Firma, in seiner wachsenden Familie wurde er bald zur dominierenden Figur. Wieck erfindet später einen merkwürdigen Spitznamen für sich: DAS. Die Anfangsbuchstaben von: Der Alte Schulmeister. Daß die Abkürzung zugleich der neutrale Artikel ist, wird diesem Mann mit Sprachwitz bewußt sein.
An den Titeln seiner Publikationen läßt sich Charakteristisches ablesen über DAS: Mehrere grobe Briefe; Über den gänzlichen und plötzlichen Verfall der Gesangskunst in Europa; Musikalische Bauernsprüche aus dem groben Tagebuche eines alten Musikmachers. Er war, was man damals einen »Originaltypus« nannte. Ein Mann mit ausgeprägten Konturen, prägnanter Physiognomik. Man erzählte gern Anekdoten über ihn. Wie Fritze Wieck zu Hause im Schaukelstuhl saß und Schülerinnen zuhörte: je rascher sich der Schaukelstuhl bewegte, desto größer seine Zustimmung; schlimm wurde es, wenn er reglos saß. Oder: Fritze Wieck als Gastgeber. Gegen neun Uhr verließ er den Salon, kam nach »zwei Minuten« wieder, mit »brennender Zigarre im Munde, den Hut tief in die Stirn gedrückt, in einen Pelz gehüllt und den Stock in der Hand. Schweigend, ohne nach rechts oder links zu blicken, schritt er den Salon entlang der Ausgangstüre zu und – war verschwunden. Er liebte langes Lebewohlsagen nicht und wandte sich nun seiner Gewohnheit gemäß dem Kreise einiger auserwählter, ihn erwartender Freunde zu, um mit diesen beim Glase Bier in geistsprühender Unterhaltung seine Ideen auszutauschen.« So berichtete eine Schülerin über den alten Wieck. Aber hier ist auch der Mann von Mitte Dreißig und Mitte Vierzig charakterisiert.
Claras Mutter: leider muß das Kapitel über sie etwas kürzer werden, die Überlieferung bietet nicht viele Informationen an.
Wichtig ist ihr Jahrgang: 1797. Sie war also ein Dutzend Jahre jünger als Wieck. Eine Zeitlang war sie seine Schülerin. Also eine klassische Konstellation: Lehrer heiratet Schülerin. Diese Schülerin hatte wahrscheinlich noch einen zweiten Lehrer: Adolph Bargiel, Jahrgang 83, also vierzehn Jahre älter.
Marianne (in der Schreibweise ihrer Zeit: Mariane) war eine geborene Tromlitz. Ihr Vater: Kantor in Plauen. Ihr Großvater: der bekannte Musiker Johann Georg Tromlitz. Er spielte Flöte, baute Instrumente, komponierte, unterrichtete. Als Flötist trat er auch in Leipzig auf. Marianne, seine Enkelin, Marianne, die Kantorentochter, sie erhielt eine gute musikalische Ausbildung, wurde konzertreife Sängerin und konzertreife Pianistin. Beispielsweise trat sie auf im Gewandhaus bei Mozarts Requiem und bei Beethovens C-Dur-Messe. Die junge Frau des ehrgeizigen, aufstrebenden Musikalienhändlers Wieck war also bekannt in Leipzig. Das wiederum förderte den Ruf und die Umsätze Wiecks.
Marianne erteilte Klavierunterricht. Das setzte sich auch fort zwischen den Geburten. Das erste Kind war ein Mädchen: Adelheid. Es starb »am Durchbruch der Zähne«. Ein Jahr später, am 13. September 1819, wurde Clara geboren. Nach wiederum zwei Jahren: Alwin wurde geboren. Knapp zwei Monate nach der Entbindung trat Marianne wieder als Solistin auf im Gewandhaus. Anderthalb Jahre später: Gustav wurde geboren. Als Mutter von ursprünglich vier, nun drei Kindern trat sie weiterhin im Gewandhaus auf, als Pianistin. Bei ihrem letzten Auftritt im Dezember 23 war sie hochschwanger.
Leipzig! Daß Clara in Leipzig geboren wurde, in Leipzig aufwuchs, es darf nicht nur erwähnt werden, dies ist ein eigenes Kapitel wert. Bilder der Stadt der kleinen Clara vermittelt mir ein von Wolfgang Schneider herausgegebener Großband, »printed in the German Democratic Republic«, zur Zeit der Wende: dieses Buch, das Leipziger Vergangenheit dokumentiert, ist Dokument geworden im jähen Wechsel der politischen Konstellationen.
Ich sehe die Stadt auf dem reproduzierten Foto eines Modells, das Johann Christoph Merzdorf 1823 gefertigt hat: damals war Clara vier. Der erste Eindruck: die Stadt als klar umgrenztes Gebilde. Die Stadtmauer, jahrhundertelang ein strenger Rahmen, sie ist abgerissen, bestimmt aber weiterhin den Umriß von Leipzig: die Altstadt ist nun umfaßt von mehrstöckigen Häusern, die früheren Eckbastionen werden akzentuiert von repräsentativen Bauten. Der ehemalige Stadtgraben ist zugeschüttet; damit sind Grünzonen entstanden; sie umschließen gut tausend Häuser mit etwa 40000 Einwohnern.
Daß man Leipzig durch die noch erhaltenen Stadttore leicht und rasch verlassen konnte, das gehörte, wie man heute sagen würde, zur Lebensqualität. Dies waren keine Selbstverständlichkeiten, hier wurde bewußt wahrgenommen. Die Vororte, die das Stadtgebiet umgaben, sie waren damals noch Dörfer, ja Weiler. Man spazierte auf Feld- und Waldwegen zu ihnen hinaus, fuhr mit dem Stechkahn auf der Elster … Es lockten Kaffeegärten, es lockten Angebote: Sauerbraten, Merseburger Bier, Obstwein … Wer in der Stadt lebte, war dem Land noch nicht fern. Und viel Grün wuchs in die Stadt hinein, das zeigt die Bildüberlieferung. Die »Parkanlagen im englischen Stil mit Schwanenteich auf dem Gelände der ehemaligen Festungswerke« … »Gotisches Tor in der neuen Parkanlage« … Sehr wichtig war schon im 18. Jahrhundert die »Promenade«.
Clara wuchs auf in einer überschaubaren Stadt, in der nach 22 Uhr die Stunden ausgerufen wurden; dabei mußte ein Nachtwächter, ein »Stundenrufer« eine Schnarre schwingen. In der Dienstordnung für Nachtwächter war weiter festgehalten, daß sie sich nicht betrinken durften des Nachts, und sie durften keine der Dienststunden verschlafen. Den Gassenmeistern mußten die Stundenrufer alles Auffällige, alle Besonderheiten melden. Ab 22 Uhr mußten Haustüren verschlossen sein, die Nachtwächter hatten das zu überprüfen; war eine Tür nicht verschlossen, so mußten sie abschließen: offenbar hatten sie Nachschlüssel; wer später nach Hause kam, seinen Schlüssel vergessen hatte, fand sich ausgesperrt, mußte den zuständigen Nachtwächter suchen, das war nicht immer einfach. So ergaben sich unfreiwillige Übernachtungen im Freien oder bei Gastgebern. Übrigens waren auch die (nicht abgerissenen) Stadttore bewacht, Tag und Nacht.
In dieser Stadt der schnarrenschwingenden, stundenrufenden Nachtwächter, der gepflegten Grünanlagen nahm die Angst vor Arbeitslosigkeit zu, und hier müssen wir schon sagen: vor struktureller Arbeitslosigkeit.
Beispielsweise führte der Buchdrucker und Verleger Brockhaus die erste Schnellpresse in Leipzig ein; Buchdruckergesellen waren deshalb besorgt, wendeten sich mit einer Denkschrift an die Stadtväter. So sehr sie das »Meisterstück« bewunderten, sie sahen hier Gefahren: »Ein Beispiel hat in der jüngstverflossenen Zeit uns England dargeboten, wo Tausende von Menschen früher ihr Brot hatten und jetzt nach Errichtung von Maschinen zu dem äußersten Grad der Verzweiflung gebracht worden sind. Steht nicht auch uns ein gleiches Schicksal bevor? Würde nicht die Zahl der Armen bedeutend vermehrt und diese, da in unsern Tagen der Broterwerb so beschränkt ist, der Verzweiflung preisgegeben werden?« So alt schon sind die Probleme, die sich nun auswachsen …
Leipzig, also auch: Leipziger Messen! Die gewannen wieder an Bedeutung nach den Kriegen der Napoleonzeit, nach dem Wiener Kongreß. Wirkten die Messen, zumindest atmosphärisch, auf das Mädchen ein, das in Leipzig heranwuchs? Animation, Stimulation …?
Die Leipziger Messen waren in den dreißiger, vierziger Jahren noch Warenmessen. Erst mit der Industrialisierung der Gründerjahre (wenn sich Produkte der Serienfertigung nicht mehr unterscheiden) wird die Mustermesse eingeführt: Exponate, die für sich werben, die man nicht erwerben kann.
In Claras Kinderjahren zogen die Messen eine bunte Vielfalt von Menschen und Waren in die Stadt. Und zwar in ihr Zentrum, auf den weiten Marktplatz, den repräsentative Häuser umrahmten – es gab noch kein Messegelände am Stadtrand. Buden, Verkaufsstände waren auf dem Markt gereiht, dicht an dicht. Zwischen Verkaufsbuden, Verkaufszelten: Gedrängel. In fast allen Straßen die Planwagen. Ich sehe ein halbes Dutzend auf einer alten Fotografie: die Wagen tunnelförmig überwölbt, das Holzgerüst mit beinah weißem Segeltuch bespannt. Diese Wagen (die Planwagen aus Westernfilmen gleichen) wurden »Weiße Elefanten« genannt. Weiße Elefanten kamen zu Hunderten, zu Tausenden in die Stadt, brachten Waren mit in Mengen, in Massen, die sich kaum noch zwischenlagern ließen – Hunderttausende von Zentnern.
Kind Clara, in der Innenstadt wohnend, wird also dieses bunte, vielstimmige, auch vielsprachige Gedrängel miterlebt haben. In Begleitung der Mutter könnte sie zum Markt gegangen sein oder zu einem der anderen Plätze mit Buden, Ständen, Zelten. Was hätte sie dort sehen können? Russen, beispielsweise Russen, die mit besonders robusten Planwagen in die Stadt gekommen waren, Männer in Stiefeln und Kitteln, und fast jeder hatte einen Vollbart. Und Kaufleute aus dem Vorderen Orient gruppierten sich zu malerischen Ensembles, sogen an Pfeifen, die bestimmt doppelt so lang waren wie die Pfeifen von Vätern in der Stadt. Diese orientalischen Händler trugen graue Hüte, die in der Form den Mützen heutiger Köche gleichen; mancher hatte einen roten Fez auf, und breit waren die Gürtel über den oft dicken Bäuchen. Und Pluderhosen, echte Pluderhosen …
Es kamen sogar Kaufleute aus dem fernen, fernen Indien! Man sprach viel über sie in der Stadt. Im Getümmel, im Gewimmel, im Gedrängel Ausschau halten nach den Männern aus Indien …! So fern, so exotisch, so verlockend exotisch: Indien! Man sollte mal eine Geschichte lesen, die im fernen Indien spielt! Gleich nachschauen an einem der Stände von Buchhändlern?
Die hatten Wagen mit kastenförmigem Aufbau; hinten wurde eine Tür aufgeschwenkt, Bücher wurden gleich vom Wagen weg verkauft. Oder man stellte einen Tisch auf, an dessen Vorderkante Landkarten herunterhingen, und einige Bücher auf der Tischfläche, etwa ein Dutzend, und an einer Hauswand ein Regal mit drei oder vier Borden, auf denen, senkrecht und schräg, Bücher standen, auf denen Bücher lagen, ein paar Dutzend. Und Buchhändler in hohen, schwarzen Stiefeln, in weißen Anzügen, mit schwarzen Zylindern.
Weiter … Gedrängel, Gewimmel, Geschrei. Und plötzlich: Musikklänge! Die locken das Kind, die Mutter an. Schließlich sehen sie: »Harfenmädchen«! Drei junge Frauen, ein Mädchen und ein Mann. Der trägt einen taubengrauen Frack, einen taubengrauen Zylinder, spielt eine Bratsche. Oder ist es eine Geige? Müßte der Größe nach eine Viola sein. Und eine der jungen Frauen in knöchellangem Kleid spielt Querflöte. Und eine junge Frau mit hochgesteckter Frisur, mit langer, roter Stola in der Armbeuge, sie spielt eine Harfe, die auf dem Kopfsteinpflaster steht und der Musikantin fast bis zum Kinn reicht. Und eine junge Frau, tatsächlich, spielt Waldhorn, das wir Naturhorn nennen würden, denn es hat keine Ventile. Ein großer Pudel hinter dieser Hornistin im dunkelblauen Kleid. Und das kleine Mädchen hält in der rechten Hand ein aufgeschlagenes Liederbuch, hält in der Linken ein Tamburin, und ein junger Herr, wohl Student, legt eine Münze aufs Buch. Harfenmädchen – sie spielen abends auch in Gaststätten und Weinlokalen, zum Beispiel in Auerbachs Keller. Und es wird über sie gemunkelt, was Kind Clara nicht zu Ohren kommt.
Weiter … Ein Wagen, auf dessen Heck ein Mann sitzt; ein Dachaufbau ist schräg zur Seite geklappt; so kommt Licht ins Gehäuse; vier kreisrunde, tellerrunde Öffnungen in Augenhöhe von Erwachsenen: Guckkästen! Blick in den Urwald von Südamerika?! Blick in die Wüste von Afrika?! Blick in einen Palast des fernen Indien?! Die Mutter will Kind Clara wohl nicht hochheben – ist sowieso genug Gedrängel dort!
Weiter … Auf Plakaten werden Vorstellungen eines Zauberes angekündigt: »Große Kunst-Produktionen aus dem Reiche der natürlichen Magie und ägyptischen Zauberei«.
Weiter … Köstlichkeiten werden angeboten! Fette und süße Krapfen … Spritzkuchen … Saure Heringe, saure Gurken … Wacholder-Saft …
Weiter … Ein Plakat, für eine Tierschau werbend! Eine Riesenschlange umwickelt einen Stier! Ein Krokodil hat einen dunkelhäutigen Menschen im Maul! Im Hintergrund wird ein Krokodil von einem dunkelhäutigen Menschen mit einer hochgerissenen schweren Keule erschlagen!
Erneut Musikanten: ein Mann in Stiefeln, einer sehr engen gelben Hose, mit roter Weste, grüner Jacke, an einem Nackengurt eine Drehleier, die gekurbelt wird, und eine junge Frau tanzt, spielt dabei Tamburin, hält zusätzlich die linke Hand auf.
Im Februar 1824 wurde Claras dritter Bruder geboren: Viktor. Zu dieser Zeit aber waren Marianne und Friedrich Wieck bereits getrennt.
Für Wieck war der Scheidungsgrund klar: seine Frau hatte ein Verhältnis mit dem Kollegen Bargiel. Es wurde Wieck vorgeworfen, er habe seine Frau zu oft allein gelassen: häufig Geschäftsreisen, vor allem nach Wien, zum Einkauf von Instrumenten. Es wurde Wieck allerdings nicht vorgeworfen, daß er zu herrisch, zu hart, zu grob war. Es war schwierig, äußerst schwierig, mit ihm zusammenzuleben – es sei denn, man unterwarf sich. Marianne war zu selbstbewußt, um sich auf Dauer zu unterwerfen, die Sängerin und Pianistin demonstrierte Selbständigkeit. Sie konnte mit diesem Friedrich Wieck nicht mehr leben! Adolph Bargiel war ganz anders: freundlich, sanft. Und Wieck? Er gefiel sich in cholerischem Gebrüll, glaubte ein Anrecht zu haben auf Direktheit und Grobheit. Doch Marianne nahm das nicht passiv hin, und so wurden die Auseinandersetzungen sehr heftig.
In dieser Konstellation begann Claras Lebensgeschichte. Als Marianne auszog, nach Plauen zu ihren Eltern zurückkehrte, war Clara viereinhalb. Wieck erlaubte Marianne, das Mädchen und den Säugling mitzunehmen; die Buben blieben im Haus im Salzgäßchen. Allerdings wurde von Wieck eine Frist von vier Monaten gesetzt: am fünften Geburtstag mußte Clara nach Leipzig zurückgebracht werden. Marianne wollte sich von Clara nicht trennen, Wieck aber hatte die damalige sächsische Gesetzgebung und Rechtsprechung auf seiner Seite: die drei älteren Kinder waren ihm zugesprochen. Marianne resignierte: »Du bestehst darauf, die Clara jetzt zu haben, nun sei es, in Gottesnamen; ich habe alles versucht, dich zu erweichen, mag das Herz mir brechen, Du sollst sie haben; jedoch meiner Mutterrechte begebe ich mich nicht.«
Wiecks Haushälterin, Johanna Strobel, reiste dem Mädchen entgegen, das von Mutter und Großmutter begleitet wurde; in Altenburg, auf halbem Weg zwischen Leipzig und Plauen, erfolgte die Übergabe des Kindes. Es muß ein tränenreicher Abschied gewesen sein.
Im Januar 25 wurde die Ehe offiziell geschieden, kurze Zeit später heirateten Adolph Bargiel und Marianne Wieck. Sie wohnten vorerst in der Nähe von Leipzig; Marianne bestand darauf, Clara wenigstens hin und wieder zu sehen. Im Kommandoton bestimmte Wieck die Konditionen. »Madame! Ich schicke Ihnen hier das Teuerste, was ich im Leben noch habe, setze aber voraus, daß Sie alles, womöglich, mit Stillschweigen übergehen oder sich so einfach und so ohne Falsch, ingleichen so unbestimmt ausdrücken, daß dieses unschuldige, harmlose und so ganz natürlich erzogene Wesen nichts höre, worüber es in Zweifel geraten könne. Übrigens werden Sie dem Kinde wenig Gebackenes geben und keine Unart nachsehen, wie desgleichen wohl in Plauen geschehen. – Wenn sie spielt, so lassen Sie nicht eilen. Der strengsten Befolgung meiner Wünsche sehe ich entgegen, wenn ich es nicht übelnehmen soll.« Es folgt das Datum, die Unterschrift.
Die neue Lebenssituation sollte also nicht zum Thema werden zwischen Mutter und Tochter; Wieck befürchtete offenbar Parteinahme.
Und eine scheinbar beiläufige Anmerkung: Clara solle beim Klavierspiel nicht »eilen«. Offenbar neigte sie schon als Kind zu raschen Tempi. Das wird bis zum Ende ihrer Karriere immer wieder hervorgehoben: wie rasch sie oft die Tempi nimmt.
Die grimmig gestatteten Besuche des Kindes bei der Mutter waren bald nicht mehr möglich: Marianne und Adolph zogen nach Berlin. Dort übernahm Bargiel die Leitung der Klavierschule, die Johann Bernhard Logier gegründet hatte. Charakteristisch für seine Methode: Unterricht in kleinen Gruppen.
Kind Clara konnte in der Zeit der Auseinandersetzungen und der Trennung noch immer nicht sprechen, und es schien nicht zu hören. Die Vierjährige stellte sich nicht taub, sie schien wirklich taub zu sein. Erst über Klangproben am Klavier stellte Wieck fest, daß sie nicht organisch taub war. Es ist leicht, die Augen zu schließen, die Ohren jedoch können wir nicht schließen, wir können höchstens die Gehörgänge zustopfen; Clara jedoch scheint es gelungen zu sein, die Ohren zu verschließen, zumindest vor der Sprache. Sie hörte nicht, was sie nicht hören wollte. Clara war, in wörtlichem Sinne: nicht ansprechbar. Und: sie wollte nicht heraus mit der Sprache. Für Verwandte und Bekannte schien alles klar: das Kind war taub, und es war »langsam« – heute würden wir sagen: retardiert. Aber es war keine allgemeine Entwicklungsstörung, denn das Klavierspielen lernte sie rasch und leicht. Etwas pointiert: sie lernte eher das Klavierspielen als das Sprechen.
Friedrich Wieck hatte eine simple Erklärung für dieses auffällige Verhalten; er schrieb seine Version eigenhändig in das Tagebuch, das er für Clara angelegt hatte. »Weil nun mein Vater zugleich mit der Mutter viel Unterricht gab, und letztere selbst täglich 1–2 Stunden spielte, so wurde ich meist der Magd überlassen. Diese war eben nicht sprachselig, und daher mochte es wohl kommen, daß ich erst zwischen dem 4ten und 5ten Jahre einzelne Worte zu sprechen anfing und zu dieser Zeit auch ebenso wenig verstehen konnte. Klavierspielen hörte ich jedoch sehr viel, und mein Gehör bildete sich dadurch leichter für musikalische Töne als für die Sprache aus. Ich lernte aber zeitig laufen, so daß ich schon im 3. u. 4ten Jahre mit meinen Eltern spazieren gehen und stundenlange Wege zurücklegen konnte.
Da ich so wenig sprechen hörte und selbst dazu so wenig Lust bezeigte, auch mehr in mich verschlossen war, unbekümmert, was um mich sich zutrug, so klagten meine Eltern oft, besonders als ich anfing zu sprechen, daß ich schwer höre und dies hatte sich noch nicht ganz im 8ten Jahre verloren, ob es sich gleich besserte, je mehr ich selbst zu sprechen anfing und je mehr ich bemerkte, was um mich geschah.«
Dies, noch einmal, schrieb der Vater. Ob das Kind auch der Mutter, der Großmutter, den Hausangestellten gegenüber stumm blieb, ist nicht überliefert, auch nicht, wie sich Clara anderen Kindern gegenüber verhielt. Vielleicht bestand eine temporäre, eine partielle Stummheit. Doch schlimm genug: das Kind konnte sich offenbar erst artikulieren, als es schulpflichtig wurde.
Dieses verstörende Erleiden der Trennung, es muß Auswirkungen haben auf Claras späteres Verhalten …
Clara, stummes Kind, scheinbar taubes Kind. Fünf Tage nach dem fünften Geburtstag begann Friedrich Wieck mit dem Klavierunterricht »nach der Logierschen Methode«, in einem Dreiergrüppchen. Die allgemeine Schulbildung sollte hinter der musikalischen Ausbildung freilich nicht zurückbleiben – bevor Clara in eine Schule geschickt oder einem Hauslehrer übergeben wurde, war noch einiges nachzuholen, aufzuarbeiten beim verstörten, beim zurückgebliebenen Kind. Gab ihr Wieck eine Fibel für Kinder im Vorschulalter? Mit Bildern und Texten, die Sprachfähigkeit wecken?
Die Fibel, die Wieck seiner Clara überreichen konnte, sie liegt vor mir als Reprint. Der vollständige Titel: Erstes Bilder- und Lehrbuch zur zweckmäßigen Beschäftigung des Verstandes und zur angenehmen Unterhaltung für Kinder, welche noch nicht lesen können. Gedruckt in Leipzig. Ein Buch mit 50 »Kupfern«, und diese Drucke waren koloriert. Rechts jeweils das Bild, links der Text. Der Verfasser war Johannes Andreas Christian Löhr; er lebte noch zum Zeitpunkt, an dem Wieck mit dem Hausunterricht beginnen konnte.
Diese Fibel führt in verschiedenste Bereiche: Sachkunde. Ich weise freilich nur hin auf Abbildungen, nach denen sich ein Mädchen wie Clara ein Bild von einem Mädchen machen mußte, wie es in eine Fibel paßte.
So sitzt im dritten Kapitelchen ein »Mädchen unter seinen Spielsachen«. Das Kind ist gekleidet wie eine Frau: rote Bluse mit Ausschnitt, knöchellanger brauner Rock, mehr als knielange weiße Schürze. »Sieh hin, was ist da alles neben dem Kinde. Da steht eine große Puppe auf einem Tische; unten sind noch zwei; da ist auf einem kleinen Tischchen ein Topf, ein Löffel, eine Schüssel. Auf dem Boden stehen und liegen ein Asch, eine Lase, Kohlenkriken, Leuchter, eine Schüssel und ein Napf, alles unordentlich und zerstreut.« Was ein Asch, eine Lase, was Kohlenkriken sind, das wird Wieck gewußt haben, das wird Kind Clara wissen oder erfahren, ich muß das nicht wissen, ich lasse die fremden Wörter fremde Wörter bleiben, sie markieren Zeitdistanz. Asch, Lase, Krike …
Das Kind hat sich müde gespielt, mit Kochen und Backen. »Das kleine Mädchen hätte besser getan, es hätte auch ein bißchen, ein Viertelstündchen am Strickstrumpf gestrickt.«
Dennoch, es werden auch Kinder beim Spiel gezeigt. Drei Mädchen an einem kleinen Tisch, eins hat eine Waage, sie spielen Kaufen und Verkaufen. Dazu werden benutzt: Steinchen, Läppchen, Apfelscheiben, Kuchenbrocken. Auf einem anderen Tisch steht ein metallenes Kohlenbecken, darauf ein Töpfchen: es wird gekocht. Weitere Kinder spielen Blindekuh. Und Knaben schlagen Ball mit dem Schläger, treiben Kreisel, schaukeln auf improvisierter Balkenwippe – vor solch einem Spiel wird gewarnt.
Gleich danach: »Nützlich beschäftigte Kinder«. Ein Knabe an einem Tisch mit zwei anderen Knaben, gekleidet wie junge Herren, in gelber, grüner, grauer Hose, in grüner, blauer, roter Jacke, mit Halstüchern und weißen Hemden. Einer der vorbildlichen Knaben liest in einem Buch, ein Bein lässig über das andre geschlagen, einer übt in einem Schreibheft, einer rechnet auf einer holzgerahmten Schiefertafel, an einer Schnur hängt ein Schwämmchen.
Das letzte Bild, koloriert: ein Mädchen, in knöchellangem, blauem Kleid, mit Haushäubchen, es sitzt an einem Tisch, strickt und schaut dabei in ein Buch. »Wenn es nicht schon recht fertig lesen und stricken könnte, so würde das nicht angehen. Es ist gewiß ein fleißiges und wißbegieriges Kind, sonst würde es nicht beide Dinge zugleich tun – es würde das Stricken allein und das Lesen allein treiben; aber so ist es viel besser. Da das Kind so willig ist, nützliche Dinge zu tun und zu lernen, so wird es sich künftig wohl ernähren können.«
Und gleich die Nutzanwendung: für ein halbes Jahr erhielt Clara auch »Strickstunden«.
Friedrich Wieck führt seine etwa fünfjährige Tochter mit pädagogischen Absichten durch die Wohnung. Lektion in Sachkunde: Clara soll lernen, die Umgebung mit wachen Augen zu sehen.
Der Fußboden, auf dem Wieck geht, auf dem ihm Clara leichtfüßig folgt, dieser Boden ist gedielt. Allerdings sind die Bretter nicht mit Sand bestreut, das ist höchstens bei einfachen Leuten üblich; der Haushalt Wieck gehört zur gehobenen Kategorie.
Die Wände sind tapeziert, die Decke ist geweißt. Im Flügel jedes Fensters drei Glasscheiben, durch Sprossen getrennt. Mit geschärftem Blick registriert das Mädchen die Möbelstücke aus poliertem Kirschholz. Schnitzwerk ist dort nicht zu sehen; die Möbel sind betont schlicht, aus Prinzip. Auf dem Boden, darauf weist Friedrich Wieck seine Tochter hin (und er folgt dabei dem kleinen Buch von Dr. Otto Bähr), auf dem Boden liegt noch kein Teppich, nicht mal ein kleiner, auch nicht vor dem Sofa, das zwischen zwei Fenstern steht. Deren Vorhänge sind übrigens weiß: noch keine dunklen oder zumindest düsteren Portieren.
Bilder in Holzrahmen, braun und poliert. Goldrahmen waren Ölgemälden vorbehalten, aber hängt hier im Haus ein Ölgemälde? Zumindest ein Druck, beispielsweise mit dem Bildtitel: Der vertriebene Kaiser.
Und der Vater schreitet vor der Tochter zum Ofen. Es ist ein »aufgemauerter Ofen«, eine Vorform des Kachelofens. Verbreitet dieser Ofen in der Heizsaison gemütliche Wärme? Auch im Hause Wieck konnte das beinah Übliche zutreffen: daß der Schornstein nicht recht zog. Es wurde damals häufig geklagt über die Schwierigkeiten, Wohnräume zu heizen. Wieck läßt, zum Vergleich, seine Tochter ins Nebenzimmer schauen, in sein Arbeitszimmer, Herrenzimmer: dort steht ein Kanonenofen, auch Windofen genannt – wird rasch heiß, kühlt schnell aus. Wenn der Ofen qualmt und stinkt, gießt der Hausherr etwas Essig auf die Ofenplatte, gleich riecht es frischer.
Ein Blick in die Küche, in der das Dienstmädchen den Kaffee aufbrüht: Zusatzduft von Zichorie. Die Kaffeekanne auf dem Herd. Der ist ein »gemauerter Aufsatz«: die Feuerstelle eingesenkt, obendrauf ein Eisenrost. Rund um das offene Feuer stehen Töpfe, also wird das Mittagessen vorbereitet. Riecht es bereits nach Suppenfleisch? Die »Magd«, Johanna Strobel, sowieso nicht gesprächig, zudem noch morgenmuffelig, sie schüttet einen Topf aus über dem »Gossenstein« – das Wasser gluckert in die Gosse. Der Vater betont: Diese Feuerstelle ist kein Küchenherd. So etwas ist noch selten, ist eher in Berlin als in Leipzig zu finden; in Berlin nennt man den Herd »Maschine« – das macht die Eisenplatte.
Was gibt es in der Küche noch zu sehen? Ja, an einer Wand ein Fliegenschrank: Holzkonstruktion, mit Leinwand bespannt. Vater Wieck öffnet ihn: auf dem untersten Bord liegt Weißbrot bereit für das Frühstück. Butter steht nicht dort, Butter ist zu teuer, statt dessen ein kleiner Napf mit Schmalz. Und ein wenig Speck. Bevor Clara sehen kann, was auf den beiden oberen Brettern liegt, hat Vater Wieck den Schrank bereits geschlossen, denn es sind zahlreiche Fliegen in der düsteren, offenbar auch zugigen Küche. Johanna zeigt ihnen weiterhin den Rücken, schweigt sich aus. Und wo steckt August, der Diener?
Sie gehen in den Flur. Als Mann von System öffnet Wieck dort kurz auch die Tür zum Klo, das Clara sonst kaum mit wachem Blick fürs Detail betritt: der Holzkasten, der Deckel aus Holz, die bereitliegenden, zerschnittenen Zeitungen. Das Klo ist »nach hinten raus«. Wieck schließt rasch wieder die Tür, es ist schon warm an diesem Morgen, das riecht man.
Vater und Tochter gehen ins Schlafzimmer – selbstverständlich in das der Kinder. Weil das Bett für Clara etwas so Selbstverständliches ist, daß sie sich reinlegt, ohne weiter hinzuschauen, macht Vater Wieck deutlich, somit bewußt: keine Sprungfedern, dieses Wort kennt er nicht mal, keine Roßhaar-Matratze, sondern der übliche Strohsack, darauf das Federbett, gemütlich dick, und darüber (je nach Jahreszeit) das Plumeau oder eine Decke. Jetzt ist es eine Decke. Die ist auch über dem Ungeziefer ausgebreitet, das sich im Strohsack einzunisten pflegt und mit dessen Beseitigung man überall die gleichen Probleme hat; noch ist das »Persische Pulver« nicht im Handel. Also hilft manchmal nur eins: das Dienstmädchen oder der Diener muß den Strohsack verbrennen. Und wenn sich Wanzen in Holzritzen des Bettgestells eingenistet haben, ist es ebenfalls reif fürs Feuer.
Zurück ins Wohnzimmer. Weil Tag ist, achtet Clara nicht auf Beleuchtung, also müssen Wieck & Bähr nachhelfen: keine Kerzen, es sind auch in diesem Bürgerhaus Talglichter üblich. Oder steht hier schon eine Petroleumlampe? Im Hause Wieck wurde sparsam gewirtschaftet, also wird es eher eine Talgleuchte sein. Die steht mitten auf dem Tisch, an den man sich abends setzt, um zu plaudern, zu lesen oder zu singen. Neben dem Talglicht eine Lichtschere, abgelegt in einem Schiffchen aus Blech. Fast jede Viertelstunde beginnt das Talglicht zu blaken, wird schwächer, das Talglicht muß »geputzt« werden. Und wie löscht man das Talglicht? Auspusten? Falsch, das würde mit Gestank bestraft, den Dr. Bähr als häßlich bezeichnet. Man spießt mit der Lichtschere ein Klümpchen Talg auf, erstickt damit das Lichtlein.
Nun, da es hell genug ist an diesem frühen Morgen, nun soll das Mädchen an sich herabblicken: Was trägt es? Ein Baumwollkleid, in schlichter Ausführung, schließlich ist Werktag. Woher kommt das Kleid? So etwas kann nirgendwo fertig gekauft werden, es wurde noch von der Mutter geschneidert.
Und was trägt ein Vater? Die Tochter sieht: eine helle, straffe Hose. Aber keinen mittelblauen oder mittelgrünen Frack, sondern eine bequeme Jacke fürs Haus.
Vater Wieck und Tochter Clara setzen sich an den Tisch. Noch keine neue Frau im Haus, die Brüder sind bei einer Madame »in Pension« gegeben. Zum Frühstück wird von August oder von Johanna hereingetragen: Kaffee mit Zichorie, geschmälztes Brot.
Die Haushälterin ist zugleich Köchin. Sie braucht keine Kochbücher. Es gibt Gemüse der Saison aus dem Garten oder vom Markt. Und Suppenfleisch, meist Suppenfleisch, falls überhaupt. Im Winter kommen die Beilagen aus dem Keller: Sauerkraut aus dem Faß, »Strünke« aus dem Faß (und die definiert Bähr als »die geschnittenen Stengel von Sommer-Endivien«), Schnippelbohnen aus dem Faß. Und hinterher, für den lieben Vater und die brave Tochter: eingemachtes Obst.