Michael Tsokos
Die Zeichen des Todes
Neue Fälle von Deutschlands
bekanntestem Rechtsmediziner
Knaur e-books
Michael Tsokos, 1967 geboren, ist Professor für Rechtsmedizin und international anerkannter Experte auf dem Gebiet der Forensik. Seit 2007 leitet er das Institut für Rechtsmedizin der Charité. Seine Bücher über spektakuläre Fälle aus der Rechtsmedizin sind allesamt Bestseller.
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© 2017 Droemer Verlag
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ISBN 978-3-426-45031-4
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Wir freuen uns auf Sie!
Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur,
doch mit dem Tod der andern muss man leben!
Mascha Kaléko
Willkommen zurück in meiner Welt, der Welt der Rechtsmedizin. Nach drei Romanen (die True-Crime-Thriller Zerschunden, Zersetzt, Zerbrochen) ist es mal wieder an der Zeit, Sie, verehrte Leserin und verehrter Leser, mit einem Buch über Fälle aus meiner rechtsmedizinischen Praxis an Leichenfundorte, in den Sektionssaal, ins Labor und in den Gerichtssaal mitzunehmen.
Ich verspreche Ihnen: Bei jedem der hier geschilderten, teilweise unglaublichen, zumeist tragischen, allesamt so spannenden wie echten Fälle aus der Rechtsmedizin wird Ihr Kopfkino anspringen. Der entscheidende Unterschied zur Kriminalliteratur, die Sie sonst vielleicht verschlingen, ist, dass sich die Fälle, von denen ich hier berichte, tatsächlich so ereignet haben. Ich selbst war in der einen oder anderen Form an ihrer Untersuchung und Aufklärung beteiligt. Sie bekommen die Informationen zu diesen Fällen also aus erster Hand und nicht von einem um Authentizität bemühten Autor, der seine Geschichten realistisch verpacken und allem einen professionellen Anstrich verleihen will, dem aber leider das Grundverständnis der Rechtsmedizin völlig abgeht – ganz zu schweigen von dem Spezialwissen, das ich mir in mittlerweile 25 Berufsjahren angeeignet habe und in diesem Buch immer wieder einbringe.
Obwohl wir das Töten von Menschen in unserer zivilisierten Gesellschaft (zumindest behaupten die Politiker, sie wäre zivilisiert) verdammen, lieben die meisten Deutschen Krimis, True Crime und Thriller. Auch wenn es uns sadistisch und krank vorkommt, wenn Gewalttäter Lust am Töten und am Todeskampf ihrer Opfer empfinden, schauen wir ihnen als Leser, Fernsehzuschauer oder Kinobesucher gerne dabei zu. Die statistische Wahrscheinlichkeit, in Deutschland Opfer eines Tötungsdelikts zu werden, ist indessen sehr gering. Dass dies so bleibt, ist allerdings keine Selbstverständlichkeit, sondern es verlangt uns allen harte und unermüdliche Arbeit ab.
Wie Menschen in unserem Land sterben, sagt etwas darüber aus, wie wir leben – heute, hier und jetzt. Als Rechtsmediziner bekomme ich Einblicke in die Abgründe unserer Gesellschaft. In die jeweils aktuellen Abgründe. In früherer Zeit waren das Giftmorde von Frauen an ihren ungeliebten Ehemännern, Leuchtgasvergiftungen oder Methanolintoxikationen von Schnapsbrennern; später kamen dann die Junkies, Schnüffler, Bodypacker, Crash-Kids oder S-Bahn-Surfer. Heute sind es immer häufiger Todesfälle von Pflegepatienten, die an Rücken, Gesäß und Ellenbogen tiefe Krater, sogenannte »Durchliegegeschwüre«, aufweisen, oder Intensivpatienten, die von sogenannten »Todesengeln« in Kliniken von ihren Leiden »erlöst« wurden. Und leider werde ich als Rechtsmediziner immer öfter mit totgeschüttelten Säuglingen und ermordeten Frauen – fast ausschließlich Muslimas – konfrontiert, die gegen einen mehr als nur befremdlichen archaischen Kodex verstoßen hatten und dafür von einem engen Familienmitglied (meist der jüngste und zudem noch strafunmündige Bruder) regelrecht abgeschlachtet wurden und deren Tod zur Krönung dann auch noch von der Presse als »Ehrenmord« bezeichnet wird.
Armes Deutschland? Welcome to the jungle!
Michael Tsokos
Am 15. September ist es drückend heiß in Berlin. Wenige Tage später wird der erste Herbststurm durch die Straßen fegen, aber noch hat das Hoch über der Hauptstadt seine letzte Schlacht nicht verloren. Ebenso wenig wie der großwüchsige Mann, der an diesem Donnerstag gegen 18 Uhr zu Fuß unterwegs ist. Er steuert einen »Spätkauf«-Laden in Steglitz an, einem gutbürgerlichen Viertel im Südwesten der Stadt.
Der Mann heißt Gerwald Claus-Brunner, laut Personalausweis eigentlich nur Gerwald Claus. Den Namenszusatz hat er frei erfunden, und das ist keineswegs das einzige phantastische Detail in seinem Leben. Mit seiner Körperlänge von 2,03 Metern ragt der 44-Jährige aus jeder Menschenmenge heraus. Durch sein schrilles Outfit fällt er überdies auf wie ein bunt lackierter Elefant. Der übergewichtige Hüne trägt eine orangerote Latzhose wie die Männer von der städtischen Müllabfuhr, dazu ein Palästinenserkopftuch und um den Hals einen Davidstern. Seine unförmige Statur und das dickliche Gesicht, das in einem Ausdruck von Trotz und Argwohn eingefroren scheint, sind nicht nur in Berlin, sondern weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt.
Gerwald Claus-Brunner, von Freunden und Kollegen »Faxe« genannt (wie der extrem beleibte Wikinger bei »Wicki und die starken Männer«), ist Abgeordneter der Piraten-Partei im Berliner Parlament. Der Wahlkampf um die Sitze im städtischen Abgeordnetenhaus läuft auf vollen Touren. In drei Tagen werden die Berliner ihre Stimmen abgeben, und die Umfragen sagen für die Piraten ein Desaster voraus. Nach sensationellen 8,9 Prozent fünf Jahre zuvor werden sie diesmal kläglich an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern – falls nicht noch ein Wunder geschieht. Doch danach sieht es keineswegs aus, ihren Vorrat an Wundern haben die Piraten restlos aufgebraucht. Die aus dem Nichts aufgestiegene Exotenpartei, die 2011 mit Berlin ihr erstes Bundesland enterte und im Jahr darauf deutschlandweit auf zwölf Prozent taxiert wurde, hat sich binnen kürzester Frist selbst zerlegt. Die Berliner Piraten-Fraktion ist heillos zerstritten, Medien und Öffentlichkeit nehmen den schrillen Haufen nur noch als Chaostruppe wahr.
Claus-Brunners persönliche Aussichten sind entsprechend düster: Nach fünf fetten Jahren mit monatlich 7000 Euro Abgeordnetendiät steht dem gelernten Fernmeldeelektriker ein schmerzlicher sozialer Abstieg bevor. In früheren Jahren hat er auf Großbaustellen im Nahen Osten oder in der Schweiz malocht. Aber das packe er heute nicht mehr, soll er gegenüber Bekannten geklagt haben. Parallel zu seiner Arbeit als Stadtpolitiker hat er einige Semester Maschinenbau studiert, doch das Studium schon 2014 ohne Abschluss abgebrochen.
Seit Jahren verbreitet er das Gerücht, er sei »unheilbar krank« und habe nur noch wenig Lebenszeit vor sich. Das ist zwar, wie so vieles bei ihm, frei erfunden, aber der Mann ist offenkundig ausgebrannt. »Ich betreibe Raubbau an mir selber und an denen, die ich kenne«, erklärte er schon Ende 2011, wenige Wochen nach seiner Wahl ins Abgeordnetenhaus. »Eigentlich bin ich völlig am Ende. Aber ich halte durch, weil ich sicher bin, dass ein großer Teil der Basis hinter mir steht.« Doch die »Basis« ist nun auch zerbröselt, und so steht Faxe vor den Trümmern seines Lebens. Politisch, beruflich und privat.
Davon lässt er sich allerdings nichts anmerken, als er an jenem Spätnachmittag bei dem »Späti« in Steglitz eintrifft. Claus-Brunner führt einen Rollkoffer im XXL-Format mit sich, den er auf einer Sackkarre transportiert. Oben auf dem Koffer liegt zudem ein Rollbrett, wie es bei Umzügen eingesetzt wird.
Der Sohn des Kioskbetreibers kommt heraus, um mit dem prominenten Kunden zu plaudern. Der junge Mann, der als Verkäufer im Familienbetrieb arbeitet, begrüßt Claus-Brunner und fragt ihn, was in dem Koffer sei. Ob er umziehen wolle? Der Politiker winkt lachend ab. »Altkleider«, sagt er und wirkt ganz entspannt. Der Verkäufer denkt sich nichts weiter dabei. An exzentrische Auftritte des Piraten ist man hier im Kiez schließlich gewöhnt.
Claus-Brunner lässt Karre und Koffer auf dem Bürgersteig stehen und folgt dem Verkäufer in den kleinen Laden. Dort checkt er die Lottozahlen und wählt aus dem Zeitschriftensegment einen Westernroman aus. In aller Seelenruhe kramt er in seinen Taschen nach dem nötigen Kleingeld für das Groschenheft. Später wird der Verkäufer gegenüber der Polizei erklären, dass sich Gerwald Claus-Brunner ganz normal verhalten habe – jedenfalls für seine Verhältnisse.
Wieder draußen auf der Straße, schnappt sich der Pirat erneut die Sackkarre und schiebt sie vor sich her. Ein findiger Journalist hätte einen Schnappschuss von dem Politiker und seinem monströsen Gepäckstück wohl mit der Schlagzeile »Piraten packen die Koffer« garnieren können. Aber die Medien haben zu diesem Zeitpunkt ihr Interesse an der Piraten-Fraktion und deren auffälligstem Mitglied weitgehend verloren.
Ein paar Jahre zuvor sah das noch ganz anders aus. Als die Piraten im Oktober 2011 das Berliner Parlament enterten, waren Kamerateams aus aller Welt dabei. Al-Dschasira, BBC, ein japanischer Sender. Die Bilder von dem riesenhaften Piraten mit PLO-Kopftuch, der eine Totenkopfflagge im Abgeordnetenhaus aufpflanzte, gingen um den Globus. Claus-Brunner war »das Gesicht« der bizarren neuen Partei. Kaum jemandem schien aufzufallen, dass es das Gesicht eines Menschen mit einer ganz erheblich gestörten Persönlichkeit war.
Dabei gab es von Anfang an Warnhinweise. »Alle Latzhosenträger zusammen können nicht so viel Schaden anrichten wie ein Anzugträger«, sprach er an seinem ersten Tag als Abgeordneter in die Mikrophone. In Claus-Brunners Welt wimmelt es von Feinden, Widersachern, Verschwörern. Die »Anzugträger« sind nur ein Teil davon. Von Kindheit an ist dem Sohn rechtsextremer Eltern, die »völkisch-nationalistischen« Ideen und »germanisch-heidnischen« Mythen anhängen, eine Paranoia eingeimpft worden, deren sichtbarer Ausdruck ihm zwischen den Schulterblättern sitzt. Nie tritt er ohne seinen Rucksack auf, in dem er nach eigenem Bekunden einen »Stahlbolzen« mit sich herumträgt – als Verteidigungswaffe für alle Fälle.
Claus-Brunner ist ein Choleriker, der weder vor derben Beleidigungen noch vor körperlichen Drohungen zurückschreckt. Nach kurzer Zeit hatte er sich auch mit seinen Fraktionskollegen überworfen. Seine Mitarbeiter nannte er »Sackgesichter« und »Vollhonks«. Bis kaum jemand in Partei und Fraktion mehr mit ihm zusammenarbeiten wollte. Längst haben sich nicht nur die einstigen Anhänger von der Berliner Piraten-Partei abgewendet. Auch Gerwald Claus-Brunner, ihr Gesicht und Aushängeschild, ist weitgehend isoliert.
Später wird sein Ex-Fraktionskollege Stephan Urbach auf Twitter daran erinnern, dass Claus-Brunner einmal einen vermeintlichen Gegner »mit Backsteinen in der Hand bedroht« habe. Und Julia Schramm, zeitweise Beisitzerin im Bundesvorstand der Piraten-Partei, wird auf Facebook bittere Bilanz ziehen: Bei den Piraten sei pathologisches Verhalten akzeptiert oder sogar verherrlicht worden. »Wir können dankbar dafür sein, wenn wir lebend und gesund aus diesem Wahnsinn rausgekommen sind.«
Doch Claus-Brunner selbst wird aus dem Wahnsinn, dem die Piraten jahrelang eine Bühne geboten haben, keineswegs unbeschadet hervorgehen. Ebenso wenig wie der junge Mann, zu dem er an diesem drückend heißen Septembernachmittag unterwegs ist.
Kurz darauf steigt Gerwald Claus-Brunner am nahe gelegenen Bahnhof Feuerbachstraße in die S-Bahn der Linie 1. Eine Bekannte bemerkt ihn im Zugwaggon, wo der Riese mit dem übergroßen Koffer und der Sackkarre allen im Weg steht. Aber sie spricht ihn nicht an, da sie ihn bei einer früheren Gelegenheit als nachtragenden Querulanten kennengelernt hat.
Claus-Brunner ist ein Brettspiel-Enthusiast. Bevor er Politiker wurde, hat er oft Tage und Nächte mit einem Fantasy-Spiel verbracht, bei dem Trollarmeen epische Kriege gegeneinander führen. Auch als Pirat hat er Freunde und Bekannte häufig zu Spieleabenden eingeladen. Nachdem die Frau einmal eine solche Verabredung kurzfristig abgesagt hatte, war sie von Faxe tagelang mit »anmaßenden, pöbelnden, quengelnden Mails« und Anrufen traktiert worden. In der S-Bahn wundert sie sich daher nur im Stillen über den »gewaltigen Rollwagen«, den er hinter sich herzieht.
Nach 25 Minuten Fahrt steigt Claus-Brunner am Bahnhof Gesundbrunnen im Norden der Stadt aus. In unmittelbarer Nähe, in einem eher ärmlichen Viertel, wohnt Jan Mirko L., ein junger Mann, den der nach eigener Einschätzung »zu 95 Prozent schwule« Politiker seit mindestens eineinhalb Jahren mit aufdringlichen Liebesbekundungen verfolgt.
Claus-Brunner hatte sich wohl schon vor Monaten heimlich einen Schlüssel zur Wohnung des 29-Jährigen, der von allen in seinem Freundeskreis und näheren Umfeld immer nur Mirko genannt wird, verschafft. In seinem Rucksack hat er genügend Kabelbinder, um sein Opfer zu fesseln. Bei 1,74 Meter Körpergröße wiegt Mirko gerade mal 59 Kilo. Der Koffer hat genau die richtige Größe, um den jungen Mann darin zu verstauen, den Faxe immer nur »mein Wuschelkopf« nennt.
Als sich Jan Mirko L. am frühen Donnerstagabend auf den Rückweg zu seiner Wohnung macht, ist er in guter Stimmung. Wie meistens in den letzten Wochen. Am Nachmittag hat er einen Freund besucht und mit ihm Tischtennis gespielt. Mirko hatte eine schlimme Zeit hinter sich, doch nachdem er Anfang August die Studentin Anne W. kennengelernt hatte, ging es mit seinem Leben wieder bergauf.
Vorhin beim Tischtennis hat ihn der Freund auf Claus-Brunners Nachstellungen angesprochen. Doch Mirko antwortet leichthin: »Das ist nicht so wild.« Dabei hat der schmächtige junge Mann mit den langen schwarzen Haaren gute Gründe, sich vor seinem Stalker zu fürchten.
Mirko ist dreißig Zentimeter kleiner als der hünenhafte Pirat und bringt weniger als halb so viel Körpergewicht auf die Waage. Mehrfach hatte ihm Claus-Brunner bereits vor seiner Haustür aufgelauert. Er hatte Mirkos Freunden Geld geboten, damit sie den »Wuschelkopf« für ihn überwachten. Er hatte sogar eine versteckte Kamera in Mirkos Bad eingebaut und ein gefälschtes Facebook-Profil unter Mirkos Namen angelegt. Aber obwohl ihm die Zudringlichkeit Claus-Brunners zunehmend zu schaffen machte, hielt sich Jan Mirko L. nicht für gefährdet. Der liebeskranke Mann tat ihm vielmehr leid.
Hatte Faxe mitbekommen, dass sein »Wuschelkopf« nun eine feste Beziehung mit einer Frau hatte? Befürchtete Mirko nicht, dass der jähzornige Pirat vollends ausrasten würde, wenn er seine Hoffnungen auf eine Liebesbeziehung mit Mirko endgültig zerstört sähe? Allem Anschein nach dachte der junge Mann nicht darüber nach.
Später am Abend will Mirko mit Anne per WhatsApp besprechen, wo sie diesmal zusammen übernachten werden – bei ihr oder bei ihm. Gegen 21:30 Uhr schickt sie ihm eine Kurznachricht: »Schläfst du heute bei mir?« Zu diesem Zeitpunkt hält sich Gerwald Claus-Brunner höchstwahrscheinlich zusammen mit Jan Mirko L. in dessen Wohnung auf. Nachbarn des jungen Mannes werden später aussagen, dass sie gegen 21 Uhr »Lärm im Treppenhaus« gehört hätten. »Es klang nach Umzug.« Vermutlich kam das Getöse von der Sackkarre und dem Rollbrett, mit dem Claus-Brunner seinen XXL-Koffer transportierte.
Auf ihre WhatsApp-Message bekommt Anne W. jedenfalls keine Antwort mehr. Möglicherweise hat Gerwald Claus-Brunner ihre Nachricht an Mirko gelesen und daraufhin die letzte Grenze überschritten.
»Man kann sagen, dass wir auf dem Weg waren, eine Lebensgemeinschaft aufzubauen«, wird Anne W. später bei der Mordkommission zu Protokoll geben. Doch dazu sollte es nicht mehr kommen. Denn während es Mirko sonst immer geschafft hatte, sich seine Verehrer »vom Hals zu halten«, gelingt ihm das bei dem Piraten nicht.
Buchstäblich nicht.
Gerwald Claus-Brunner und Jan Mirko L. kannten sich schon mindestens seit dem Jahr 2011, als den Piraten der triumphale Einzug ins Abgeordnetenhaus geglückt war. Jan Mirko L. war Mitglied der Piraten-Partei und begeisterte sich für deren utopische Parolen. Bereits in den Monaten nach dem Wahlerfolg soll er mehrfach an Claus-Brunners Seite im Abgeordnetenhaus aufgetaucht sein. Doch welcher Art die Beziehung der ungleichen Männer damals war, ist unklar.
Im Jahr 2014, als Claus-Brunner ein Kiezbüro in seinem Wahlkreis Steglitz-Zehlendorf eröffnete, stellte er jedenfalls Jan Mirko L. als seinen persönlichen Mitarbeiter ein. Mirko war ein verträumter, idealistischer Typ. Er stammte aus einem gutbürgerlichen Elternhaus, seine Mutter war promovierte Lehrerin, der Vater Psychologe. Beide Eltern waren erleichtert, als ihr Sohn die Anstellung bei Claus-Brunner bekam. Bis dahin hatte Mirko in den Tag hineingelebt. Er hatte die Schule vorzeitig verlassen, eine Lehre abgebrochen und noch nie regelmäßig gearbeitet.
Für Mirko war der Ältere damals wohl so etwas wie ein großer Bruder. Er bewunderte Claus-Brunner für dessen Mut und scheinbare Geradlinigkeit. Und wohl auch für seine Prominenz. Vermutlich fühlte er sich von dem Interesse des Politikers an seiner Person geschmeichelt. Faxe half Mirko bei einem Umzug, fuhr mit ihm zusammen in Urlaub. Spätestens da zeigte sich allerdings, dass er mehr von Mirko wollte als Freundschaft und politische Gefolgschaft. Der Politiker hatte sich heftig in seinen jungen Mitarbeiter verliebt.
Mirkos Mutter wird später bei der Polizei aussagen, ihr Sohn habe öfter schwule Freunde und Verehrer gehabt, aber da sei nie etwas Sexuelles gewesen. »Ein Komponist wollte was von ihm«, gab sie zu Protokoll, doch Mirko habe sich die Männer »vom Hals gehalten«. Allerdings scheint er ihre Zuneigung genossen zu haben, obwohl ihm klar sein musste, dass er bei seinen Verehrern falsche Hoffnungen weckte. Dass derlei Spiel mit dem Feuer gefährlich werden kann, wird jeder erfahrene Kriminalbeamte bestätigen.
Auch Jan Mirko L. wusste im Grunde, dass Faxe keinerlei Grenzen akzeptierte. Das musste ihm spätestens Ende 2014 bewusst geworden sein, als Claus-Brunner im Krankenhaus lag. Mirko sollte ein paar Sachen aus der Wohnung des Piraten holen. Claus-Brunners PC war eingeschaltet, auf dem Bildschirm waren Fotos zu sehen, die Freunde von ihm auf seiner Toilette zeigten.
Der junge Mann war schockiert. Um den Politiker zu schützen und der »gemeinsamen Sache« nicht zu schaden, verschwieg er seine Entdeckung. Er sprach auch Claus-Brunner nicht auf die Fotos und die versteckte Kamera an. Dabei musste er sich eigentlich darüber im Klaren sein, dass jemand, der ihm nahestehende Menschen heimlich beim Toilettengang fotografiert, nicht nur Straftaten begeht, sondern auch psychisch schwer gestört ist.
Doch Mirko stellte Faxe nicht zur Rede, sondern kündigte nur seine Stelle als persönlicher Assistent. Zur Begründung sagte er, dass er Claus-Brunners Gefühle nicht erwidere und es ihm leichter machen wolle, darüber hinwegzukommen. Der Verschmähte reagierte verletzt und wütend. Er bat und drohte, aber Mirko nahm seine Kündigung nicht zurück. Faxe war ja nicht der erste männliche Verehrer, dem er auf seine sanfte Art einen Korb gab. Anfangs glaubte er wohl, dass auch der Pirat sich schließlich damit abfinden würde.
Nachdem er seine Stelle aufgegeben hatte, fiel Mirko zunächst in seine frühere ziellose Lebensweise zurück. Er lebte von Hartz IV, kümmerte sich um seine betagte Großmutter und besuchte hin und wieder das Meditationszentrum einer Inderin, von deren menschenfreundlichen Visionen er sich angezogen fühlte. Dort lernte er eine afghanische Flüchtlingsfamilie kennen und fand eine neue Aufgabe, die zwar kein Geld einbrachte, aber seinem Idealismus entsprach. Er passte auf die Kinder auf, wenn die afghanische Mutter zum Sprachunterricht ging. Mit dem Familienvater ging er einkaufen. Ansonsten spielte er zu Hause in seiner Wohnung Brettspiele und stellte Kritiken dazu ins Netz. Mirko war zwar kein fanatischer Spieler wie Faxe, aber dessen Leidenschaft für (Fantasy-)Brettspiele teilte er durchaus.
In den folgenden Monaten ging er Claus-Brunner nach Möglichkeit aus dem Weg.
Im Mai 2015 war er auf der Geburtstagsfeier des Politikers, der ihn per SMS, Mail und Twitter mit Liebesbekundungen traktierte. Die Mehrzahl dieser verbalen Ergüsse ignorierte Jan Mirko L., einige »likte« er, aus Mitleid oder vielleicht auch, weil ihn die hartnäckige Zuneigung des stadtbekannten Exzentrikers schmeichelte. Doch die Nachstellungen des Piraten wurden immer aufdringlicher. Claus-Brunner lauerte ihm vor seiner Haustür auf, verfolgte ihn auf Bahnhöfe, versuchte seine Freunde auszuhorchen.
Jan Mirko L. fühlte sich weiterhin nicht gefährdet, sondern nur zunehmend belästigt. Erst als er im Frühjahr 2016 eine versteckte Kamera im Duschkopf seines eigenen Badezimmers entdeckte, schien auch für ihn eine rote Linie überschritten. Diesmal schwieg er nicht mehr, um den Politiker zu schützen, sondern erzählte im Bekanntenkreis, er sei sich sicher, dass Claus-Brunner heimlich in seine Wohnung eingedrungen sei und die Kamera installiert habe.
So erfuhr auch der Pirat, dass ihm Mirko auf die Schliche gekommen war und sich zu wehren begann. Daraufhin erstattete er am 1. Juni 2016 Strafanzeige gegen Jan Mirko L. – wegen angeblicher »Verleumdung«. »Die Anzeige dient meinem Selbstschutz, um den falschen Verdächtigungen etwas entgegenzusetzen, weil damit meine Reputation und mein Leumund nachhaltig beschädigt wird«, erklärte er seinen Schritt bei einer der wenigen Fraktionssitzungen, an denen er zuletzt noch teilnahm. Jan Mirko L. erzähle überall herum, er sei mehrfach in dessen Wohnung eingebrochen und habe dort »Spionage-Videokameras« eingebaut. »Herr Mirko L. sollte ob dieser paranoiden Wahnvorstellung einen Facharzt aufsuchen, da hier offensichtlich eine schwere Persönlichkeitsstörung vorliegt.« Eine Diagnose, die sich wohl eher auf Claus-Brunner selbst beziehen ließ.
Diese Strafanzeige wurde von der Polizei so wenig verfolgt wie die Anzeige, die Jan Mirko L. seinerseits vier Wochen später gegen Gerwald Claus-Brunner erstattete. Am 28. Juni 2016 suchte er eine Polizeiwache in Berlin-Kreuzberg auf und zeigte den Politiker wegen Stalkings an. Dessen Nachstellungen würden »langsam ungeheuerlich«, gab er zu Protokoll. Er fühle sich »erheblich in seiner Lebensqualität eingeschränkt und fürchte, dass die Situation eskalieren könnte, da er dem Tatverdächtigen körperlich unterlegen« sei. Mehrfach habe er Claus-Brunner gebeten, ihn in Ruhe zu lassen, doch der habe ihm daraufhin angedroht, »richtigen Terror« zu machen.
Aber damit war Mirkos Wut anscheinend auch schon wieder verraucht. Die Kamera in seinem Bad und die Toiletten-Fotos auf Claus-Brunners PC erwähnte er bei seiner Anzeige mit keinem Wort. Einen Fragebogen, den er Wochen später von der Kriminalpolizei zugeschickt bekam, füllte er nicht aus. Damit die Staatsanwaltschaft tätig werden konnte, hätte er außerdem einen Strafantrag stellen müssen, da es sich bei Stalking um ein sogenanntes Antragsdelikt handelt. Doch Mirko stellte keinen Strafantrag. Und so legte die Amtsanwaltschaft die Angelegenheit wenig später zu den Akten.
Dabei hätte die Polizei auch ohne Strafantrag aktiv werden können: Die sogenannte »Gefährderansprache«, durch die der mutmaßliche Stalker nachdrücklich auf die Strafbarkeit entsprechender Übergriffe hingewiesen wird, erfüllt oftmals bereits den gewünschten Zweck. Ob sich Claus-Brunner auf diese Weise hätte zur Ordnung rufen lassen, ist allerdings zweifelhaft. Aufgrund der Anzeige von Jan Mirko L. erkannte die Polizei ohnehin keine konkrete Gefährdung. Hätte das Opfer das Eindringen des Stalkers in seine Wohnung angeführt, hätten die Beamten Claus-Brunner vielleicht doch auf sein Verhalten angesprochen – auch wenn ihr Drang, dem rabiaten Stadtpolitiker die Stirn zu bieten, sich vermutlich in Grenzen hielt.
Das englische Wort Stalking stammt ursprünglich aus der Jägersprache. Der Stalker pirscht sich an Wildtiere an und verfolgt sie. Laut deutschem Strafgesetzbuch ist der Stalker eine Person, die einem anderen Menschen gegen dessen Willen nachstellt und ihm Gewalt androht. Allein im Jahr 2015 waren ausweislich der Polizeilichen Kriminalstatistik mehr als 21 000 Menschen hierzulande von Stalking betroffen. Die offiziellen Fallzahlen gehen zwar seit Jahren zurück, aber die Dunkelziffer ist hoch. Aus Furcht, Scham oder falscher Rücksichtnahme schrecken viele Opfer davor zurück, ihren Stalker anzuzeigen. 80 Prozent der Stalker sind Männer, 80 Prozent der Opfer Frauen.
Oftmals werden Prominente aus Showbusiness, Sport und Politik von Stalkern verfolgt und angegriffen. Berühmt wie berüchtigt ist der Fall der Hollywood-Schauspielerin Jodie Foster, der bereits im Teenageralter ein Stalker nachstellte. Der geistig gestörte John Hinckley jr. hatte sie in dem Film Taxi Driver gesehen und identifizierte sich daraufhin mit dem von Robert De Niro gespielten Amokläufer, der im Film ein Attentat auf einen Politiker verübt. Am 30. März 1981 feuerte Hinckley sechs Schuss auf US-Präsident Ronald Reagan ab, verletzte ihn allerdings nur durch einen Querschläger.
Dagegen endete die Begegnung des 25-jährigen Stalkers Mark David Chapman mit John Lennon für diesen tödlich: Chapman erschoss den »Beatles«-Mitbegründer am 8. Dezember 1980 vor dessen Wohnung am New Yorker Central Park. Auch Sport-Promis werden immer wieder Opfer von Stalking. Die Tennisspielerin Steffi Graf wurde ganze 14 Jahre lang von einem durchgeknallten Fan verfolgt, der sie als »Liebe meines Lebens« anhimmelte. Im Jahr 1993, auf dem traurigen Tiefpunkt seiner Nachstellungen, rammte er Grafs Rivalin Monica Seles ein Messer in den Rücken. Zur Begründung gab er nach seiner Festnahme an, er habe »die Weltrangliste korrigieren« wollen.
Im Juli 2016 beschloss die Bundesregierung, das seit 2007 gültige Stalking-Gesetz zu reformieren. Seitdem müssen Opfer nicht mehr nachweisen, dass sie durch die Nachstellungen »schwerwiegend beeinträchtigt« werden, also beispielsweise Arbeitsstelle oder Wohnort wechseln müssen, um ihren Verfolger abzuschütteln. Denn diese hochschwellige Definition des Delikts hat vor allem die Täter geschützt. Nur ein bis zwei Prozent aller Strafanzeigen wegen Stalkings führten bislang zu einer Verurteilung des Täters. »Stalking soll künftig auch dann strafbar sein, wenn das Opfer dem Druck nicht nachgibt und sein Leben nicht ändert«, erläuterte Bundesjustizminister Heiko Maas den Sinn der Gesetzesreform. Das Strafmaß blieb unverändert: Wer einer anderen Person hartnäckig gegen deren Willen nachstellt, riskiert bis zu drei Jahre Haft.
Viele Stalker sind allerdings psychisch gestört und deshalb durch Strafandrohung kaum abzuschrecken. Oftmals sind es sozial, beruflich und privat Gescheiterte, die nichts mehr zu verlieren haben. Trotz seiner kurzzeitigen Prominenz muss wohl auch Gerwald Claus-Brunner dieser Personengruppe zugerechnet werden. Schon als ich ihn Ende 2011 auf einer Party der Illustrierten Stern in Berlin persönlich kennenlernte, erschien er mir als höchst fragwürdige Figur. Seine Kostümierung mit Latzhose und Palästinensertuch kam mir geradezu lächerlich vor, so aufgesetzt wie sein ungehobeltes Auftreten, das wohl nicht zuletzt seine Unsicherheit verbergen sollte. Sympathisch war er mir jedenfalls nicht. Im Gegenteil. Aber auch wenn ich damals schon gewusst hätte, dass er fünf Jahre später, bei unserem nächsten Wiedersehen, vor mir auf dem Sektionstisch liegen würde, hätte das meine Meinung nicht geändert.
Im August 2016 lernte Jan Mirko L. die Studentin Anne W. auf dem Elblichtfestival bei Magdeburg kennen. Sie verliebten sich ineinander, verbrachten seitdem so viel Zeit wie möglich zusammen und hielten sogar schon nach einer gemeinsamen Wohnung Ausschau. Für Mirko war Anne eine Seelenverwandte. Seit er sie getroffen hatte, begann Faxes düsterer Schatten zu verblassen. Mirko dachte kaum noch an seinen durchgeknallten Verehrer und fühlte sich weniger denn je bedroht.
Was sich im Lauf der Nacht auf Freitag in Mirkos Wohnung abgespielt hat, lässt sich nur bruchstückhaft rekonstruieren. Anzunehmen ist, dass sich Claus-Brunner mit dem Schlüssel, der später an seinem Schlüsselbund gefunden wird, Zutritt zu Mirkos Apartment verschafft und ihm dort aufgelauert hat. Wozu hat er Koffer, Sackkarre, Kabelbinder dabei? Wollte er Jan Mirko überwältigen, fesseln und lebend verschleppen? Oder war er von vornherein entschlossen, sein Opfer zu töten?