Julie Heiland
Blutwald
Roman
FISCHER E-Books
Julie Heiland hat Journalistik studiert. Parallel dazu hat sie eine Schauspiel- und Rhetorikausbildung absolviert und schon in einigen Fernsehfilmen mitgespielt. Julie Heiland, 1991 geboren, ist ein Multitalent. Ihre große Leidenschaft ist das Schreiben und hier ist sie ganz nah an ihren Leserinnen. Nach „Bannwald“ ist „Blutwald“ ihr zweiter Roman.
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Du wirst mit ihnen an einem Tisch sitzen. Du wirst ihr Essen essen. Du wirst in ihrem Bett schlafen. Du wirst töten.
Er wird sie zu sich holen. Ihr das Töten beibringen. Er wird sie zu einer von ihnen machen.
Seine Tochter.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literaturagentur Kai Gathemann
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2015
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402942-9
Für M., die ein Löwenherz war.
Für C., die ein Löwenherz ist.
Für meine über alles geliebte Familie.
Ich habe etwas Schreckliches getan. Ich weiß nicht, ob sie noch lebt. Aber manchmal meine ich, ihr Herz schlagen zu hören. Nie wieder werde ich von ihrer Seite weichen. Jeden Tag werde ich hier wachen, hier, in dieser finsteren Höhle, mit dieser mich verzehrenden Sehnsucht, ihr noch einmal in die Augen sehen zu dürfen.
Ganz sanft hat sie ihre Lider geschlossen. Als würde sie schlafen. So bezaubernd sieht sie aus. Das weiche Haar, das warme Blond mit den dunklen Strähnen darin. Die schönen Wangen, die fast durchsichtige Haut. Lippen, so rot, als hätte sie noch eben Kirschen gegessen.
Alles in mir verzehrt sich nach ihr. Ohne sie bin ich hoffnungslos verloren, und dennoch trage ich die Schuld daran, dass sie hier liegt und vielleicht nie mehr ihren geliebten Sonnenaufgang wird bewundern können. Die Gier nach Macht hat mich überwältigt. Schwach, viel zu schwach war ich und habe damit zerstört, was so wundervoll gewesen ist …
Meine Knöchel sind blutig von all den Sträuchern, die gegen meine Beine schlagen. Ich renne. Barfuß laufe ich über das dunkelgrüne Moos und die vom Tau immer noch feuchten Wurzeln. Eine ganze Weile schon hetze und treibe ich mich selbst durch den eisigen Wald, aus dem jedes Sonnenlicht verschwunden zu sein scheint. Minuten sind für mich Sekunden. Der Messergürtel schlägt im Takt meiner Schritte gegen meinen Oberschenkel. Bäume fliegen an mir vorbei. Äste peitschen meinen Körper. Eine warme Flüssigkeit rinnt meine Wange hinab. Gleich unter meinem Auge brennt es verräterisch. Kurze Zeit später schmecke ich, dass sich das Blut seinen Weg bis zu meinen Lippen gebahnt hat.
Ich bleibe nicht stehen. Renne, fühle meine Kraft, spüre meine Füße. Den Boden unter mir. Will an nichts anderes denken.
Freiheit. Fühlt sich so Freiheit an? Alles zu vergessen? Einmal nur bei sich zu sein? Ich denke nicht an das, was mich in der Siedlung erwartet. Hier im Wald bin ich mit mir alleine.
Wie selbstverständlich tragen mich meine Füße immer tiefer in den Wald hinein. Ein Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen. Ich spüre, dass ich immer noch dicht hinter ihm bin. Es ist nicht einfach, ihm zu folgen. Er flüchtet, schlägt Haken, hat Angst vor mir. Diesmal hat er Angst. Diesmal flüchtet er und nicht ich. Ich bin ein Monster, und er spürt es.
Ich springe über einen umgefallenen Baumstamm. Federleicht komme ich auf und sprinte im selben Augenblick bereits weiter. Jetzt taucht er in meinem Blickfeld auf. Er grunzt. Strauchelt. Doch es gelingt ihm, sich gerade noch zu fangen. Ich weiche einer Tanne aus und ziehe im Rennen bereits mein Wurfmesser aus meinem Gürtel. Mein Zopf löst sich, und der Wind schlägt mir meine Haare ins Gesicht, doch das stört mich nicht. Ich bleibe stehen, um in aller Ruhe zu beobachten, wie der Eber sich herumwirft und in die Richtung flüchtet, aus der er gerade gekommen ist. Ich straffe meine Schultern und schließe meine Finger fest um den Griff des Messers.
In mir ist alles still. Ich konzentriere mich. Im nächsten Augenblick schwirrt das Messer wie ein Pfeil durch die Luft und trifft in das rechte Auge des Ebers.
Almaras. Warum kommen mir gerade jetzt diese Bilder in den Kopf? Almaras, wie er zu Boden stürzt. Almaras’ lebloser Körper auf meinem Rücken. Almaras’ Beerdigung. Die leeren Blicke seiner Kinder.
Alles, was mir wichtig war, habe ich verloren. Die Hoffnung, die Tauren in ihrer Huldigungsnacht zu besiegen, schmeckte zu süß. Jetzt fürchten wir Leonen täglich Birkaras’ Rache.
Der Eber taumelt. Es dauert quälend lange, bis die kurzen Beine des mächtigen Tieres einknicken und sein Körper schließlich auf den Boden kracht. Er zuckt. Ich ziehe ein weiteres Messer aus meinem Gürtel. Mein zweites Wurfmesser. Ich habe es aus Almaras’ Hinterlassenschaft bekommen. Konzentriere mich wieder. Mein Körper ist so angespannt wie der einer Raubkatze kurz vor dem Sprung. Zielsicher bohrt sich die Waffe in das andere Auge des Ebers.
Birkaras. Sein hässliches Grinsen. Seine langen, spitzen Fingernägel. Wie Nadeln stechen die Erinnerungen in meine Brust. Ein weiteres Messer saust durch die Luft. Diesmal kein Wurfmesser, sondern ein größeres, besonders scharfes Exemplar für den Zweikampf. Mit aller Kraft schmettere ich es in die Flanke des Ebers. Das Tier bewegt sich nicht mehr. Leblos liegt es mit drei Messern in seinem Körper auf dem Boden. Blut tropft von seiner Schnauze und färbt seine Flanke dunkelrot.
Emilian. Seine grünen Augen. Seine Worte des Abschieds. Wieder spüre ich einen schmerzhaften Stich in meiner Brust. Denke daran, wie er die Leonen verraten hat. Um mich zu schützen. Ein weiteres Messer zischt durch die Luft. Normalerweise gerade einmal gut genug, um damit Tiere auszunehmen. Doch mit der nötigen Wucht … Diesmal treffe ich den Eber in den Bauch.
Der Geruch von Blut umgibt mich. Blut, gemischt mit einem Hauch von würzigem Harz, kaltem Stein und moosbewachsener Erde. Donia wartet vermutlich schon sehnsüchtig auf mich, um mit dem Kochen anfangen zu können. Eberfleisch ist zäh und schmeckt eigentlich nur, wenn man es mit vielen Kräutern zubereitet. Doch wir Leonen müssen froh sein, wenn wir überhaupt unsere leeren Mägen gefüllt bekommen.
Langsam gehe ich auf das Tier zu. Lege meine Finger um den Holzgriff des Messers in seinem linken Auge und ziehe es heraus. Anschließend reiße ich ein Büschel Moos aus dem Boden und wische damit das Blut von dem Messer, um es dann im Gürtel an meiner Hüfte zu verstauen. Das Gleiche tue ich mit den anderen drei Messern. Ich schnappe mir die beiden Hinterläufe des Ebers. Mache mich auf den Weg zurück. Schleife das Tier hinter mir her durch den Wald, bis ich auf dem Platz inmitten der Siedlung ankomme.
Die wenigen Leonen, die sich gerade hier aufhalten, plaudernd ihren Arbeiten nachgehen, halten inne. Starren mich an, als sei die Welt für einen Moment lang stehengeblieben. Ich entdecke Marla und Laurin unter ihnen. Marla presst ihre Hand vor den Mund. Laurin braucht ein paar Sekunden, um sich zu fangen. Dann eilt er auf mich zu. Seine braunen, schulterlangen Haare wehen hinter ihm her, so schnell läuft er.
Ich schüttele fassungslos den Kopf. Verstehe nicht, was alle wieder haben. Betreten nehmen sie die Arbeiten wieder auf, die sie wegen mir unterbrochen haben. Alle außer Jendrik.
»Davon habe ich gesprochen, Marla. Genau davon«, hallt seine Stimme über den Platz. Er sagt es nicht allein zu Marla, sondern zu allen.
»Sei still!«, brüllt Laurin ihn an, als er bei mir ankommt. Er legt einen Arm um meine Schultern, doch auch sein Blick ist anders. Besorgt. Beinahe ängstlich.
»Gut! Dann tun wir so, als wäre alles bestens. In ein paar Tagen ist das Ganze vergessen, und wir tanzen alle lustig ums Lagerfeuer!«, stichelt Jendrik weiter.
Ich verstehe immer weniger. Laurin zieht mich an sich und drückt mich so fest, dass meine Schulter schmerzt. Es ist erstaunlich, wie auf einmal alle so tun, als seien sie ganz in ihre Arbeit vertieft. Gleichzeitig wird es auf dem Platz immer voller. Alle wollen das Spektakel sehen. Ein Spektakel, in dem ich offenbar mitspiele, aber nicht verstehe, worum es eigentlich geht.
Marla hebt beschwichtigend ihre Hände und wendet sich Jendrik zu. Ihr Bauch ist gewachsen. Ein neues Leben. Seit Tagen hat sie dunkle Schatten um die Augen, ist ihre Haut beinahe so weiß wie die Blütenblätter eines Gänseblümchens. Selbst ihr sonst so jugendlicher Pony und ihre frechen Sommersprossen lassen ihre Fröhlichkeit vermissen. »Lass uns später darüber reden, Jendrik. Nicht jetzt.«
»Natürlich!«, fährt Jendrik sie an.
Auch er hat sich in den letzten Tagen verändert. Jendrik zählte zu den besten Freunden von Almaras. Mit seiner unbeirrbar aufmunternden Art und seinem Sinn für die Gemeinschaft. Aber seit jener Nacht habe ich ihn nicht mehr lachen sehen. Sein Gesicht ist wie eingefroren. Kantig und verschlossen.
»Worum geht es hier eigentlich?«, rufe ich laut. So laut, dass mich erneut alle anstarren.
Laurin will mich beruhigen. Flüstert mir etwas ins Ohr, das ich jedoch nicht verstehe. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie die kleine Flora auf Marla zurennt. Minna ist dicht hinter ihr, um sie aufzufangen, falls sie stürzt. Minna wirft einen kurzen Blick zu mir herüber, wagt es jedoch nicht, mir in die Augen zu schauen. Es ist, als würde sie sich für mich schämen. Oder schlimmer: als hätte sie Angst vor mir.
Flora lächelt. Sie hat mich noch nicht bemerkt. Als sie Marla erreicht, will sie ihr aufgeregt etwas erzählen, doch selbst sie spürt die Veränderung, die die Siedlung auf einmal erfasst hat. Sie dreht sich um und entdeckt mich. Fast rechne ich damit, dass sie wie sonst immer auf mich zugelaufen kommt, ihre kleinen, dünnen Arme um meine Beine schlingt und mich bittet, ihr einen Zopf zu flechten.
Aber nicht heute. Als sie mich sieht, verschwindet ihr Lächeln. Ihre blauen Augen sehen mich an und verstehen nicht. Sie versteckt sich hinter Marlas Beinen. Verkriecht sich vor mir, weil sie Angst hat. Ich bin so entsetzt, dass ich keuche.
»Mama, was ist mit Robin?«, höre ich ihre kleine Stimme fragen. Doch Marla antwortet ihr nicht.
»Kann mir bitte jemand mal erklären, was hier vor sich geht?«, rufe ich noch einmal.
Laurin will sich wie ein Schutzschild vor mich stellen, stolpert dabei aber über den Eber und reißt mich fast zu Boden. Er kann nichts dafür. Für das alles hier. Er ist sogar der Einzige, der auf meiner Seite ist. Dennoch stoße ich ihn von mir fort, als er seinen Arm um mich legen will.
»Du willst wissen, was los ist? Sieh dich doch an, Robin!«, antwortet Jendrik mit fester Stimme. Mit einer Stimme, die nicht bereit ist zu schweigen.
Jetzt suche ich Laurins Blick, doch diesmal weichen mir seine Augen aus. In diesem Moment habe selbst ich Angst vor dem, was mich erwartet. Ich sehe an mir herab. Sehe mein weißes Leinenhemd. Voller Blut. Meine nackten Füße. Dreckig. Ebenfalls mit Blut beschmiert. Selbst auf meiner Lederhose finden sich Spuren meines Mordes. Mit meinen Fingern ertaste ich die Wunde unter meinem Auge. Sie ist wieder aufgeplatzt. Blut rinnt warm mein Gesicht hinab.
»So willst du den Stamm der Leonen anführen?«, nutzt Jendrik mein Schweigen. »Aber nein. Wie mir scheint, willst du es gar nicht. Denn wenn du es wirklich wollen würdest, dann wärst du hier bei uns und würdest dich darum kümmern, dass unser Leben weitergeht. Aber du streifst durch den Wald und kommst zurück, als seist du im Blutrausch gewesen. So sieht kein Anführer aus.«
»Sei endlich still!«, brüllt Laurin ihn an. Ungewohnt, dieser scharfe Ton.
»Ich habe gejagt. Damit ihr etwas zu essen habt und wir den Tauren etwas bieten können bei den nächsten Abgaben«, versuche ich, mit fester Stimme zu sprechen. Doch ich zittere, weil sich Flora immer noch hinter Marla versteckt. Weil Minna immer noch zu Boden starrt, um mich nicht ansehen zu müssen. Weil immer noch dieses Schweigen über der Siedlung liegt.
»Ich würde sagen, dass wir das ein andermal …«, mischt sich Marla erneut ein.
Doch Jendrik lässt ihr nicht mal die Zeit auszureden. »Wir brauchen jemanden, der fähig ist, unseren Stamm zu führen!«
»Jawohl!«, ruft jemand in der Menge. Es ist Titus. Er reißt einen Arm in die Luft, um Jendrik anzufeuern. Schon in den letzten Tagen hat er jedem zu verstehen gegeben, dass er sich in der Rolle des neuen Anführers sieht.
»Robin ist fähig, uns zu führen«, antwortet Laurin bestimmt.
Eigentlich wäre es meine Aufgabe, Jendrik und Titus in ihre Schranken zu weisen, die Leonen zusammenzuhalten und ihr Anführer zu sein. Aber die Wahrheit ist, dass sich alles in mir sträubt. Dass ich Angst davor habe. Nicht nur Angst davor, dem Ganzen nicht gewachsen zu sein. Nein, Angst davor, Almaras endgültig zu verlieren. Denn wenn ich die Anführerin der Leonen werde und Almaras’ Platz einnehme, dann ist es, als ob ich seinen Geist vollends vertreibe.
Ich blicke an mir herunter und betrachte den Dreck unter meinen Fingernägeln und die Erde auf meiner Haut. Verschwommen nehme ich das Blut auf meinem weißen Hemd wahr. Wieder taucht Almaras vor meinem inneren Auge auf, wie er auf dem Boden kniet und schon alle Hoffnung aufgegeben hat. Seine Augenklappe ist verrutscht, was ihn noch hilfloser und gebrochener aussehen lässt. Ich sehe, wie ich meinen toten Vater durch den Wald trage. Sein langes, blondes Haar hängt über meine Schulter. Sein Arm baumelt bei jedem meiner Schritte. Leblos.
Ich schließe meine Augen, weil ich die Bilder verbannen möchte. Doch sie haben sich in meinen Kopf und in meine Seele eingebrannt. Ich sehe Emilian, wie er vor mir in der Höhle steht und mein Herz zu zerspringen droht, weil ich hin- und hergerissen bin zwischen Hass und einem mir bis dahin unbekannten Gefühl. Bedingungslose Liebe. Jedes einzelne seiner Worte donnert klar und deutlich durch meinen Kopf. Wir dürfen uns nicht mehr sehen.
»Braucht sie jetzt schon ihren kleinen Freund, um sich zu verteidigen?«, ruft Titus laut und holt mich damit zurück in die Gegenwart.
Er versteckt sich in der Menge. Vorzutreten, sich vor mich zu stellen und mir in die Augen zu schauen, traut er sich dann doch nicht.
»Halt du dich da raus!« Laurin macht einen Schritt vor. Seine Hände sind zu Fäusten geballt. Noch nie habe ich ihn so erlebt.
»Ein toller Anführer! Seht sie euch an, wie sie dasteht! Blutverschmiert und dreckig! Wie ein Mon…«
»Sprich ja nicht weiter!«, schreit Laurin.
Minna zuckt vor Schreck zusammen. Die kleine Flora beginnt zu weinen. Laurin macht noch einen Schritt nach vorne, will zu Titus. Seine Wangen glühen vor Wut. Ich greife nach seiner Hand und halte ihn zurück.
»Lass gut sein«, beruhige ich ihn.
Ich weiß ohnehin, was Titus sagen wollte. Monster. Wie ein Monster. Er hat recht. Ich bin ein Monster. Damit muss ich mich abfinden. Zu Beginn hatte ich noch Emilian. Er hat mir gezeigt, wie ich mit meiner dunklen Seite leben und sie kontrollieren kann. Jetzt hilft mir niemand mehr.
Ohne noch etwas zu sagen, wende ich mich ab und steige über den blutverkrusteten Körper des Ebers. Die Stille legt sich auf meine Brust wie ein Felsbrocken. Niemand wagt es, etwas zu sagen oder auch nur, sich zu bewegen. Keinen Atemzug mache ich. Erst als ich mein Haus erreiche und keine Blicke mehr auf mir spüre, kann ich Luft holen. Als hätte mein Leinenhemd Feuer gefangen, reiße ich es mir von meinem Körper. Ich schreie, raufe mir die Haare, trete nach der Schale Wasser auf dem Boden, so dass sie gegen die Wand knallt und sich ihr Inhalt durch den ganzen Raum ergießt.
Dann falle ich auf mein Bett und weine. Endlich weine ich. Das erste Mal seit jener Nacht. Die Tränen beruhigen mich. Irgendwann schlafe ich ein.
Als ich am nächsten Morgen aufwache, bin ich nicht allein. Jemand schlingt seinen Arm um mich, so fest, dass ich mich kaum rühren kann. Ein Bein hat er über meine Beine gelegt. Ich habe keine Chance, unbemerkt zu entkommen. Wenn ich schon nicht aufstehen kann, drehe ich mich wenigstens ein wenig in seine Richtung.
So friedlich liegt Laurin neben mir. Die langen Wimpern fein geschwungen, das braune Haar wild zerzaust. Seine sonst so zarten Lippen sind jetzt derart rau, dass die Haut an manchen Stellen aufgerissen ist. Wenn er ausatmet, kann ich den feinen Luftzug an meinem Hals spüren. Laurin hat an Gewicht verloren. Er ist inzwischen noch schlaksiger, als er es ohnehin schon war. Es schmerzt mich zu sehen, wie sehr er leidet. Uns alle plagt die Ungewissheit. Nicht zu wissen, wie und wann sich die Tauren an uns rächen werden. Vielleicht werden wir alle sterben, vielleicht tötet Birkaras auch nur ein paar von uns, weil er die restlichen Leonen als Arbeitskräfte braucht.
Laurin schluckt schwer im Schlaf und hustet einmal. Wenn ich ehrlich bin, dann weiß ich, dass es auch noch einen weiteren Grund gibt, weshalb er in einer so schlechten Verfassung ist. Auch wenn ich nicht weiß, wie er wirklich zu mir steht. Ob seine Gefühle für mich tatsächlich über Freundschaft hinausgehen. Ich muss an das hölzerne Herz denken. Laurin hat es mir zusammen mit einer Kette geschenkt. Ich will nicht darüber nachdenken. Will verdrängen, das alles nicht in meinem Kopf haben.
Ich weiß, dass wir dringend miteinander reden müssen. Doch wir tun es nicht. Wie auch? Seit Tagen lasse ich niemanden mehr an mich ran. Aber das, was Laurin gestern für mich getan hat, hat eine neue Seite an ihm gezeigt. Eine starke, mutige. Und es hat etwas in mir verändert.
Es ist seltsam, Laurin auf einmal wieder so nah zu sein. Früher war es selbstverständlich, uns hin und wieder zum anderen ins Bett zu schleichen. Als Kinder waren wir eigentlich immer zusammen. Haben gemeinsam im Fluss gebadet, sind danach Arm in Arm am Ufer eingeschlafen. Haben uns nachts in meiner Hängematte die Sterne angeschaut, die Körper so dicht aneinander wie nur möglich. Jetzt fühlt es sich merkwürdig an. Merkwürdig, aber gut. Vertraut. Ein Gefühl wie nach einer großen Anstrengung, endlich zu Hause angekommen zu sein. Mir wird bewusst, wie sehr ich das vermisst habe.
Laurin beißt sich im Schlaf auf die Unterlippe. Sie beginnt leicht zu bluten. Seine Wimpern flattern, selbst seine Nase zuckt aufgeregt im Schlaf.
»Robin …«, murmelt er gepresst, als hätte er im Schlaf die Luft angehalten.
Ich streichle ihm über die Wange und versuche, ihn auf diese Weise zu beruhigen. Er schrickt sofort hoch. »Was? Was ist? Ist was passiert? Wo bin ich?«
»Du bist bei mir. In meinem Haus.«
Er setzt sich auf. Schaut mich an. Erst jetzt ist er richtig wach. »Robin, entschuldige. Hab ich mich vielleicht erschreckt! Ich dachte, es ist sonst was passiert«, sagt er müde und reibt sich die Augen.
Ich richte mich auf und lehne mich mit dem Rücken gegen die Wand. »Hast du schlecht geträumt?«
»Ich träume nur noch schlecht. Jede Nacht irgendetwas anderes. Dass sie Minna holen oder die kleine Flora oder dich … und ich kann nichts dagegen tun.«
»Laurin …« Ich rücke näher an ihn heran, so dass ich ganz dicht neben ihm sitze. »Warum hast du mir nichts davon gesagt?«
»Wie denn? Du hast doch schon genug mit dir selbst zu tun«, platzt es aus ihm heraus. Er erschrickt vor seinen eigenen Worten, versucht, ihnen die Schärfe zu nehmen. »Aber das ist auch gut so, weil du die Zeit brauchst, um mit all dem fertigzuwerden«, rudert er zurück.
Doch er hat ausgesprochen, was er wirklich denkt. Seine Worte kann er nicht mehr zurücknehmen.
»Wollen wir frühstücken?«, frage ich.
Es geht nicht. Ich kann nicht darüber reden. Will nur fort von hier. Muss irgendwo anders hin, nur um dieses Gespräch nicht zu führen. Flüchte wieder, so wie ich in letzter Zeit vor allem flüchte. Aber ich kann nicht anders.
Ich weiche Laurins Blick aus. Sehe an mir herunter. Zucke zusammen. Ich habe immer noch die Hose an, mit all dem Blut darauf. Ich bin ein Monster.
Laurin seufzt. Streicht sich die zerzausten Haare aus dem Gesicht. Eine hellbraune Wimper hängt unter seinem rechten Auge. Früher hätte ich sie mir auf die Spitze meines Zeigefingers gelegt, und Laurin hätte sich erst etwas gewünscht und sie dann fortgepustet. Jetzt lasse ich die Wimper, wo sie ist.
»Gut. Frühstücken wir«, antwortet er schließlich und schält sich aus meinem Bett. Als er sich bückt, um sein Hemd vom Boden aufzuheben, zeichnen sich seine Rippen deutlich ab. »Du solltest dich vielleicht mal um deine Krönungsfeier kümmern. Marla scheint damit etwas überfordert zu sein«, sagt er, während er sich sein Hemd überzieht.
»Helfen ihr denn nicht die anderen Frauen?«, frage ich und kenne die Antwort bereits.
Laurin antwortet nicht auf meine Frage. Er blickt zu Boden. Fährt sich durchs Haar. »Ich geh schon mal vor.«
Er erinnert sich an ihr Gesicht, nicht als wäre sie schon viele Jahre tot, sondern als hätte sie gerade eben noch vor ihm gestanden. Die braunen Augen. Das lange helle Haar, durchzogen von dunkelbraunen Strähnen. Die kleinen Lachfalten um ihren Mund. Kirschrote Lippen. Ihr zarter Duft nach Wildrose. In seiner Erinnerung steht sie im Wald unter der Trauerweide am Fluss. So wie sie immer dort gestanden hatte. Ganz still und mit diesem Lächeln, das versprach, dass alles gut werden würde. Es ist Nacht. Trotzdem kann er sie deutlich sehen. Als würde der Mond nur sie in sein silbernes Licht tauchen. Magisch.
Sie ist so wunderschön.
Er hat sie getötet. Er war es, der sie verraten hat. Er war es, der ihr die Hände um den Hals gelegt hat. Er war es, der dieses wundervolle Geschöpf umgebracht hat. Sie war so ruhig gewesen. So als hätte sie es erwartet. Eine einzige kleine Bewegung, und er hatte ihren leblosen Körper in seinen Armen gehalten.
Damals waren sie zu dritt gewesen. Er und zwei weitere Taurer, seine Freunde. Heute sind die beiden tot. Gleich als er zum Anführer ernannt wurde, hat er sie hingerichtet. Qualvoll und langsam.
Die Nacht, in der er Isa getötet hat, war eine sternlose Nacht, so als hätte der Himmel ihm sagen wollen, dass er das Falsche tat. Es war so einfach gewesen, in die Siedlung der Leonen einzudringen. Niemand hatte sie bemerkt. Als sie Isas Haus betraten, hatte sie auf ihrem Bett gesessen. Sie erwartet.
Wie ein Engel hatte sie in ihrem weiten, weißen Nachthemd ausgesehen. Ihr Blick galt nur ihm. Ein Blick, den er niemals vergessen wird. Kein Hass. Viel schlimmer. In ihren Augen stand deutlich, wie sehr sie an ihn glaubte. An das Gute in ihm … Aber es existierte nun mal nichts Gutes in ihm.
Erst als seine Freunde auf das neugeborene Kind zugingen, fing sie an zu schreien. »Nein! Lasst Robin am Leben! Sie kann doch nichts dafür …«
Sie wollte sich vor ihr Kind stellen, doch die zwei Taurer stießen sie achtlos zur Seite. Einer der beiden schnitt dem Kind eine kleine Haarsträhne ab und ließ sie in einem Lederbeutel verschwinden. So wie es der damalige Anführer Rebus befohlen hatte. Rebus hatte gesagt, man müsse sehen, wie sich dieses neue Leben entwickele. Würde das Kind zu einem richtigen Taurer werden, dann könne man es am Leben lassen. Entwickele es sich zu einem jämmerlichen Leonen, müsse es sterben.
Isa begann zu weinen. Sie schüttelte ihren Kopf. Dann sah sie auf, ihm wieder in die Augen. Ihr Blick raubte ihm den Atem. So wundervoll war sie. Sie war das Einzige in seinem Leben, das ihm etwas bedeutete. Doch er konnte nicht anders …
Er packte ihren Arm, zerrte sie hinaus ins Freie. Sie schrie. Einige Leonen kamen aus ihren Häusern gestürmt, zogen sich im Rennen noch ihre Hemden über. Doch als sie sahen, was los war, unternahm keiner von ihnen etwas. An Mut hat es den Leonen schon immer gemangelt. Erbärmliche Schwächlinge.
Er zerrte Isa in den Wald, seine Freunde waren dicht hinter ihm. Isa stolperte, riss sich die Haut an den nackten Beinen blutig. Er zog sie wieder auf die Füße. Der Wald war totenstill. Kein einziges Blatt rührte sich, nicht der zarteste Windhauch fuhr durch die Bäume.
»Wie kannst du nur?«, flüsterte sie.
Hätte er geantwortet, hätte er es ihr vielleicht gesagt. Ihr gesagt, dass er nicht anders konnte. Es nicht wollte. Weil er sie doch in seinem Leben brauchte.
Er durfte nicht antworten. Deshalb. Erbarmungslos schleifte er sie hinter sich her. So lange, bis sie die Siedlung der Leonen weit hinter sich gelassen hatten. Er wusste selbst nicht, warum es ihm wichtig war, sich so weit zu entfernen. Erst zu spät erkannte er, dass sie sich an der Stelle befanden, an der sie sich immer heimlich getroffen hatten. Der Fluss war nur wenige Meter entfernt. Zu ihrer Rechten thronte die alte Trauerweide mit ihren unendlich langen Ästen, unter denen sie sich manchmal versteckt hatten. Noch heute sieht er das dichte Moos mit den kleinen weißen Blumen deutlich vor sich.
»Ich verfluche dich, Birkaras!«, schrie sie.
Seine Freunde lachten nur. Doch er sah die Entschlossenheit in Isas Augen. Ja, jetzt verachtete sie ihn. Aus ihrer Liebe war Hass geworden.
»Ich verfluche dich. Du sollst krank werden. Dein schlechtes Herz soll dich von innen heraus auffressen, und du sollst jeden Tag mehr leiden. Niemand soll dir helfen können, bis du nach Jahren der Qual einsam stirbst!«
Dann wurde sie ganz ruhig. Zitterte nicht einmal. Ließ es zu, dass er seine Hände um ihren zarten Hals legte. Dass er ihrem Leben ein Ende bereitete.
Blut tropft auf sein rotes Hemd. Sein Kopf schmerzt unerträglich. Ein Ziehen, das seinen ganzen Körper erfasst. Er steht am Fenster. Emilian sitzt unten auf dem Platz am Feuer und schnitzt an einem Stück Holz herum. Ein Prachtexemplar von einem Taurer. Groß, stark, schlau. Sogar die Gabe, Erinnerungen zu löschen, beherrscht er. Einer seiner Freunde klopft ihm im Vorbeigehen auf die Schulter. Wenn ihn nicht alles täuscht, ist es Fares. Emilian ignoriert ihn und schnitzt weiter.
Emilian schlägt sich gut. Ob er immer noch an sie denkt? Schon zwei Wochen ist es her. Vor zwei Wochen haben die Leonen versucht, sich zu widersetzen. Und sind gnadenlos gescheitert. Wie töricht von ihnen, ernsthaft zu glauben, dass sie die Tauren besiegen könnten.
Die Sonne strahlt bereits mit Kraft. Eigentlich ist es ein wundervoller Tag. Für andere zumindest. Er hasst dieses Wetter. Er liebt Regen, Gewitter, Sturm. Dunkelheit. Alles, bloß kein Licht. Das vertragen seine Augen schon lange nicht mehr. Es scheint, als hätte sich der Himmel einen Spaß daraus gemacht, ihn zu quälen. Rings um die Siedlung der Tauren hängt eine dichte Wolkendecke. Nur über dem taurischen Gebiet frisst sich die Sonne ein Loch durch die Wolken. Er presst die Augenlider zusammen, wendet sich angeekelt vom Fenster ab.
Wieder reißt es in seinem Kopf. Dunkelrotes Blut läuft nun wie ein dünnes Rinnsal aus seiner Nase, über seinen Mund, tropft auf sein Hemd. Er leckt es sich von den Lippen, schmeckt den eisernen Geschmack. Ihm wird schwindelig. Alles dreht sich. Er will sich an der Wand abstützen, verliert das Gleichgewicht. Stürzt zu Boden.
Er sieht sie. Ganz nah steht sie vor ihm. Schwach schimmert ihr Körper – ein Irrspiel des Lichts. Da sind sie wieder, diese braunen Augen, diese langen Haare, die weichen Lippen. Dieses wundervolle Wesen mit all seiner Güte.
Sie lächelt. Es ist ein feines Lächeln, so als wüsste sie, dass seine Krankheit ihr Werk ist. Ihr Fluch. Wie auch immer sie es angestellt hat …
Warum musste dieses Mädchen auftauchen und ihr so schrecklich ähnlich sehen? Ihn an das erinnern, was sein Leben einmal hat lebenswert sein lassen?
Diesmal wird er alles anders machen. Er wird sie zu sich holen. Ihr das Töten beibringen. Ihr zeigen, dass es so viel besser sein kann, nicht zu fühlen. Er wird sie zu einer von ihnen machen.
Seine Tochter.
Die Stimmung während des Frühstücks ist so, als sei über Nacht der Winter eingebrochen. Stumm und mit grauen Gesichtern sitzen die Leonen am Tisch. Selbst Flora, die sonst immer zum Spielen aufgelegt ist, wagt es heute nicht, die Stille zu stören. Ohne einen Ton von sich zu geben, stochert sie neben mir in ihrem Haferbrei herum. Minna hat es erst gar nicht gewagt, sich aus dem Bett zu schälen, und Marla konnte die ganze Nacht nicht geschlafen, weshalb sie sich wieder hingelegt hat. Ich mache mir große Sorgen um sie. Um sie und um das Kind, das sie in ihrem Bauch trägt.
Ich rühre in dem farblosen Brei in meiner Holzschüssel. Laurin sitzt mir gegenüber. Keinen einzigen Löffel von der zähflüssigen Pampe hat er bis jetzt heruntergewürgt. Sein Blick aus seinen sonst so warmen lebhaften Augen ist starr auf den Tisch gerichtet.
»Willst du ein Märchen hören?«, frage ich Flora hoffnungsvoll. Mit irgendjemandem muss ich reden – und wenn ich nur ein Märchen erzähle. Einfach reden. Wenigstens ein bisschen Leben spüren. Doch Flora schüttelt nur den Kopf.
»Jemand noch Haferbrei?«, ruft Donia laut. Sie stemmt eine große Holzschüssel gegen ihre Hüfte, in der die Masse bei jeder Bewegung langsam hin- und herkriecht.
Niemand reagiert. Donia seufzt. Wischt sich mit der freien Hand eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Kopfschüttelnd stapft sie davon.
Ich schaue in den Wald. Das dunkle Grün. Das wenige Licht, das sich bis zum Boden hindurchkämpft. Ich lasse meinen Blick über unsere Siedlung schweifen, die ärmlichen, heruntergekommenen Häuser. Die Dächer müssten dringend repariert werden. Der letzte Sturm hat bei einigen große Schäden verursacht.
Seit ich denken kann, kenne ich diese trostlosen Fassaden aus Lehm. Die festgestampfte Erde unseres Versammlungsplatzes, die sich im Herbst in Schlamm verwandelt.
Flora stupst mich mit dem Ellenbogen an der Hüfte an. Als sie meinen fragenden Blick sieht, nickt sie stumm in Jendriks Richtung.
»Ich rede mit dir, Robin!«, fährt er mich an. Wieder. Und wieder vor allen. Eigentlich habe ich nur darauf gewartet.
»Worum geht es denn diesmal?«, gebe ich kalt zurück, schiebe die Schale Haferbrei von mir.
»Wir müssen uns um die Abgaben kümmern. In drei Tagen müssen sie bei den Tauren sein. Aber das ist nicht meine Aufgabe, sondern deine. Du willst schließlich unsere Anführerin sein.«
Eigentlich ist es geradezu irrwitzig, dass Jendrik an die Abgaben denkt. Jetzt, wo wir fürchten müssen, dass sich die Tauren vielleicht heute, vielleicht auch erst morgen an uns rächen werden, weil wir tatsächlich die Hoffnung hatten, sie in ihrer Huldigungsnacht stürzen zu können.
Jede Woche müssen wir die Tauren mit Nahrung, Salomés Heilmitteln und anderen Dingen, die wir selbst dringend benötigen, beliefern. Manches Mal verlangen sie sogar, dass ihnen eine junge Leonin gebracht wird. Keine ist je nach Hause zurückkehrt.
Sepo räuspert sich künstlich. Sepo ist der Einzige der Männer, der immer bedingungslos auf meiner Seite steht. »Robin wird schon wissen, was sie tut. Da bin ich mir sicher.«
»Ach ja? Zehn Minuten sitzt sie nun schon hier, und alles, was sie macht, ist, in die Gegend zu starren!«
Ich spüre Floras Blick auf mir. Ihre Fingerchen klammern sich um meinen Arm. Ich lächle sie gezwungen an. Wie Marla sieht sie mit den vielen Sommersprossen und dem Pony aus, nur dass sie eine erbsengroße Zahnlücke hat, die immer zum Vorschein kommt, wenn sie lacht. Aber jetzt lacht sie nicht.
»Flora, lauf doch nach Hause und sieh nach, wie es deiner Mama geht«, sage ich und streiche über ihr weiches Haar.
Sie zögert nicht lange, springt von der Bank auf und läuft davon. Weg von hier, weg von dem Streit und der Spannung, die in der Luft liegen.
»Gut«, sage ich, »reden wir über die Abgaben. Wir haben zwei Ster Holz, uns fehlen also immer noch drei Ster. Parl räuchert Schinken und bereitet Fleisch vor.«
»Aber welchen Schinken? Welches Fleisch?«, wirft der dicke Parl ein, unser Metzger in der Siedlung. Selbst er scheint abgenommen zu haben, doch noch immer glühen seine Wangen rot wie Äpfel. »Der Eber von gestern reicht dafür nicht!«
»Ich werde mich darum kümmern …«, erwidere ich.
Es wundert mich, dass Jendrik diesmal keine bissige Bemerkung macht. Er sieht mich nur verächtlich an, mustert mich von Kopf bis Fuß. Bleibt stumm.
Auch Titus bemerkt Jendriks unerwartetes Schweigen und hält es offensichtlich für unerlässlich, für ihn einzuspringen. Er erhebt sich von seinem Platz, als würde er eine Ansprache halten wollen. Ich verdrehe die Augen. Laurin ebenfalls.
»Damit du dann wieder blutverschmiert hier aufkreuzt und den Kindern Angst machst?«, blafft Titus mich an.
»Als ob du dich für die Kinder interessieren würdest«, entgegnet Laurin. Er schiebt ebenfalls seinen Haferbrei von sich. Das Frühstück ist damit beendet.
»Nur weil ich nicht den ganzen Tag mit ihnen im Kreis tanze und lustige Lieder singe, heißt das nicht …«
»Jetzt reicht es aber!«, brüllt Sepo. Er schlägt mit der Faust auf den Tisch, dass die Schüsseln wackeln. »Robin, rede weiter.«
Ich nicke und danke ihm mit einem flüchtigen Lächeln. »Salomé wird ein paar Heilsalben herstellen. Mehr haben wir dieses Mal nicht.«
»Und das wird den Tauren ja bestimmt genügen!«, unterbricht mich Titus höhnisch. »Wir können ihnen ja vielleicht noch eine nette Karte schreiben!«
»Schluss jetzt, Titus!« Sepo erhebt sich nun auch, geht einmal halb um den Tisch herum und packt Titus an den Schultern. »Ich denke, wir zwei gehen jetzt in den Wald und holen die letzten Holzscheite.«
»Aber das ist Arbeit für mindestens zwei Stunden«, protestiert Titus.
»Schon gut.« Langsam stehe ich von meinem Platz auf. Spüre erwartungsvolle Blicke auf mir, rieche förmlich die Anspannung. Alle wollen wissen, was ich jetzt tun werde.
Aber ich tue nichts. Bin nicht fähig dazu. »Titus kann hierbleiben. Ich wollte ohnehin los. In die Stadt. Wir brauchen Dachpappe für die kaputten Dächer.«
So langsam wie möglich gehe ich über den Platz. Ich muss mich beherrschen, nicht einfach loszurennen, um vor den erwartungsvollen Blicken zu flüchten. Vor meiner Tatenlosigkeit.
In meinem Kopf dreht sich alles – er ist voll mit Erinnerungen, an die ich mich nicht erinnern mag. Die Gesichter der Frauen und Alten, als ich ihnen bei unserer Rückkehr erklären musste, dass wir verloren haben. All die Verletzten. Die Panik. Der Schmerz. Almaras’ Tod.
Und Emilian. Den ich verlassen musste.
In meinem Haus streife ich meine Wildlederjacke über. Kämme flüchtig mein wildes Haar. Frage mich, wann die Sonne wohl wieder zum Vorschein kommen wird. Seit Tagen regnet es, und der Himmel bleibt hinter einer grauen Wolkendecke verborgen. Nur einen einzigen Sonnenstrahl, der meine Augenlider wärmt … mehr will ich doch gar nicht. Aber selbst das scheint zu viel verlangt.
Ich spritze mir noch ein bisschen Rosenwasser ins Gesicht und flechte meine Haare zu einem Zopf. Die Dose mit dem Stammesgeld steht jetzt in meinem Zimmer. Mir wäre es lieber, wenn ich sie im Versammlungsraum einschließen könnte. Doch Marla sagt, es ist Brauch, das Stammesgeld im Haus des Anführers aufzubewahren, und ich solle nicht gleich alles umkrempeln. Dabei bin ich noch nicht einmal Anführer. Ich bin einfach nur Robin. Unbedeutend, überfordert, einsam.
Was hat Almaras nur in mir gesehen, dass er mir seinen Stamm anvertraut hat? Wieder einmal strömt eine Flut von Bildern auf mich ein. Ich sehe, wie Almaras mich bittet, seine Nachfolgerin zu werden. Als hätte er schon geahnt, dass er unseren Befreiungsschlag nicht überleben würde.
»Weil du es kannst«, hat er auf meine Frage, warum ausgerechnet ich, geantwortet. »Die Leonen hören auf dich. Sie sehen zu dir auf. Du hast die Stärke, die Reife und den Mut. Ich könnte mir keinen besseren Nachfolger vorstellen.«
Wie sehr er sich getäuscht hat. Schon da habe ich mich gesträubt, aber ich hatte keine Wahl. Auch jetzt habe ich keine Wahl.
Minna kommt mit vom Rennen geröteten Wangen in mein Haus geschossen. Es scheint, als wäre sie noch ein Stück gewachsen. Sie ist fünfzehn Jahre alt, sieht jedoch aus, als wäre sie kaum jünger als ich. Alles an ihrem Körper weist darauf hin, dass sie kein kleines Kind mehr ist. Das lange, wallende Haar. Die üppigen Kurven. Ihre weichen Gesichtszüge.
»Du gehst in die Stadt? Darf ich mit?«, fragt sie.
Ich mustere sie einen kurzen Moment. Eng anliegendes Kleid, weiter Ausschnitt. Einfache Schuhe, ohne feste Sohlen. Sie muss noch viel von mir lernen.
»So laufe ich mit dir nicht durch den Wald. Und überhaupt: Erinnerst du dich noch an das letzte Mal, als wir gemeinsam in der Stadt waren? Da wolltest du nur was trinken, und bereits nach fünf Minuten wurden wir von einem Haufen Tauren bedroht.«
Ich nehme mir ein paar Geldscheine aus der Dose und schiebe sie in meine Hosentasche. Minna fixiert mich schweigend. Scheint darauf zu warten, dass ich von allein einlenke.
»Was willst du denn dort?«, frage ich.
»Heißt das ja? Also, dass ich mitdarf?«
»Ich habe lediglich gefragt, was du dort willst.«
»Könnte sein, dass Titus später noch …«, nuschelt sie.
»Titus?«, platzt es aus mir heraus. »Habe ich gerade richtig gehört? Hast du nicht gesehen, wie er sich beim Frühstück aufgeführt hat?«
»Ihn nimmt das alles auch sehr mit …«, verteidigt Minna ihn.
»O der Arme! Weißt du, was mich mitnimmt? Seine Dummheit! Wenn du wegen diesem Kerl in die Stadt willst, dann lautet die Antwort ganz klar: nein!«
So, wie Minna die Lippen zu einem dünnen Strich zusammenpresst und mich mit den Augen böse anfunkelt, kann ich deutlich in ihrem Gesicht sehen, dass sie vor Wut kocht. Aber das ist mir egal.
»Das Thema ist damit beendet«, sage ich und lasse sie alleine in meinem Haus zurück.
Der Boden unserer Siedlung weicht mehr und mehr auf. Jeder Schritt mit meinen Lederstiefeln verursacht dieses glucksende und schmatzende Geräusch, über das Flora immer so lacht. Zumindest früher gelacht hat. Vielleicht haben wir Glück, und die Sonne lässt sich morgen wieder blicken. Wenn nicht, dann muss ich mir irgendetwas einfallen lassen, damit unsere Wiesen sich nicht in ein Moor verwandeln.
Die Stadt ist hässlich wie immer. Graue Fassaden. Eintönige Häuserblocks. Vor dem Kapitän Hook sitzt keine Menschenseele.
Alles, was ich will, ist Dachpappe besorgen und dann so schnell wie möglich wieder von hier verschwinden. Ich laufe an einem Schaufenster vorbei, in dem für »Glückspillen« geworben wird. Einen kurzen Moment lang bleibe ich stehen, um das Plakat zu betrachten. Darauf sind zwei Menschen zu sehen, die lachen und sich umarmen. Plastikmenschen, wie ich sie insgeheim nenne, weil kaum mehr etwas an ihnen echt ist. Im Hintergrund scheint die Sonne, und untendrunter steht groß geschrieben: Wollen Sie dieses Glück auch spüren?
Keine Pille der Welt kann wirkliches Glück erschaffen. Begreifen das die Menschen denn nicht? Gleichzeitig kann ich meinen Blick kaum von dem Paar auf dem Plakat lösen. Ich frage mich, wann ich das letzte Mal glücklich gewesen bin. Gelacht habe. Alles um mich herum vergessen habe.
Mit ihm. Mit ihm war ich glücklich.
Mit ihm habe ich alle Qualen wenigstens für einige Augenblicke vergessen können. Mit ihm war ich frei.
Emilian.
Ich atme tief durch und setze meinen Weg fort. So schnell wie möglich bringe ich es hinter mich, die Dachpappe in einem kleinen Laden zu kaufen. Ich will nur weg von hier. Als ich auf dem Rückweg wieder an all den Hochhäusern und tristen Häuserfassaden vorbeilaufe, blicke ich bewusst zu Boden. Setze einen Fuß vor den anderen.
Aber ich spüre, dass etwas anders ist.
Gänsehaut überzieht meine Arme. Mein Herz schlägt wie verrückt. Ich kann kaum mehr atmen. Der Blick einer fremden Person brennt sich in meine Haut.
Als ich aufschaue, sehe ich Emilian. Er sitzt vor dem Kapitän Hook. Seine Freunde um ihn herumgeschart wie ein Rudel Wölfe. Er sieht mich einfach nur an. Alles in mir verlangt danach, auf ihn zuzustürmen und mich in seine Arme zu werfen. In seiner Umarmung zu weinen. Seine Nähe zu spüren. Seine Stimme zu hören. Seine Stimme, die sagt, dass bald alles wieder gut sein wird.
Seine Freunde fixieren mich wie Wölfe die Beute. Spitzgesicht, unverkennbar mit seinem blondgefärbten, etwas längeren Haar und den vielen Lederarmbändern am Handgelenk. Fares heißt er eigentlich, wenn ich mich richtig erinnere. Die anderen beiden kenne ich nicht. Breite Schultern. Muskulöse Arme. Ebenfalls eindeutig Tauren.
»Da ist ja die Schlampe, die Korfus auf dem Gewissen hat!«, ruft Fares.
Er springt von seinem Platz auf. Sein Gesicht ist hassverzerrt, seine Hände sind zu Fäusten geballt. Bereit, ein unbedeutendes Leben wie meines auszulöschen. Natürlich, Korfus war sein bester Freund.
Ich gehe einfach weiter, tue so, als sei mir diese Begegnung gleichgültig. Emilian zieht Fares am Ärmel seines Shirts zurück auf seinen Platz. Fares hält ein paar Sekunden dagegen, gibt dann jedoch nach.
Ich suche in Emilians Blick etwas Warmes. Vertrautes. Nichts. Sein Gesicht ist eine kalte Maske. Wie früher, als ich ihn noch nicht richtig kannte. Er senkt seinen Kopf, greift nach dem Glas Bier, das vor ihm steht. In einem Zug leert er es aus. Tut so, als sei die Tafel mit dem Mittagsmenü neben der Eingangstür des Kapitän Hook das Interessanteste, was er je gesehen hat.
Meine Füße tragen mich weiter. Schritt für Schritt. Fort von Emilian. Auch ich senke meinen Blick, starre auf den grauen Asphalt. Hoffe, dass ich endlich den Wald erreiche und darin verschwinden kann. Ich bin leer. So leer, als hätte ich kein Herz mehr, das mich mit jedem Schlag am Leben hält. Es schmerzt, dass Emilian so tut, als würde uns nichts verbinden, und gleichzeitig weiß ich, dass es so sein muss.
Ich erreiche den Wald. Bevor ich im Schutz der Tannen und Büsche verschwinde, drehe ich mich noch einmal um. Ich kann nichts dagegen tun, es passiert wie selbstverständlich – ich kann nicht gehen, ohne von Emilian wenigstens einen winzigen Funken Zuneigung zu spüren. Doch er ist nicht mehr da. Auch seine Freunde sind weg. Wie sehr ich mich nach seiner Umarmung sehne, nach dem wärmenden Blick aus seinen grünen Augen. Nur ein winziger Moment würde genügen …
Aber diesen Moment gibt es für uns nicht. Emilian und ich dürfen nicht zusammen sein. Wir dürfen nicht miteinander reden, geschweige denn diese Art von Blicken austauschen. Denn dann würde Birkaras wissen, dass wir immer noch Gefühle füreinander haben. Dass Emilian auf der Seite der Leonen steht und nicht auf der seines Stammes. Wenn Birkaras wüsste, dass Emilian nie vorhatte, uns Leonen in der Huldigungsnacht den Tauren auszuliefern, dann würde er ihn sofort töten.
Schnell tauche ich im Wald unter. Ich ziehe meine Schuhe aus, um das Leben in den Wurzeln und Blättern zu fühlen. Etwas, das mir seit Tagen fehlt. Das Erste, was ich spüre, ist, dass bald wieder Regen kommen wird. Doch ich nehme weniger wahr als früher. Früher, als ich noch nicht mit Gedankenkraft töten konnte. So, wie ein Luftballon sich langsam von der Erde entfernt und in den Himmel davonschwebt, verliere auch ich womöglich meine Verbundenheit zur Natur, die uns Leonen auszeichnet. Ich schließe die Augen. Atme tief ein.
Genau jetzt wird es anfangen zu regnen. Und schon prasseln die Tropfen auf meinen Kopf. Trotzdem laufe ich nicht schneller, sondern setze jeden Schritt mit Bedacht. Ich genieße den Regen, spüre, wie die Energie der Erde durch meinen Körper fließt und in jede einzelne meiner Zellen eindringt. Stunden könnte ich so weiterlaufen.
Jeder einzelne Tropfen trägt Emilians Energie zu mir, als wäre er hier irgendwo. Dabei geht er mit seinen Freunden vermutlich gerade zurück in die taurische Siedlung und ist vielleicht sogar gezwungen zu sagen, wie sehr er mich verachtet.
Allein diese Vorstellung lässt mein Herz bluten. Seine Energie ist so deutlich, so präsent, als würden uns nur ein paar Schritte trennen. Ich beginne zu frieren, als ein kalter Wind meinen Nacken streift, und stelle mir vor, dass es Emilians Atem ist. Ich vermisse ihn so sehr.
Ich schließe wieder die Augen, versuche, mir seinen Geruch vorzustellen. Im nächsten Moment meine ich ihn wirklich wahrzunehmen, diesen einzigartigen Duft von Stolz, Selbstsicherheit und Herzenswärme.
Ich verzehre mich vor Sehnsucht. Will einfach nur zu Boden sinken, als mich eine Hand von hinten packt.
Ich bin nicht imstande, meine Augen zu öffnen. Doch das muss ich auch nicht, um zu wissen, dass es Emilian ist, der mich gegen den Stamm einer Tanne drückt. Seine Berührung ist zart und drängend zugleich.
»Sieh mich an«, flüstert er.
Nur zaghaft öffne ich die Augen, aus Angst, dass es doch nur ein Traum ist, aus dem ich gleich erwache. Doch er ist es wirklich. So nah, dass ich seinen Atem spüren kann, wie ich es mir gerade eben noch gewünscht habe.
»Emilian«, hauche ich und will ihn in meine Arme ziehen, doch seine Hand liegt immer noch auf meinem Brustkorb und hält mich zurück. Meine Schuhe und die Dachpappe fallen zu Boden.
»Ich darf nicht hier sein, aber ich kann nicht anders«, sagt er und sieht dabei so traurig aus, dass ich ihm für seinen kühlen Blick vorhin nicht böse sein kann.
Da ist diese Verbindung zwischen uns, die ich mit niemandem sonst habe. Eine Nähe, die ich mir auch nur mit ihm wünsche.
Emilian nimmt meine Hand. »Wie geht es dir?«, fragt er. »Ich will nicht, dass …«
Er verstummt. Die Geräusche des Waldes kommen mir mit einem Mal viel zu laut vor. Alles ist so intensiv, dass ich mich nicht konzentrieren kann. Dabei bräuchte ich dringend einen klaren Kopf.
»Was willst du nicht?«, taste ich mich vor.
»Ich will nicht, dass du wegen mir unglücklich bist.« Sein Blick ist auf den Boden gerichtet, als würde er mit den Wurzeln der Tanne sprechen.
»Wie könntest du mich jemals unglücklich machen, Emilian?«
»Das habe ich doch schon. Alles wäre um so vieles einfacher, wenn ich nicht in deinem Leben aufgetaucht wäre.«
»Nein, das stimmt nicht. Emilian. Ich brauche dich …«
Er legt seinen Zeigefinger auf meinen Mund. Verhindert, dass ich ihm sagen kann, wie viel er mir bedeutet.
Ich weiß nicht, wie lange wir so im Regen stehen. Wie eine Ewigkeit fühlt es sich an. Keiner von uns wagt sich zu bewegen. Ich lehne den Kopf gegen den Stamm der Tanne. Emilians Finger löst sich von meinem Mund, wandert meinen Hals hinab und streicht mir federleicht über die Schulter. Seine Nähe ist alles, was ich brauche. Nur mit ihr kann ich vergessen, wie schlecht es mir eigentlich geht.
Ganz vorsichtig kommt er näher. Sein Körper schirmt mich ein wenig vor dem Regen ab. Zeit und Raum verschwimmen. Seine Finger gleiten meinen Hals wieder hinauf, tasten sich zu meinen Wangen vor. Meine Sinne sind so scharf wie nie. Seine Nasenspitze streicht über meine, seine Lippen sind nur ein winziges Stück von meinem Mund entfernt. Wie sehr ich mir wünsche, dass er mich küsst. Ein einziges Mal nur, damit ich die nächsten Tage überstehe.
»Emilian?«, ruft eine mir bekannte Stimme. Es ist Fares, der auf der Suche nach seinem Freund ist.
Viel zu schnell hat sich Emilian von mir gelöst. Mein Herz schlägt wie verrückt. Alles in mir verzehrt sich nach dem Kuss, der mir nicht vergönnt war. Doch Emilian schüttelt nur stumm den Kopf. Es tut mir so leid. Alles tut mir leid, sagen seine tiefgrünen Augen.
Dann ist er verschwunden. Und mit ihm mein Glück.
Etwa eine Stunde später erreiche ich unsere Siedlung. Meine Wildlederjacke ist durchweicht, die Schuhe in meiner Hand sind voller Wasser. Mein Zopf hat sich gelöst, die Haare kleben mir im Gesicht. Wenigstens hat der Regen inzwischen aufgehört.
Laurin ist als Einziger draußen. Er sitzt auf einem kleinen Holzhocker vor seinem Haus. Als er mich bemerkt, steht er auf und kommt mir entgegen. Er fragt nicht, wo ich gewesen bin oder was passiert ist, weshalb ich schon wieder so schmutzig nach Hause komme. Stattdessen legt er einfach nur einen Arm um meine Schultern, nimmt mir die Rolle mit der Dachpappe ab und führt mich wie selbstverständlich in sein Haus.
Aus den Augenwinkeln sehe ich Jendrik, wie er aus dem Waschhaus kommt und zu uns herübersieht. Diesmal bin ich zwar nicht blutverschmiert, sehe dafür jedoch aus, als wäre ich in ein Schlammloch gefallen. Jendrik sagt nichts. Er schaut einfach nur, senkt seinen Kopf und geht weiter.
Mit einem Handtuch trocknet Laurin mein Haar und zwingt mich, eine Hose und ein Hemd von ihm anzuziehen. Dann überredet er mich, ein paar Stunden zu schlafen, und verspricht mir, mich zum Abendessen zu wecken.
»Kannst du nach meiner Familie sehen? Wie es Marla geht und ob …«
Laurin legt einen Zeigefinger sanft auf meinen Mund. Er nickt, als sei das alles ganz selbstverständlich.