Paul Valéry
Ich grase meine Gehirnwiese ab
Paul Valéry und seine verborgenen Cahiers
Übersetzt von Hartmut Köhler, Jürgen Schmidt-Radefeldt, Bernhard Boeschenstein und Reinhard Huschke
FISCHER E-Books
Ausgewählt und mit einem Essay
von Thomas Stölzel
Auf der Grundlage der von Hartmut Köhler
und Jürgen Schmidt-Radefeldt besorgten
deutschen Ausgabe der Cahiers/Hefte in sechs Bänden
Weit über 300 Schulhefte füllte Paul Valéry über ein halbes Jahrhundert nahezu täglich mit Notizen, die später in 31 Rubriken unterteilt wurden, wie etwa Ego, Sprache, Gedächtnis, Zeit, Eros. Sie bilden zusammen die berühmten ›Cahiers‹. Minutiös erkundet der französische Philosoph und Literat alltägliche Bewusstseinsprozesse, von den Empfindungen, Wahrnehmungen, Wünschen und Träumen über die Willensbildung und den Handlungsvollzug bis zum sprachlichen Ausdruck.
Thomas Stölzel, der Herausgeber dieser erstmals in ›Die Andere Bibliothek‹ erschienenen Auswahl und Verfasser der begleitenden Texte, zeichnet in seinem Essay die intellektuelle Biographie Paul Valérys nach und vermittelt eine Vorstellung von den geistigen Konturen dieses Homme de Cahiers.
Covergestaltung: buxdesign, München
Coverabbildung: Getty Images
Erschienen bei FISCHER E-Book
Frankfurt am Main, Januar 2016
Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung des Aufbau Verlags GmbH & Co. KG, Berlin
›Ich grase meine Gehirnwiese ab. Paul Valéry und seine verborgenen Cahiers‹
Ausgewählt und mit einem Essay von Thomas Stölzel
Auf der Grundlage der von Hartmut Köhler und Jürgen Schmidt-Radefeldt besorgten deutschen Ausgabe der Cahiers/Hefte in sechs Bänden
© AB - Die andere Bibliothek GmbH & Co. KG, Berlin 2011
Die französiche Ausgabe der ›Cahiers‹ erschien 1973 und 1974 in der Bibliothèque de la Pléiade, Editions Gallimard, Paris
Deutsche Ausgabe in sechs Bänden:
© 1987–1993 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderrichstraße 114, D-60596 Frankfurt am Main
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403309-9
Einen wichtigen und nachwirkenden Einfluß stellen zweifellos Leonardo da Vincis Quaderni genannten Notizhefte dar, die Valéry als Zwanzigjähriger zufällig kennenlernte. Vermutlich hat es ihn für die Führung seiner Hefte angeregt, zu sehen, wie Leonardo die seinigen führte. Da stehen zumeist ohne Zusammenhang provisorische Notizen neben Berechnungen, Exzerpte neben Projektentwürfen, Gedanken, Formeln, Figuren, Fragen, Erkundungen durchmischt und angereichert mit Zeichnungen und Skizzen aller Art. – Die hier beigegebenen Anmerkungen verstehen sich nicht als wissenschaftliche Fußnoten, sondern als lesbare Ergänzungen zum Haupttext und folgen somit Valérys Digressionsverständnis, wie es z.B. in seinem zweiten Leonardo-Essay Anmerkung und Abschweifung (Note et Digression) offenbar wird.
»An Geburten ist das eines der reichsten Jahre, die wir je hatten«, weiß der launige Romanverführer Rolf Vollmann; und erklärt in seinem Buch über große und kleine Romane, daß es wohl ganz gut sei, einen zu haben, »der Romane nicht mag«: nämlich Valéry. In dem besagten, an berühmten Autoren geburtenreichen Jahr sind außer Valéry u.a. noch Heinrich Mann, Marcel Proust, Theodore Dreiser, Grazia Deledda und Stephen Crane auf die Welt gekommen. Vollmann läßt in seinem Buch den Nicht-Romancier Valéry durchaus auftreten, zeichnet in raschen Strichen Teile von dessen Vita nach, lobt die Cahiers und zitiert schmunzelnd daraus (vornehmlich Valérys Kritik an der Romanliteratur), schätzt den Essayisten, wertschätzt überhaupt seine Schreibweise: »Valéry schreibt einen wunderbar leichten Stil, sachlich, kühl und zugleich fast melodisch elegant.« – In Valérys Geburts- wie auch in seinem Sterbejahr widerspiegeln sich übrigens bestimmte (fatale) Entwicklungen der deutsch-französischen Geschichte.
In seinen Cahiers wird er später dann über Strukturformen von Einflüssen reflektieren. Da heißt es zum Beispiel: Die für mich wichtigsten Männer sind jene, deren innere Operationen mir vorzustellen mich über die Maßen gefangen nimmt. Nur ihnen messe ich Bedeutung bei. Zu den für ihn wichtigsten Männern zählten u.a.: Leonardo da Vinci, René Descartes, Edgar Allan Poe, Stéphane Mallarmé, Henri Poincaré und Albert Einstein.
Der Valéry-Forscher Karl Alfred Blüher, der Valérys autobiographische Notizen näher untersuchte, hat dieser Zuspitzung mit Recht widersprochen; der Begriff ›fragmentarisches Autoportrait‹, der hierbei Verwendung findet, charakterisiert Valérys Manier, direkt über sich zu schreiben, ziemlich treffend, wie der Leser im zweiten Kapitel der Auswahl sehen kann.
Es gibt wohl Indizien, die dafür sprechen, daß an dieser Krise auch eine unerfüllte Liebesbeziehung mitbeteiligt war, welche in diesem Lebensalter ja nicht selten als besonders krisenhaft erlebt bzw. auf die entsprechend rigoros reagiert wird.
Von einer »inneren Verwandtschaft« zwischen Valéry und Descartes aufgrund »einer persönlichen Krise, die beide auf ihren Weg brachte, den sie zeitlebens einhielten«, geht der Philosoph Karl Löwith aus. Beide scheinen im jungen Alter von 19 bzw. 23 Jahren eine Art intellektueller Erleuchtung erfahren zu haben, aus denen sie, bei allen Unterschieden, auch ähnliche Konsequenzen zogen. Und so spricht Valéry wohl auch über sich, wenn er in seinen Essays über Descartes, von dessen Entschlüssen und philosophischen Haltungen folgende hervorhebt: sich selbst als Instanz für Gültigkeit in Sachen Erkenntnis setzen […] das Für-nichtig-Erklären aller überkommener Lehre […] den fundamentalen Glauben an sich selbst und das Vertrauen in sich selbst, notwendige Bedingungen für die Zerstörung des Vertrauens auf die Autorität der überlieferten Lehren und des Glaubens an sie […] das scharfe Bewußtsein der Operationen seines Denkens […] mit der Wirkung, daß er aus seinem Ich ein Instrument macht.
Von ähnlicher Bedeutung wie Leonardo war und blieb für Valéry der große, hermetische Dichter Stéphane Mallarmé, der für den früh vaterlos Gewordenen (Valéry war sechzehn Jahre alt, als sein Vater starb) zu einer Art väterlicher Instanz in geistigen und ästhetischen Fragen wurde. Valéry hat hier die persönliche Beziehung gesucht und gefunden und an den berühmten ›Dienstag-Treffen‹ in der Rue de Rome teilgenommen. Der jähe und unerwartete Tod (Kehlkopfspasmus) Mallarmés im Jahre 1898 scheint Valéry nachhaltig verstört zu haben.
Ich habe den Discours de la Méthode wiedergelesen, schreibt Valéry 1894 an Gide. Und er fährt fort: so könnte der moderne Roman aussehen […] man sollte also das Leben einer Theorie schreiben, wie man allzuoft das einer Passion (Beischlaf) geschrieben hat. Der Valéry-Forscher Daniel Moutote spricht davon, daß die Introduction à la Méthode de Leonardo da Vinci so etwas wie Valérys Discours de la Méthode darstellt.
Bei Leonardo gerät der sonst eher reservierte und verstandesklare Valéry nachgerade ins Schwärmen. Für ihn ist dieser der begabteste Mensch, der je gelebt hat. […] Ich war von seinen Zeichnungen, seinen Handschriften wie geblendet, wie flüchtig ich sie auch studiert habe. Diese Tausende von Bemerkungen und Skizzen stellen für Valéry einen berückenden Funkenkosmos dar, der seinen Geist immer wieder entzündet hat. Vermutlich kann die Bedeutung Leonardos für Valéry nicht so leicht überschätzt werden.
Deren Vater war ein Chirurg, den »Proust in seinen Roman aufgenommen hat«, wie Rolf Vollmann weiß, der sich in derlei lebensliterarischen Querbezügen auskennt. Valéry scheint den Vater noch vor der Tochter kennengelernt zu haben, ahnte aber nicht, so Vollmann, »daß er später einmal mit dessen Tochter eine Liaison haben wird, wie soll er das auch ahnen, man sieht das ja den Vätern nicht an«. – Wer weiß?
Für Borges ist Valéry »ein Sinnbild unendlicher geistiger Finessen, aber auch unendlicher Skrupel […] Valéry personifiziert auf illustre Art die Labyrinthe des Geistes« und »steht für Europa und seine zartgetönte Dämmerung«. Diese Epitheta stehen in dem Epitaph Valéry als Symbol, den der argentinische Schriftsteller im Oktober 1945 in der berühmten Zeitschrift Sur veröffentlichte.
In dessen Tagebüchern, die an Länge und Lückenlosigkeit bislang wohl unübertroffen sind (sie umfassen mehr als siebzig Jahre), kommt Valéry häufig vor; sowohl aus eigener Anschauung (man kannte sich seit den 1920er Jahren) wie auch in Erinnerung und Bezugnahme. Die durchgehende Wertschätzung, ja Verbundenheit Greens zeigt sich auch in dem Umstand, daß er in den 1940er Jahren, während seines amerikanischen Exils, dort Vorlesungen über Valéry hielt.
In dessen Gedankenkladden Tangenten und Commentarii immer wieder Gedanken Valérys erscheinen. So notiert Doderer im August 1965: »Valéry sagt einmal, daß wir die Dummheiten, die wir denken, nicht achtlos vorbeihuschen lassen sollen. Sie seien, so meint er, viel unzweifelhafter von uns selbst, als unsere besten Werke. Hoc est verum!« Das ist ein fast moralistisch anmutender Gedanke.
Daß Valéry einen weniger egozentrischen Umgang mit seinen Kindern pflegte, als dies sonst bei ›bedeutenden‹ Männern nicht selten der Fall ist, wurde durch die Skizzen seines Sohnes François schon ein wenig deutlich. Seine Kinder, so haben dies seine deutschen Herausgeber beobachtet, sprachen mit Wärme und Respekt von ihrem Vater. Sie sind alle nach seinem Tod für ihn, genauer sein Werk, tätig geworden. Claude war an der großen Faksimile-Ausgabe der Cahiers beteiligt und gab seine Zustimmung zu späteren Editionen; er war in zweiter Ehe mit einer der bedeutendsten Valéry-Forscherinnen verheiratet. Agathe hat für die Pléiade-Ausgabe der Œuvres ihres Vaters eine ausführliche und detailreiche Chronologie beigesteuert und eine umfangreiche Bildbiographie über ihn zusammengestellt. François schrieb mehrere, an Hintergrundinformationen reiche biographische Skizzen über seinen Vater. In keiner Hervorbringung der Kinder tauchen die Frauen, insbesondere Catherine Pozzi, auf, die für das spätere persönliche wie intellektuelle Leben von Paul Valéry bedeutsam waren. Man darf vermuten, daß dies nicht zuletzt aus Loyalität ihrer Mutter gegenüber geschah.
Vollmann schreibt: »… es passiert nicht viel, gelegentlich sieht er Degas, kommt mit Pierre Louÿs und eben Gide zusammen, den er mit seiner Frau in Cuverville besucht […] 1904 schenkt Renoir seiner Frau ein Bild von ihr. 1905 schreibt er seinem Freund Léautaud, er arbeite wenig und lese nichts […] Er ist gut in Form und fährt auch Fahrrad. 1908 wirft ihm Degas den großen Fehler vor, alles begreifen zu wollen; im selben Jahr besucht er Monet in Giverny und macht Fahrradtouren zu umliegenden Kathedralen und er begeistert sich für das Photographieren. Viel mehr passiert nicht.«
Wenngleich er sich für die ausufernde Ordnungs- und Strukturierungsarbeit Unterstützung wünscht. Und so schreibt er in dieser Zeit an Pierre Féline: Ich habe die Abreise meiner Familie dazu genutzt, alle meine Papiere, Notizen, die sich seit über dreißig Jahren angehäuft haben, ihrem Schlaf zu entreißen. Wozu? – Zunächst einmal wird mir übel vor diesem Chaos von ›Ideen‹, das ich unbrauchbar finde, bevor ich’s auswerte. Ich brauche drei intelligente und unendlich geschickte Sklaven oder Eunuchen. Der eine müßte meine Papiere lesen, der andere sagen, ob ers begreift, der dritte müßte Stenotypist sein.
Die Literaturwissenschaftlerin Stephanie Bung hat in einer Studie den discours amoureux des Paares Valéry-Pozzi anregend untersucht und gezeigt, wie der poetisch-reflektierte Dialog in Valérys Cahiers und in Pozzis Journal aufscheint.
Harry Graf Kessler, dessen über Jahrzehnte geführtes Tagebuch einen riesigen Fundus an Hintergrund-Informationen der Zeit zwischen 1880 und 1940 bildet, notiert 1927 eine Begegnung mit dem berühmt gewordenen Valéry: »Sein Salon, in dem ich zuerst wartete, ist sehr ›vieille France‹, mit schönen alten Möbeln, die harmonisch ausgesucht sind u. einigen guten modernen Bildern. Valéry mit sorgfältig gescheiteltem silbergrauen Haar u. einem eleganten schwarzen Strassen Anzug mit der Rosette der Ehren Legion, paßt in diese Umgebung hinein wie ein alter Marquis. […] In Bezug auf seine Produktion sagte er: seit 5 Jahren arbeite er nicht mehr, was ihn interessiere, sondern nur noch was Andre ihm in Auftrag gäben. So habe er, der gar keine kritischen Fähigkeiten sich zutraute, nach u. nach eine ganze Geschichte der französischen Litteratur in lauter kleinen Vorreden geschrieben. Er sei noch auf Jahre hinaus mit solchen Aufträgen vollgestopft. Bis 1917 habe sich niemand um ihn gekümmert. Dann sei er plötzlich Mode geworden; und seitdem sei er nicht mehr sein eigener Herr. […] Alles in allem mein Eindruck: der von einem altfranzösischen grand seigneur, einem Sophisten und einem Händler in einem, ziemlich harmonisch gemischt und durch Geist und Bosheit gewürzt; lauter Form und Verstand als schillernde Kruste über einem schwer definierbaren, vielleicht absichtlich verschleiertem Abgrund von Unklarheit. Bei unseren deutschen Zelebritäten sind die Wolken meistens aussen drum herum, und der Kern ist manchmal erschütternd simpel; bei Valéry sind die Wolken drinnen, und die Umhüllung ist lauter Klarheit und Glanz. Der deutsche ›große Mann‹ gleicht einem kreisenden Berg, wenn auch nur eine Maus schließlich herausschlüpft, Valéry einer gleißenden Schlange, in deren Inneres hineinzusehen uns versagt ist.«
Man wechselte Briefe, sah sich gelegentlich (viel zu selten, wie Valéry nach Rilkes Tod bedauernd hervorhob). Eine Begegnung, die letzte, scheint für beide besonders eindrücklich gewesen zu sein; sie ist auch durch mehrere Photos dokumentiert. Der Literaturwissenschaftler und Rilke-Monograph Rüdiger Görner sieht das so: »Anthy bei Thonon-les-Bains am Südufer des Genfer Sees, am 13. September 1926: Rilke besucht, von Lausanne kommend, Valéry in dessen Feriendomizil. Das Erinnerungsphoto zeigt einen weltmännisch gelösten Rilke, stehend, einen noch gelösteren Valéry, sitzend, zwei sich ihres Wertes bewußte Dichter, zwischen ihnen Valérys Büste, ins Weite blickend. Ein unbedarfter Betrachter könnte den Eindruck gewinnen, der Herr zur Linken (Rilke) sei ein bildender Künstler, dem der Herr zur Rechten (Valéry) Modell gesessen habe. In einem gewissen Sinne traf dies sogar zu; denn Rilke übersetzte zu dieser Zeit Valérys Narcisse ins Deutsche.« Drei Monate später ist Rilke tot. Rilkes Einfühlungsvermögen in seine Gedichte wie das Eindrucksvolle von Rilkes Ausstrahlung hat Valéry in Erinnerungstexten an seinen ersten deutschen Übersetzer zur Sprache gebracht: Von den einzigartigen Menschen, die ich kannte, war Rilke für mich einer der verführerischsten und wohl der geheimnisvollste. Sofern das Wort zauberhaft noch einen Sinn hat, möchte ich sagen, daß seine ganze Erscheinung, die Stimme, der Blick, die Art sich zu geben, alles an ihm den Eindruck einer zauberhaften Gegenwart hervorrief. Fast bin ich geneigt zu sagen, daß er jedem seiner Worte Zauberkraft zu geben verstand.
Dabei zeigte er während der deutschen Okkupation durchaus Zivilcourage; so z.B. als er 1941 in der Académie française einen Nekrolog auf Henri Bergson hielt. Mit Bergson war Valéry seit Anfang der 1920er Jahre bekannt und in wechselseitiger kritischer Wertschätzung verbunden. Bergson war jüdischer Herkunft, so daß eine öffentliche Sympathiebekundung seitens der deutschen Okkupanten als Affront aufgefaßt werden konnte.
Wie bereits während des Ersten Weltkriegs. Agathe Valéry berichtet in der Chronologie über ihren Vater, wie dieser im Januar 1918 eine Bombe im nachbarlichen Garten explodieren sah. Er brachte daraufhin seine für ihn unverzichtbaren Hefte an einen sichereren Ort, als es die Kapitale war. Agathe Valéry erwähnt in ihrer Chronologie auch den Umstand, daß »le premier mot prononcé« des Kindes Valéry »le mot clef« gewesen sei. Zu einem unbedingt zu schützenden Schlüssel zu seinem Denken waren für ihn seine Cahiers geworden.
Valéry war (dies zeigt der in dieser Hinsicht sehr offen geführte Briefwechsel mit Gide) häufig krank oder zumindest angeschlagen; er hatte vor allem mit Magen- und Atemwegsproblemen sowie neurasthenischen Beschwerden zu kämpfen. Sein Sohn Claude erklärt: »Wenige Dinge sind für mich so eng mit der physischen Erinnerung an meinen Vater verbunden wie sein Husten. Er hustete viel und sehr häufig, und bekam Hustenanfälle, die gar nicht enden wollten. […] Wenn er hustete, hörte es sich […] wie Keuchhusten an, wie eine Art Hahnenschrei.« Der Lungen- und Atemwegsspezialist François-Bernard Michel zeichnet anhand des Werkes ein psychosomatisches Profil von Paul Valéry. Sein Tod im 74. Lebensjahr scheint auch eine Folge eines starken Nikotin- und Coffein-Abusus gewesen zu sein.
Cioran gehört zu den wenigen Autoren von Rang, die sich nicht scheuten, Valéry scharf anzugreifen, wenn er eines seiner Idole, Pascal, von Valéry ungehörig angegangen und die Absolutheit von dessen Methodenanspruch als übertrieben empfand.
Da gibt es eine Parallele zu Winston Churchill. Auch dieser ist mit einem Staatsbegräbnis geehrt worden. Auf eigenen Wunsch hin wurde er jedoch nicht in Westminster Abbey oder in der St. Paul’s Cathedral beigesetzt. Matrosen trugen seinen Sarg zur Themse hinunter, und von dort ging es mit einer Barke flußaufwärts ins Land hinaus zu dem Dorf Bladon in Oxfordshire. »Er liegt auf einem obskuren englischen Dorffriedhof nahe bei seinem Vater«, wie sein Biograph Sebastian Haffner weiß. Hat man es (ob Franzose oder nicht) in Frankreich zu etwas gebracht, dann stirbt man in Paris. Il est monté à Paris lautet da ein einschlägiges Sprichwort. Nun, dies war Valéry offenkundig gelungen (auch wenn er es so gar nicht angestrebt hatte). Er konnte also wieder ›absteigen‹; nur daß er sich dafür einen weit eindrücklicheren Ort wählte als Churchill.
Eine poetische Spiegelung und Bezugnahme eigener Art dieses Gedicht gewordenen Friedhofs bildet Ernst Meisters Gedicht In Sète. Meister, der sich, wie er seinem akademischen Lehrer Karl Löwith schrieb, als »ein poeta« verstand, »der philosophiert« (und sich dadurch einem Dichter-Denker wie Valéry wesensverwandt fühlte), suchte den berühmt gewordenen Friedhof und Valérys Grab mehrfach auf. Seine lyrische Inauguration von Le cimetière marin stellt eine besonders intensive Verdichtung der Themen des Ausgangsgedichts dar. Das lyrische Ich Meisters ›durchlebt‹ in hochkondensierter Form ›Erfahrungen‹ von Valérys lyrischem Ich.
Ulrike Heetfeld ist in ihrer Untersuchung zu einem philosophischen Experiment Valérys Theoriebildungen zu seinem Begriff eines Moi pur als eines anregenden Erkenntnismodells des menschlichen Geistes genauer nachgegangen.
Innerhalb derer Valéry als Anreger wirkt; doch nicht nur darin. Im ersten, dem Denken gewidmeten Band ihres Spätwerks Vom Leben des Geistes nimmt Hannah Arendt immer wieder auf Valéry Bezug. Vor allem, wenn sie zum Abschluß ihrer Überlegungen der Frage nachgeht: »Wo sind wir, wenn wir denken?« – Da wird Valérys Maxime Tantôt je pense et tantôt je suis für sie zu einer Metapher des Nirgendwo.
»In den Cahiers« – erklärt Jean Starobinski – »spannt ein isoliertes Bewußtsein im Zustand äußerster Wachsamkeit sich an, alle Bewußtseinszustände zu beherrschen und zu analysieren […] Was Husserl Epochè, phänomenologische Reduktion nennt, vollzieht Valéry auf seine Weise – der Verweis auf Descartes ist beiden Autoren gemeinsam. In manchen Aufzeichnungen kündigt sich eine Analyse ›intentionaler Akte‹, ›Felder‹ und ›Horizonte‹ des Bewußtseins an.« – Zeitgleich mit Valéry hat (jenseits des Rheins) der etwas ältere Edmund Husserl mit ähnlicher Intensität und Ausdauer (dabei ebenfalls Berge von Notizen aufhäufend) seinerseits an der Erkundung des menschlichen Bewußtseins gearbeitet; woraus dann die philosophisch sehr einflußreiche transzendentale Phänomenologie hervorgegangen ist. Valéry hat in seinen Cahiers auch wichtige Einsichten eines berühmten Fortsetzers husserlscher Konzeptionen vorweggenommen. Gemeint ist Jean-Paul Sartre und dessen phänomenologische Analyse des Blicks.
In der Philosophischen Praxis geht es darum, die in jedem Menschen vorhandenen individuellen philosophischen Fähigkeiten und Kompetenzen aufzuspüren, zu stärken und für das eigene Leben nutzbar zu machen. Das bedeutet auch, eine Form der Klarheit über sich selbst zu gewinnen, wie sie Valéry (auf seine Art) vor allem während seiner Cahiers-Meditationen zu erreichen versuchte. Die Philosophische Praxis, die seit dreißig Jahren hierzulande praktiziert wird und auch weltweit Anwendung findet, knüpft dabei an antike Konzeptionen und Übungen praktischen, unmittelbar lebensdienlichen Philosophierens (Lebenskunst, Selbstsorge) an. Sie ist als eine Form »existentieller Kommunikation« (Karl Jaspers) vor allem dialogisch ausgerichtet; was natürlich auch den Dialog mit sich selbst einschließt. Es ist auch ein Ziel der nachfolgenden Cahiers-Auswahl zu zeigen, wie gut seine Beobachtungen und Reflexionen für eine praktische philosophische Arbeit genutzt werden können.
Zu einer der konsequentesten Leserinnen dieser unvergleichlichen Ausgabe gehört Edmée de La Rochefoucauld, eine alte Freundin Valérys; sie hat ihre Lektürenotizen aller 29 Cahiers-Bände in drei Büchern En lisant les Cahiers de Paul Valêry (1964 bis 1967) veröffentlicht.
Einer der prominenten Vertreter dieser Denkrichtung – Ernst von Glasersfeld – gibt zu erkennen, daß Valéry einen relevanten Einfluß auf seine Theoriebildung genommen hat.
Von der Heimito von Doderer in seinem Repertorium, einem Begreifbuch von höheren und niederen Lebens-Sachen sagt: »Nur angesichts des Selbstverständlichen kann unser Staunen unendlich bleiben. Dem Besonderen gegenüber staunt man doch einmal zu Ende, ja, man gewöhnt sich schließlich daran.« Demjenigen gegenüber, was für jeden das Unmittelbare und Naheliegende ist, bleibt Valéry (nicht zuletzt durch seine antisystematische Schreibweise) offen und staunend. Die besonders erkenntnisträchtige Haltung des Staunens mutiert für ihn sogar zu einer neuen Form des Cogito. In den Cahiers notiert er: Du erstaunst mich, also bist du.
So fragt der platonische Sokrates seinen jungen, ins aktive politische Leben drängenden Gesprächspartner Alkibiades, ob er sich denn ausreichend um sich selbst gekümmert habe, da er sich um das Wohl der anderen kümmern wolle – was die Frage mit einschließt, über welches Selbstwissen Alkibiades verfügt, wie nahe er sich bereits gekommen ist. – An dieser Stelle darf vielleicht erwähnt werden, daß einige von Valérys philosophischen Dialogen einen (freilich valérysierten) Sokrates zur Hauptperson haben.
Dem Thema Aufmerksamkeit (attention) ist innerhalb der französischen wie der deutschen Cahiers-Ausgaben eine eigene Rubrik gewidmet worden.
Seine Einsichten über die besonderen Beziehungen und Interaktionsformen zwischen Ich und mir, seine These, daß das ›Individuum Dialog ist‹, haben Forschungsergebnisse der sog. Ich-Psychologie, der Ego-State-Therapy und anderer Erforscher der ›Funktionsweisen‹ menschlicher Innenwelten antizipiert.
Gemäß eines Diktums von Seneca: »Eigne dich dir an, lerne dich zu erwerben.«
Diese Handlungsoption wollte er in einem Traktat über die, wie er es nannte dressage de l’esprit, näher untersuchen. Zu den bevorzugten Lektüren (bons livres) des Weniglesers gehörten, wie Judith Robinson-Valéry überliefert, auch Bücher, die sich dem Training von Pferden widmeten.
Das reflektierende Erleben dieser besonderen Tageszeit – einer Form von ›anfänglichem Denken‹ – hat Valéry auch immer wieder zum Gegenstand dichterischer Evokationen gemacht. Da erscheint das Besondere des morgendlichen Daseinsgenusses in lyrischer Gestalt in dem Gedicht Aurore; oder, anders gewendet, in dem Dialog Inneres Zwiegespräch oder innerhalb der Cahiers in den sog. Petits poèmes abstraits. Das Erwachen des Bewußtseins und die geistige Aktivität verschiedener ›Iche‹, die sich im Zusammenspiel allmählich zu alter-neuer Form rekonstruieren, ist und bleibt – genauer betrachtet – ja durchaus rätselhaft.
Axel Wrede hat in seinem Aufsatz Paul Valéry und die systemische Therapie: Transformation von Sprache und Wirklichkeit lange bereits vorgedacht nachvollziehbar aufgezeigt, wie viele zentrale Positionen, Prämissen und Denkmodelle für ein »systemisch-kybernetisch-radikalkonstruktivistisches Verständnis menschlichen Verhaltens« in den Cahiers zu finden sind und welche geistigen Verwandtschaften zu den Konzeptionen von Gregory Bateson, »sicherlich ein ähnlich genialer und universeller Denker wie Valéry«, Humberto Maturana, Francisco Varela, Heinz von Foerster und Ernst von Glasersfeld dabei ausgemacht werden können.
Es geht – wie Werner Kraft in seinem Essay Paul Valéry und der Gedanke sagt – darum, »die eigentlichen Gedanken zu denken, die den auf Grund von Tradition denkenden Berufsdenkern nicht zukommen. Diese Gedanken sind […] Gedanken über das Denken selber.«
Manuskript, gefunden in einem Gehirn lautet ein Text Valérys, der im Titel auch an Edgar Allan Poes Manuscript found in a bottle anspielt. Poes analytische Kompositionstheorien für die Hervorbringung poetischer Werke haben vor allem den jungen Valéry nachhaltig beeindruckt und beeinflußt.
Die beiden Herausgeber gehören hierzulande zu den besten Valéry-Kennern; sie haben wichtige Themen und Aspekte seiner schriftstellerischen und denkerischen Eigenart erforscht. Vgl. hierzu u.a.: Hartmut Köhler: Paul Valéry. Dichtung und Erkenntnis. Das lyrische Werk im Lichte seiner Tagebücher, Bonn 1976 (frz. Übersetzung Paris 1985); Jürgen Schmidt-Radefeldt: Die Aporien Zenons bei Paul Valéry, in: Romanische Forschungen (1971), ders.: Kybernetische Denkansätze bei Paul Valéry, in: Poetica 14 (1982), ders.: Paul Valéry als Sprachdenker, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie, Heft 1 (1995).
In der Begründung der Jury heißt es: »Mit der Übertragung der ›Cahiers‹ von Paul Valéry, des großen Vermächtnisses eines universellen Denkers, das höchste Anforderungen an die Übersetzerinnen und Übersetzer stellt, wird die herausragende Leistung einer Gruppe von engagierten Übersetzern und Herausgebern ausgezeichnet, die in langdauernder Zusammenarbeit einen Beitrag zur Auseinandersetzung mit Erkenntnistheorie und Bewußtseinsanalyse, mit Philosophie und Sprachkritik im Bereich der deutschen Sprache geleistet haben.« Die Herausgeber Köhler und Schmidt-Radefeldt haben ihre Dankesrede als heiter-ironischen Dialog, als ein »Duett für ein Ich und ein Ich« gestaltet und so von den Herausforderungen dieses Gedankentransfers berichtet. Dies. in: Der Deutsche Literaturfonds e.V., Darmstadt 1991. Celan ist übrigens selbst als Übersetzer Valérys in Erscheinung getreten. Seine Verdeutschung des großen parabolischen Erzählgedichtes La jeune Parque (Die junge Parze) erschien 1964.
Seit 1987 wird in Frankreich eine Edition intégrale herausgebracht, welche zunächst auf den Cahiers-Zeitraum der Jahre 1894 bis 1914 beschränkt ist. Diese kritische Edition mit ausführlichem Anmerkungsapparat und aufwendiger textgenetischer Buchgestaltung ist bislang der umfangreichste und genaueste Versuch, die Valéryschen Denk- und Schreibprozesse wiederzugeben. Die Cahiers von Paul Valéry bilden somit ein Werk, von dem es bislang nur unterschiedlich umfangreiche Auswahlausgaben gibt.
Vgl. hierzu Liste des sigles principaux bei Judith Robinson-Valéry, in: Paul Valéry, Cahiers Tome I, Paris 1973, XLI und XLII und die entsprechenden Anmerkungen in Paul Valéry, Cahiers/Hefte 1, hg. Hartmut Köhler und Jürgen Schmidt-Radefeldt, Frankfurt a.M. 1987, S. 16ff.
Einen Sonderstatus behält natürlich die 29bändige faksimilierte Ausgabe; diese für kurz oder lang in die Hand zu nehmen, sei jedem empfohlen, der das Eigentümliche dieses Unternehmens genauer erfassen möchte.
Ihm, der mich vor bald zwanzig Jahren auf seine Weise in die Valéry-Welt mit hineingenommen hat, ist diese Ausgabe gewidmet.
Um dieses Unternehmen zu verstehen,
müßt ihr alle literatische Gewohnheit abstreifen –
selbst die schlichte Logik – jede Seite –
da fängt etwas an, das mit der vorhergehenden
nur durch das Ziel verbunden ist –
Und es ist dennoch ein einziger durchgehender Satz …
Valérys Frage nach dem Potential des Menschen brachte ihn immer wieder in Kontakt mit anthropologischen Beobachtungen und Reflexionen, wie sie vornehmlich die sogenannten Moralisten gemacht und nuanciert haben. Ein Moralist ist nach französischer Definition ein Mensch, der über das tatsächliche Verhalten seiner Mitmenschen schreibt; was beinahe in direktem Widerspruch zu der deutschen Begriffsverwendung im Sinne eines ›moralinsauren‹ Sittenpredigers steht. Bei den Moralisten handelt es sich um verschiedene, vor allem in Frankreich bekannt gewordene Schriftsteller-Philosophen, denen es in ihrer science de l’homme darum ging, den Menschen mit möglichst all seinen Ab- und Hintergründen zu erfassen und darzustellen – statt das Fehlen einer bestimmten, idealbildhaften Moral zu beklagen. Valérys Beobachtungsintention und seiner Menschenanalyse ist der Gestus des konstruktiven und dabei stilbildenden Desillusionierens ebenso eigen wie die literarischen Formen, deren er sich dabei bedient: Aphorismus, Maxime, Fragment, Reflexion, Dialog und Essay. Diese bilden die ›offene‹ Basis einer literarischen Menschenbetrachtung, wie sie seit Montaigne und La Rochefoucauld unternommen worden ist. Und dies sind auch die Gattungen, in denen sich Valéry – von der Lyrik abgesehen – in seinem zu Lebzeiten erschienenen ›offiziellen‹ Werk vornehmlich ausgedrückt hat. In seinen verborgenen Cahiers mit ihrer absichtlich fragmentarisch gehaltenen Gestalt praktizierte er noch stärker verschiedene Verkürzungs- und Pointierungsstile, um in fortwährender, skeptischer Umkreisung seines Gegenstandes – dem geistigen Vermögen des Menschen – diesem auf die Spur zu kommen.
… mein philosophisch-literarisches Ziel war es, die verschiedenen Ordnungen, welche die Komplexität des Menschen ausmachen, in Aktion zu zeigen, und zwar gleichzeitig –, Ordnungen, die sich gegenseitig fordern und fördern und die gleichsam die Grundbestimmung des Denkens bilden, seine Elastizität.
Was man versuchen muß zu begreifen, ist die Gesamtfunktionsweise des Menschen.
Der Mensch sieht, hört, berührt nur sich selbst. Die Physik ist bloß anthropomorph.
Wie ich das Lebewesen sehe? – Ich abstrahiere von seiner Entscheidung. Ich sehe weder Pferd noch Mensch – Sondern seltsame Darstellungen davon.
Diese Graphiken notieren »Funktionen«. Ich betrachte das Lebewesen als System von Funktionen – mehr oder weniger unabhängigen Funktionen – jede mit ihrem monotonen Zyklus. Die einen intermittierend, die anderen ununterbrochen. Ihre Resonanzen und Interferenzen. Wie sie sich kombinieren, behindern, erregen, bekämpfen, stützen, fortsetzen, ersetzen, verstärken, zerstören – unterschiedliche Geschwindigkeiten. Wie läßt sich diese Komplexität überschauen? Wie zum Beispiel auf diesem Ozean von sich kreuzenden Reizen und Reizbeantwortungen – einem Interesse, einem festen Vorhaben Dauer verleihen, wo sich doch eine natürliche Erneuerung in ganz bestimmter Richtung vollzieht – ein dominantes Austauschgesetz –
Die Wissenschaft vom menschlichen Wesen gäbe es nicht, wenn man es in seiner ganzen Komplexität ernst nähme. Doch der Mensch selbst sieht sich nur in und durch Vereinfachungen.
Ein Mensch ist komplizierter – unendlich komplizierter – als sein Denken.
Man müßte wohl dahin kommen – unsere Philosophie auf diese Grundlage zu stellen – daß wir auf einer höllischen Komplikation von Elementen und Elementarvorgängen beruhen.
Ein Geist, der fähig wäre, die Kompliziertheit seines Gehirns zu begreifen, wäre also komplexer als das, was ihn zu dem macht, was er ist …
Der Mensch ist ein Versuch, eine extreme Spezialisierung mit einer extremen Anpassungsfähigkeit zu verbinden.
Die Bedingungen seiner Existenz und seiner Fortpflanzung sind sehr eng; doch es ist ihm vergönnt, sich nicht aufs Hinnehmen zu beschränken. Er ist fähig zu verändern – hervorzubringen, wessen er bedarf. Insofern ist er zur Arbeit verdammt. Seine defensive Anpassung wird ergänzt durch eine offensive Anpassung. Dies geht bis zur Erzeugung von Bedürfnissen selbst.
Wir sind ein hochkompliziertes Instrument, auf dem die Sinne spielen – die speziellen Sinne und die viszeralen Sinne – und die »Welt« spielt auf den Sinnen, die gesehene Welt, die verspeiste Welt, die geatmete, gerochene, gestoßene Welt oder die sichtbare, eßbare, riechende, widerständige, atembare Welt.
Es gibt auch die wiederkehrende Welt oder Gedächtnis.
Solange die Dinge eine Bedeutung und sogar eine Form haben, befinden wir uns im Anthropomorphismus.
Wenn
Der Mensch ist von Wenn umgeben. Wenn ich diese Vase hinunterwerfe, wird sie zerbrechen. Wenn ich diese Schublade öffne, werden Gegenstände erscheinen. – Wenn ich diese Seite anschaue, werde ich dort das und das Gedicht lesen.
Wenn, wenn und wenn …
Die Summe der WENN, oder vielmehr ihre Menge, ist eingegangen in den allgemeinen Akt des Wiederkennens seiner selbst, des Ortes, des Augenblicks; und wir begreifen den Augenblick nur über eine Menge von virtuellen Variationen oder eventuellen Transformationen der Sphäre der gegenwärtigen Gegebenheiten.
Für jeden Menschen gibt es ein Kriterium für verlorene Zeit. Jede Dauer, die nicht von einer funktionellen Errungenschaft geprägt und von dem Gefühl begleitet ist, im Innern eine Beute zu ergattern, und zwar kräftigende Nahrung und nicht nur Kostprobe für meine Neugier, ist für mich verlorene Zeit. Was gewisse Konsequenzen nach sich zieht.
Homo trachtet danach, alles Vermögen, das er in sich spürt, auch anzuwenden, wie man an den Kindern sieht, die alles anfassen.
Man denkt, die Dinge ziehen ihn an und er ist neugierig auf sie. Aber es ist eher so, daß die Fähigkeiten des Anfassens, Handhabens und Umänderns ihm keine Ruhe lassen und die Dinge dabei nur Vorwand sind. Das Vermögen arbeitet in ihm und erregt Handlungsbedürfnisse. Was sich an den geschlechtlichen Fragen beobachten läßt, insbesondere in der Pubertät. –
Man sieht es auch am Intellekt – der sich Probleme sucht, die er verschlingen kann – und der seine mathematischen oder anderen Appetitanfälle hat …
Das größte Vergnügen ist das Nahen des Vergnügens.
Zwischen unserem mentalen Funktionieren und uns gibt es keine Kommunikation. Das Innerste des Menschen sieht nicht menschlich aus.
Der Mensch ist nur an seiner Oberfläche Mensch. Blicke unter die Haut, seziere – schon beginnen die Maschinen. Dann verlierst du dich in einer unerklärlichen Substanz, die allem, wovon du weißt, fremd und doch die wesentliche ist.
Ebenso geht es mit deinem Verlangen, mit deinem Fühlen und Denken. Die Vertrautheit und die menschliche Erscheinung alles dessen schwinden bei näherer Prüfung. Und wenn man die Sprache abnimmt und unter diese Haut blickt, so bestürzt mich, was hier zutage tritt.
Das Alter des Warum
Die Kinder fragen Warum? – Also bringt man sie in die Schule, die sie von diesem Instinkt kuriert und Neugier durch Langeweile besiegt …
Die Macht des Menschen gründet in seinem Blick, in dem Winkel, der Bewegung, der Festigkeit, der Unabhängigkeit, die er sich in seinem Blick bewahrt hat.
Eine Erkenntnis, also ein Ensemble von Ideen und Beziehungen, das innerhalb des Machtbereichs des Geistes vom Rest abgetrennt bleibt, die eine abgeschlossene Domäne bildet, derart, daß man diese entleeren und ihren Inhalt außer Gebrauch setzen könnte, ohne irgendwelche Folgen für das allgemeine Funktionieren der »Responsivität«, – die also keinerlei Anteil an der allgemeinen Politik des geistigen Lebens hat – die dem Rest weder Beziehungen noch Ausdrücke eröffnet –, hat ihren maximalen Wert nicht erreicht; und der Mensch, der sie besitzt, ist arm, und hätte er gleich eine Bibliothek im Kopfe.
Kein philosophischer Irrtum ist so ungeheuerlich wie der, nur die Philosophen zu den Philosophen zu rechnen, während doch alle Menschen von einer gewissen Größe notwendigerweise ihre eigene Philosophie ausgebildet haben; und wenn sie sie nicht im technischen Sinne und in der technischen Sprache der anerkannten Philosophie ausgedrückt und verdeutlicht haben, dann lag das vielleicht daran, daß sie das Gefühl hatten, ihre Philosophie sei um so mehr philosophisch wahr, als sie nicht als solche deklariert war. Wahr, d.h. genutzt und angewandt – verifiziert.
Der Philosophiespezialist fängt nichts mit seiner Philosophie an: er ist unter allen derjenige, der am wenigsten von ihr Gebrauch macht.
An der Stelle jedes Menschen, mit denselben Materialien, sind mehrere »Personen« möglich. Bisweilen koexistieren sie, mehr oder minder gleich. – Bisweilen periodisch. Die einen immer gröber als die anderen – primitiver – ungeschickter. Bisweilen kommt eine kindliche mitten in einem Vierzigjährigen wieder zum Vorschein. Man glaubt, man sei derselbe. Es gibt keinen Selben.
Je weiter ich komme, desto mehr messe ich die Menschen an ihren Intentionen. Die allgemeine Absicht zeigt sie am besten – als Figuren der Welt – Nicht die Resultate – nicht einmal – – Sondern die Intention, ihr Öffnungswinkel, ihre Genauigkeit, der Punkt, von dem sie ausgeht, ihre Autorität, Unbeugsamkeit oder Geschmeidigkeit – ihre scheinbare Veränderung usw.
Stets wollte ich das Porträt eines Menschen schaffen. Doch nicht so wie die Romanschreiber.
Ein Maler ist stets genötigt, das Ohr anzubringen, Auge, Mund, Nase – Er hat vorgegebene Bedingungen. Für das geschriebene Porträt, das mir vorschwebt, müßte man zuerst die Bestandteile der Person, der Persönlichkeit, der mentalen Mechanik ermitteln, die Besonderheiten, anschließend sie an Ort und Stelle ausführen.
Ein Gedächtnis aufzeichnen können, eine allgemeine Sensibilität, eine Rasse oder Erbanlage, eine Vergangenheit, ein höchstes Ziel, eine Art des Agierens und Reagierens; die Grenzen, die Ressourcen, die Reserven; Scham und Scheu, Geheimnisse, Lücken, Phobien und Manien eines Individuums.
Und zunächst als Dinge, die bei allen Individuen vorkommen. Normalerweise übergehen die Schriftsteller gerade das Wesentliche, sind nur auf das Charakteristische aus.
Der innere Mensch, verwirrt und plötzlich seiner innewerdend, nicht mehr wissend, was er ist, statt dessen ein panisch unerträglicher Gedankenausstoß, ein irrendes Insekt auf trocken rieselnder Sandschräge –: so einer ruft sich zur Hilfe den von außen gesehenen Menschen. Der Tiefstinnere, gesichtslose, formlose, ruft nach dem Passanten, nach des Menschen greifbarer Geschlossenheit und Festigkeit. Und er fragt ihn: Was tun die Menschen in solcher Lage? Denn ich bin kein Mensch mehr. Ich erkenne die Grenzen nicht mehr zwischen meinen Gedanken und meinen Handlungen und meinen Dingen. Erinnere mich daran, daß ich umgrenzt bin und aufrecht wie du. Wenn ich bin wie du – so kann es nur ein Teil meines Ichs sein, was mir zusetzt und mich quält. Wirf mir das Bild meiner Ganzheit zurück.
Die Autorität, die ein Mensch dank bestimmter Momente von sich oder bestimmter Dinge erworben hat, überlebt diese Momente und verbleibt ihm, verleiht seinen Ansichten, Handlungen und Urteilen, selbst wenn sie noch so nichtig und oberflächlich sind, das Gewicht, das er zu anderen Zeiten mit seiner Person verbinden konnte. Er ist gleichsam der Erbe eines durch jemand anderen erworbenen Vermögens.
Sich selbst gefallen ist Stolz; dem anderen Eitelkeit.
Es gibt ihn nicht, den Menschen, der stark genug wäre, sich selbst so zu behandeln, wie er die anderen behandelt – sich selbst gegenüber so gleichgültig zu sein, so loyal, so mißtrauisch.
Ein wirklicher Mensch, ich, du – ist stets nur ein Fragment; wie immer sein Leben sein mag, es ist stets nur ein Probestück, ein Hinweis, ein Muster, ein Entwurf – mit einem Wort: etwas in seiner Gesamtheit Geringeres als das Wesen, das mittels dieses gegebenen Menschen möglich ist.
Ungeheuere Rolle, die in den menschlichen Beziehungen die zurückgehaltenen Worte spielen, die Eloquenz und die Präzision der verdrängten Dinge, der abgewiesenen Erwiderungen, Vorwürfe, Verurteilungsenergien …
Ein äußerstes Erkennen seiner selbst würde der Mensch nicht aushalten. Denn Was sein will und Was erkennen will vernichten sich gegenseitig.
Man kann noch so oft sagen: meine Verzweiflung ist nur … eine Verzweiflung. Sie ist aus den und den Teilen zusammengesetzt; sie hat ihr Rezept und ihre Verfahren; sie schwächt sich zu der und der Zeit ab – –
Ein Mensch fühlt sich dumm – verstört, nicht mehr präsent, geistlos, und er wird sich dessen bewußt. Wo ist denn der, der etwas taugt/taugte/, fragt er sich? – Er betrachtet seinen abhanden gekommenen Witz so, wie er seinen kranken oder müden Körper betrachten würde. Wo ist meine Kraft? Wo mein Mut? Wo sind meine Worte, meine gewohnten Einfälle? Geist und Kraft wären also geliehene Fähigkeiten, wie äußerliche Güter, Juwelen oder Waffen, die verlorengehen.
Sehr wichtig im Menschen ist der Affe, der ihm dazu dient, sich selbst nachzuäffen. Schließlich sind wir derjenige, den wir am häufigsten nachahmen – und wohl auch am besten.
Der Mensch: Vater und Sohn der Gedanken, die ihm kommen.
Ich wundere mich darüber, daß man nicht versucht hat, das Maximum unserer Erkenntnis festzulegen, das Eichmaß – des Wissens oder des Verstehens und Begreifens. In welchem Fall und unter welchen Bedingungen sind wir über irgendeinen Punkt vollständig befriedigt?
Das erste Lächeln des Kindes, etwa mit 2 Monaten, ist ein einfaches Aufgehen … welches eine unvorstellbare Organisation des Ausdrucks, selbst in statu nascendi, voraussetzt. Denn dies ist der erste Luxus des Menschenwesens – Es ist nicht mehr das Bedürfnis, welches weint und schreit – Es ist die Ouvertüre des unnützen Bedürfnisses, für etwas anderes als die Befriedigung eines Durstes zu kommunizieren – – – Von diesem Lächeln bis zu Herrn von Talleyrand.
Hauptfrage meiner Psychologie.
Was bewahrt sich durch alle Zustände? was erhält sich im Schlaf, im Traum, in der Trunkenheit, im Entsetzen, dem Liebestaumel? dem Irrsinn?
Was bleibt von Zustand zu Zustand erhalten?
Hängt ein Zustand von dem unmittelbar vorangehenden ab – oder von früheren Zuständen? – Wo hält sich der frühere Zustand auf, bevor er in der Gegenwart wirkt? Muß der frühere Zustand unbedingt wieder auftauchen oder kann er versunken bleiben?
Muß ich die Kontinuität mit Gewalt einführen und dazu vielleicht einen geschickteren Begriff entwickeln als das Unbewußte?
Man soll nur an das glauben, was man selbst erfunden hätte.
»Zufall oder Genie«
Was bei den einen als Zufall gilt, wird bei den anderen dem Genie zugeschrieben. Die ersteren sind bei weitem zahlreicher.
Genie: einer Person angetragener sehr günstiger Zufall. Es kann sein, daß die Arbeit des Geistes in ihren diversen Formen (Aufmerksamkeit, Neugier oder innere Unruhe) die Zahl der Spielrunden ungeheuer steigert, und damit auch die Gewinnchancen. Doch ebensosehr wie die Herstellung der Kombinationen ist bei dieser Sache das Auswählen von Bedeutung, das Empfinden für die Werte dessen, was der Kopf dem Bewußtsein und dem Augenblick hinwirft. Und hinzu kommt noch jene Fähigkeit, ohne welche das übrige nur ein Strohfeuer ist – nämlich das Vermögen, dem Augenblicksfund aufs rascheste eine nutzbare, ausbau- und übertragungsfähige Form zu geben. Es muß etwas da sein, womit man ihn fassen kann (und bisweilen erzeugt diese Fähigkeit, zu erfassen, aus schierem Betätigungsdrang den Fund sogar selbst).
Die größten Aktionen waren das Werk von Leuten, die im Grunde an nichts glaubten, es sei denn an die Leichtgläubigkeit derer, die sie führten.
Caesar, Friedrich, Napoleon.
Wie der Schatten dem Körper folgt, so folgt die Dummheit der Macht.
Es sind keineswegs die »Bösen«, die das größte Unheil in dieser Welt anrichten.
Es sind die Unbeholfenen und die Leichtgläubigen. Die Bösen wären machtlos ohne viele Gute.
Schaffung »künstlicher« Bedürfnisse. Der Mensch ist ein Tier, das sich nicht lediglich an Umstände anpaßt, sondern Umstände schafft, um das Vergnügen zu haben, sich an sie anzupassen – Er träumt im Wachen, und er träumt beim Handeln. Er kann gar nicht längere Zeit befriedigt sein. Das Natürliche ist seine Natur nicht. Wenigstens der westliche Mensch ist so. Dies rührt von einer Besonderheit seines Systems her – in welchem jede Antwort sich leicht in eine neue Frage verwandelt.
Die Zivilisation geht hervor aus der Zunahme der Anpassung, welche unaufhörlich annulliert wird durch die Zunahme der Anpassungsfunktion selbst, wie beim Vorgang des Koitus.
Die, denen es an Geist fehlt, an Vorstellungskraft, an Eindringlichkeit und Tiefe, brauchen Emotionen, Leidenschaften, Erhabenes und Katastrophen. Von der Scheingröße der Phänomene, ihrer Intensität lassen sie sich packen und messen ihnen Bedeutung bei in Funktion der Intensität.
Es gibt eine Sucht nach Heftigkeit, nach Gram und Jammer, nach Gemütsaufwallung und sogar nach Wirrsal.
Und doch ist diese Unordnung unendlich weniger reich, weniger bedeutsam, weniger groß als die Phänomene, die unsere Klarheit erhalten und uns instand setzen, den Schein vom Sein unterscheiden und die Ordnungsbereiche in uns selbst gesondert zu wahren.
Politik ist die Kunst, die Leute daran zu hindern, sich um das zu kümmern, was sie angeht.
Die Formel: Der Staat bin ich hat die Formel erzeugt: Der Staat ist ein Ich – das war die schreckliche politische Neuheit. Nachdem der König-als-Mensch abgeschafft war, blieb ein monströser Egotismus zurück.
Was die »Konservativen« ruiniert hat, war die schlechte Wahl dessen, was zu konservieren war.
Es gibt kaum etwas Dümmeres, als von Lektionen der Geschichte zu sprechen. Von der Geschichte erfahren wir nur etwas über die Historiker, ob sie Stil haben, ob sie Geist haben usw. Und über jene, die sich ernst nehmen, müssen wir lächeln.
Das wirkliche Handeln kann nichts anfangen mit guten Schülern. Noch weniger mit brillanten Kandidaten; die behalten von ihren Anfängen vor allem einen Überlegenheitsdünkel zurück –
Der Mensch verbirgt – zwangsläufig, was er nicht sagen kann, und freiwillig, was er mit den anderen gemeinsam hat und was die anderen niemals sagen. Er imitiert ihr Geheimnis. Das Identischste, was die Menschen haben, ist auch das Verborgenste – Sie verbergen ihre Ähnlichkeit …
Man redet ungeheuer viel über Moral. Aber ich behaupte, daß keiner wirklich seine eigene kennt, also streng aufzeigen kann, nicht was er an schaumigen Meinungen hat, sondern was das Gesetz seiner Handlungen ist.
Der Mensch hat Wert nur insofern, als er sich nicht manövrieren läßt von der Natur, von seinen Instinkten, von der Gesellschaft, von der Nachahmung, von der Eitelkeit – kurz, von dem, was war, vielmehr einzig durch die Überlegung dessen, was sein kann oder nicht sein kann.
FURCHT VOR SICH SELBST ist der Auftakt zur Moral. Nicht wagen, das zu sein, was man ist.
Es ist schwer und es ist hart, zu sein, was man ist – nicht das zu sein, was man gern wäre. – Hart vor allem für die »gebildeten« Leute.
Hart und schwer, weil … kein augenfälliger Vorzug oder hinreichender Reiz darin liegt, gerade so zu sein – Das ist niemals etwas Besonderes.
Jeder »große Mann« ist nicht eigentlich er selbst – sondern er hat es geschafft, sich nach einem Modell oder einem gegebenen Maßstab zu erschaffen.
Was da er selbst ist, sein »Genie« – das ist ebenjenes Vermögen, sich neu zusammenzusetzen, und nicht das, was er war, und ebensowenig das, was er schließlich geworden ist.