Zeiten des Aufbruchs

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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juli 2017

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Karte im Anhang von Peter Palm

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ISBN Printausgabe 978-3-499-27214-1 (1. Auflage 2018)

ISBN E-Book 978-3-644-56591-3

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-56591-3

 

Anneliese und Heinz Korn

Ursula und Paul Hubschmid

Henny und ihre Angehörigen

Henny Lühr, geborene Godhusen

Jahrgang 1900. Mit achtundvierzig Jahren hat Henny schon einige Lebenswendungen hinter sich. Ihr erster Mann Lud Peters starb bereits 1926 bei einem Verkehrsunfall. Von ihrem zweiten Mann, dem Volksschullehrer Ernst Lühr, ist Henny mittlerweile geschieden. Ihren Beruf als Hebamme an der Frauenklinik Finkenau dagegen liebt sie noch immer.

Else Godhusen

Hennys Mutter, Kriegerwitwe, seit ihr Mann Heinrich im Ersten Weltkrieg starb.

Marike Utesch, geborene Peters

Jahrgang 1922. Hennys Tochter aus der Ehe mit Lud. Die junge Ärztin ist mit ihrer Kinderliebe Thies verheiratet. Nach seiner Rückkehr aus Russland hat Thies sich beim neugegründeten Nordwestdeutschen Rundfunk beworben, dort ist er mittlerweile für die Unterhaltungsmusik zuständig.

Klaus Lühr

Jahrgang 1931. Hennys Sohn aus zweiter Ehe. Zu seinem Vater hat er keinen Kontakt, seit Klaus an seinem

Theo Unger

Auch in Hennys Leben spielt der Arzt eine immer wichtigere Rolle. Theo stammt aus einer Arztfamilie in Duvenstedt, während der Kriegsjahre hielt der Nutzgarten seiner Mutter Lotte die Freunde aus der Finkenau am Leben. Die Ehe mit Elisabeth ist geschieden, bereits 1945 ging sie mit dem englischen Captain David Bernard nach Bristol.

Lina und ihre Angehörigen

Lina Peters

Jahrgang 1899. Hennys Schwägerin bleibt sie, auch wenn ihr Bruder Lud längst tot ist. Als Lehrerin arbeitet die Anhängerin der Reformpädagogik nicht mehr. Mittlerweile betreibt sie zusammen mit Freunden die florierende Buchhandlung Landmann, benannt in Erinnerung an den Freund Kurt Landmann, Arzt an der Finkenau, der sich 1938 das Leben nahm, nachdem die Nazis dem jüdischen Arzt die Approbation entzogen.

Louise Stein

Linas langjährige, Cocktails liebende Lebensgefährtin. Früher arbeitete sie als Dramaturgin am Thalia Theater, jetzt ist sie eine der Inhaberinnen der Buchhandlung

Momme Siemsen

Sein Handwerk hat der Buchhändler aus Dagebüll in der Hamburger Buchhandlung Heymann gelernt. Inzwischen betreibt er eine eigene zusammen mit Lina und Louise. Privat fällt es ihm schwerer, sich zu binden, immer noch lebt er mit wechselnden Freundinnen in Gustes Pension an der Johnsallee.

Ida und ihre Angehörigen

Ida Yan, geborene Bunge

Jahrgang 1901. Seit ihrer Scheidung von dem Bankier Friedrich Campmann lebt auch Ida in Gustes Pension, zusammen mit ihrer großen Liebe, dem Chinesen Tian Yan, der ein Hamburger Kaffeekontor leitet, und Tochter Florentine (Jahrgang 1941), die sich bereits als Kind für Mode begeistert und von einer Laufbahn als Fotomodell träumt.

Guste Kimrath

Die Lebensgefährtin von Idas verstorbenem Vater Carl Christian Bunge. Die Pensionswirtin mit dem großen Herzen ist noch immer bereit, fremde Küken in ihrer geerbten Villa an der Johnsallee aufzunehmen.

Käthe Odefey, geborene Laboe

Seitdem Käthe und ihre Mutter Anna im Januar 1945 von der Gestapo abgeholt wurden, wissen die Freunde nicht, ob Käthe noch am Leben ist. Zwar ist Henny sich sicher, Käthe am Silvestertag des Jahres 1948 in einer Straßenbahn gesehen zu haben. Aber Theo Unger stellt die Diagnose «Halluzination, aus der Hoffnung geboren», und auch Henny kommen langsam Zweifel. Wenn die Freundin noch lebt, warum meldet sie sich dann nicht bei ihr?

Rudi Odefey

Käthes Ehemann, den sie einst in der Sozialistischen Arbeiterjugend kennenlernte. Ebenfalls ein Verschollener des Krieges. Die Freunde wähnten den Liebhaber von Gedichten tot, bis sie ein Lebenszeichen aus einem Gefangenenlager im Ural erreichte. Doch zahlreiche Suchanfragen ans Rote Kreuz blieben ohne Ergebnis.

Alessandro Garuti

Rudis spät gefundener Vater. Der einstige Kulturattaché der italienischen Botschaft in Berlin macht sich immer wieder auf die lange Reise von San Remo nach Hamburg, um nach seinem Sohn zu forschen.

Das Bellen des Hundes klang so nah, dass Theo ans Fenster trat und in seinen Garten schaute. Kaum eine Ahnung von Frühling darin, ein eiskalter Winter lag hinter ihnen, aus dem die ersten Märztage noch nicht herausgefunden hatten. Nur die Spatzen im kahlen Ahorn tschilpten, ließen sich auch nicht von der tiefen Hundestimme stören.

Störte sie ihn? Die Dogge gehörte zu den Nachbarn, die Anfang des Jahres in das Haus nebenan eingezogen waren. Nette Leute, Verwandte der verstorbenen Vorbesitzer. Ein großes Glück in diesen Zeiten, ein nahezu heiles Dach über dem Kopf zu haben. Für ihn. Für Hennys Sohn Klaus, der bei ihm lebte. Für die Familie nebenan.

Nein. Das Bellen störte Theo Unger nicht, auch wenn es bisher keine Hunde gegeben hatte in seinem Leben, weder im ländlichen Duvenstedt, wo er aufgewachsen war, noch in den Jahren mit Elisabeth hier in der Körnerstraße nahe der Alster. Dabei hätte ein eleganter Hund gut zu der Frau gepasst, mit der er vierundzwanzig Jahre verheiratet gewesen war.

Er hegte und pflegte den Gedanken, dass es längst nicht zu spät war für Neuanfänge, warum nicht ein wenig Lärm und Gebell ins Haus holen? Stille war es, die Theo störte. Dann drangen die Schatten ein und erzählten von denen, die verloren gegangen waren.

Doch nun geriet noch ein anderes auffälliges Geräusch in

Theo traute seinen Augen kaum, als er Garuti aus dem Auto steigen sah. Alessandro Garuti, älter geworden wie sie alle und doch noch immer die vertraute exzellente Erscheinung.

«La brava», sagte Garuti und tätschelte die Haube des alten Alfa Romeo, der ihn von San Remo über Nizza, Lyon und das Elsass nach Hamburg gebracht hatte.

«Una sorpresa.» Lachend ging er auf Theo zu und umarmte ihn. Auch der Italiener fand, dass sein alter Freund sich kaum verändert hatte, ihr erstes Wiedersehen seit dem Krieg. Und es war ungewohnt, Elisabeth nicht neben Theo stehen zu sehen. Wenn Garuti auch längst aus Telefonaten wusste, dass sie Theo schon im Sommer 1945 verlassen hatte, um mit einem englischen Captain nach Bristol zu gehen.

Nun stand neben Theo der junge Mann, der das Leben des Freundes weniger einsam machte. Klaus. Kurz und bündig, dieser Name. Alessandro Garuti liebte die deutsche Sprache, doch gelegentlich erschien sie ihm ein wenig einsilbig. Rodolfo klang da wie gesungen. Rudi. Sein Sohn und Erbe.

Garuti trat in die einstöckige Stadtvilla mit den Gaubenfenstern im Dach und dem Rosenspalier. Wie gut es war, das alles wiederzusehen. Er hatte im vergangenen Jahr das siebte Jahrzehnt erreicht und hoffte, noch lange zu leben, um den Frieden zu genießen. Erst 1940 hatte er erfahren, Vater eines längst erwachsenen Sohnes zu sein. Rudi hatte den Krieg überlebt, doch noch war er ein prigioniero di und saß in russischer Gefangenschaft in einem Lager im Ural. Würde er doch nur endlich zurückkehren.

«Es ist wahrlich eine Überraschung, Alessandro. Wir hatten dich erst im Mai erwartet, nicht jetzt im kalten Vorfrühling», sagte Theo, als sie zu dritt im Salon standen.

«Ich habe es nicht länger ausgehalten. Vielleicht gelingt es mir von Deutschland aus, Kontakt zu Rudi aufzunehmen.»

Theo Unger dachte, dass der pensionierte Diplomat und einstige Kulturattaché der italienischen Botschaft in Berlin zu hoffnungsvoll war, doch er schwieg und schenkte stattdessen einen gut temperierten, leichten Rotwein von der Ahr zur Begrüßung ein.

Zu den traurigen Wahrheiten würden sie bald genug kommen. Auch Käthe, Rudis Frau, und ihre Mutter Anna wurden seit Ende des Krieges vermisst. Es gab Tage, an denen Theo fürchtete, dass Henny sich getäuscht hatte, als sie am Silvestertag des vergangenen Jahres ihre Freundin hinter einem Fenster in der Straßenbahn der Linie 18 zu sehen glaubte. Käthe blieb unauffindbar.

«Ihr habt ja einen Hund», sagte Alessandro Garuti, der zum Fenster gegangen war und in den hinteren Garten sah.

Theo und Klaus kamen hinzu und staunten. Die Dogge stand in einem der Beete und wedelte. War sie über die hohe Hecke gesprungen?

«Goliath.» Eine Stimme aus dem Nachbargarten, die da rief.

Der Hund blickte noch einmal zu ihnen und begab sich dann auf den Rückweg durch die Buchsbaumhecke. Die frei geschlagene Bresche schien von Goliath auf Dauer angelegt zu sein.

«Il cane ha sorriso», sagte Garuti. Der Hund hatte gelächelt.

 

Henny Lühr legte den Kleinen in die Arme seiner Mutter. Ein erstes Kennenlernen, bevor das Neugeborene in das Säuglingszimmer kam. Oft waren die Frauen zu erschöpft in diesen Momenten, doch manche mochten die Menschlein, die sie gerade zur Welt gebracht hatten, gar nicht mehr hergeben. Eine Hausgeburt schuf da viel schneller Vertrauen auf beiden Seiten, doch sie barg auch die größeren Risiken.

Ihre Mutter Else hatte sie noch zu Hause geboren, in der Küche war Hennys Vater vor lauter Nervosität der Zuckertopf aus der Hand gefallen. «Dann wird es eine Deern», hatte die Hebamme gesagt und den Kessel mit heißem Wasser vom Herd genommen. Hennys Tochter Marike war dagegen 1922 bereits in der Finkenau zur Welt gekommen, die Entbindungsklinik hatte schon damals einen ausgezeichneten Ruf genossen. Und auch Klaus war neun Jahre später hier geboren worden. Und nun kam eine neue Nachkriegsgeneration zur Welt, der hoffentlich der Aufbruch in anhaltend friedliche Zeiten vergönnt war.

Henny warf einen Blick zu der großen Uhr an der Wand des Kreißsaals. Gleich ging ihre Schicht zu Ende, dann konnte sie den Kartoffelsalat aus dem Kühlschrank in der Küche des Schwesternzimmers nehmen und zu Klaus und Theo fahren. Kein Umweg über die Schubertstraße, wo sie wieder bei ihrer Mutter lebte, seit die eigene Wohnung in den Bombennächten des Juli 1943 zerstört worden war. Ließe sie sich jetzt blicken, Else würde nur schmollen, dass sie den Abend nicht mit ihr verbrachte.

Sie sah, dass Gisela den neugeborenen Jungen nahm, um ihn ins Säuglingszimmer zu tragen. Die Nachgeburt hatte sich schon nach zehn Minuten vollzogen, Komplikationen waren kaum zu erwarten, doch um ganz sicher zu sein, würde Gisela noch anderthalb Stunden auf die Mutter achtgeben.

Etwas an der jungen Hebamme erinnerte Henny an Käthe, obwohl Gisela Suhr rotblondes Haar hatte und Sommersprossen. Wahrscheinlich, weil sie ein solcher Querkopf war. «Das wandelnde Widerwort», hatte der junge Dr. Unger damals vor vielen Jahren Käthe genannt, als diese gemeinsam mit Henny ihre Ausbildung zur Hebamme an der Finkenau begann.

Gestern hatte sie gesehen, wie Gisela ein Stück Sunlicht Seife in ihren Einkaufsbeutel gleiten ließ. Klinikeigentum, die Seife. Gisela schien nicht bemerkt zu haben, dass sie beobachtet worden war.

Käthe hatte früher oben in der Küche der Privatstation Schokoladenflocken geklaut und die kleinen Portionspäckchen Butter. Henny hatte es all die Jahre gewusst und dennoch geschwiegen.

Nein. Sie hatte sich am Silvestertag nicht geirrt. Auch wenn Theo das zu glauben begann. Käthe war in der Straßenbahn gewesen, sie hatten Blickkontakt gehabt. Doch Henny hatte verpasst, in den Waggon zu steigen, zu überraschend war der Augenblick, das Zeichen zur Abfahrt längst gegeben, das Klingeln hing ihr heute noch in den Ohren. Ein

«Eine Halluzination», hatte Theo gesagt. «Eine Halluzination, aus der Hoffnung geboren.» Doch Henny sah noch das Erschrecken in Käthes Augen. Das war keine Sinnestäuschung gewesen. Warum erschrak ihre Freundin, als sie einander endlich wiedersahen? Seit dem siebten Lebensjahr hatten sie das Leben der anderen begleitet. Warum kam Käthe nach dieser unverhofften Begegnung nicht zu ihr? Warum hielt sie sich verborgen? In ganz Hamburg keine Spur von Käthe.

Ein Januar und ein Februar waren seitdem vergangen und dreizehn Tage des März. Der Gedanke, dass Käthe nicht nur Neuengamme überlebt hatte, sondern nach der Evakuierung des Konzentrationslagers auch die Todesmärsche, hatte am Anfang ein hinreißendes Glück in Henny ausgelöst. Doch nun war da nur noch Verwirrung und eine Ahnung, die sie nicht zulassen wollte.

Die Tür ging auf, Gisela kehrte mit Dr. Geerts in den Kreißsaal zurück.

«Kann ich Sie mitnehmen, Henny? Ich fahre nach Winterhude und könnte Sie an der Ecke Körnerstraße absetzen.» Geerts war schon lange dabei, beinah so lange wie Theo, der seit Jahren zu den leitenden Ärzten gehörte, wenn er auch kaum noch Klinikchef werden würde. Vielleicht weil er nicht an Hierarchien glaubte.

«Woher wissen Sie, dass ich da hinwill?», fragte Henny.

«Nur eine Vermutung», sagte Geerts. Er lächelte dabei.

 

Hennys Gesicht hatte sich im kalten Wind gerötet trotz des nur kurzen Fußwegs zu Theos Haus. Wäre sie nicht den

Ein verlegener Augenblick, wenn man ganz überraschend einem großen Verehrer der ersten Frau vorgestellt wurde, Elisabeth hatte ihr viel an Glanz und Eleganz voraus. Doch der distinguierte Signor Garuti, der da vor Henny stand, war Rudis Vater und der Schwiegervater ihrer Käthe. Das nahm ihr von der Verlegenheit.

Elisabeths Hand hätte er wohl geküsst, Henny war froh, dass er ihre nur fest schüttelte. Ein herzliches und warmes Willkommen. Sie fühlte sich gleich hingezogen zu Alessandro Garuti, der sie so sehr an Rudi erinnerte. Wenn doch wenigstens er wieder bei ihnen wäre.

Als sie dann am Tisch Platz genommen hatten und aßen, kam das Gespräch rasch auf Rudi, Käthe und Anna. Garuti wusste von der flüchtigen Begegnung am frühen Abend des Silvestertages.

«Ich vermute, ihr habt keine offizielle Stelle dieser Stadt ausgelassen», sagte er und dachte an den Tag, als er im Standesamt der Hamburger Neustadt vorgesprochen hatte, um das Geburtenregister des Jahrgangs 1900 zu sichten, und so von der Geburt seines Sohnes erfuhr – und auch vom Tod Thereses, Rudis Mutter.

«Wir haben alle Ortsämter abgeklappert», sagte Klaus.

«Sie ist nirgends gemeldet. Auch im Hamburger Umland nicht», ergänzte Theo.

Sie guckten schweigend auf ihre Teller.

«Käthe war in der Straßenbahn.» Hennys Stimme beschwor es.

«Ist Henry Vaughan Berry eigentlich der augenblickliche Stadtkommandant in Hamburg?», fragte Garuti.

«Kennst du ihn?» Theo sah Garuti erstaunt an.

«Ein alter Freund von mir hat mit ihm in Cambridge studiert. Das war vor dem ersten Krieg, doch sie blieben noch lange in Verbindung.»

«Was soll Berry denn wissen?», fragte Klaus.

«Paglie», sagte Garuti seufzend. «Nichts als Strohhalme.»

 

Else Godhusen hatte den Tipp in der Klugen Hausfrau gelesen, dem Blättchen, das ihr der Kaufmann über den Ladentresen schob. Kostete nichts, und lauter gute Dinge standen drin. Auch der Rat, wie sich die Einsamkeit überwinden ließe, wenn man abends allein zu Hause saß.

Einfach so tun, als ob der Kaiser von China zu Gast käme. Sich fein machen. Eine Tischdecke über das Wachstuch legen. Dann eines der geschliffenen Gläser zum guten Geschirr. Man hob das Glas mit dem Rheinwein für vier Mark fünfundneunzig und aß ein russisches Ei mit dem Klecks Kaviar aus Seehasenrogen.

Und saß allein, dachte Else und ärgerte sich über die Mayonnaise auf ihrer Seidenbluse. Da half auch nicht das Radio, das man einschalten sollte, nicht einmal der bunte Abend im NWDR. Auch wenn vielleicht Thies die Sendung gestaltet hatte, der Mann ihrer Enkelin Marike.

Einundsiebzig Jahre war sie nun alt und seit vierunddreißig Jahren Witwe. Kriegerwitwe. Die gab es nun wieder

Else stand auf und holte die Gallseife aus dem Spülschrank. Die Bluse am besten ausziehen und dann doch den Kittel an. Die anderen Tipps aus der Klugen Hausfrau waren da nützlicher. Eichenrinde gegen Frostbeulen. Oder die Arbeitsanleitung zur Lumberjacke für Knaben. Doch für die angegebenen Maße war Klaus schon zu groß.

Längst zehn Uhr vorbei und Henny immer noch nicht da. Ein feiner Herr, der Dr. Unger, doch das Verhältnis, das die beiden hatten, war nicht anständig zu nennen. Früher wurde immer gleich geheiratet. Auch von Henny. Dass Klaus beim Doktor wohnte, statt bei ihr auf der Klappliege im Wohnzimmer zu schlafen, war ja gut und schön und Klaus ein viel besserer Schüler, seit er ein eigenes Zimmer hatte. Aber die Familie gehörte doch zusammen, und andere hausten in zugigen Kellerlöchern und hielten das aus.

Else Godhusen rieb an dem Fettfleck und wurde noch unwirscher dabei. Vielleicht half ein Weinbrand. Nicht der Bluse, die hing bald nass auf dem Bügel. Doch sie brauchte größeren Trost, als ihr ein Gläschen Wein geben würde. Else ging ins Wohnzimmer und nahm einen der Kognakschwenker aus dem Schrank, die Feinheit des Abends sollte nicht ganz verlorengehen. Sie goss gut ein und kehrte an den Küchentisch zurück.

Wo Käthe nur war, Henny hatte sie doch gesehen. In der Wohnung der Laboes lebte jetzt eine ausgebombte Familie, die Flüchtlingsfrauen waren weitergezogen. Else schüttelte den Kopf. Nun kam ihr auch noch Ernst in den Sinn, der Mann, von dem Henny geschieden war. Auch so was Neues. Scheidung.

Und da kam ihr das Bild aus dem Januar 1945 vor Augen, wie Ernst am Fenster gestanden und immer zu den Laboes hinübergeguckt hatte. Aber was sollte das mit Käthes Wegbleiben zu tun haben?

 

Die Symphonie des Grauens in den ersten Tagen der Evakuierung aus dem Lager. Die kalten Stimmen der SS. Beeilt euch, verdammtes Pack. Pistolenschüsse. Das Schurren der Schuhe derer, die noch Schuhe hatten, Holzstücke oft, die mit Schnur an den Fußsohlen festgebunden waren. Das allmähliche Verstummen der Elenden auf diesem Marsch.

In endlosen Nächten sah Käthe die Landstraße vor sich, ein langes graues Band der Hoffnungslosigkeit. Die letzte Kraft war dortgeblieben, ihre Seele danach kaum mehr vorhanden.

Und trotzdem war ihr gelungen, sich von diesem Gespenstertross zu entfernen. Sie war in den Straßengraben gekrochen, hatte sich im Gebüsch versteckt, um dann, als der Zug der Häftlinge weit genug entfernt war auf seinem Weg zum Auffanglager Sandbostel, in der Dunkelheit zu dem Schuppen zu schleichen, der allein in der leeren Landschaft stand.

Das Überleben versucht. Irgendwo zwischen Hamburg und Bremen.

Käthe lachte das kleine heisere Lachen, das sie sich angewöhnt hatte. Warum kam der ganze Spuk heute Abend wieder hoch? Weil sie ihre Arbeit verloren hatte, der Arzt aufgeflogen und verhaftet worden war? Der Arzt, der Frauen half, die ungewollten Kinder loszuwerden. Er hatte den Namen seiner Assistentin nicht verraten. Noch nicht.

Nein. Rudi lebte nicht mehr.

Obwohl sie allein in der Schreberhütte saß, holte sie zu einer Geste aus, um das zu unterstreichen. Die Tasse mit dem Rest Muckefuck wischte Käthe dabei vom Tisch. Die Scherben schob sie nur mit dem Fuß zusammen. Keine Scherben aufsammeln. Es gab nichts zu kleben und nichts zu heilen.

Hennys Gesicht vor dem Fenster der Straßenbahn. Was tat sie am Silvestertag auf der Brücke? Luds gedenken, der da überfahren worden war? Sie hatte doch Ernst, mit dem saß sie sicher irgendwo trocken. Ernst, der Denunziant. Henny hatte davon gewusst. Seit dem Januar 1945 sagte Käthe das vor sich hin, als seien diese Wörter wie Perlen einer Gebetsschnur.

«Ich bin durch mit dir, Henny.» Laut sagte sie es in ihrer Hütte. Laut und allein. Nur keine Sehnsucht aufkommen lassen. Nicht nach Rudi und Anna – und schon gar nicht nach Henny.

Käthe stand auf und zog eine zweite Strickjacke an. Wie kalt der März war. Doch auch den würde sie überstehen. Frieren konnte sie gut.

In der ersten Zeit hatte sie auf einem Flusskahn gewohnt,

«Ich hab deine Wäscheleine gesehen», hatte die Frau gesagt, die am Anfang von Käthes erstem Hamburger Winter auf der sumpfigen Wiese am Ufer stand. «Hätte was Besseres für dich. Zum Wohnen, meine ich.»

«Warum ich?», hatte Käthe gefragt, als sie zur Schreberhütte geführt wurde. Unweit vom Kahn. In Moorfleet.

«Weil ich nun zu Helmut zieh», hatte die Frau gesagt. «Aber halt die Hütte mal für mich besetzt, falls das schiefgeht. Du siehst nicht so aus, als ob du einen betuppst.» Danach hatte Käthe nichts mehr von der Frau, die sich Kitty nannte, gehört.

Und nun war der Doktor hopsgegangen. Das bedeutete Knast und den Entzug der Zulassung als Arzt. Und mit den Tütchen, in denen Geldscheine für sie steckten, war es auch vorbei.

Käthe hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Vielleicht doch einfach Schluss machen mit dem Leben.

 

Zuletzt hatte er Anfang Januar mit Elisabeth gesprochen, ihr ein gutes neues Jahr gewünscht, von Hennys Erlebnis auf der Brücke berichtet. Warum klopfte ihm noch immer das Herz in dem Moment, wenn das Gespräch nach Bristol zustande kam? Ihre Beziehung war längst in eine lose Freundschaft übergegangen.

«Nichts Neues von Käthe und Rudi?», fragte Elisabeth.

«Nein», sagte Theo. «Und wie geht es bei euch?»

«Sehr gut. Wir genießen es, Jack zu haben.»

«Oh sorry, Theo. Ich habe versäumt, das zu erwähnen. Jack ist im Februar zu uns gekommen. Er ist ein Foxterrier.»

Was wollten ihm all diese Hunde sagen? Gar nicht nötig, sich einen eigenen anzuschaffen. Goliath, die Dogge, hatte seinem Garten am Morgen wieder einen Besuch abgestattet.

«Ein Foxterrier», sagte Theo. Er hätte gedacht, dass ein Windspiel eher zu Elisabeth passe. Dünn und langgliedrig. «Warum hast du während unserer Ehe nie gesagt, dass du gerne einen Hund hättest?»

«In England ist das viel normaler. Und außerdem haben du und ich nicht in Zeiten gelebt, in denen man die Familie vergrößert hätte.»

Ja, da hatte sie recht. Dass Elisabeth davon abhängig gewesen war, Theos schützende arische Hand über sich zu wissen, hatte ihrer Ehe geschadet.

«Alessandro ist in Hamburg», sagte Theo. «Er hofft darauf, von hier aus leichter Kontakt zu Rudi aufnehmen zu können.»

«Er deutete es bei unserem letzten Gespräch an.»

Sie standen also in Verbindung, das hatte Garuti nicht erwähnt. Vielleicht war es für ihn eine Selbstverständlichkeit.

«Grüße ihn herzlich von mir», sagte Elisabeth. «Poor Alessandro. I hope so much that both of them will return.»

Selten, dass sie einen solchen Satz einfließen ließ. Doch Elisabeth Bernard, geschiedene Unger, fing an, eine Engländerin zu sein.

 

«Bereust du es, Papa?»

«Nicht die Bohne», sagte Joachim Stein und blickte seine Tochter liebevoll an.

Er war einundachtzig Jahre alt, und trotzdem hatte er es

«Und du willst wirklich dein Geld in unsere Buchhandlung stecken?»

«Was ist los mit dir, Louise? Du bist doch sonst eine große Gönnerin. Im Geben wie im Nehmen.» Er lachte.

Louise betrachtete das Profil ihres Vaters, die imposante Nase, deren Größe er ihr vererbt hatte. Er sah aus wie ein alter Römer, Kölner seit vielen Generationen. Kaum noch Haare hatte er auf dem Kopf, was den nur prägnanter erscheinen ließ. Kerzengerade stand Stein an der Balustrade der Lombardsbrücke und sah hinüber zum Jungfernstieg. Einen Augenblick lang hatte er traurig ausgesehen.

Dabei dachte Joachim Stein gar nicht an das Haus in Lindenthal, in dem er lange mit seiner Frau Grete gelebt hatte. Nicht einmal daran, dass Grete bei einem Bombenangriff auf Köln umgekommen war. Er sah nur, dass noch viel zu viel von der Welt in Trümmern lag. Umso besser, wenn er beim Aufbauen half.

«Ich sorge mich, dass du nicht genügend an dich denkst.»

«Was ich hier tue, ist purer Egoismus», sagte Stein.

Er mochte Lina, Louises Lebensgefährtin seit vielen Jahren, von Herzen gern. Momme, deren Geschäftspartner, gefiel ihm auch. Alles sprach dafür, als Mäzen einzusteigen in die Buchhandlung Landmann, damit die größer und moderner auferstand in dem kriegsgeschädigten Haus am Gänsemarkt. Hatte Grete ihrem Mann, dem Professor der Philosophie, nicht oft vorgeworfen, in einem Elfenbeinturm zu sitzen? Nun war Joachim Stein mittendrin im Leben.

Die kleine Wohnung in der Hartungstraße, zwischen

«Viel zu spät für Neuanfänge, Jo», hatte sein alter Freund und Hausarzt gesagt. Ach was.

«Lesetische», sagte Louises Vater, «an die sich die Kundschaft zu einer ersten Lektüre zurückziehen kann wie in einer Bibliothek.»

«Dafür fehlt der Platz», sagte Louise.

«Dann Stehpulte. Wie im Hörsaal.»

Keine schlechte Idee. Mal hören, was Lina und Momme meinten. Vielleicht war irgendwo Inventar übrig in den Kellern der Schulen, die längst nicht alle wiederaufgebaut wurden.

Doch Louise ahnte, was Lina sagen würde. Nur nichts Altes. Vielleicht gar noch angekokelt. Lina lechzte nach dem Aufbruch ins Neue. Sie fand es in Ordnung, die leeren Fassaden abzureißen und dafür langweilige Klinkerhäuser hinzusetzen.

Von den Fassaden in der Straße Immenhof ließ sich ein eiliger Passant leicht täuschen. Gleich hier um die Ecke hatte früher Linas Schwägerin Henny gewohnt. Auf den Balkonen standen noch Besen. Eisenspaliere hingen, vertrocknete Klematis daran, Efeu. Dahinter alles leer. Waren sie wirklich nicht zu retten gewesen, diese Häuser? Neues hinter alten Fassaden?

Louise staunte über sich selbst. Dass gerade sie dem Bewahren den Vorzug gab. Sie hatte sich nie an Vergangenes geklammert.

«Und jetzt gehen wir einen Cocktail trinken», sagte Joachim Stein und nahm die Hände von der Balustrade der Lombardsbrücke. «Oder hast du dir die abgewöhnt?»

«Und wohin?»

«Wenn es dir nicht zu weit ist, in die Dammtorstraße ins L’Arronge.»

«Ich habe gerade die weiten Wege wiederentdeckt», sagte ihr Vater, «da lassen sich so viele Schritte machen.»

 

Momme öffnete den Karton und begann, die Bücher auszupacken, vierundzwanzig weitere Exemplare von Bastian Müllers Hinter Gottes Rücken. Viel Autobiographisches darin. Der Schriftsteller war Mommes Jahrgang. 1912. Ein noch junger Mann. Das Buch verkaufte sich gut, das war die dritte Auflage, eine vierte bald zu erwarten, doch es polarisierte. Rezensenten nannten es das Antikriegsbuch, in seiner Aussage noch konsequenter als Remarques Im Westen nichts Neues. Grund genug für ein Geheul der Gestrigen, die Verrat witterten. Doch Verrat an wem?

Der Verkauf in der Buchhandlung Landmann am Rathausmarkt lief weiter, der Umzug an den Gänsemarkt verzögerte sich. Die Schäden an dem fünfstöckigen Haus aus der Gründerzeit waren doch schwerer als gedacht, auch wenn es geradezu intakt aussah in dieser Umgebung von Ruinen.

Der Laden hier am Rathausmarkt war eigentlich eine Baracke, die erste Etage nur so weit noch vorhanden, dass es bei ihnen nicht durch die Decke regnete.

Die Trümmer waren verschwunden, Hamburg eine Stadt der leeren Flächen, Bretterbuden standen auf großzügigen Grundstücken in bester Lage. Die Ferdinandstraße war als Erste geräumt worden, um den Straßenbahnlinien 16, 18 und 22 den Weg zum Rathausmarkt zu ermöglichen. Und nun verschwanden auch die Provisorien nach und nach, Läden wie ihrer, die nur aus dem Erdgeschoss bestanden.

Was hatte Hamburgs Bürgermeister Max Brauer gesagt? Dass der Wiederaufbau auch eine geistige Wiederaufrichtung im Sinne Lichtwarks sei. Alfred Lichtwark, der Reformpädagoge, erster Direktor der Kunsthalle und Linas Held in Geschichte und Gegenwart.

Lina. Die blühte auf. Hatte vor, im größeren Laden am Gänsemarkt eine eigene Abteilung für Kunstbände aufzubauen. Schule war kein Thema mehr für die einstige Studienrätin.

Momme grinste. Wäre Lina an Männern interessiert, er hätte glatt sein Glück versucht, damals schon, als er sie bei Guste kennenlernte. Enorm anziehend hatte er Lina gefunden, trotz der dreizehn Jahre, die sie älter war. Doch Lina war da bereits seit vier Jahren an Louise vergeben gewesen.

Er kannte den Mann nicht, der da den Laden betrat. Ein Herr, ohne Zweifel. Er wandte sich dem kleinen Tisch zu, auf dem die Gedichte lagen. Ein Gedichtband von Heinrich Heine aus dem Vier Falken Verlag, den er in die Hände nahm, um darin zu blättern.

«Sieht aus, als käme es aus der Aschentonne, das Papier», sagte Friedrich Campmann.

Die erste Nachkriegszeit war ganz offensichtlich vorbei, dachte Momme. Keine Zufriedenheit mehr mit dem Gebotenen.

Er war erstaunt, dass der Herr das Buch von Bastian Müller kaufte.

 

«Du bist ein Spiegeläffchen», sagte Ida und trat hinter ihre Tochter, deren Augen jetzt zornig funkelten. Florentine hasste es, der Eitelkeit bezichtigt zu werden. Sie hatte Idas

Wäre Ida nicht schon im vierzigsten Jahr gewesen, als Florentine zur Welt kam, dann hätten ihre Tochter und sie sich in einer eifersüchtigen Konkurrenz befunden, doch so glaubte Ida, die noch Jahre nach der Geburt des Kindes auf dem Papier Friedrich Campmanns Ehefrau gewesen war, das Leben hätte sie geläutert.

Eigentlich konnte sie Campmann dankbar sein, dass er weder zur Scheidung gedrängt noch die Vaterschaft bestritten hatte. Tian wäre des Landes verwiesen oder ins Konzentrationslager verschleppt worden, hätten die Nazis die familiären Zusammenhänge erkannt.

«Lass dich umarmen», sagte Ida. «Ich will dir doch nichts Böses.» Florentine entwand sich ihr und lief die Treppe hinunter. Ida trat ans Fenster und sah in den großen Garten der zweistöckigen Villa an der Johnsallee. Die Johannisbeersträucher waren noch kahl, kein Geißblatt kletterte am Schuppen hoch, nur die Schaukel schien schon bereit. Gleich würde Florentine da unten erscheinen und wild schaukeln, bis sich ihr Zorn abgekühlt hatte. Bei den Temperaturen würde das nicht lange dauern.

Da war sie auch schon, doch sie wurde abgelenkt und wandte sich freudig jemandem zu. Wahrscheinlich stand Guste am Fenster ihres Gartenzimmers, nach Tian war sie diejenige, die von Florentine am meisten mit Zuneigung verwöhnt wurde.

Was lockte das Kind wieder zurück ins Haus? Ein Kuchen,

Guste nähte Kleider mit Glockenröcken und Kostümjacken mit engen Taillen und Schößchen für Ida. Nähte die weißen Hemden ohne Kragen, die Tian schätzte. Für Momme Hemden mit Kragen. Momme, der in den zwei Zimmern unterm Dach wohnte, mit wechselnden Damen.

Doch die schönsten Stoffe verwendete Guste für Florentines Ausstattung, damit sich das Lackpüppchen noch länger vor dem Spiegel drehte. Der Tisch im großen Salon, an dem einst die Gäste von Gustes Pension Platz nahmen, war zur Schneiderwerkstatt geworden. Gegessen wurde schon lange in der Küche im Souterrain.

Ida seufzte. War sie doch eifersüchtig? Ab und zu blitzten Erinnerungen auf an das perlmuttschimmernde Geschöpf, das sie einst gewesen war. Alles rosa an ihr und neu, damals. Und dann hatte ihr Vater sie an Campmann verschachert, und Ida hatte sich siebzehn Jahre lang nach Tian gesehnt. Vielleicht war das Sehnen die beste Zeit ihres Lebens gewesen.

Guste fluchte gerade, als Ida ins Zimmer kam. Unter der Nadel der Nähmaschine lag Organdy, der ließ sich schlecht verarbeiten. Zweimal hatte sie schon neu einfädeln müssen.

«Langweilst du dich?», fragte Guste.

Ida blickte zu ihrer Tochter, die ja sicherlich gemeint war, doch Florentine saß auf dem Teppich und blätterte in einer Constanze. Hatte Ida sich in Florentines Alter schon für Mode interessiert?

«Ich spreche mit dir, Ida. Seit Tian wieder sechs Tage in der Woche im Kontor verbringt, weißt du nichts mit dir anzufangen.»

«Das Kind ist ja nur hier unten, sobald es aus der Schule

«In das Zimmer neben der Küche wird übrigens jemand einziehen», sagte Guste. «Da stehen noch Möbel von deinem Vater drin. Musst mal gucken, was du davon haben willst.»

«Und wer zieht da ein?»

Guste hob die Schultern. «Einweisung vom Wohnungsamt.»

«Du hast keine Ahnung, wer kommt?»

«Wohl ein Kriegsheimkehrer», sagte Guste.

«Aus Hamburg? Hat er keine Familie?»

«Er wird es uns erzählen, wenn er da ist», sagte Guste und biss ein Stück Faden ab.

«Hoffentlich ist er nett», sagte Florentine. Sie sprang vom Teppich auf und hielt Guste die Zeitschrift hin. «So will ich das Kleid haben.»

Guste schenkte dem Bild einen kurzen Blick. «Dann arbeite mal darauf hin, das Dekolleté zu füllen», knurrte sie.

 

Campmann kehrte aus der Mittagspause zurück, die er meistens korrekt einhielt, wie es alle Angestellten der Dresdner Bank taten. Er setzte sich an den Schreibtisch und legte das Buch von Bastian Müller darauf. Warum hatte er es gekauft? Es war nicht seine Literatur.

Wollte er einen Wandel demonstrieren? Das hatte er doch gar nicht nötig, er war erfolgreich entnazifiziert worden.

Gelegentlich wanderten seine Gedanken zu Ida. Dann nahm er sich vor, die neue Sekretärin in seinem Vorzimmer zu einem Cocktail ins L’Arronge einzuladen. Zu schade, dass die Briten das Vier Jahreszeiten noch nicht wieder für die Eingeborenen freigegeben hatten.

Die Neue im Vorzimmer gefiel ihm. Hatte Klasse, dieses

Was wohl aus Joan geworden war? Er hatte auch nach dem Krieg nichts mehr von seiner amerikanischen Geliebten gehört. Die hatte auch diese Herbheit und dabei doch Leidenschaft besessen, die Friedrich Campmann in Fräulein von Mach vermutete.

Eigentlich lag er erotisch seit Jahren brach, da und dort kleine Kostproben, doch nichts Ernstes. Er hätte große Lust, noch mal eine Ehefrau an seiner Seite zu haben, es täte sicher auch seinem Ansehen in der Bank gut. Zum Direktor würde er nicht mehr aufsteigen, dafür waren seine Kontakte zu Goebbels zu gut gewesen, das wusste man intern, aber für Glanz und Gloria reichte auch sein jetziger Posten.

Er blickte auf, als Fräulein von Mach ins Zimmer trat, um ihm die Unterschriftenmappe vorzulegen.

«Hätten Sie Lust auf einen kleinen Feierabendcocktail?», fragte Campmann. Ein Erröten hätte er erwartet. Vielleicht auch ein Vertiefen der vornehmen Blässe. Dieses Lächeln allerdings irritierte ihn. Anette von Mach wirkte ganz und gar nicht überrascht, ihr Lächeln schien gar zu verkünden, dass sie schon mehr wusste als er.

 

Alex Kortenbach war ein Kriegsheimkehrer, doch er kam aus keiner Gefangenschaft, es sei denn der seines Exils. Er wirkte jünger, als er war, das hatte ihn in seinen ersten Erwachsenenjahren gestört, jetzt fühlte er Dankbarkeit, dass man ihm die Jahre, die hinter ihm lagen, nicht ansah.

Er hatte schon 1933 als Junge von sechzehn Jahren gewusst, dass er es nicht lange ertragen konnte, in der Heimat

Als Kortenbach Deutschland verließ, hatte er geglaubt, seine Familie eines Tages wieder in die Arme zu schließen. Dass sie alle in einem Keller verbrennen könnten, war nicht vorstellbar gewesen. Seine große Schwester hatte am 24. Juli Geburtstag. An ihrem dreißigsten saß die ganze Familie bei seinen Eltern in Hoheluft versammelt, um die Tochter zu feiern, sogar ihr Mann, der auf Heimaturlaub war. Vermutlich hatten sie mit viel Kümmel angestoßen, wie es bei ihnen üblich war, und dazu die Schnittchen seiner Mutter.

Von den Bombenangriffen im Juli 1943, dem Hamburger Feuersturm, hatte Alex Kortenbach erst Monate später erfahren. Da war ein schwedischer Matrose in die Bar in Bahia Blanca gekommen, in der er Klavier spielte. Der Schwede hatte die Geschehnisse der jüngeren Zeit vorgetragen, als sei er ein Bänkelsänger.

Nach dem Krieg die Bestätigung, dass sie alle tot waren. Sinnlos, nach Hause zurückzukehren. Doch nun hatte er sich auf den Weg von Argentinien nach Hamburg gemacht, um hier sein Leben zu beenden.

Im Ledigenheim hatte er einen Schlafplatz gefunden und in den ersten Wochen den Kiez am Hafen nur selten verlassen. Er erkannte die Stadt kaum mehr, in der er geboren und aufgewachsen war.

Heute hatte er zum ersten Mal einen Gang durch die Straßen von Hoheluft und Eimsbüttel gewagt. War über den zerstörten Grindelberg zurück zur Rothenbaumchaussee gegangen, stand schließlich vor dem Haus in der Johnsallee,

Alex Kortenbach war einunddreißig Jahre alt, als er Gustes Haus betrat. Auch sie hielt ihn für viel jünger und war von ganzem Herzen bereit, ein neues Küken in ihr Nest zu lassen.

 

Was nutzten die besten Beziehungen, wenn man dann doch nur die Kartei der hiesigen Behörden empfohlen bekam, den Suchdienst des Roten Kreuzes oder bestenfalls den Rat, sich in Sachen Rudi an die Sowjetische Militäradministration in Ostberlin zu wenden? Geschätzte zweihunderttausend kriegsgefangene Soldaten wurden noch in Russland vermutet.

«Angeblich sollen sie im Laufe dieses Jahres zurückkommen», hatte Hamburgs Stadtkommandant gesagt und den Namen des Beraters der Sowjets in Berlin genannt.

Von jenem Wladimir Semjonow wusste Garuti nur, dass er wenig unversucht ließ, um auch Westberlin zu kontrollieren. Semjonow galt als einer der geistigen Väter der Blockade, die Berlin seit Juni 1948 in Hungersnöte trieb. Die Versorgung war nur noch über eine Luftbrücke möglich, die Flugzeuge der westlichen Alliierten flogen die Stadt täglich an, dennoch litten ihre Bewohner.

Garuti pirschte unruhig umher in Theos Salon. Vor Emil Maetzels Stillleben mit Negerfigur blieb er stehen.

«Die Russen werden lachen wie ein Rudel Löwen, wenn ich nach Rudi frage und um seine Freilassung bitte», sagte er.

Theo Unger hatte noch nie etwas von lachenden Löwenrudeln gehört, vielleicht eine italienische Redewendung oder eine Inspiration durch das afrikanisch anmutende Bild

«Was ist aus dem Doppelporträt geworden, das früher hier hing?», fragte Garuti. «Ist es bei Elisabeth?»

«Da gehört es hin. Ihre Mutter und Tante sind die Porträtierten.»

Garuti nickte. «Und dieses Bild?»

«Gehörte meinem Kollegen und Freund Dr. Kurt Landmann.»

«Der sich das Leben genommen hat?»

«Ja», sagte Unger. «Im Herbst 1938. Nachdem die Nazis ihm die Approbation entzogen hatten, weil er Jude war.»

Garuti seufzte tief. «Hast du die Karte noch?», fragte er.

Unger wusste, wovon Garuti sprach. Die Karte, die ihn im Juni des vergangenen Jahres erreicht hatte. Via Campmann, Idas erstem Mann, für den Rudis Schwiegermutter Anna gekocht hatte.

Ich bin beauftragt von Herrn Rudi Odefey, Sie in Kenntnis zu setzen, dass Obengenannter russischer Kriegsgefangener ist und sich in einem Lager im Ural aufhält und harte Arbeit in einem Bergwerk verrichtet. Ich habe mich bis April selbst dort aufgehalten. Gez.

Mit einem Allerweltsnamen war die Karte gezeichnet. Keine Adresse. Der Stempel verwischt.

«Ihr schient gute Gründe zu haben, nicht gleich den Suchdienst zu verständigen», sagte Garuti.

«Ja, die Sorge, dass Rudi alle Lebenskraft verliert, wenn er hört, dass Käthe vermisst wird.»

Alessandro Garuti nickte, doch er hatte diese Entscheidung schon damals angezweifelt. «Una confessione», sagte er. «Ich habe trotz eures Einwandes sofort das Rote Kreuz

Unger nahm dieses Geständnis nahezu mit Erleichterung auf. Es war ein Fehler gewesen, nicht gleich eine Kontaktaufnahme zu versuchen. Er ging zu seinem Schreibtisch, zog die oberste Schublade auf und entnahm ihr die Karte.

Garuti drehte sie in den Händen, wie Henny und Theo sie schon so oft gedreht hatten. Das dünne Papier war nur noch abgegriffener geworden dabei.

«Ist es ein schlechtes Zeichen, dass Rudi nicht schreibt?», fragte Unger.

Alessandro Garuti wischte diesen untröstlichen Gedanken beiseite. «Es gibt kaum Postkontakt», sagte er. «Ich hörte von Schweigelagern. Da kommt keine Nachricht raus und keine rein.»

Unger dachte, dass Rudis Kamerad vor nahezu einem Jahr das Lager im Ural verlassen hatte. An jedem Tag dieser elf Monate konnte Rudi gestorben sein. Erfroren. Verhungert. Von einer Krankheit dahingerafft. Er schwieg.

Sie wandten sich beide um, als die Tür zum Salon geöffnet wurde und Klaus eintrat.

«Gibt es Neues von Rudi?», fragte er, als er die Karte bemerkte. «Oder von Käthe?»

Unger und Garuti schüttelten die Köpfe.

«Warum setzt ihr eigentlich keine Anzeige in die Zeitung?»

Die beiden Männer sahen Klaus fragend an.

«Ein paar Wörter nur. Käthe. Rudi lebt. Melde dich bei Theo Unger.»

«Warum nicht bei Henny?», fragte Theo.

Doch Klaus hatte da eine Ahnung.

 

Den ganzen Tag war sie in Altona und Eimsbüttel unterwegs gewesen, in der Hoffnung, irgendwo eine Arbeit zu finden. Die Stadtteile auf der anderen Seite der Alster mied sie. Dass sie Henny am Silvestertag jäh ins Bild geraten war, hing ihr noch nach.

Das Hüttchen war ihr Trost. Zwei winzige Räume am Rande der Schrebergartensiedlung, die benachbarten Lauben abgebrannt während der Bombennächte. Keiner, der sie hier vermutete.

Der kostbarste Gegenstand war der Spirituskocher. Auch wenn es kaum etwas gab, um es auf der Platte zu kochen. Die Dosenwurst, die ihr jemand heute aus Mitleid in die Hand gedrückt hatte, weil es keine Arbeit für Käthe gab, musste auch nicht erhitzt werden.

Es gelang ihr, die verbeulte Dose zu öffnen. Den Büchsenöffner hatte sie hier vorgefunden. Dazu eine große Suppenkelle, als gäbe es Suppe zu löffeln. Ein wenig Geschirr. Zwei Gabeln. Ein Messer. Eine Matratze auf dem Boden. Kissen und Decke hatte sie gekauft, als es noch Tütchen mit Geld gab.

Jagdwurst aus Wehrmachtsbeständen in der Büchse. Die Wurst roch fettig. Käthe nahm einen vorsichtigen Bissen.

Worum durfte man Gott bitten? Sicher nicht, satt zu werden. Doch vielleicht darum, dass Rudi keinen allzu schweren Tod gehabt hatte.

Vielleicht sollte sie ein Stück Brot dazu essen, dann ließ sich die Wurst leichter verdauen. Das Fett konnte nicht schaden. Kalorien, die sich in Wärme umwandelten, wenn man doch noch mal aufs Überleben setzte. Käthe stand auf, um an die Brotdose zu gehen, und zuckte zusammen, als sie ein lautes Scheppern hörte.

Sie lugte aus dem Fensterchen und sah ein dreibeiniges Eisenteil vor der Schreberhütte liegen. Das war eben noch nicht da gewesen.

Käthe schreckte zurück, als das Gesicht vor dem Fenster erschien. Groß, weiß und sehr blond. Blonder, als sie es in Erinnerung hatte.

Eine schrille Stimme. «Bist du dadrin?»

Ja. Sie war dadrin. Und voller Angst. Oder eher Sorge. Was wollte Kitty hier? Das Hüttchen zurückhaben?

Half nichts. Rausgehen. Fragen, was Sache war.