Jared Diamond
Krise
Wie Nationen sich erneuern können
Aus dem amerikanischen Englisch von Sebastian Vogel und Susanne Warmuth
FISCHER E-Books
Jared Diamond, 1937 in Boston geboren, ist Pulitzer-Preisträger und Autor des Bestsellers »Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen«. Er ist Professor für Geographie an der Universität von Kalifornien in Los Angeles. Sein Hauptforschungsgebiet ist die Evolutionsbiologie. Für seine Arbeit auf dem Feld der Anthropologie und Genetik ist Jared Diamond vielfach ausgezeichnet worden. Nach »Der dritte Schimpanse«, »Arm und Reich«, hat er zuletzt in den S. Fischer Verlagen »Vermächtnis« veröffentlicht.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Staaten müssen Krisen bewältigen wie Menschen persönliche Schicksalsschläge! Der Bestsellerautor und Pulitzer-Preisträger Jared Diamond zeigt in seinem neuen Buch, wie Nationen mit den gegenwärtigen Krisen erfolgreich umgehen können. Anhand der deutschen Nachkriegsgeschichte und weiterer historischer Beispiele zeichnet Diamond die Muster nach, wie sich Staaten von tiefgreifenden Erschütterungen erfolgreich erholen. Dabei wird deutlich: Bei der Bewältigung von Krisen sind ähnliche Faktoren entscheidend wie beim Umgang mit individuellen Traumatisierungen. Es gilt, sich zu verändern, ohne alles infrage zu stellen. Ein Buch zur rechten Zeit, das erklärt, wie Nationen an Krisen wachsen.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »Upheaval. Turning Points for Nations in Crisis« im Verlag Little, Brown and Company, New York
© 2019 by Jared Diamond
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2019 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: KOSMOS Visuelle Kommunikation
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-400669-7
Barry Rolett und Jared Diamond. Environmental predictors of pre-European deforestation on Pacific islands. Nature 431:443–446 (2004)
Jared Diamond und James Robinson (Hrsg.). Natural Experiments of History. (Harvard University Press, Cambridge, MA, 2010)
Gabriel Almond, Scott Flanagan, Robert Mundt (Hrsg.). Crisis, Choice, and Change: Historical Studies of Political Development. (Little, Brown, Boston, 1973)
Diese beiden mächtigen, konkurrierenden Bezirke – Satsuma an der Südspitze der südlichen japanischen Hauptinsel Kyushu, Choshu an der südwestlichen Spitze der größten Insel Honshu – spielten in vielen Stadien der neueren japanischen Geschichte eine wichtige Rolle. Beide wurden im Jahr 1600 von den Armeen der Tokugawa unterworfen. Anfang der 1860er Jahre übernahmen beide die Führung bei Angriffen auf westliche Staatsbürger und Schiffe, und deshalb waren sie auch das Hauptziel der westlichen Vergeltungsmaßnahmen. Beide begruben ihre Rivalität, um 1868 den letzten Shogun zu stürzen, aber in den 1870er Jahren inszenierten sie dann die größten Aufstände gegen die Meiji-Regierung.
Offizieller deutscher Text nach https://usa.usembassy.de/etexts/gov/unabhaengigkeit.pdf (Anm. d. Übers.)
1C, 2C, 3D, 4A, 5B, 6A, 7B, 8D
Ich widme dieses Buch
dem Andenken meiner Eltern Louis und Flora Diamond und der Zukunft meiner Frau Marie Cohen und
meiner Söhne Max und Joshua Diamond
Zwei Geschichten ■ Was ist eine Krise? ■ Persönliche und staatliche Krisen ■ Was dieses Buch will und was nicht ■ Der Aufbau dieses Buches
Fast jeder von uns erlebt im Laufe seines Lebens persönliche Umbrüche oder Krisen, die wir durch die Veränderung unseres eigenen Verhaltens meistern oder nicht. In ähnlicher Weise erleben auch Staaten nationale Krisen, die durch Veränderungen auf nationaler Ebene erfolgreich bewältigt werden oder nicht. Zum Thema »Bewältigung persönlicher Krisen« ist reichlich Forschungs- und anekdotisches Material vorhanden, erarbeitet und zusammengetragen von Therapeuten. Könnten ihre Erkenntnisse uns dabei helfen, die Bewältigung von Staatskrisen zu verstehen?
Lassen Sie mich anhand von zwei Geschichten, die ich selbst erlebt habe, beispielhaft zeigen, was ich mit persönlichen und nationalen Krisen meine. Man sagt, die ersten datierbaren sicheren Erinnerungen eines Kindes würden im Alter von etwa vier Jahren angelegt, wobei sich Kinder jedoch auch an einzelne frühere Ereignisse erinnern könnten. Diese allgemeine Aussage trifft auf mich zu, denn das früheste Ereignis, das ich zeitlich festmachen kann, ist der Brand im Bostoner Cocoanut Grove, der kurz nach meinem fünften Geburtstag stattfand. Obwohl ich (glücklicherweise) nicht vor Ort war, habe ich es durch die schrecklichen Berichte meines Vaters, der Arzt war, sozusagen aus zweiter Hand erlebt.
Das Feuer brach am 28. November 1942 in einem überfüllten Bostoner Nachtclub namens Cocoanut Grove (so die Schreibung, die der Besitzer gewählt hatte) aus und breitete sich rasch aus, aber der einzige Ausgang war in kürzester Zeit blockiert. Insgesamt kamen 492 Menschen zu Tode, Hunderte wurden verletzt, sie erstickten, wurden niedergetrampelt, erlitten Rauchvergiftungen oder Verbrennungen (Tafel 0.1). Ärzte und Krankenhäuser waren überfordert – nicht nur mit den direkten Feueropfern, den Verletzten und den Sterbenden, sondern auch mit den indirekten, den psychischen Opfern des Feuers: Angehörige, die daran verzweifelten, dass ihre Ehemänner, ihre Ehefrauen, ihre Kinder oder Geschwister auf so schreckliche Art ums Leben gekommen waren, aber auch Überlebende, die traumatisiert waren von Schuldgefühlen, weil sie überlebt hatten, während Hunderte anderer Gäste zu Tode gekommen waren. Bis 22.15 Uhr war ihr Leben in Ordnung gewesen, man feierte Thanksgiving, ein Footballmatch und die Soldaten auf Heimaturlaub. Um 23.00 Uhr waren die meisten Todesopfer bereits gestorben, und ihre Angehörigen und die Überlebenden stürzten in eine Krise. Ihre gesamte Lebensplanung war über den Haufen geworfen. Sie schämten sich, dass sie lebten, während jemand, den sie geliebt hatten, sterben musste. Die Angehörigen hatten jemanden verloren, der für ihre Identität von zentraler Bedeutung war. Nicht nur für die Überlebenden des Feuers, auch für die Bostoner, die weit weg vom Feuer wohnten (so wie ich als Fünfjähriger) erschütterte die Katastrophe den Glauben an eine gerechte Welt. Die so Gestraften waren keine unartigen Jungs oder üble Verbrecher gewesen: Es waren ganz normale Leute, die ohne eigene Schuld umgekommen waren.
Einige der Überlebenden und der Angehörigen blieben für den Rest ihres Lebens traumatisiert. Manche begingen Selbstmord. Doch bei den meisten setzte nach mehreren Wochen tiefsten Schmerzes, in denen sie nicht in der Lage waren, ihren Verlust anzunehmen, ein langsamer Prozess ein, in dessen Verlauf sie trauern, ihre Stärken wiederfinden, ihr Leben neu aufbauen und entdecken konnten, dass ihre Welt nicht komplett zerstört war. Viele, die ihren Ehepartner verloren hatten, heirateten wieder. Doch selbst in den besten Fällen wiesen sie Jahrzehnte später eine zusammengesetzte, eine »Mosaik«-Identität auf, bestehend aus der, die nach der Brandkatastrophe entstanden war, und der, die sie davor besessen hatten. Wir werden die Mosaik-Metapher in diesem Buch noch öfter auf Individuen und Staaten anwenden, in denen verschiedene Elemente unharmonisch koexistieren.
Der Brand im Cocoanut Grove stellt ein extremes Beispiel für eine persönliche Krise dar. Aber es ist nur in dem Sinn extrem, weil das Unglück eine große Zahl von Opfern auf einmal traf – die Opferzahl war sogar so groß, dass der Brand zudem eine Krise heraufbeschwor, die neue Herangehensweisen in der Psychotherapie erforderte, wie wir in Kapitel 1 sehen werden. Viele von uns erleben solche individuellen Tragödien aus erster Hand im eigenen Leben oder aus zweiter Hand durch das, was ein Verwandter oder ein Freund erlebt. Und doch sind solche Tragödien, die nur einem einzigen Opfer widerfahren, für dieses Opfer und seinen Freundeskreis ebenso schmerzlich, wie es der Brand im Cocoanut Grove für die Freundeskreise der 429 Opfer war.
Hier nun, zum Vergleich, ein Beispiel für eine nationale Krise. Während der späten 1950er und der frühen 1960er Jahre lebte ich in Großbritannien, das zu dieser Zeit eine schleichende Staatskrise durchlief, obwohl weder meine britischen Freunde noch ich das damals richtig wahrhaben wollten. Großbritannien war seinerzeit führend in der Wissenschaft, mit einer reichen kulturellen Geschichte gesegnet, stolz und einzigartig britisch und sonnte sich noch im Gedenken an die weltgrößte Flotte, den weltgrößten Wohlstand und das flächenmäßig größte Imperium der Weltgeschichte. Nur blutete Großbritannien in den 50ern wirtschaftlich leider aus, es verlor sein Empire und seine Macht, war sich uneins, welche Rolle es in Europa spielen wollte, und hatte mit alten Klassenunterschieden und neuen Einwandererwellen zu kämpfen. Zwischen 1956 und 1961 spitzten sich die Dinge zu, als Großbritannien seine verbliebenen Schlachtschiffe verschrottete, seine ersten Rassenunruhen erlebte, seine afrikanischen Kolonien nach und nach in die Unabhängigkeit entlassen und außerdem zusehen musste, wie die Suezkrise schmählich offenbarte, dass es die Fähigkeit verloren hatte, unabhängig als Weltmacht zu agieren. Meine britischen Freunde bemühten sich, all diese Geschehnisse zu verstehen und sie mir, ihrem amerikanischen Gast, zu erklären. Diese Tiefschläge verstärkten die Diskussionen über die Identität und die Rolle Großbritanniens zwischen der Bevölkerung und den Politikern.
Heute, sechzig Jahre später, ist Großbritannien ein Mosaik aus seinem neuen und seinem alten Selbst. Es hat das Empire abgeschüttelt und sich zu einer multiethnischen Gesellschaft entwickelt, es ist ein Wohlfahrtsstaat geworden und betreibt staatliche Schulen von hoher Qualität, um die Klassenunterschiede zu verringern. Seine beherrschende Rolle als See- und als Handelsmacht hat Großbritannien nicht wiedererlangt, und mit seiner Rolle in Europa hadert es noch immer (Stichwort »Brexit«). Aber Großbritannien gehört noch immer zu den sechs reichsten Nationen der Welt, es hat immer noch eine parlamentarische Demokratie mit einer Königin als Galionsfigur, es ist immer noch führend in Wissenschaft und Technik, und es hat immer noch sein Pfund Sterling als Währung und nicht den Euro.
Diese beiden Geschichten illustrieren, worum es in diesem Buch geht. Krisen und der Druck zur Veränderung betreffen Individuen und Gruppen auf allen Ebenen, von der Einzelperson über Teams und Wirtschaftszweige bis hin zu Staaten und der Welt als Ganzem. Krisen können durch Druck von außen ausgelöst werden, etwa wenn ein Mensch seinen Partner verliert, sei es durch Trennung oder durch Tod, oder wenn eine Nation von einer anderen angegriffen wird. Alternativ können Krisen auch durch inneren Druck ausgelöst werden, etwa wenn ein Mensch erkrankt oder eine Nation von Unruhen erschüttert wird. Der erfolgreiche Umgang mit innerem oder äußerem Druck erfordert selektive Veränderungen. Das gilt für Staaten wie Individuen gleichermaßen.
Das Schlüsselwort heißt »selektiv«. Es ist weder möglich noch erstrebenswert, dass sich Individuen oder Nationen völlig verändern und alles aufgeben, was mit ihrer früheren Identität zu tun hat. Die Herausforderung für Individuen oder Staaten in der Krise ist herauszufinden, welche Teile der jeweiligen Identität gut funktionieren und beibehalten werden können und welche nicht mehr ordentlich funktionieren und deshalb verändert werden sollten. Individuen und Nationen, die unter Druck stehen, müssen eine ehrliche Bestandsaufnahme ihrer Fähigkeiten und Werte vornehmen. Sie müssen entscheiden, was bei ihnen funktioniert, was vielleicht sogar unter den neuen Bedingungen angemessen ist und daher beibehalten werden kann. Umgekehrt brauchen sie den Mut zu erkennen, was sich ändern muss, um mit der neuen Situation umzugehen. Dafür ist es erforderlich, dass Individuen oder Staaten neue Lösungen finden, die mit ihren Fähigkeiten und dem Rest ihres (Staats-)Wesens vereinbar sind. Gleichzeitig müssen sie eine Haltelinie einziehen und die Elemente benennen, die für ihre Identität so wichtig sind, dass sie sie auf keinen Fall ändern wollen.
Das waren einige der Paralleln, die man mit Blick auf Krisen zwischen Individuen und Staaten ziehen kann. Es gibt allerdings auch unübersehbare Unterschiede, die man berücksichtigen muss.
Wie definieren wir »Krise«? Ein naheliegender Ausgangspunkt ist die Herleitung des Wortes aus dem griechischen Substantiv »krisis« und dem Verb »krino«, die verschiedene, aber miteinander zusammenhängende Bedeutungen haben: »trennen«, »entscheiden«, »einen Unterschied machen« und »Wendepunkt«. Das heißt, man kann sich die Krise als eine Art Stunde der Wahrheit vorstellen: Ein Wendepunkt, an dem sich die Bedingungen vor und nach diesem »Moment« »viel mehr« voneinander unterscheiden als vor und nach den »meisten« anderen Momenten. Ich setze die Wörter »Moment«, »viel mehr« und »meisten« in Anführungszeichen, weil es ein praktisches Problem darstellt festzulegen, wie kurz der Moment, wie groß die Unterschiede der geänderten Bedingungen und wie viel seltener als die meisten anderen Momente ein Wendepunkt sein sollte, um ihn als »Krise« bezeichnen zu können und nicht als irgendein kleines, aber auffälliges Ereignis oder eine ganz normale, allmählich eintretende Veränderung.
Der Wendepunkt stellt eine Herausforderung dar. Es entsteht der Druck, neue Methoden zur Lösung des Problems zu finden, wenn sich frühere Methoden als ungeeignet für diese Herausforderung erwiesen haben. Wenn es einer Person oder einer Nation gelingt, bessere Methoden zur Lösung des Problems zu finden, dann sagen wir, die Krise wurde erfolgreich gemeistert. In Kapitel 1 werden wir sehen, dass der Unterschied zwischen Erfolg und Misserfolg beim Lösen eines Problems nicht immer ganz klar ist – vielleicht ist es nur ein Teilerfolg, oder der Erfolg hält nicht an, und das Problem kehrt zurück. (Denken Sie nur an das Vereinigte Königreich, das seine Rolle in der Welt »klärte«, indem es 1973 der Europäischen Union beitrat, und 2017 dafür stimmte, die Europäische Union wieder zu verlassen.)
Beschäftigen wir uns jetzt mit dem praktischen Problem: Wie kurz, wie groß und wie selten muss ein Wendepunkt sein, damit er die Bezeichnung »Krise« verdient? Wie oft im Leben eines Individuums oder in tausend Jahren regionaler Geschichte kann man das Etikett »Krise« sinnvollerweise anwenden? Auf diese Fragen gibt es unterschiedliche Antworten, Antworten, die für unterschiedliche Zwecke taugen.
Eine extreme Antwort beschränkt das Wort »Krise« auf sehr seltene und dramatische Umbrüche in sehr großen Zeitabständen: zum Beispiel einige wenige Male während der Lebenszeit eines Individuums und alle paar hundert Jahre bei einem Staat. Ein Fachmann für römische Geschichte könnte das Wort »Krise« beispielsweise auf gerade einmal drei Ereignisse anwenden, die nach der Gründung der römischen Republik (um 509 v. Chr.) stattfanden: die ersten beiden Punischen Kriege (264–241 und 218–201 v. Chr.), das Ersetzen der republikanischen Regierungsform durch das Kaisertum (um 23 v. Chr.) und der Einfall der Barbaren, der zum Untergang des Weströmischen Reiches führte (um 476 n. Chr.). Natürlich wäre das, was sich sonst noch zwischen 509 v. Chr. und 476 n. Chr. in der römischen Geschichte zugetragen hat, für diesen Historiker nicht trivial; aber er würde nur die drei genannten außergewöhnlichen Ereignisse als »Krisen« bezeichnen.
Das umgekehrte Extrem finden wir in einer Veröffentlichung meines UCLA-Kollegen David Rigby und seiner Koautoren Pierre-Alexandre Balland und Ron Boschma, in der sie eine ausgezeichnete Studie über »technologische Krisen« in amerikanischen Städten vorstellen. Krisen definierten sie für ihren Zweck als Zeiträume, in denen die Patentanmeldungen kontinuierlich zurückgingen, wobei das Wort »kontinuierlich« mathematisch definiert war. Mit diesen Definitionen als Grundlage stellten sie fest, dass sich eine amerikanische Stadt im Schnitt etwa alle zwölf Jahre in einer technologischen Krise befindet und dass diese Krise durchschnittlich vier Jahre anhält. Diese Definition war aufschlussreich für das Verständnis einer Frage von hohem praktischen Interesse: Was versetzt andere amerikanische Städte in die Lage, technologische Krisen dieser Art zu vermeiden? Unser Beispielhistoriker würde all die Ereignisse, die David und seine Kollegen untersucht haben, als belanglose Bagatellen abtun, während David und seine Kollegen dagegenhalten würden, dass der Historiker bis auf die drei Großereignisse alles unter den Tisch fallen lässt, was sich in 985 Jahren römischer Geschichte zugetragen hat.
Ich bin der Auffassung, dass man »Krise« unterschiedlich definieren kann, nach Unterschieden in der Häufigkeit, in der Dauer oder in der Auswirkung. Sowohl das Studium seltener großer Krisen als auch das häufiger kleiner Krisen kann sinnvoll sein. In diesem Buch betrachte ich Zeiträume von ein paar Jahrzehnten bis zu einem Jahrhundert. Alle Länder, über die ich sprechen werde, haben während meiner eigenen Lebenszeit eine – wie ich meine – »größere Krise« durchlaufen. Niemand bestreitet, dass alle außerdem häufiger kleinere Wendepunkte erlebt haben.
Bei individuellen und bei staatlichen Krisen schauen wir oft auf einen einzigen, entscheidenden Moment: zum Beispiel der Tag, an dem eine Frau ihrem Mann erklärt, dass sie die Scheidung eingereicht hat, oder ein Datum wie der 11. September 1973 (im Fall der chilenischen Geschichte), als das chilenische Militär die demokratisch gewählte Regierung stürzte und der Präsident Selbstmord beging. Manche Krisen treten allerdings auch ohne Vorwarnung aus heiterem Himmel ein, wie etwa der Tsunami, der am 26. Dezember 2006 vor Sumatra entstand und dem in kürzester Zeit 200000 Menschen zum Opfer fielen, oder der Tod meines Cousins, der in der Blüte seines Lebens starb, als sein Auto auf einem Bahnübergang von einem Zug zermalmt wurde, und der eine Frau und vier Kinder hinterließ. Doch die meisten individuellen und staatlichen Krisen sind die Gipfelpunkte einer längeren Entwicklung, die sich über Jahre hingezogen hat: beispielsweise die Eheprobleme des Paares, das sich nun scheiden lässt, oder die politischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten in Chile. Die »Krise« ist der Moment, in dem jemand den Druck, der sich über lange Zeit aufgebaut hat, plötzlich als solchen erkennt oder plötzlich darauf reagiert. Dass diese Beschreibung zutrifft, bestätigte Australiens Premierminister Gough Whitlam nachdrücklich: Wie wir in Kapitel 7 sehen werden, stampfte er im Dezember 1972 innerhalb von 19 Tagen ein umfangreiches Reformprogramm aus dem Boden, spielte es aber als »Anerkenntnis dessen, was bereits geschehen ist« herunter.
Nationen sind keine Individuen im Großformat: Sie unterscheiden sich ganz offensichtlich in vielem von Individuen. Warum ist es nichtsdestoweniger erhellend, nationale Krisen durch die Brille individueller Krisen zu betrachten? Welche Vorteile bringt diese Herangehensweise?
Ein Vorteil, der mir oft begegnet, wenn ich mit Freunden und Studenten über Staatskrisen diskutiere, ist der, dass persönliche Krisen für Nichthistoriker leichter zu verstehen sind, auch weil die meisten so etwas selbst schon einmal erlebt haben. Die Perspektive der individuellen Krise erleichtert es daher dem normalen Leser, den Vergleich zu einer nationalen Krise herzustellen und deren Komplexität zu durchschauen.
Ein anderer Vorteil ist, dass wir durch die Erforschung individueller Krisen inzwischen ein Dutzend Faktoren kennen, die uns erklären, weshalb Krisen unterschiedlich ausgehen. Diese Faktoren stellen einen guten Ausgangspunkt dar, um eine entsprechende Liste von solchen Faktoren zu erarbeiten, die uns hilft zu verstehen, weshalb nationale Krisen unterschiedlich enden. Wie wir sehen werden, lassen sich manche Faktoren eins zu eins von der individuellen auf die staatliche Krise übertragen. Zum Beispiel erhalten Menschen in einer Krisensituation oft Hilfe von Freunden, und genauso können Staaten in einer Krisensituation Hilfe von verbündeten Nationen anfordern. Menschen in einer Krisensituation orientieren sich bei der Lösung des Problems unter Umständen daran, wie andere mit einer ähnlichen Krise umgegangen sind; auch Staaten in der Krise können Lösungen, die andere Nationen mit ähnlichen Problemen bereits entwickelt haben, aufgreifen und für sich adaptieren. Bereits früher überstandene Krisen können sowohl Individuen als auch Staaten das Selbstvertrauen geben, die aktuelle Krise zu meistern.
So weit die augenfälligen Parallelen. Wir werden aber auch sehen, dass einige Faktoren, die uns etwas über den Ausgang persönlicher Krisen verraten, wenngleich sie sich nicht direkt auf staatliche Krisen übertragen lassen, trotzdem als nützliche Metaphern dienen und Faktoren ins Gespräch bringen können, die für staatliche Krisen relevant sind. Beispielsweise hat es sich für die Therapie als hilfreich erwiesen, eine persönliche Eigenschaft zu definieren, die als »Ich-Stärke« bezeichnet wird. Staaten haben keine Ich-Stärke in diesem psychologischen Sinne, doch man könnte ein vergleichbares, ähnlich wichtiges Konzept für Staaten vorschlagen, die »nationale Identität«. Im persönlichen Bereich werden Lösungsmöglichkeiten für Krisensituationen oft durch praktische Dinge, wie das Problem der Kinderbetreuung oder berufliche Anforderungen, eingeschränkt. So etwas gibt es auf staatlicher Ebene natürlich nicht. Aber wie wir noch sehen werden, können auch Staaten, wenn auch aus anderen Gründen, wie geopolitischen Zwängen oder den Staatsfinanzen, in ihrer Entscheidungsfreiheit eingeschränkt sein.
Der Vergleich mit persönlichen Krisen hebt auch die Merkmale deutlicher hervor, die nationale Krisen aufweisen können und für die es keine Entsprechungen bei individuellen Krisen gibt. Zu diesen Merkmalen gehört, dass Staaten Herrscher oder Regierungschefs haben, Individuen dagegen nicht. Damit stellt sich bei staatlichen, nicht jedoch bei persönlichen Krisen regelmäßig die Frage nach der Rolle der Führungspersönlichkeit. Unter Historikern wurde und wird noch immer darüber gestritten, ob außergewöhnliche Herrscher oder Anführer wirklich den Lauf der Geschichte verändert haben (»Große Männer machen Geschichte«-Theorie) oder ob die Geschichte mit einer x-beliebigen anderen möglichen Führungsfigur nicht ähnlich verlaufen wäre. (Zum Beispiel: Wäre der Zweite Weltkrieg auch dann ausgebrochen, wenn Hitler 1930 bei dem Autounfall, bei dem er schwer verletzt wurde, tatsächlich gestorben wäre?) Staaten haben politische und ökonomische Einrichtungen, Individuen nicht. Zur Lösung nationaler Krisen gehört immer die Interaktion von Gruppen und das Herbeiführen einer Entscheidung innerhalb der Nation; Individuen können ihre Entscheidungen oft alleine treffen. Staatskrisen können entweder durch gewaltsame Revolution (Beispiel Chile 1973) oder durch friedliche Evolution (Beispiel Australien nach dem Zweiten Weltkrieg) beendet werden; ein einzelnes Individuum macht keine gewaltsame Revolution.
Wegen dieser Ähnlichkeiten, Metaphern und Unterschiede bin ich zu der Auffassung gelangt, dass Vergleiche zwischen staatlichen und persönlichen Krisen sinnvoll sind, um meinen Studenten an der UCLA (University of California, Los Angeles) das Verständnis von Staatskrisen zu erleichtern.
Leser und Rezensenten eines Buches merken oft erst während des Lesens, dass das Buch nicht die Themen behandelt oder nicht so an sie herangeht, wie sie es erwartet oder sich gewünscht hatten. Worum geht es in diesem Buch, und wie nähern wir uns diesen Themen? Was habe ich weggelassen?
Dieses Buch untersucht vergleichend, erzählend, forschend Krisen und selektive Veränderungen über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten und in sieben modernen Nationen, die ich alle aus persönlicher Anschauung kenne und die ich unter dem Aspekt selektiver Veränderungen in persönlichen Krisen betrachte. Die Länder sind Finnland, Japan, Chile, Indonesien, Deutschland, Australien und die Vereinigten Staaten von Amerika.
Lassen Sie mich erklären, was das im Einzelnen bedeutet.
Die vergleichende Herangehensweise. Dieses Buch widmet sich nicht einer Nation allein. Stattdessen verteilt es seine Aufmerksamkeit auf sieben Nationen, so dass diese miteinander verglichen werden können. Sachbuchautoren müssen sich entscheiden, ob sie einzelne Fallbeispiele vorstellen oder viele Fälle miteinander vergleichen wollen. Beide Vorgehensweisen haben Vor- und Nachteile. Bei einer vorgegebenen Textlänge kann man im Einzelfall sehr viel mehr ins Detail gehen, aber Vergleiche eröffnen Perspektiven und decken Dinge auf, die sich aus einer Einzelfallstudie nicht ergeben hätten.
Historische Vergleiche zwingen dazu, Fragen zu stellen, die sich aus einer Einzelfallstudie wohl kaum ergeben hätten: Warum hat ein bestimmter Ereignistyp in einem Land zum Ergebnis R1 geführt, in einem anderen aber zum ganz anderen Ergebnis R2? Zum Beispiel können Bücher, die die Geschichte des Amerikanischen Bürgerkriegs in einem Band abhandeln, auf sechs Seiten den zweiten Tag der Schlacht bei Gettysburg beschreiben, aber sie können nicht ergründen, warum die Sieger des Amerikanischen Bürgerkriegs, anders als die Sieger des Spanischen oder des Finnischen Bürgerkriegs, das Leben der Unterlegenen verschonten. Autoren von Einzelfallstudien beklagen vergleichende Studien oft als zu stark vereinfachend und oberflächlich, Autoren vergleichender Studien dagegen bemängeln an Einzelfallstudien ebenso oft, dass sie nicht in der Lage seien, weitgefasste Fragen zu beantworten. Diese Auffassung wird oft in folgendem Bonmot zusammengefasst: »Wer nur ein Land untersucht, wird am Ende kein Land verstehen.« Dieses Buch ist vergleichend angelegt, mit allen Vor- und Nachteilen, die das mit sich bringt.
Nachdem die Seiten dieses Buches unter sieben Nationen aufgeteilt sind, achte ich peinlich genau darauf, dass mein Bericht über jede einzelne kurz und prägnant ist. Wenn ich an meinem Schreibtisch sitze und mich umwende, sehe ich hinter mir auf dem Boden meines Arbeitszimmers ein Dutzend bis 1,50 Meter hohe Stapel aus Büchern und Artikeln, jeder davon enthält das Material für ein Kapitel. Es war eine geistige Herkulesaufgabe, die 1,50 Meter Material über das Nachkriegsdeutschland auf ein Kapitel mit 11000 Wörtern zu komprimieren. Ich musste so vieles weglassen! Aber die Kürze hat auch ihr Gutes: Sie hilft Lesern, wichtige Themenbereiche zwischen Nachkriegsdeutschland und anderen Nationen zu vergleichen, ohne sich in faszinierenden Details, Ausnahmen, Wenns und Abers zu verlieren oder davon erschlagen zu werden. Leser, die tiefer in die Thematik eindringen wollen, finden am Ende des Buches eine Liste mit Büchern und Artikeln zu Einzelfallstudien.
Die erzählende (narrative) Darstellungsweise: Das ist der traditionelle Stil der Historiker; er geht zurück bis auf die Anfänge der Geschichtsschreibung, die vor mehr als 2400 Jahren von den griechischen Autoren Herodot und Thukydides entwickelt wurde. »Erzählender Stil« heißt, dass die Argumente und Überlegungen in Prosa vorgetragen werden, nicht in Gleichungen, Tabellen, Graphen oder statistischen Signifikanztests, und dass es sich um eine kleine Zahl von untersuchten Fällen handelt. Dieser Stil steht in starkem Kontrast zum machtvollen neuen quantitativen Ansatz in der modernen sozialwissenschaftlichen Forschung, die von Gleichungen, testbaren Hypothesen, Tabellen, Graphen und großen Stichprobengrößen (das heißt vielen untersuchten Fällen), die statistische Signifikanztests erlauben, ausgiebig Gebrauch macht.
Ich habe die Aussagekraft der modernen quantitativen Methoden schätzen gelernt. Und ich habe mich ihrer in einer statistischen Untersuchung zur Entwaldung von 73 polynesischen Inseln bedient,[1] um zu Schlüssen zu kommen, die aus einem erzählenden Bericht über die Entwaldung von ein paar Inseln nie überzeugend hätten abgeleitet werden können. Außerdem war ich Mitherausgeber eines Buches,[2] in dem einige meiner Koautoren quantitative Methoden in genialer Weise anwandten, um Fragen zu beantworten, die schon seit langem ergebnislos von erzählend arbeiteten Historikern diskutiert worden waren. Zum Beispiel ob Napoleons militärische Eroberungen und die davon aufgelösten politischen Brüche für die anschließende wirtschaftliche Entwicklung in Europa gut oder schlecht waren.
Anfangs hatte ich noch gehofft, moderne quantitative Methoden in dieses Buch integrieren zu können. Ich verbrachte Monate damit, das zu versuchen, bis ich schließlich einsah, dass dies eine Aufgabe für ein eigenes, späteres Projekt wäre. Aus diesem Grund musste dieses Buch stattdessen mit Hilfe einer narrativen Untersuchung Hypothesen und Variablen identifizieren, die später in einer quantitativen Studie getestet werden können. Meine Stichprobengröße von gerade einmal sieben Nationen ist zu klein, um statistisch signifikante Schlüsse zu ziehen. Es wird noch viel Arbeit sein, meine narrativen qualitativen Konzepte wie »erfolgreiche Krisenbewältigung« und »ehrliche Selbsteinschätzung« zu »operationalisieren«, das heißt, solche sprachlichen Konzepte in etwas zu übersetzen, das mit Zahlen gemessen werden kann. Aus diesem Grund stellt dieses Buch eine narrative Erforschung dar, die – wie ich hoffe – quantitative Tests anregen wird.
Von den weltweit über 210 Staaten beschäftigt sich dieses Buch lediglich mit sieben, die ich recht gut kenne. Alle sieben habe ich mehrfach besucht. In sechs davon habe ich längere Zeit gelebt, zum Teil schon vor siebzig Jahren, und ich spreche ihre Sprache oder habe sie früher gesprochen. Ich schätze und bewundere alle diese Nationen und freue mich jedes Mal, wenn ich sie wieder besuchen kann. Alle sieben habe ich in den vergangenen zwei Jahren bereist, und von zweien könnte ich mir vorstellen, mich dauerhaft dort niederzulassen. Das heißt, ich kann mit Sympathie und Wissen über sie schreiben, aufgrund meiner persönlichen Erfahrungen und derjenigen meiner langjährigen Freunde dort. Meine Erfahrungen und die meiner Freunde überspannen eine ausreichend lange Zeit, in der wir Zeugen größerer Veränderungen waren. Japan ist die einzige der sieben Nationen, bei der meine persönlichen Erfahrungen etwas stärker eingeschränkt sind, da ich die Sprache nicht spreche und meine Besuche dort in den vergangenen 21 Jahren auch nur von kurzer Dauer waren. Dafür kann ich auf die lebenslangen Erfahrungen meiner angeheirateten japanischen Verwandten zurückgreifen und auf die meiner japanischen Freunde und Studenten.
Natürlich handelt es sich bei den sieben Nationen, die ich aufgrund meiner persönlichen Erfahrungen ausgewählt habe, nicht um eine Zufallsstichprobe aller Staaten der Welt. Fünf davon sind reiche Industrieländer, eine verfügt über bescheidenen Wohlstand und nur eine ist ein armes Entwicklungsland. Es ist kein afrikanisches Land dabei, zwei Länder liegen in Europa, zwei in Asien, und je ein Staat gehört zu Nordamerika, Südamerika oder Australien. Es bleibt anderen Autoren überlassen zu testen, inwieweit sich die Schlussfolgerungen, die ich aus dieser nicht zufälligen Stichprobe ziehe, auch auf andere Nationen anwenden lassen. Ich habe diese Einschränkungen akzeptiert und diese sieben Länder ausgewählt, weil ich es für einen immensen Vorteil halte, nur über Staaten zu sprechen, die ich aufgrund langer und intensiver persönlicher Erfahrungen, Freundschaften und (in sechs Fällen) Vertrautheit mit der Sprache verstehe.
In diesem Buch geht es fast ausschließlich um Staatskrisen neuerer Zeit, solche, die sich während meiner Lebenszeit ereignet haben, so dass ich aus der Perspektive eines Zeitzeugen darüber schreiben kann. Die Ausnahme stellt wieder Japan dar, dem ich zwei Kapitel widme; in einem davon diskutiere ich das heutige Japan, im anderen Veränderungen, die vor meiner Zeit stattfanden, das Japan der Meiji-Ära (1868–1912). Dieses Kapitel habe ich aufgenommen, weil es sich um ein schlagendes Beispiel für bewusst herbeigeführte selektive Veränderungen handelt, weil die Ereignisse noch in der jüngeren Vergangenheit stattfanden und weil die Erinnerung an das Meiji-Japan und dessen Probleme auch im heutigen modernen Japan noch präsent sind.
Natürlich ist es in der Vergangenheit immer wieder zu Staatskrisen und Veränderungen gekommen, und sie haben ähnliche Fragen aufgeworfen. Über Fragen der Vergangenheit kann ich nicht aus persönlicher Erfahrung berichten, aber zu solchen Krisen liegt umfangreiche Literatur vor. Bekannte Beispiele sind Niedergang und Fall des Weströmischen Reiches im 4. und 5. Jahrhundert, Niedergang und Fall des südafrikanischen Zulustaates im 19. Jahrhundert, die Französische Revolution von 1789 und die nachfolgende Neuorganisation Frankreichs oder Preußens katastrophale Niederlage in der Schlacht von Jena 1806, seine Eroberung durch Napoleon und die anschließenden Reformen im sozialen, wirtschaftlichen und militärischen Bereich. Ein paar Jahre nachdem ich begonnen hatte, an diesem Buch zu schreiben, und mir sogar schon einen Titel dafür überlegt hatte, stellte ich fest, dass es bereits ein anderes Buch gab, dessen Titel (Crisis, Choice, and Change) nahelegte, dass es sich mit ähnlichen Themen beschäftigt, und das schon 1973 bei meinem amerikanischen Verlag (Little, Brown and Company) erschienen war![3] Dieses Buch unterscheidet sich dennoch von meinem, unter anderem weil es einige Fallbeispiele aus der ferneren Vergangenheit enthält, aber auch in einigen grundlegenden Aspekten. (Es war ein Band mit Beiträgen von vielen Autoren und mehreren Herausgebern, die alles in einen Rahmen namens »Systemfunktionalismus« stellten.)
Professionelle Historiker legen bei ihrer Forschungsarbeit großen Wert auf Archivstudien, das heißt, sie analysieren die erhaltenen schriftlichen Originaldokumente. Jedes neue Geschichtsbuch rechtfertigt seine Existenz damit, dass es bislang nicht oder zu wenig genutzte Quellen heranzieht oder Quellen, die andere Historiker bereits verwendet haben, neu interpretiert. Im Gegensatz zu den meisten der zahlreichen Bücher, die ich in der Bibliographie aufführe, beruht mein Buch nicht auf Archivstudien. Stattdessen kommt sein Beitrag durch einen neuartigen Rahmen zustande, der sich aus persönlichen Krisen herleitet, aus einer explizit vergleichenden Herangehensweise und einem Blickwinkel, der auf meinen eigenen Erfahrungen und denen meiner Freunde beruht.
Dies ist kein Zeitschriftenartikel zur aktuellen politischen Lage, der in den Wochen nach seiner Veröffentlichung gelesen wird und dann überholt ist. Vielmehr ist es ein Buch, das auch Jahrzehnte nach seiner Erstveröffentlichung noch lieferbar sein soll. Ich hebe das eigentlich Selbstverständliche hervor, nur damit Sie sich nicht vielleicht wundern, dass hier nirgendwo von der Politik der derzeitigen US-Regierung die Rede ist, auch nicht von Präsident Trumps Regierungsstil oder von den laufenden Brexit-Verhandlungen in Großbritannien. Alles, was ich heute über diese sich schnell verändernden Themen schriebe, wäre in beschämender Weise überholt, bis das Buch auf dem Markt wäre, und zudem in zehn oder zwanzig Jahren völlig uninteressant. Leser, die sich für Präsident Trump, seine Politik oder den Brexit interessieren, finden mehr als genug Veröffentlichungen zu diesen Themen an anderer Stelle. In den Kapiteln 9 und 10 steht jedoch eine ganze Menge zu Themenfeldern, die die US-amerikanische Politik seit zwanzig Jahren umtreiben, die unter der gegenwärtigen Regierung noch mehr Aufmerksamkeit erfordern und die uns wahrscheinlich auch noch mindestens zehn weitere Jahre beschäftigen werden.
Und hier kommt nun der Fahrplan durch mein Buch. Im ersten Kapitel werde ich über persönliche Krisen sprechen, den Rest des Buches widme ich staatlichen Krisen. Wir alle haben selbst schon Krisen durchlitten oder Krisen im Freundeskreis oder in der Familie miterlebt, von daher wissen wir, wie unterschiedlich solche Krisen enden können. Im besten Fall gelingt es den Betroffenen, neue und bessere Bewältigungsstrategien zu finden, und sie gehen gestärkt aus der Krise hervor. Im traurigsten Fall schaffen sie es nicht, die Krise zu bewältigen, kehren in ihre ausgetretenen Pfade zurück oder suchen sich neue, schlechtere Wege, um damit umzugehen. Manche Menschen in Krisensituationen nehmen sich sogar das Leben. Therapeuten haben zahlreiche Faktoren ausgemacht, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass jemand eine persönliche Krise erfolgreich bewältigt; zwölf dieser Faktoren stelle ich in Kapitel 1 vor. Zu diesen Faktoren suche ich später nach vergleichbaren Faktoren, die den Ausgang von Staatskrisen beeinflussen.
All denen, die jetzt entsetzt aufstöhnen: »Ein Dutzend Faktoren! Wer soll sich das denn merken? Können Sie die nicht noch ein bisschen reduzieren?«, sage ich: Es wäre absurd zu glauben, dass sich die Folgen für das Leben eines Menschen oder die Geschichte einer Nation in sinnvoller Weise auf ein paar wenige Schlagworte reduzieren ließen. Sollten Sie das Pech gehabt haben, an ein Buch geraten zu sein, das Ihnen genau das verspricht, werfen Sie es weg, ohne es zu Ende zu lesen. Und umgekehrt, sollten Sie an ein Buch geraten sein, das alle 76 Faktoren zur Konfliktlösung abhandelt, werfen Sie es ebenfalls weg: Es ist die Aufgabe des Autors, nicht die des Lesers, die ungeheure Komplexität des Lebens auf ein sinnvolles Maß zu reduzieren und Prioritäten zu erstellen. Meiner Meinung nach sind zwölf Faktoren ein akzeptabler Kompromiss zwischen diesen beiden Extremen: detailreich genug, um ein Gutteil der Wirklichkeit zu erklären, aber nicht so detailliert, wie man vorgehen würde, um eine Inventurliste zu erstellen.
Auf das einleitende Kapitel folgen drei Kapitelpaare, wobei jedes Paar einem anderen Typ von Staatskrise gewidmet ist. Das erste Paar beschäftigt sich mit Krisen in zwei Ländern (Finnland und Japan), die völlig überraschend kamen, als Reaktion auf Schocks, die von anderen Ländern ausgelöst wurden. Beim zweiten Paar (Chile und Indonesien) geht es ebenfalls um Krisen, die unvermittelt ausbrachen, aber aufgrund plötzlicher Ereignisse im Inneren. Mit dem letzten Paar (Deutschland und Australien) beschreibe ich Krisen, die nicht schlagartig ausbrachen, sondern sich allmählich entwickelten, vor allem aufgrund der Belastungen, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auftraten.
In Finnland brach die Krise aus, als die Sowjetunion das Land am 30. November 1939 angriff. Während des sogenannten Winterkriegs wurde Finnland buchstäblich von all seinen möglichen Verbündeten im Stich gelassen und erlitt schwere Verluste, dennoch gelang es dem Land, seine Unabhängigkeit gegen die Sowjetunion, das vierzigmal mehr Einwohner hatte als Finnland, zu verteidigen. Zwanzig Jahre später verbrachte ich einen Sommer in Finnland; ich war zu Gast bei Veteranen, Witwen und Waisen des Winterkriegs. Vermächtnis des Krieges war eine auffällige, selektive Veränderung, die Finnland zu einem vorher nicht gekannten »Mosaik«, einer Mischung gegensätzlicher Elemente werden ließ: Eine wohlhabende, kleine, liberale Demokratie, die eine Außenpolitik verfolgte, die alles daransetzte, das Vertrauen der verarmten, reaktionären, riesigen Sowjetdiktatur zu erlangen. Von vielen Nichtfinnen, die die historischen Hintergründe dieser Politik nicht verstanden, wurde sie als beschämend angesehen und als »Finnlandisierung« schlechtgemacht. Einen der intensivsten Augenblicke meines Sommers erlebte ich, als ich gegenüber einem Veteranen des Winterkriegs unwissentlich eine ähnliche Auffassung vertrat und dieser mir höflich erklärte, das sei die bittere Lektion, die die Finnen gelernt hätten, nachdem ihnen von anderen Nationen die Hilfe verweigert worden sei.
Die andere der beiden Krisen, die durch einen von außen herbeigeführten Schock eintraten, traf Japan. Dessen langjährige Abschottungspolitik endete am 8. Juli 1853, als eine Flotte amerikanischer Kriegsschiffe in die Bucht von Tokio einfuhr und einen Handelsvertrag und Rechte für US-Schiffe und -Seeleute verlangte (Kapitel 3). Am Ende stand die völlige Umgestaltung des politischen Systems in Japan, ein bewusst herbeigeführtes Programm weitreichender Veränderungen und ein ebenso bewusstes Programm zur Aufrechterhaltung vieler traditioneller Eigenheiten. Dank dieser Entscheidungen gehört Japan heute zu den reichsten Industrienationen der Welt und hat dennoch seinen eigenständigen Charakter gewahrt. In den Jahrzehnten nach dem Eintreffen der US-Flotte, in der sogenannte Meiji-Ära, durchlief Japan eine große Transformation; an diesem Beispiel lassen sich auf nationaler Ebene viele der Faktoren, die den Ausgang persönlicher Krisen beeinflussen, hervorragend demonstrieren. Die Entscheidungsprozesse und die militärischen Erfolge des Meiji-Japan helfen uns umgekehrt zu verstehen, warum Japan in den 1930er Jahren andere Entscheidungen traf, die zu seiner vernichtenden Niederlage im Zweiten Weltkrieg führten.
In Kapitel 4 geht es um Chile, das erste der beiden Länder, deren Krisen innere Zusammenbrüche waren, die auf den Verlust des politischen Ausgleichs unter ihren Bürgern zurückgingen. Am 11. September 1973, nach Jahren politischen Stillstands, wurde Chiles demokratisch gewählte Regierung unter Präsident Allende vom Militär gestürzt; dessen Anführer, General Pinochet, blieb danach für 17 Jahre an der Macht. Meine chilenischen Freunde hatten weder den Putsch selbst noch die Rekorde für sadistische Folter, die Pinochets Regierung brechen sollte, vorhergesehen, als ich – ein paar Jahre vor dem Umsturz – eine Zeitlang in Chile lebte. Im Gegenteil, sie hatten mir stolz von Chiles langer demokratischer Tradition erzählt, die so anders war als die anderer südamerikanischer Staaten. Auch heute ist Chile wieder ein demokratischer Sonderfall in Südamerika, nach einer selektiven Veränderung, die Teile von Allendes und Teile von Pinochets Modellen in sich vereint. Für amerikanische Freunde, die das Manuskript meines Buches vorab gelesen und mir Rückmeldung gegeben haben, war dieses Kapitel dasjenige, das ihnen am meisten Angst machte: wegen der Geschwindigkeit und der Vollständigkeit, mit der sich eine Demokratie in eine sadistische Diktatur verwandelte.
Das Gegenstück zu Chile ist Indonesien in Kapitel 5. Auch hier führte der Zusammenbruch des politischen Ausgleichs zwischen seinen Bürgern zu einem inneren Zusammenbruch und einem Putschversuch, der am 1. Oktober 1965 stattfand. Der Putsch endete anders als der in Chile: Ein Gegenputsch führte zu einem Massenmord an Anhängern der Partei, die man für den Putschversuch verantwortlich machte. Indonesien ist in fast jeder Hinsicht das Gegenteil der anderen in diesem Buch untersuchten Staaten: Es ist das ärmste, das am wenigsten industrialisierte und das am wenigsten westlich orientierte der sieben von mir ausgewählten Länder, und es hat die jüngste nationale Identität, die sich erst in den vierzig Jahren gefestigt hat, seit denen ich dort arbeite.
Die nächsten beiden Kapitel (6 und 7) beschäftigen sich mit Staatskrisen in Deutschland und Australien, die nicht plötzlich ausbrachen, sondern sich scheinbar über längere Zeit entwickelten. Manche Leser zögern vielleicht, Begriffe wie »Krise« oder »Umbruch« für solche allmählichen Entwicklungen zu verwenden. Doch selbst wenn man einen anderen Begriff dafür verwenden möchte, finde ich es sinnvoll, diese Beispiele im selben Rahmen zu betrachten wie diejenigen, die ich als Beispiele für abruptere Übergänge anführe, da sie dieselben Fragen zu selektiven Veränderungen aufwerfen und dieselben Faktoren aufweisen, die den Ausgang der Krise beeinflussen. Zudem ist die Grenze zwischen einer »plötzlichen Krise« und einer »allmählichen Veränderung« nicht wirklich scharf zu ziehen, sondern etwas willkürlich: Beides geht ineinander über. Selbst in Fällen wie dem tatsächlich harten Übergang beim Putsch in Chile gingen dem Jahrzehnte allmählich anwachsender Spannungen voraus, und es folgten Jahrzehnte allmählicher Veränderungen. Ich beschreibe die Krisen in den Kapiteln 6 und 7 nur als »scheinbar« allmähliche Entwicklungen, weil die Krise von Nachkriegsdeutschland genau genommen mit einer so traumatisierenden Zerstörung begann, wie sie keines der anderen Länder, über die ich in diesem Buch spreche, erfahren hat: Am Tag der Kapitulation, dem Ende des Zweiten Weltkriegs am 8. Mai 1945, lag Deutschland in Ruinen. Die Nachkriegskrise in Australien entwickelte sich ebenfalls allmählich, aber auch sie begann mit drei schockierenden militärischen Niederlagen, die innerhalb von drei Monaten eintraten.
Als Beispiel für ein Land, in dem die Krise nicht plötzlich eintrat, werde ich zunächst Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg (Kapitel 6