Roald Dahl
Ich sehe was, was du nicht siehst
Acht unglaubliche Geschichten
Aus dem Englischen von Sybil Gräfin Schönfeldt, Hansgeorg Bergmann und Rudolf Braunburg
Rowohlt E-Book
Roald Dahl wurde am 13. September 1916 in Llandaff bei Cardiff in Wales als Sohn norwegischer Einwanderer geboren. Sein Vater starb, als der Junge drei Jahre alt war. Nach dem Besuch der Public School Repton absolvierte Dahl eine kaufmännische Lehre bei der Shell Oil Company in London. Im Zweiten Weltkrieg diente er als Pilot der Royal Air Force. Nach einer schweren Verwundung wurde er bis zum Kriegsende als stellvertretender Luftwaffenattaché an die britische Botschaft in Washington versetzt. Anschließend lebte Dahl abwechselnd in den USA und in England als Drehbuchautor, Publizist und freier Schriftsteller. Er starb am 21. November 1990 in der Nähe von London.
Weitere Veröffentlichungen:
Charlie und die Schokoladenfabrik
Danny oder Die Fasanenjagd
James und der Riesenpfirsich
Sophiechen und der Riese
Hexen hexen
Matilda
Die Zwicks stehen kopf
Der gläserne Fahrstuhl
Das Wundermittel
Onkel Oswald und der Sudankäfer
Die Prinzessin und der Wilderer
Konfetti
Mein Freund Claud
Boy
Im Alleingang
Wodurch lassen wir uns lieber unterhalten als durch die unglaublichen Geschichten des unvergleichlichen Roald Dahl? Alle Leser von «Küsschen, Küsschen», «Kuschelmuschel» und «Danny oder Die Fasanenjagd» werden auch an diesen atemberaubenden Überraschungen wieder ihre helle Freude haben.
«Eine herrliche Geschichten-Sammlung! Spannend und aufregend. Dahl übertrifft sich selbst.» (New York Times Book Review)
«Lakonisch erzählt und exzellent zu lesen.» (Welt am Sonntag)
Dieser Band enthält alle Erzählungen aus «The Wonderful Story of Henry Sugar and six more», 1977 bei Jonathan Cape in London erschienen, und die Erzählung «The Butler».
Hinweise auf die Übersetzer und die Originaltitel der einzelnen Erzählungen finden sich am Ende des Buches.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, August 2014
Copyright © 1980 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
«The Wonderful Story of Henry Sugar and six more» Copyright © 1977 by Roald Dahl Nominée Ltd.
«The Butler» Copyright © 1973 by Roald Dahl Nominée Ltd.
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages
Umschlagtypographie Susanne Hinselmann
Umschlagbild Jürgen Wulff
Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.
Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.
ISBN Printausgabe 978-3-499-15362-4 (21. Auflage 2011)
ISBN E-Book 978-3-644-04041-0
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-04041-0
Vor noch nicht sehr langer Zeit beschloss ich, ein paar Tage auf den Westindischen Inseln zu verbringen. Es sollte nur ein kurzer Urlaub sein. Freunde hatten mir erzählt, dass es wunderschön dort sei. Ich könnte den ganzen Tag faulenzen, sagten sie, mich an den silbernen Stränden sonnen und im warmen grünen Meer schwimmen.
Ich suchte mir Jamaika aus und flog direkt von London nach Kingston. Die Fahrt vom Kingston Airport zu meinem Hotel, das an der Nordküste lag, dauerte zwei Stunden. Die Insel war sehr bergig, und die Berge waren mit dunklen, dichten Wäldern bewachsen. Der große Jamaikaner, der die Taxe fuhr, erzählte mir, dass oben in den Wäldern noch ganze Stämme von diabolischen Leuten lebten, die noch Voodoozauber praktizierten und Medizinmänner hätten und andere magische Zeremonien betrieben. «Gehen Sie nie da rauf, in diese Bergwälder», sagte er mit rollenden Augen, «da passieren Sachen, da oben, da kriegen Sie weiße Haare von, in einer einzigen Minute.»
«Was denn für Sachen?», fragte ich ihn.
«Besser, Sie fragen nicht danach», sagte er, «es ist nicht gut, davon zu reden.» Und das war alles, was er zu diesem Thema sagen wollte.
Mein Hotel lag an einem perlenweißen Strand, und die Lage war noch schöner, als ich sie mir vorgestellt hatte. Aber in dem Augenblick, in dem ich durch die große geöffnete Eingangstür schritt, fing ich an, mich unbehaglich zu fühlen. Es gab gar keinen Grund dafür. Ich konnte nichts sehen, was nicht in Ordnung gewesen wäre. Aber das Gefühl war da, und ich konnte es nicht abschütteln. Es lag etwas Unheimliches und Drohendes im Raum. Trotz aller Schönheit und trotz des Luxus war da ein Hauch von Gefahr, der in der Luft schwebte wie eine Giftgaswolke.
Und ich war nicht sicher, dass es nur das Hotel war. Die ganze Insel, die Berge und die Wälder, die schwarzen Felsen entlang der Küste und die Bäume mit den leuchtend roten Blütenkaskaden, all das und viele andere Dinge machten, dass ich mich unbehaglich in meiner Haut fühlte. Etwas Bösartiges lauerte unter der Oberfläche dieser Insel. Ich spürte es in meinen Knochen.
Mein Hotelzimmer hatte einen kleinen Balkon, von dem ich direkt zum Strand hinuntergehen konnte. Dort wuchsen überall hohe Kokospalmen, und alle naslang fiel eine riesige grüne Kokosnuss, so groß wie ein Fußball, vom Himmel und landete mit einem Bums im Sand. Es musste töricht sein, sich unter den Palmen aufzuhalten, denn wenn einem so ein Ding auf den Kopf krachte, würde es einem den Schädel zertrümmern.
Das jamaikanische Mädchen, das mein Zimmer aufräumte, erzählte mir, dass ein reicher Amerikaner namens Mr. Wasserman auf genau diese Art und Weise vor zwei Monaten zu Tode gekommen war.
«Sie machen Spaß!», sagte ich zu ihr.
«Das ist kein Spaß!», rief sie. «Nein, Sir! Ich hab’s mit meinen eigenen Augen gesehen!»
«Hat das denn nicht eine fürchterliche Aufregung gegeben?», fragte ich.
«Sie haben es vertuscht», erwiderte sie dunkel, «die Hotelleute haben es vertuscht, und die Leute von der Zeitung auch, denn so was ist schlecht für den Fremdenverkehr.»
«Und Sie haben es wirklich selber gesehen?»
«Ich hab wirklich und wahrhaftig gesehen, wie es passiert ist», sagte sie. «Also dieser Mr. Wasserman stand direkt unter dem Baum da am Strand. Er hat seinen Fotoapparat rausgeholt und damit den Sonnenuntergang anvisiert. An dem Abend war es ein ganz roter Sonnenuntergang, wirklich sehr schön. Und plötzlich kam eine große grüne Kokosnuss runter und platzte ihm genau auf die Glatze. Wumm! Und das», setzte sie nicht ohne Befriedigung hinzu, «war der letzte Sonnenuntergang, den Mr. Wasserman gesehen hat.»
«Wollen Sie damit sagen, dass er auf der Stelle tot war?»
«Ob auf der Stelle, weiß ich nicht», antwortete sie, «ich kann mich nur noch genau daran erinnern, dass ihm der Fotoapparat aus der Hand gefallen ist, in den Sand. Und dann fielen ihm die Arme runter, und er fing an zu schwanken, erst nach hinten, dann nach vorne, ein paarmal, ganz sachte, und ich stand da und beobachtete ihn und dachte, dem armen Mann ist ganz schwindlig, gleich fällt er in Ohnmacht! Und dann kippte er um, ganz langsam.»
«War er tot?»
«Mausetot», sagte sie.
«Gütiger Himmel!»
«Ja», antwortete sie. «Es bringt einem nichts ein, wenn man sich bei Wind unter eine Kokospalme stellt.»
«Danke», erwiderte ich, «das werde ich mir merken.»
Am Abend des zweiten Tages saß ich auf meinem Balkon. Ich hatte ein Buch auf dem Schoß und ein großes Glas Rumpunsch in der Hand. Ich las aber nicht, ich beobachtete eine kleine grüne Eidechse auf dem Boden des Balkons, die sich aus vielleicht zwei Meter Entfernung an eine zweite kleine grüne Eidechse heranschlich. Sie pirschte sich von hinten an und bewegte sich dabei sehr langsam und sehr behutsam. Als sie die andere erreicht hatte, ließ sie ihre lange Zunge vorschnellen und berührte die andere am Schwanz. Die andere fuhr herum, und sie standen sich gegenüber, vollkommen reglos, wie am Boden festgeklebt. Sie starrten sich an, zum Sprung bereit, voller Spannung. Dann begannen sie plötzlich einen komischen kleinen, hüpfenden Tanz. Sie hüpften hoch. Sie hüpften zurück. Sie hüpften nach vorn. Sie hüpften zur Seite. Sie umkreisten sich wie zwei Boxer, ständig hüpfend und tänzelnd. Es war spannend, sie zu beobachten, und ich vermutete, dass sie eine Art Hochzeitstanz vollführten. Ich verhielt mich still und wartete, was als Nächstes geschehen würde.
Aber das sah ich nicht mehr, denn in diesem Moment bemerkte ich unten am Strand ein großes Durcheinander. Ich hob den Blick und sah, wie sich eine Menschenmenge um irgendetwas am Ufer drängelte. Ich sah, gar nicht so weit von mir entfernt, eines von den schmalen kanuartigen Fischerbooten, das auf den Strand gezogen worden war, und vermutete, dass der Fischer mit einer besonders reichen Beute heimgekommen war, die die Leute sich nun anschauten.
Ein Netz voll Fische ist etwas, was mich schon immer fasziniert hat. Ich legte mein Buch beiseite und stand auf. Mehrere Leute kamen von der Hotelveranda und gingen eilig über den Strand zu der Menge am Ufer. Die Männer trugen die grauenhaften Bermudashorts, die bis zu den Kniekehlen reichen, und Flatterhemden, die in den schreiendsten Farben, die man sich denken kann, vor allem in Rosa und Orange, bedruckt waren. Die Frauen besaßen einen etwas besseren Geschmack, sie hatten meist hübsche Baumwollkleider an. Fast alle trugen ein Glas mit irgendeinem Drink in der Hand.
Ich griff mir meinen Rumpunsch und stieg vom Balkon zum Strand hinunter. Ich machte einen kleinen Bogen um die Kokospalme, unter der Mr. Wasserman einen so plötzlichen Tod gefunden hatte, und schlenderte über den wunderschönen silberweißen Strand auf die Gruppe zu.
Aber es war kein Netz voller Fische, das sie anstarrten, es war eine Schildkröte, eine Schildkröte, die auf dem Rücken im Sand lag. Und was für eine Schildkröte! Gigantisch! Ein Riese! Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass Schildkröten so groß werden können. Wie soll ich ihre Größe beschreiben? Ich glaube, wenn sie auf dem Bauch gelegen hätte, dann hätte ein ausgewachsener Mann auf ihrem Rücken sitzen können, ohne dass seine Füße den Boden berührten. Sie war länger als breit, ihr Schild war hoch gewölbt und von großer Schönheit.
Die Fischer, die sie gefangen hatten, hatten sie auf den Rücken gewälzt, damit sie ihnen nicht entkam. Um ihren Panzer war ein dicker Strick geschlungen, und einer der stolzen Fischer, ein schmaler schwarzer, bis auf ein Lendentuch nackter Bursche, stand ein Stückchen neben ihr und hielt das Ende des Stricks mit beiden Händen fest.
Das prachtvolle Geschöpf lag auf dem Rücken, die vier kräftigen Beine ruderten aufgeregt in der Luft, der lange, faltige Hals streckte sich so weit, wie es ging, aus dem Panzer vor. An den Pfoten waren lange, scharfe Krallen.
«Treten Sie zurück, meine Damen und Herren! Bitte!», rief der Fischer. «Treten Sie ein paar Schritte zurück! Diese Klauen sind gefährlich, Leute! Sie können einem glatt den Arm vom Körper fetzen!»
Die Hotelgäste fühlten sich von diesem Schauspiel zugleich abgestoßen und angezogen. Ein Dutzend Fotoapparate fuhr in die Höhe und klickte. Viele der Frauen kreischten vor Vergnügen und klammerten sich am Arm ihrer Männer fest. Und die Männer demonstrierten ihre Furchtlosigkeit und ihre Männlichkeit durch laut herausposaunte alberne Bemerkungen.
«Wie wär’s, Al, willst du dir nicht eine Brille daraus schnitzen?»
«Das verdammte Biest wiegt mindestens eine Tonne.»
«Glaubst du wirklich, dass die schwimmen kann?»
«Natürlich schwimmt die, das sind sogar gute Schwimmer. Können mit Leichtigkeit ein Boot ziehen.»
«Ist das eine Schnappschildkröte?»
«Nein, das ist kein Schnapper. Schnappschildkröten werden nicht so groß. Aber schnappen kann die auch. Komm ihr nicht zu nahe, sonst bist du deine Hand los.»
«Könnte sie jemandem die Hand abreißen?»
«Jetzt würde sie das schon tun», erwiderte der Fischer und lachte, dass seine weißen Zähne blitzten. «Wenn sie im Meer schwimmt, würde sie niemand angreifen. Aber wenn man sie fängt und an den Strand zieht und auf den Rücken kippt, o Mann, da müssen Sie aufpassen, da schnappt sie nach allem, was in ihre Nähe kommt!»
«Ich glaube, ich würde auch zuschnappen», sagte die Frau, «wenn ich in ihrer Lage wäre!»
Irgendein Verrückter hatte im Sand ein Stück Treibholz gefunden und schleppte es jetzt zur Schildkröte hin. Es war eine Bohle von gut anderthalb Meter Länge, mehr als zwei Finger dick. Damit fing er an, nach dem Kopf der Schildkröte zu stoßen.
«Das würde ich nicht machen», sagte der Fischer, «damit bringen Sie sie nur noch mehr in Wut.»
Als die Stange den Hals der Schildkröte berührte, fuhr der große Kopf herum, sie öffnete das Maul und zermalmte das dicke Holz mit einem einzigen Biss mit ihrem Kiefer, als ob es aus Käse wäre.
«Oh!», schrien die Leute auf. «Habt ihr das gesehen? Gut, dass es nicht mein Arm gewesen ist!»
«Lassen Sie sie in Ruhe», sagte der Fischer. «Es bringt doch nichts, wenn Sie sie so aufregen.»
Ein dicker Mann mit fetten Hüften und kurzen Stummelbeinen watschelte auf den Fischer zu und sagte: «Hör mal, Junge. Ich will die Schale da. Ich kauf sie dir ab.» Und zu seiner stämmigen Frau sagte er: «Weiß du, was ich damit machen will, Mildred? Ich nehme die Schale mit nach Hause und lasse sie von einem Fachmann polieren. Und dann stelle ich sie mitten in unser Wohnzimmer! Ist das nicht was?»
«Phantastisch», sagte seine dicke Frau. «Los, kauf das Ding, mein Junge.»
«Keine Angst!», erwiderte er. «Es ist schon so gut wie meins.» Er wandte sich wieder an den Fischer und fragte: «Was soll die Schale kosten?»
«Ich hab sie schon verkauft», erwiderte der Fischer. «Die ganze Schildkröte, mit allem Drum und Dran.»
«Nun mal nicht so hastig, Junge», sagte der fette Mann. «Ich biete dir mehr. Raus damit: Was hat er dir geboten?»
«Das kann ich nicht machen», sagte der Fischer, «ich hab sie schon verkauft.»
«Wem denn?», fragte der fette Mann.
«Dem Manager.»
«Was für einem Manager?»
«Dem Manager vom Hotel.»
«Habt ihr das gehört?», schrie ein anderer Mann. «Er hat sie dem Manager von unserem Hotel verkauft! Wisst ihr, was das heißt? Das heißt Schildkrötensuppe! Das heißt es!»
«Er hat recht! Und Schildkrötensteak! Hast du schon mal Schildkrötensteak gegessen, Bill?»
«Noch nie in meinem Leben, Jack. Und ich dränge mich auch nicht danach.»
«Ein Schildkrötensteak schmeckt besser als Beefsteak, man muss es nur richtig braten. Es ist viel zarter, und es hat ein Aroma …!»
«Hör mal», sagte der fette Mann zum Fischer, «ich will dir ja gar nicht das Fleisch abhandeln. Der Manager kann sein Fleisch kriegen. Er kann das ganze Drum und Dran haben samt Zähnen und Fußnägeln. Ich will nur die Schale haben.»
«Und so, wie ich dich kenne, mein Liebling», sagte seine Frau und strahlte ihn an, «wirst du die Schale auch kriegen.»
Ich stand nur da und hörte der Unterhaltung dieser Menschen zu. Sie sprachen über die Zerstörung, den Konsum und das Aroma eines Geschöpfs, das selbst in dieser Lage noch eine außergewöhnliche Würde zu besitzen schien. Eines war sicher: Die Schildkröte war älter als alle Anwesenden. Sie hatte vermutlich über 150 Jahre die grünen Wasser vor den Westindischen Inseln durchpflügt. Sie war schon dort, als George Washington Präsident der Vereinigten Staaten war und Napoleon bei Waterloo besiegt wurde. Wahrscheinlich war sie damals erst eine kleine Schildkröte, aber gelebt hatte sie bestimmt schon.
Und nun lag sie hier auf dem Rücken im Sand und wartete darauf, für Suppe und Steak geopfert zu werden. Sie war sichtlich alarmiert durch den Lärm und das Geschrei um sie herum. Ihr alter, faltiger Hals reckte sich so weit wie möglich aus der Schale, und der große Kopf drehte sich hierhin und dorthin, wie auf der Suche nach etwas, das ihr den Grund für diese Misshandlung erklären könnte.
«Wie willst du sie denn zum Hotel raufschaffen?», erkundigte sich der fette Mann.
«Wir werden sie mit dem Strick den Strand raufziehen», erwiderte der Fischer. «Die Leute vom Hotel kommen gleich und helfen. Wir werden zehn Mann brauchen, und alle müssen auf einmal schieben.»
«He, Leute!», schrie ein muskulöser junger Mann. «Warum ziehen wir sie nicht rauf?» Der junge Muskelprotz trug fuchsrot und erbsengrün gestreifte Bermudashorts und kein Hemd. Seine Brust war stark behaart und das Fehlen des Hemdes offensichtlich Berechnung. «Dann tun wir sogar noch etwas für unser Abendbrot!», schrie er und spannte die Muskeln. «Los, Leute! Wer macht mit?»
«Großartige Idee!», riefen sie. «Wirklich ein fabelhafter Einfall!»
Die Männer drückten ihren Frauen ihre Gläser in die Hand und stürzten auf den Strick zu. Sie stellten sich hintereinander auf, wie zum Tauziehen, und der junge Mann mit der Wolle auf der Brust ernannte sich selbst zum Anführer und Regisseur.
«Also los, Leute!», schrie er. «Wenn ich sage: Zieht!, dann müsst ihr alle auf einmal ziehen, kapiert?»
Dem Fischer gefiel das nicht. «Das sollten Sie lieber dem Hotel überlassen», sagte er.
«Quatsch!», rief der Mann mit der Wolle auf der Brust. «Zieht, Leute, zieht!»
Sie zogen mit aller Kraft. Die riesige Schildkröte schaukelte auf ihrem Rücken hin und her und wäre fast umgekippt.
«Dreht sie doch nicht um!», schrie der Fischer. «Wenn Sie so weitermachen, drehen Sie sie ja um! Und wenn sie erst wieder auf den Beinen steht, haut sie ab! Mit Sicherheit!»
«Immer mit der Ruhe, mein Junge», sagte der junge Mann mit der Wollbrust herablassend. «Wie soll sie denn abhauen? Wir haben sie doch am Strick, oder?»
«Diese alte Schildkröte zieht euch alle miteinander hinter sich her, wenn sie eine Chance hat!», rief der Fischer. «Sie zieht euch mit ins Meer hinaus, alle miteinander!»
«Zieht!», brüllte die Wollbrust, ohne sich um den Fischer zu kümmern. «Zieht, Leute, zieht!»
Sehr langsam glitt die riesenhafte Schildkröte nun über den Strand, zum Hotel, zur Küche, zu dem Ort, wo die großen Messer lagen. Das Weibervolk und die älteren, fetten, weniger sportlichen Männer spornten den Zug durch Rufe an.
«Zieht!», schrie der dichtbehaarte Anführer dauernd. «Legt euch richtig rein, Leute! Ihr könnt noch mehr!»
Plötzlich hörte ich Schreie. Alle hörten sie. Es waren hohe, schrille Schreie, so eindringlich, dass sie alles durchschnitten. «Nein!», gellte der Schrei. «Nein! Nein! Nein! Nein! Nein!»
Die Gruppe erstarrte. Die Männer am Tau hörten auf zu ziehen, die Schlachtenbummler hörten auf zu rufen, und alle Anwesenden drehten sich in die Richtung um, aus der die Schreie kamen.
Ich sah drei Menschen, einen Mann, eine Frau und einen kleinen Jungen, vom Hotel auf den Strand zukommen. Sie liefen fast, weil der Junge den Mann hinter sich herzerrte. Der Mann hielt den Jungen am Handgelenk fest, versuchte ihn zurückzuhalten, aber der Junge gab nicht nach. Er rannte, hüpfte und zappelte, drehte und wendete sich, um sich aus dem festen Griff des Vaters zu befreien. Es war der Junge, der so schrie.
«Aufhören!», rief er. «Lasst das! Lasst sie los! Bitte, lassen Sie sie doch los!»
Die Frau, seine Mutter, versuchte den anderen Arm des Jungen zu greifen, um ihn ebenfalls zurückzuhalten, aber der Junge sprang so aufgeregt herum, dass es ihr nicht gelang.
«Loslassen!», schrie der Junge. «Es ist gemein, was Sie da machen! Bitte lassen Sie sie los!»
«Hör auf damit, David!», sagte seine Mutter und versuchte immer noch, seinen Arm zu packen. «Sei doch nicht so kindisch! Du machst dich lächerlich!»
«Vati!», schrie der Junge. «Vati! Sag ihnen, dass sie sie loslassen sollen.»
«Das kann ich nicht, David», sagte der Vater. «Es geht uns gar nichts an.»
Die Männer am Tau standen reglos da, das eine Ende des Stricks, der um die riesenhafte Schildkröte geschlungen war, immer noch fest in den Händen. Alle standen schweigend da, verblüfft, und starrten den Jungen an. Sie schienen etwas aus dem seelischen Gleichgewicht geraten zu sein. Sie hatten den betroffenen, leicht dümmlichen Ausdruck von Menschen, die bei etwas ertappt worden sind, was nicht ganz ehrenhaft ist.
«Nun komm schon, David», sagte der Vater und zerrte den Jungen zurück. «Komm mit ins Hotel und lass die Leute in Ruhe.»
«Ich geh nicht zurück!», rief der Junge. «Ich will nicht zurückgehen! Ich will, dass sie sie loslassen!»
«Aber David!», sagte seine Mutter.
«Hau ab, Junge!», rief ihm der Mann mit der Wolle auf der Brust zu.
«Ihr seid grausam und gemein!», rief der Junge. «Ihr alle miteinander seid grausam und gemein!» Er schleuderte diese Worte den vierzig oder fünfzig Erwachsenen, die da im Sand standen, mit sich überschlagender, schriller Stimme entgegen, und diesmal antwortete ihm niemand, nicht einmal der Mann mit der Wolle auf der Brust. «Warum lassen Sie sie nicht wieder ins Meer?», schrie der Junge. «Sie hat Ihnen doch nichts getan! Lassen Sie sie doch laufen!»
Der Vater war zwar verlegen über das Verhalten seines Sohnes, aber er hielt zu ihm. «Er ist ganz verrückt mit Tieren», sagte er zu der Gruppe. «Zu Hause hat er alle möglichen Arten von Tieren. Er spricht sogar mit ihnen.»
«Er liebt sie», setzte die Mutter hinzu.
Ein paar Leute begannen, mit den Füßen im Sand zu scharren. Hier und da spürte man in der Gruppe einen leichten Stimmungsumschlag, ein Gefühl der Unbehaglichkeit, sogar eine Spur von Scham. Der Junge, der nicht älter als acht oder neun Jahre sein mochte, hatte jetzt aufgehört, sich gegen seinen Vater zu wehren. Der Vater hielt ihn zwar noch am Handgelenk fest, zog ihn aber nicht mehr zurück.
«Los!», rief der Junge. «Lassen Sie sie frei! Machen Sie den Strick ab, und lassen Sie sie laufen!» Er stand da, klein und sehr aufrecht, sah die Leute an, seine Augen funkelten wie zwei Sterne, und der Wind fuhr ihm ins Haar. Er war großartig.
«Da können wir nichts machen, David», sagte sein Vater sanft, «lass uns zurückgehen.»
«Nein!», schrie der Junge auf, und im gleichen Augenblick wand und drehte er sich so plötzlich, dass sein Handgelenk aus dem Griff des Vaters glitt. Er war weg wie ein Blitz und rannte über den Sandstrand geradewegs auf die riesenhafte umgedrehte Schildkröte zu.
«David!», schrie sein Vater und lief hinter ihm her. «Halt! Komm zurück!»
Der Junge flutschte zwischen den Leuten durch wie ein Spieler mit dem Ball, und der Einzige, der auf ihn zusprang, um ihn aufzuhalten, war der Fischer. «Geh nicht an die Schildkröte ran, Junge!», rief er und versuchte die vorbeiflitzende Gestalt festzuhalten. «Die reißt dich in Stücke!», schrie der Fischer. «Bleib stehen, Junge! Halt!»
Aber es war zu spät, um ihn jetzt noch aufzuhalten, und als er genau auf den Kopf der Schildkröte zuschoss, schnellte das Tier seinen riesigen umgekehrten Kopf herum, um den Jungen anzublicken.
Die entsetzte, von Todesangst erfüllte wimmernde Stimme der Mutter des Knaben stieg in den Abendhimmel empor. «David!», rief sie. «O David!» Im nächsten Augenblick kniete der Junge im Sand, schlang seine Arme um den faltigen Hals der Schildkröte und zog ihren Kopf an seine Brust. Er presste die Wange gegen den Kopf der Schildkröte. Seine Lippen bewegten sich und flüsterten tröstende Worte, die niemand vernehmen konnte. Die Schildkröte wurde vollkommen ruhig. Sie hörte sogar auf, mit ihren gewaltigen Füßen durch die Luft zu rudern.
Ein tiefer Seufzer, ein langer, sanfter Seufzer der Erleichterung, fuhr durch die Gruppe. Manche gingen ein, zwei Schritte zurück, als wollten sie einen gewissen Abstand von einem Geschehnis gewinnen, das ihr Begriffsvermögen überstieg. Aber der Vater und die Mutter kamen näher und blieben etwa zwei, drei Meter von ihrem Sohn entfernt stehen.
«Vati!», rief der Junge und streichelte dabei unablässig den alten braunen Kopf. «Tu doch bitte was, Vati! Mach doch bitte, dass sie sie laufenlassen.»
«Kann ich hier irgendwie helfen?», fragte ein Mann in einem weißen Anzug, der gerade aus dem Hotel gekommen war. Es war, wie alle wussten, Mr. Edwards, der Manager, ein hochgewachsener Engländer mit einer Schnabelnase und einem langen rosigen Gesicht. «Was für ein außergewöhnlicher Anblick!», sagte er und betrachtete den Jungen und die Schildkröte. «Er kann von Glück sagen, dass sie ihm nicht den Kopf abgerissen hat.» Und zu dem Jungen sagte er: «Du solltest jetzt lieber von ihr weggehen, mein Söhnchen. Das Tier ist gefährlich.»
«Ich will, dass sie sie laufenlassen!», rief der Junge und wiegte den Kopf immer noch in seinen Armen. «Sagen Sie ihnen doch, dass sie sie laufenlassen sollen!»
«Ihnen ist doch sicher klar, dass er jeden Augenblick getötet werden könnte», sagte der Manager zu dem Vater des Jungen.
«Lassen Sie ihn in Ruhe», erwiderte der Vater.
«Reden Sie keinen Unsinn», sagte der Manager. «Gehen Sie zu ihm, und schnappen Sie ihn sich. Aber machen Sie schnell, und passen Sie auf!»
«Nein», sagte der Vater.
«Was soll das heißen: nein?», fragte der Manager. «Diese Biester sind lebensgefährlich! Verstehen Sie das nicht?»
«Doch», erwiderte der Vater.
«Aber dann holen Sie ihn doch, um Himmels willen, da weg, Mann!», rief der Manager. «Wenn Sie es nicht tun, wird es einen scheußlichen Unfall geben!»
«Wem gehört sie?», fragte der Vater. «Wem gehört die Schildkröte?»
«Uns», antwortete der Manager, «das Hotel hat sie gekauft.»
«Dann tun Sie mir einen Gefallen», sagte der Vater. «Gestatten Sie mir, dass ich sie Ihnen abkaufe.»
Der Manager sah den Vater an, sagte aber nichts.
«Sie kennen meinen Sohn nicht», sagte der Vater, er sprach ganz ruhig. «Er wird den Verstand verlieren, wenn man sie ins Hotel hinaufbringt und schlachtet. Er wird hysterisch werden.»
«Holen Sie ihn bloß da weg!», sagte der Manager. «Und zwar schnell!»
«Er liebt Tiere», fuhr der Vater fort. «Er liebt sie wirklich. Er kann sich mit ihnen verständigen.»
Die Gruppe war still. Alle wollten hören, was gesagt wurde. Niemand ging. Sie standen da, als ob sie hypnotisiert wären.
«Wenn wir sie laufenlassen», sagte der Manager, «wird sie doch nur wieder eingefangen.»
«Vielleicht», antwortete der Vater. «Aber solche Tiere können schwimmen.»
«Ich weiß, dass sie schwimmen können», sagte der Manager. «Man wird sie trotzdem wieder fangen. Es sind Wertgegenstände, das dürfen Sie nicht vergessen. Allein der Panzer ist eine Menge wert.»
«Mir kommt es nicht auf die Kosten an», sagte der Vater. «Machen Sie sich darum keine Sorgen. Ich will sie kaufen.»
Der Junge kniete immer noch neben der Schildkröte im Sand und streichelte ihren Kopf.
Der Manager zog ein Taschentuch aus der Brusttasche und fing an, sich die Finger abzuwischen. Er war nicht sehr versessen darauf, die Schildkröte wieder laufenzulassen. Wahrscheinlich hatte er das Abendmenü schon geplant. Auf der anderen Seite wollte er in dieser Saison nicht noch einen schrecklichen Unfall an seinem Privatstrand haben. Mr. Wasserman und die Kokosnuss, sagte er sich, waren für eine Saison genug gewesen, nein, herzlichen Dank!
Der Vater sagte: «Ich würde es als eine große, persönliche Gunst betrachten, Mr. Edwards, wenn Sie mir erlauben würden, sie zu kaufen. Und ich verspreche Ihnen, dass Sie es nicht zu bereuen hätten. Das möchte ich betonen.»
Die Augenbrauen des Managers zuckten um den Bruchteil eines Millimeters nach oben. Er hatte verstanden. Man bot ihm eine Bestechung an. Das war etwas anderes. Ein paar Augenblicke fuhr er fort, sich die Hände mit dem Taschentuch abzuwischen, dann zuckte er die Schultern: «Na gut, ich finde, wenn sich Ihr Junge dann besser fühlt …»
«Ich danke Ihnen», sagte der Vater.
«Oh, vielen Dank!», rief die Mutter. «Vielen, vielen Dank!»
«Willy», sagte der Manager und winkte den Fischer zu sich.
Der Fischer kam näher. Er sah vollkommen verwirrt aus. «So etwas habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen», sagte er. «Diese alte Schildkröte war die wildeste, die ich je gefangen habe! Sie hat gekämpft wie der Teufel, als wir sie einholten! Wir mussten sie zu sechst an Land bringen! Dieser Junge ist verrückt!»
«Ja, ich weiß», sagte der Manager. «Aber jetzt will ich, dass du sie laufenlässt.»
«Laufenlassen?», rief der Fischer außer sich. «Aber eine solche Schildkröte kann man doch nicht einfach laufenlassen, Mr. Edwards! Sie bricht alle Rekorde! Es ist die größte Schildkröte, die je auf dieser Insel gefangen worden ist! Bestimmt! Die größte! Und was ist mit unserem Geld?»
«Du wirst dein Geld schon kriegen.»
«Ich muss auch die anderen fünf auszahlen», protestierte der Fischer und deutete zum Strand hinunter.
Etwa hundert Meter entfernt standen fünf schwarzhäutige, fast nackte Männer neben einem zweiten Boot am Ufer. «Wir sind alle sechs daran beteiligt», fuhr der Fischer fort. «Jeder kriegt den gleichen Teil. Ich kann die Schildkröte nicht laufenlassen, bevor wir nicht das Geld kriegen.»
«Ich garantiere dir, dass ihr es bekommt», sagte der Manager. «Reicht dir das nicht?»
«Ich unterschreibe diese Garantie», sagte der Vater des Jungen und trat vor. «Und es gibt noch eine Extrabelohnung für euch alle sechs, wenn ihr sie sofort freilasst. Ich meine sofort, auf der Stelle.»
Der Fischer sah den Vater an. Dann warf er einen Blick auf den Manager. «Gut», sagte er, «wenn Sie es so haben wollen.»
«Ich stelle nur eine Bedingung», fuhr der Vater fort. «Ihr kriegt euer Geld nur, wenn ihr versprecht, nicht gleich wieder loszuziehen und das Tier zu fangen. Zumindest nicht heute Abend. Ist das klar?»
«Jawohl», sagte der Fischer. «Das ist ein Geschäft.» Er drehte sich um, rannte den Strand entlang und schrie den anderen fünf Fischern etwas zu, was wir nicht verstehen konnten. Ein oder zwei Minuten später kamen sie alle sechs zurück. Fünf trugen lange, dicke Holzstangen.
Der Junge kniete immer noch neben dem Kopf der Schildkröte.
«David», sagte der Vater sanft zu ihm. «Jetzt ist alles in Ordnung, David. Sie wollen sie freilassen.»
Der Junge sah sich um, nahm aber weder die Arme vom Hals der Schildkröte, noch stand er auf. «Wann?», fragte er.
«Jetzt gleich», antwortete der Vater. «In diesem Augenblick. Es wäre also besser, wenn du hierherkommst.»
«Großes Ehrenwort?», fragte der Junge.
«Ja, David, großes Ehrenwort.»
Der Junge zog die Arme zurück. Er stand auf und trat ein paar Schritte zurück.
«Alles zurück!», rief der Fischer, der Willy hieß. «Bitte, alle Mann zurücktreten!»
Die Gruppe schob sich ein paar Meter weiter den Strand hinauf. Die Tauzieher ließen den Strick fallen und traten mit den anderen zurück.
Willy ließ sich auf alle viere fallen und kroch vorsichtig von der Seite an die Schildkröte heran. Er begann den Knoten zu lösen und hielt sich dabei außerhalb der Reichweite der großen Füße.
Als der Knoten aufgeknüpft war, kroch Willy zurück. Die fünf anderen Fischer traten mit ihren Stangen vor. Es waren etwa drei Meter lange, ziemlich dicke Stangen. Die Männer schoben sie unter den Rückenpanzer der Schildkröte und begannen, das große Tier hin und her zu schaukeln. Der Panzer war hoch gewölbt und zum Schaukeln wie geschaffen.
«Rauf und runter!», sangen die Fischer, während sie das Tier schaukelten. «Rauf und runter! Rauf und runter! Rauf und runter!» Die alte Schildkröte wurde wieder fürchterlich aufgeregt – und wer konnte ihr das verdenken? Ihre großen Füße zappelten verzweifelt in der Luft, der Kopf schnellte immer wieder aus dem Panzer hervor. «Roll sie rum!», sangen die Fischer. «Rauf und runter! Roll sie rum! Noch einmal, und dann ist’s gut!»
Die Schildkröte schwang hoch, blieb einen Augenblick zögernd auf der einen Seite stehen und krachte dann bäuchlings in den Sand.
Aber sie lief nicht sofort weg. Der riesige braune Kopf schob sich heraus, und sie spähte vorsichtig in die Runde. «Lauf, Schildkröte, lauf!», rief der kleine Junge. «Lauf zurück ins Meer!»
Die von Falten umrahmten schwarzen Augen der Schildkröte starrten zu dem Jungen hoch. Es waren glänzende, lebendige Augen, aus denen die Weisheit des hohen Alters sprach. Der Junge erwiderte den Blick der Schildkröte, und als er weitersprach, klang seine Stimme sanft und zärtlich. «Leb wohl, meine Alte», sagte er. «Schwimm diesmal weit genug fort.» Die schwarzen Augen ruhten noch ein paar Sekunden auf dem Jungen. Niemand rührte sich. Dann drehte sich das schwere Tier mit großer Würde um und watschelte auf den Saum des Meeres zu, ohne große Eile. Das Tier kroch gemächlich über den sandigen Strand, und bei jedem Schritt schwankte der gewaltige Panzer sacht von einer Seite zur andern.
Die Menschen schauten ihr schweigend nach.
Die Schildkröte hatte jetzt das Wasser erreicht und ging noch eine Zeitlang vorwärts. Dann fing sie an zu schwimmen. Sie fühlte sich in ihrem Element. Sie schwamm anmutig und sehr rasch, den Kopf hoch in die Luft gereckt. Die See war ruhig, und die Schildkröte machte kleine Wellen, die rechts und links von ihr davonliefen wie die Bugwellen eines Bootes. Es dauerte ein paar Minuten, dann hatten wir sie aus den Augen verloren. Während dieser Zeit war sie bis halb zum Horizont geschwommen. Die Gäste begannen ins Hotel zurückzugehen. Sie fühlten sich sonderbar bedrückt. Es gab keine Späße und keine Hänseleien mehr, auch kein Lachen. Irgendetwas war geschehen. Etwas Fremdes hatte den Strand gestreift.
Ich ging wieder auf meinen kleinen Balkon, setzte mich hin und rauchte eine Zigarette. Ich hatte das merkwürdige Gefühl, dass dies noch nicht das Ende der Geschichte wäre.
Am nächsten Morgen um acht Uhr brachte mir das Eingeborenen-Mädchen, das mir von Mr. Wasserman und der Kokosnuss erzählt hatte, ein Glas Orangensaft ins Zimmer.
«Heute früh große, große Aufregung im Hotel», sagte sie, während sie das Glas auf den Tisch stellte und die Gardinen zurückzog. «Alle laufen umher, als ob sie verrückt wären.»
«Warum denn? Was ist passiert?»
«Dieser kleine Junge von Nummer 12 ist verschwunden. Mitten in der Nacht ist er verschwunden.»
«Der Schildkrötenjunge?»
«Genau der», antwortete sie. «Seine Eltern stellen das ganze Hotel auf den Kopf, und der Manager wird verrückt.»
«Seit wann ist der denn verschwunden?»
«Ungefähr vor zwei Stunden hat sein Vater gesehen, dass das Bett leer ist. Aber er kann auch schon früher weggelaufen sein, schon mitten in der Nacht, meine ich.»
«Ja», sagte ich, «das hätte er tun können.»
«Er wird im ganzen Hotel gesucht, in jedem Winkel», fuhr sie fort, «und eben ist ein Polizeiauto angekommen.»
«Vielleicht ist er nur früh aufgestanden und klettert in den Felsen herum», sagte ich.
Ihre großen dunklen Geisteraugen ruhten einen Augenblick auf meinem Gesicht, dann wanderte ihr Blick weiter. «Das glaube ich nicht», sagte sie, und damit ging sie hinaus.
Ich zog mir etwas an und lief zum Strand hinunter, wo zwei eingeborene Polizisten in Khaki-Uniformen und Mr. Edwards, der Manager, standen. Mr. Edwards sprach, und die Polizeibeamten hörten ihm geduldig zu. In der Ferne, an beiden Enden des Strandes, sah ich kleine Gruppen von Menschen, Hotelangestellte und Hotelgäste, die ausströmten und auf die Felsen zu marschierten. Der Morgen war wunderbar. Der Himmel war rauchblau und hatte einen ganz leichten gelben Schimmer. Die Sonne schien schon und ließ überall auf der ruhigen See Diamanten funkeln. Und Mr. Edwards hielt den beiden eingeborenen Polizisten mit lauter Stimme einen Vortrag und ruderte dazu mit den Armen.
Ich wollte gern helfen. Aber was sollte ich tun? Wo sollte ich hingehen? Es wäre sinnlos, den anderen einfach zu folgen. Deshalb ging ich weiter auf Mr. Edwards zu.
Ungefähr zu diesem Zeitpunkt sah ich das Fischerboot. Das lange Holzkanu mit dem einen Mast und dem flatternden braunen Segel war noch ziemlich weit draußen auf der See, aber es hielt auf den Strand zu. Die beiden Eingeborenen an Bord, einer vorn, der andere hinten, pullten mit voller Kraft und außergewöhnlich schnell. Die Paddelblätter hoben und senkten sich mit so rasender Geschwindigkeit, als ob die Männer an einem Wettrennen teilnähmen. Ich blieb stehen und beobachtete sie. Warum beeilten sie sich so, um den Strand zu erreichen? Sie hatten offensichtlich etwas zu berichten. Ich behielt sie und das Boot im Blick. Links von mir hörte ich, wie Mr. Edwards zu den beiden Polizeibeamten sagte: «Das ist vollkommen lächerlich. Es geht nicht, dass einfach Leute aus dem Hotel verschwinden. Es wäre gut, wenn Sie ihn so schnell wie möglich fänden, haben Sie mich verstanden? Entweder läuft er irgendwo herum, oder er hat sich verirrt, oder er ist entführt worden. In jedem Fall ist die Polizei dafür verantwortlich, dass …»
Das Fischerboot flog durch die Brandungswelle und glitt in den Ufersand. Die beiden Männer ließen ihre Paddel fallen und sprangen aus dem Boot. Sie rannten den Strand hinauf, und ich sah, dass der vordere Mann Willy war. Als er den Manager und die beiden Polizisten sah, lief er auf sie zu.
«He, Mr. Edwards!», rief Willy. «Wir haben gerade etwas Komisches gesehen!»
Der Manager erstarrte und warf den Kopf in den Nacken. Die beiden Polizeibeamten verhielten sich unbeeindruckt. Sie waren aufgeregte Leute gewohnt. Mit denen hatten sie es jeden Tag zu tun.
Willy blieb keuchend vor der Gruppe stehen, seine Brust hob und senkte sich in schnellem Rhythmus. Der andere Fischer stand dicht hinter ihm. Die beiden waren bis auf ein schmales Lendentuch nackt, und ihre schwarze Haut glänzte vor Schweiß.
«Wir sind eine lange Strecke so schnell gepaddelt, wie wir konnten», sagte Willy, um seine Atemlosigkeit zu erklären. «Wir meinten, wir sollten zurückkommen und es so schnell wie möglich erzählen.»
«Was erzählen?», fragte der Manager. «Was habt ihr denn gesehen?»
«Es war verrückt, Mann! Völlig verrückt!»
«Komm raus damit, Willy! Sag’s doch endlich!»
«Sie werden mir nicht glauben», sagte Willy. «Niemand wird es glauben. Hab ich nicht recht, Tom?»
«Hast du», sagte der andere Fischer und nickte heftig mit dem Kopf. «Wenn Willy nicht bei mir gewesen wäre, wenn er das nicht bezeugen könnte, also dann hätt ich’s selber nicht geglaubt.»
«Was nicht geglaubt?», fragte Mr. Edwards. «Erzählt uns endlich, was ihr gesehen habt.»
«Wir sind früh rausgefahren», sagte Willy, «so gegen vier Uhr morgens, und wir sind schon ein paar Meilen weit draußen gewesen, ehe es richtig hell wurde, sodass wir was sehen konnten. Und plötzlich, als die Sonne aufgeht, sehen wir direkt vor uns, also bestimmt nicht mehr als fünfzig Meter entfernt, da sehen wir was, das haben wir nicht glauben wollen, und dabei haben wir’s mit unseren eigenen Augen …»
«Was denn?», fuhr Mr. Edwards gereizt dazwischen. «Kommt doch, um des Himmels willen, zur Sache!»
«Wir sehen, wie diese alte Riesenschildkröte da draußen vor uns herschwimmt, die von gestern, vom Strand hier, und wir sehen, wie der Junge hoch oben auf dem Panzer der Schildkröte sitzt und mit ihr durchs Meer reitet wie auf einem Pferd.»
«Sie müssen es glauben!», rief der andere Fischer dazwischen. «Ich hab’s auch gesehen, Sie müssen es glauben!»
Mr. Edwards sah die beiden Polizeibeamten an. Die beiden Polizeibeamten sahen die Fischer an. «Ihr wollt uns wohl auf die Schippe nehmen, was?», erkundigte sich einer der Polizeibeamten.