Tanya Stewner
Liliane Susewind – Eine Eule steckt den Kopf nicht in den Sand
Mit Bildern von Eva Schöffmann-Davidov
FISCHER E-Books
Tanya Stewner wurde 1974 im Bergischen Land geboren und begann bereits mit zehn Jahren, Geschichten zu schreiben. Sie studierte in Düsseldorf, Wuppertal und London und widmet sich inzwischen ganz der Schriftstellerei. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Wuppertal.
Ihre Trilogie über die Elfe Hummelbi hat unzählige Fans, und ihre Kinderbuchserie über die Tier-Dolmetscherin Liliane Susewind ist ein Welterfolg.
Bei Fischer sind von »Lilli« bisher zehn Bücher und ein Extraband erschienen, weitere sind in Vorbereitung. ›Eine Eule steckt den Kopf nicht in den Sand‹ ist der zehnte Band der Reihe.
Eva Schöffmann-Davidov, geboren 1973, hat schon als Kind alles gezeichnet, was ihr vor den Pinsel kam. Nach dem Abitur besuchte sie die Freie Kunstwerkstatt in München und studierte anschließend Graphik-Design in Augsburg. Bis heute hat sie mit großem Erfolg über 300 Bücher, vorwiegend für Kinder- und Jugendbuchverlage, illustriert. Sie lebt, liebt und arbeitet in Augsburg.
Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden sich auf www.blubberfisch.de und www.fischerverlage.de
Mehr Informationen, viele Spiele und Rätsel rund um
»Liliane Susewind« gibt es hier:
www.liliane-susewind.de
›Liliane Susewind – Eine Eule steckt den Kopf nicht in den Sand‹
ist auch als Hörbuch im Handel erhältlich,
mit einem »Lilli«-Song der Atuorin.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2015
Umschlaggestaltung: bilekjaeger, Stuttgart,
unter Verwendung einer Illustration von Eva Schöffmann-Davidov
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402383-0
»Ich fühle mich wohl!«, sagte die orange getigerte Katze und seufzte tief. »Außerordentlich wohl!«
Liliane Susewind, genannt Lilli, drehte überrascht eine ihrer rostroten Locken um den Zeigefinger. »Das ist schön«, antwortete sie der Katze. Für sie war es das Normalste von der Welt, dass sie verstehen konnte, was die kleine Samtpfotendame miaute, denn Lilli verstand die Sprache der Tiere. Gerade fragte sie sich jedoch, ob sie richtig gehört hatte. »Sie fühlen sich also wirklich wohl?«
»Ja, und wie!«, rief die Katze, die den Namen Frau von Schmidt trug und gesiezt werden musste. »Alles ist so zauberhaft!«
Lilli sah die Katze verdutzt an. So lieb sie die kleine Lady auch hatte – gute Laune war nicht unbedingt Frau von Schmidts Spezialgebiet. »Was ist denn so zauberhaft?«
»Das Leben! Das ganze Drumherum! Ich!«, gurrte die Katze. »Ich bin einfach zauberhaft, und alles andere fast genauso. Sehen Sie nur, dort drüben wackeln die Blüten am Baum, als wollten sie uns zuwinken. Und gleich daneben – ein Mülleimer. Das ist geradezu atemberaubend!«
Lilli sah aus dem Fenster in die angegebene Richtung und nickte, als würde sie begreifen, was die Katze meinte, dabei verstand sie gar nichts. Frau von Schmidt war offenbar … fröhlich, und das war einfach seltsam.
»Ich möchte die ganze Welt umarmen!«, schnurrte die Katze nun und tänzelte auf der Fensterbank herum. »Die Welt und ihre glorreiche Einzigartigkeit!«
Lilli kratzte sich am Kopf und machte sich langsam Sorgen.
»Oh, geht’s wieder los?«, hörte Lilli eine Stimme hinter sich. Sie drehte sich um. Jesahja Sturmwagner kam gerade zur Esszimmertür herein. Er trug sein schwarzes, lockiges Haar inzwischen etwas länger als sonst und sah damit wieder einmal unverschämt gut aus. Mit seinem verschmitzten Lächeln war er der umschwärmteste Junge der Schule, außerdem war er Lillis bester Freund. Momentan wohnte er sogar wieder bei den Susewinds, da seine Eltern für längere Zeit geschäftlich in Brasilien waren.
Lilli blickte ihn fragend an. »Was geht wieder los?«
»Schmidti hat Frühlingsgefühle«, erklärte Jesahja und betrachtete grinsend die Katze, die sich gerade versonnen an einem Blumentopf rieb und dabei »Hinreißender Topf!« miezte.
»Ach so!« Lilli schlug sich gegen den Kopf. Es war Anfang März, und der Frühling war in vollem Gange. Im Garten der Susewinds blühten die Bäume und Sträucher in den leuchtendsten Farben. »Frühlingsgefühle …«
»Letztes Jahr hat sie sich auch so aufgeführt, als die Blätter wiederkamen«, sagte Jesahja. »Sie hat damals ununterbrochen miaut, als würde sie vor Begeisterung den Verstand verlieren.« Frau von Schmidt gehörte Jesahjas Familie, und vor einem Jahr hatte Lilli sie noch gar nicht gekannt. Innerhalb der vergangenen Monate war allerdings so viel geschehen, und sie hatten gemeinsam so viele Abenteuer überstanden, dass Lilli sich gar nicht mehr vorstellen konnte, wie ihr Leben ohne Jesahja und Frau von Schmidt gewesen war.
In genau diesem Moment begann die Katze zu quäken – oder vielmehr zu singen. »O wunderschöner Früüühling, willkommen zurüüück …« Ihr Gesang war schrecklich schräg. Lilli hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten.
Jesahja lachte jedoch. »Das ist der Song vom letzten Jahr!«
Da kam ein kleiner weißer Hund ins Zimmer geflitzt. »Was ist hier los?«, kläffte er, tippelte zur Fensterbank und hopste hinauf. »Warum schreist du so, Schmidti? Ist dir jemand auf den Schwanz getreten?« Hundisch und Katzisch waren völlig unterschiedliche Sprachen, deswegen konnte Frau von Schmidt den Hund nicht verstehen, aber Lilli wollte sein Bellen lieber nicht übersetzen. »Tut dir was weh?«
Die Katze kugelte sich inzwischen auf dem Rücken und sang dabei unbeirrt weiter. »Früüühlingszauber wunderbar, Früühlingszauber alles klar …«
Der winzige Mischling, der Bonsai hieß, begann das Brustfell der Katze abzulecken. »Arme Schmidti. Irgendwas Schlimmes muss passiert sein.«
»Sie hat Frühling«, erklärte Lilli dem Hund.
Bonsai erstarrte. »Auweia! Kann sie da überhaupt laufen?«
»Ich könnte mir vorstellen, dass sie in ihrem Zustand eher fliegt …«, erwiderte Lilli grinsend, und Jesahja lachte.
Bonsai hingegen war tief beeindruckt. »Schmidti kann fliegen?«
»Herr von Bonsai«, rief die Katze und sprang auf. »Ich fühle mich wohl!« Bevor Lilli übersetzen konnte, fuhr sie schon fort. »Ich habe gerade beschlossen, dem Schabernack mehr Platz in meinem Leben einzuräumen. Und ich habe Sie dazu auserkoren, diesen Schabernack mit mir auszuhecken.« Sie strich ihren Kopf an Lillis Hüfte entlang. »Bitte tragen Sie ihm mein Gesuch vor, Madame.«
Lilli übersetzte gehorsam für den Hund.
»Schaber… was?«, bellte Bonsai verwirrt. »Schnack?«
»Frau von Schmidt möchte –«
»Muss ich dafür gebürstet werden?«, unterbrach der Hund. »Das wär nämlich nix. Ich find Schmidti voll supi und so, aber Bürsten ist nicht!«
»Nein, Bonsai, Schabernack ist etwas Lustiges, was Spaß macht.«
»Also was zum Verbuddeln?«
»Nein, eher so etwas wie Unsinn anstellen.« Lilli überlegte. »Etwas, das man zusammen macht, um sich freuen zu können.«
»Ach so, Stuhlbeine mümmeln?!«
Lilli seufzte. Frau von Schmidt und Bonsai hatten am Tag zuvor gemeinsam die Stuhlbeine im Esszimmer angeknabbert.
Die Katze kam zu dem Hund. »Herr von Bonsai, folgen Sie mir einfach. Ich bin beseelt von der Kraft der wiedererweckten Welt. Der Schabernack liegt in der Luft und muss nur erhascht werden!« Mit einem zärtlichen Schubser forderte sie den Hund auf, ihr zu folgen, und hüpfte von der Fensterbank. Bonsai schloss sich ihr sofort an.
»Ich mach mal mit«, wuffte er. »Vielleicht rollt sie ja irgendwas durch die Gegend, das ich erwischen kann. Das wär töfte. Oder wir fliegen …«
Lilli schaute den beiden nach und wusste nicht, ob sie lachen oder besorgt sein sollte. Zumindest waren die Tiere nun erst einmal beschäftigt und würden nicht bemerken, dass sie –
»Wie weit seid ihr?«, wurde Lillis Gedankengang von ihrer Oma unterbrochen, die gerade den Kopf zur Tür hereinsteckte. »Habt ihr schon fertig gepackt?«
»Fast«, versicherte Jesahja und schenkte Oma Susewind sein strahlendstes Lächeln.
»Also habt ihr noch nicht mal angefangen?«, erwiderte Oma unbeeindruckt und scheuchte Lilli und Jesahja aus dem Zimmer. »In einer Dreiviertelstunde müsst ihr los!«
»Wer zuerst fertig ist!« Jesahja rannte die Treppe hinauf und verschwand in seinem Zimmer. Lilli beeilte sich, ebenfalls in ihr Zimmer zu kommen und weiterzupacken. Heute fuhren Jesahja und sie gemeinsam auf Klassenfahrt, und Lilli wollte nicht zu spät zum Bus kommen – oder langsamer packen als ihr bester Freund. Deswegen warf sie alles in die große Reisetasche, was ihr in die Finger kam, und erst, als sie einen Kauknochen von Bonsai dazustopfen wollte, hielt sie inne. Bonsai und Frau von Schmidt würden sie auf dieser Reise nicht begleiten. Haustiere waren auf Klassenfahrt nicht erlaubt, und Lilli wollte sich gegen diese Regel auch nicht auflehnen, schließlich durften ihre Klassenkameraden auch keine Tiere mitnehmen. Lilli wusste, dass sie den Hund und die Katze schrecklich vermissen würde, aber sie mochte es nicht, wenn für sie Ausnahmen gemacht wurden. In den vergangenen Monaten hatte sie durch ihre besonderen Fähigkeiten enorm viel Aufsehen erregt, so viel, dass noch immer ein paar Reporter vor ihrem Haus standen und darauf warteten, dass das »Wundermädchen« endlich einmal zu ihnen sprach. Doch Lilli wollte keinen neuen Wirbel um ihre Person, und auch für die Klassenfahrt wünschte sie sich nichts sehnlicher, als fünf Tage lang ein Mädchen unter vielen anderen Schülern sein zu können und in keiner Weise aufzufallen. Wenn Frau von Schmidt und Bonsai dabei waren, würde das sowieso nicht klappen, und deswegen hatte sich Lilli damit abgefunden, dass die Tiere nicht mitkommen durften. Seufzend legte sie den Kauknochen zur Seite.
Da hörte sie leise Geräusche vor ihrer Tür. Es klang wie aufgeregtes Flüstern oder vielmehr wie unterdrücktes Wuffen.
Lilli öffnete die Zimmertür und stolperte beinahe über Bonsai.
»Lilli! Weißt du, was? Wir haben was total Krasses gemacht!«, quietschte der Winzling und sprang an ihr hoch. »Weißt du, das war krass! Wir haben was total Krasses –«
»Langsam, Bonsai!« Lilli tätschelte dem kleinen Hund beruhigend den Kopf. »Ich kann dich gar nicht richtig verstehen.«
»Nein, nein, nein!«, protestierte Frau von Schmidt, die mit aufgebrachter Miene hinter einer Kommode hervorkam. »Verraten Sie etwa alles, Herr von Bonsai?« Sie baute sich neben dem Hund auf. »So geht das nicht! Der Schabernack ist doch noch gar nicht vollzogen! Sie dürfen erst darüber bellen, wenn es vorüber ist!«
Bonsai verstand natürlich kein Wort, und Lilli übersetzte auch nicht.
»Lilli!«, kläffte der Hund aufgeregt an ihrem Bein weiter. »Wir haben deine Schuhe mit rausgenommen! Schmidti den einen und ich den anderen. Wir sind durch die Katzenklappe raus.«
Lilli hörte Bonsai erstaunt zu.
»Draußen haben wir deine Schuhe in die Pfütze hinter dem Haus getunkt, so dass sie richtig schön nass geworden sind. Dann haben wir sie wieder reingeschleift und sie da drüben hingestellt.« Er blickte zum Treppenabsatz und Lilli sah, dass dort ihre Turnschuhe standen. Klitschnass und voll Matsch.
»Wenn du die anziehst, ist das bestimmt voll witzig!«, bellte Bonsai aufgeregt weiter. »Weil sie ja nass sind!«
Frau von Schmidt drängte sich zwischen Lilli und den Hund. »Haben Sie Lust auf einen kleinen Spaziergang, Madame von Susewind?«, fragte sie mit spitzbübisch blitzenden Augen. »Dort drüben stehen Ihre Schuhe.«
Das also verstand die Katze unter Schabernack!
»Ich kann jetzt nicht spazieren gehen«, antwortete Lilli. »Und das mit meinen Schuhen finde ich nicht witzig!«
»Was?« Bonsai stemmte die Vorderbeinchen auf den Boden. »Aber … sie sind doch nass! Lilli, NASS! Das ist der absolute Brüller!«
»Himmelherrgott, Sie haben alles ausgeplaudert!«, zeterte Frau von Schmidt und blickte Bonsai ärgerlich an. Im nächsten Augenblick biss sie ihn in die Nase.
Bonsai erstarrte. »Schmidti«, wuffte er perplex. »Du hängst an meiner Nase …« In der Tat hing die Katze dort und schien auch nicht loslassen zu wollen.
»Sie ha… alles verra… und … alles zunichtege…«, nuschelte die Katze mit vollem Maul und begann, an der Nase herumzumümmeln. »Das ha… Sie nun davon!«
»Autsch!«, quiekte Bonsai.
»Lassen Sie ihn los!«, rief Lilli, aber die Katze dachte gar nicht daran.
»Schabernack ist geheim, bis er vorüber ist!«, konnte Lilli sie undeutlich miauen hören. »Sagen Sie ihm das, Madame, dann lasse ich ihn los!«
Lilli übersetzte sofort.
»Ach so!«, rief Bonsai verwirrt. »Das hätte mir ja auch mal jemand sagen können!«
»Er hat es verstanden!«, versicherte Lilli schnell, und Frau von Schmidt ließ die Nase los.
Lilli seufzte erleichtert.
»Hach nein«, maunzte die Katze, während sie sich das Mäulchen leckte. »Wie ungern ich auf solch drastische Methoden zurückgreife. Aber wenn es um Schabernack geht, verstehe ich keinen Spaß!«
Lilli schüttelte den Kopf. »Ich muss noch packen«, murmelte sie, während sie sich umdrehte. Dann erstarrte sie. NEIN!, dachte sie und biss sich auf die Unterlippe. O nein! Langsam drehte sie sich wieder zu den Tieren um. Die beiden schauten mit großen Fragezeichen in den Augen zu ihr auf.
»Wozu packst du denn?«, hechelte Bonsai. »Wir wollen doch nirgendwo hin, oder?«
Lilli schluckte. »Ähm …«
Frau von Schmidt schlüpfte zwischen Lillis Füßen hindurch, lief in ihr Zimmer und sprang aufs Bett. »Tatsächlich!« Sie kletterte auf Lillis Tasche und ließ sich dort wie auf einem Thron nieder. »Wir werden verreisen! Fabelhaft.«
Bonsai folgte der Katze aufs Bett und schnüffelte an Lillis Sachen. »Also jetzt echt? Wir fahren weg? Primchen!«
Lilli musste sie enttäuschen. »Nein, so ist es nicht.«
»Nein? Wie denn?« Bonsai wedelte zaghaft mit dem Schwanz. »Hast du nur verreisen gespielt?«
Lilli wurde das Herz schwer. »Ich werde allein verreisen. Ohne euch.«
»Wie bitte?« Frau von Schmidts Ohren zuckten zurück. »Ich habe mich doch wohl verhört?«
»Lilli …«, schnuffte Bonsai. »Ich mache mich auch ganz klein und falle überhaupt nicht auf!«
Lilli senkte den Kopf. »Es geht nicht«, murmelte sie. »Es sind aber nur ein paar Tage …«
»Pffft!«, machte Frau von Schmidt und sprang von der Tasche. »Dann eben nicht! Von so etwas lasse ich mir doch meine gute Laune nicht verderben!«, behauptete sie und stelzte mit hoch erhobener Nase davon.
Bonsai leckte behutsam über Lillis Hand. »Du bist traurig, Lilli! Dein Kopf hängt runter.«
»Ja, weil es mir leidtut, dass ich euch nicht mitnehmen kann«, antwortete Lilli leise, »und weil ich weiß, dass ich dich furchtbar vermissen werde. Euch beide.«
»Wenn es sein muss, dann werden wir die paar Tage eben aushalten.« Aufmunternd stupste Bonsai Lillis Hand an. »Ich hab dich deswegen kein bisschen weniger lieb.«
Lilli nahm Bonsai auf den Arm und drückte ihn an sich. »Du bist der beste Hund der ganzen Welt«, flüsterte sie und wischte sich mit seinem zotteligen Fell eine kleine Träne fort.
»Yo«, stimmte Bonsai zu.
Lilli lächelte und hielt ihn ganz fest.
»Fertig!«, rief Jesahja, der gerade ins Zimmer spaziert kam. »Oh. Alles okay?«
»Ja.« Lilli holte tief Luft. »Lass uns fahren.«
»Da vorn ist der Bus!«, rief Lillis Vater und hielt nach einer Parklücke Ausschau. »Hier ist ja echt was los!«
Vor dem großen Reisebus wuselten Dutzende von Schülern, Eltern und vier Lehrer durcheinander. Lillis und Jesahjas Klassen fuhren gemeinsam nach Zupplingen. Das begeisterte niemanden so richtig, denn Zupplingen war bloß die Nachbarstadt und kein bisschen interessant. Die Aussicht, fünf Tage in einer Waldherberge zu wohnen, hatte auch niemanden in Jubelstürme versetzt.
»Ich finde keinen Parkplatz!«, stöhnte Herr Susewind.
»Halt doch einfach kurz am Straßenrand an und lass uns raus«, schlug Lilli vor.
Herr Susewind hielt an. »Du willst ja nur nicht, dass ich dir vor deinen Mitschülern einen Kuss gebe!«
»Stimmt.« Lilli lächelte entschuldigend und stieg aus. Jesahja sprang vom Rücksitz des alten gelben Autos und half Lilli dabei, ihre Taschen aus dem Kofferraum zu hieven.
»Manchmal stellst du dich ganz schön an, Lilli.« Herr Susewind kam ums Auto herum. »Bekomme ich denn wenigstens eine Umarmung?«, fragte er.
Hinter ihnen hupte jemand, da sie die Straße blockierten, doch Lilli ließ sich schnell von ihrem Vater in den Arm nehmen, flüsterte »Bis bald, Papa« und machte sich auf den Weg zum Bus. Jesahja verabschiedete sich mit einem kräftigen Händedruck von Herrn Susewind und folgte Lilli.
»Na, was geht?«, rief ein dunkelhaariger Junge und begrüßte Jesahja mit Handschlag. Es war Fabio, einer von Jesahjas Kumpeln. Gleich darauf drängten sich mehrere Jungs um Jesahja und redeten großspurig drauflos. Dabei standen alle so übertrieben lässig da, dass Lilli fast die Augen verdreht hätte. In der Schule war es manchmal schwierig, mit Jesahja zu reden, da er der Mittelpunkt der coolsten Jungsclique war. Lilli mochte aber keinen seiner »Freunde« besonders.
Zum Glück hatte sie eigene Freundinnen. »Hallo Wolke!« Lilli drängelte sich zu dem schmächtigen Mädchen mit der großen Brille durch.
»Hi! Du bist ganz schön spät dran«, erwiderte Wolke gutgelaunt.
»Ich musste mich noch von Bonsai verabschieden.« Bei dem Gedanken daran, wie der Kleine versucht hatte, es ihr leicht zu machen, wurde Lilli wieder das Herz schwer.
»Kopf hoch!« Jemand tippte Lilli locker unters Kinn.
»Hallo Trixi!«, grüßte Lilli ihre ehemalige Feindin, die mittlerweile eine ihrer besten Freundinnen war.
»Mach mal nicht so ein Gesicht«, antwortete das große blonde Mädchen mit den Sommersprossen. »Immerhin hast du bald Geburtstag. Dann bist du endlich so alt wie wir.«
Lilli seufzte. Zwar freute sie sich, bald ein Jahr älter zu sein, aber sie hätte sich etwas Schöneres vorstellen können, als ausgerechnet auf der Klassenfahrt Geburtstag zu haben. Eigentlich hätte sie gern bei sich zu Hause eine kleine Party gefeiert – mit Jesahja, Wolke, Trixi, Sonay und ein paar anderen aus ihrer Klasse. Aber das konnte sie sich wohl abschminken.
»Na, Superstar?«, hörte Lilli plötzlich eine Stimme neben sich. Es war Gloria, ein Mädchen aus ihrer Klasse, das sie nicht besonders mochte und das sie bestimmt nicht zu ihrer Party eingeladen hätte. »Ich hab in letzter Zeit kaum noch was über dich im Fernsehen gesehen. Interessieren sich die Reporter langsam nicht mehr für dich?«
Es hatten in den vergangenen Wochen tatsächlich immer weniger Paparazzi vor dem Haus der Susewinds gestanden – wahrscheinlich, weil Lilli nach wie vor nicht mit der Presse reden wollte. Aber trotzdem waren noch immer jeden Tag mindestens zwei Journalisten dort. »Ist doch egal«, entgegnete Lilli ausweichend.
»Wäre ja ganz gut für dich, wenn sie dich endlich mal in Ruhe lassen würden.« Gloria bedachte Lilli mit einem Blick, der offenbar Mitgefühl oder so etwas ausdrücken sollte. »Es ist doch bestimmt anstrengend, ständig gejagt zu werden.«
Das war es, aber darüber wollte Lilli mit Gloria ganz bestimmt nicht reden.
Glorias beste Freundin Viktoria gesellte sich zu ihnen. »Sag mal, läuft da was zwischen Maira und Jesahja?«, fragte sie ihre Freundin und schaute nach links.
Lilli folgte ihrem Blick. Jesahja stand nicht mehr bei seinen Kumpeln, sondern sprach inzwischen mit Maira, einem bildhübschen Mädchen aus seiner Klasse. In letzter Zeit hatte Lilli die beiden oft miteinander reden gesehen.
»Kann sein, dass da was läuft«, antwortete Gloria ihrer Freundin. »Immerhin waren sie letztens zusammen im Kino.«
»Und danach Eisessen!«, rief Viktoria eifrig.
Lilli sah Jesahja und Maira zusammen lachen, und in ihrem Magen pikste es. Konnte es sein, dass die beiden zusammen im Kino und Eisessen gewesen waren? Warum hatte Jesahja ihr das nicht erzählt?
Trixi verschränkte die Arme. »Zieh Leine, Potowsky«, sagte sie barsch zu Gloria. »Und du auch, Schulz!«, fügte sie an Viktoria gewandt hinzu.
Trixi konnte ziemlich ruppig sein. Früher war sie sogar öfter in Schlägereien verwickelt gewesen. Zwar hatte sie sich schon lange mit niemandem mehr geprügelt, aber ihr Tonfall erinnerte oft noch an ihre schlimmen Zeiten, als sie die Anführerin einer fiesen Mädchenclique gewesen war – eine Clique, zu der damals auch Gloria und Viktoria gehörten. Seit Trixi sich jedoch geändert hatte, wollte sie mit diesen beiden Mädchen nichts mehr zu tun haben.
Gloria und Viktoria grinsten nun überheblich und schlenderten langsam davon.
Da klatschte Herr Gümnich, Lillis Klassenlehrer, laut in die Hände. »Alle Koffer sind jetzt im Bus!«, verkündete er. »Ihr könnt einsteigen.«
Kaum hatte er das gesagt, stürmten die Schüler in den Reisebus und quetschten sich aneinander vorbei, um die besten Plätze ganz hinten zu erwischen. Da es keine lange Fahrt war, teilten sich Lilli, Wolke und Trixi zu dritt zwei Sitzplätze. Jesahja saß irgendwo weiter hinten.