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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Mai 2015

Copyright © 2015 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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Umschlaggestaltung ZERO Werbeagentur, München

Umschlagabbildung Thorsten Wulff

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

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ISBN Printausgabe 978-3-499-63065-1 (1. Auflage 2015)

ISBN E-Book 978-3-644-54391-1

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-54391-1

Fußnoten

1

Zitiert nach: ntv vom 23. Juni 2013 http://www.n-tv.de/politik/Arbeitsagentur-schoent-Vermittlungsstatistik-article10872931.html

2

Michael Neumann, Jörg Schmidt: Glücksfaktor Arbeit – Was bestimmt unsere Lebenszufriedenheit?, Hg.: Roman Herzog Institut e.V., München 2013,http://www.romanherzoginstitut.de/uploads/tx_mspublication/RHI-Diskussion_21_2te.pdf

3

So waren im dritten Quartal 2014 2825 Fallmanager auf 424 Jobcenter der gemeinsamen Einrichtungen und Optionskommunen verteilt. (Quelle: Personalstrukturdaten der gemeinsamen Einrichtungen – intern – BA, 3. Quartal 2014)

4

Zitiert nach: Der Spiegel, 01/2011 – «Die Hartz-Fabrik»

5

Quelle: http://schicksale-hartz-iv.info/2014/05/18/sinn-vs-sinnlos-und-die-seminare/

6

Stand Dezember 2013

7

BGBl I Nr. 87 vom 30.12.2002, S. 4607

8

(Quelle: http://www.hundertprozentich.de/lexikon/263-synchronisationsverbot-sp-1884127271; eine Seite des Bundesvorstands ver.di – Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft)

9

AÜG Versagung § 3 (1) Abs. 3

10

Quelle: Rosige Zeiten am Arbeitsmarkt? Strukturreformen und «Beschäftigungswunder» – Friedrich Ebert Stiftung, Juli 2014, Seite 48

11

§ 1 Abs. 1 AÜG

12

Stand Herbst 2014

13

Standardformular einer Eingliederungsvereinbarung der BA, Stand Herbst 2014

14

siehe https://www.hartz-iv-iii-ii-i.de/ von: Verein für Soziales Leben e.V.

15

Wolfgang Uchatius, Armut in Deutschland – Die neue Unterschicht, DIE ZEIT Nr. 11/2005, 10. März 2005

16

BMAS, Der vierte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen-DinA4/a334-4-armuts-reichtumsbericht-2013.pdf?__blob=publicationFile

17

§ 77 Absatz 1 Satz 1 SGB 9

18

Geregelt im Sozialgesetzbuch IX § 132–134

19

Gemeint sind Statistikerhebungen und Controlling.

20

Interview mit Kristin Schmidt, Wirtschaftswoche 04.07.2013

21

Controlling in der Bundesagentur für Arbeit – Entwicklung, Anspruch und Zukunft (September 2012)

22

Quelle: ver.di – wir … in der BA arbeitsverwaltung_info, Berlin, Oktober 2014

23

Quelle: Die Linke – Tatsächliche Arbeitslosigkeit

24

Auch der Sozialwissenschaftler Stefan Sell widmet dieser Frage einen Artikel mit dem Titel «Vermittlungsskandal 2.0 bei der Bundesagentur für Arbeit?» http://aktuelle-sozialpolitik.blogspot.de/ 2013/06/28.html.

25

Arbeitssuchende und Arbeitslose ohne Bezug von Arbeitslosengeld, Broschüre der BA, Nürnberg, Juni 2014

26

Frank-J. Weise und Roland Deinzer: Den sozialen Auftrag fest im Blick. Die gesellschaftliche Wertschöpfung der Bundesagentur für Arbeit, in: OrganisationsEntwicklung, Zeitschrift für Unternehmensentwicklung und Change Management, Nr. 4/2013

27

Broschüre «Entwicklung, Anspruch, Zukunft» hg. von der Bundesagentur für Arbeit, Zentrale, September 2012

28

Eberhard Einsiedler: Perspektive Qualität, Diskussionspapier, Nürnberg, Oktober 2012

29

Der Spiegel, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-102241631.html

30

Interne ganzheitliche Integrationsberatung im SGB III

31

Nürnberger Nachrichten 25.04.2012

32

Stefan Sell, Lohndumping durch Werk- und Dienstverträge? Problemanalyse und Lösungsansätze, Remagener Beiträge zur Sozialpolitik, 13-2013

33

«Das Soziale in der Krise», Jahresgutachten des Paritätischen Gesamtverbands 2014, S. 24

34

Zitiert nach: Armutszeugnis für Deutschland, eine Kolumne von Jakob Augstein, Spiegel-Online 11. März 2013

35

«Das Soziale in der Krise», Jahresgutachten des Paritätischen Gesamtverbands 2014, S. 15

36

«Das Soziale in der Krise», Jahresgutachten des Paritätischen Gesamtverbands 2014, S. 16

37

«Das Soziale in der Krise», Jahresgutachten des Paritätischen Gesamtverbands 2014, S. 11

38

Quelle: http://www.tafel.de/fileadmin/pdf/Publikationen/Taf_JB13_Gesamt_140521.pdf

39

Stand 2014

40

http://www.un.org/depts/german/menschenrechte/aemr.pdf

41

http://justiz.hamburg.de/pressemitteilungen/4000880/ pressemeldung-2013-4/

42

https://www.youtube.com/watch?v=-XTijAid0H8

43

Quelle: http://www.harald-thome.de/media/files/Bewertung-der-Konsense-ASMK-19.02.2014-HT.doc.pdf – Seite 17

Vorwort – Worum es (mir) geht

Immer wieder werde ich von Journalisten gefragt, ob es ein einschneidendes Erlebnis im Jobcenter gab, das mich dazu bewegte, an die Öffentlichkeit zu gehen. Die Antwort lautet: Es gab viele einschneidende Erlebnisse. Diese Eindrücke sammelten sich über die Jahre an und bewirkten, dass mein eigener innerer Druck so groß wurde, dass er auf irgendeine Weise abgebaut werden musste. Und hier kommt meist die zweite Frage: Warum haben Sie das Jobcenter nicht von sich aus verlassen und einen neuen Job gesucht? Auch diese Frage ist berechtigt. Die Antwort lautet: Ein sinnvoller Widerstand muss in meinen Augen von innen und außen kommen. Von innen heraus, um Glaubwürdigkeit zu schaffen und das, was die Erwerbslosen und deren Bedarfsgemeinschaften seit vielen Jahren kritisieren, zu untermauern. Lange Zeit verfolgte ich, was in den unterschiedlichsten Foren, Blogs oder in den sozialen Netzwerken beklagt wurde. Gleichzeitig beobachtete ich, dass Kritik selbst von Seiten der Wissenschaft, von Gewerkschaften, Erwerbsloseninitiativen oder Verbänden ebenso wenig beachtet wurde wie die berechtigten Klagen der Erwerbslosen. Ja, gerade diese Menschen wurden in ihrer Not sogar belächelt. Es schien, als sei um die Themen Jobcenter, Hartz IV und deren Umsetzung eine unsichtbare Mauer errichtet. Auch fiel mir auf, dass die Erwerbslosen ihrerseits viele Vermutungen anstellten, die zum Teil richtig, aber zum Teil auch falsch waren. Das ist kein Wunder, sind diese Menschen doch meist nur mit Aussagen und Handlungen durch die Jobcenter oder Medien konfrontiert worden, ohne zu wissen, welche Regelungen, Weisungen oder tatsächlichen Interna gelten. Ich erkannte die bundesweite Intransparenz und unterschiedlichsten Arbeitsweisen der Jobcenter, und immer mehr regte sich bei mir der Verdacht, dass die einzelnen Jobcenter-Regionen zwar durch die Bundesagentur für Arbeit und die zuständigen Regionaldirektionen ihre Weisungen, Zielvereinbarungen und Richtlinien erhielten, jedoch für deren eigentliche Umsetzung selbst verantwortlich waren und sind. Ein Zustand, der Willkür auf der einen und Unsicherheit auf der anderen Seite Tor und Tür öffnet. Gleichzeitig wurde auch für uns Mitarbeiter in den Jobcentern der Arbeitsalltag immer mehr durch Zahlen und restriktive Anweisungen bestimmt. Standen zu Beginn der Ära Hartz IV im Jahr 2005 das Chaos durch die oftmals nicht funktionierende EDV, die Unwissenheit in der Umsetzung des Sozialgesetzbuches II und zahlreiche Gesetzesänderungen im Mittelpunkt der Arbeit, so ging im Laufe der Jahre die tatsächliche Arbeit mit den Menschen immer mehr im Dienst der Zahlen verloren. Denn durch die Einführung des internen Controlling-Systems wurden peu à peu aus den Menschen Zahlen, auch in den Köpfen vieler Jobcentermitarbeiter. Parallel dazu verschärften sich die Sanktionsregelungen – insbesondere im Bereich der jungen Menschen bis 25 Jahre – und der Adlerblick auf deren Umsetzung, führten diese doch gerade zu Beginn von Hartz IV zur Reduzierung der passiven Leistungen, was den Haushalten des Bundes und der Kommunen zum Vorteil gereichte. Allein die Zunahme der Zahl der Sanktionen bis zum heutigen Tag zeigt, worauf der Schwerpunkt gelegt wird: auf Maßregelung und Bestrafung.

In all den Jahren habe ich viele Kolleginnen und Kollegen kommen und gehen sehen. Gekommen sind sie oftmals motiviert, gegangen sind sie resigniert. Genau das wollte ich nicht, und darum versuchte ich intern, ein Umdenken im Umgang mit den Erwerbslosen zu erreichen. Mit der internen Kritik, mit meinen Verbesserungsvorschlägen und Konzepten bin ich gescheitert. Antworten auf meine Fragen habe ich nicht erhalten, Zustimmung durch die Kollegen hinter verschlossenen Bürotüren durchaus. Die verständliche Angst vor dem eigenen Jobverlust oder vor Mobbing machte so einen kollektiven Zusammenschluss unmöglich. Mir ist bewusst, dass weder eine einzelne Person noch die Betroffenen selbst die Abschaffung von Hartz IV erreichen können. Dafür ist Hartz IV einfach zu sehr ein Politikum und darüber hinaus ein Finanzsystem geworden, das inzwischen den Wirtschaftsstandort Deutschland durch den prekären Arbeitsmarkt finanziert und aufrechterhält. Und dennoch bin ich der Meinung, dass die Forderung «Weg mit Hartz IV» laut und unüberhörbar in die Welt gesetzt werden darf und muss – auch und gerade weil sie polarisiert. Denn wir leben in einer Welt, in der wir nur gehört und medial wahrgenommen werden, wenn wir uns klar positionieren – eine Taktik, die ich über die Jahre von zahlreichen Politikern gelernt habe.

Die Agenda 2010 hat eine unsoziale Gesellschaftsspaltung hervorgebracht, die zu einer Entsolidarisierung und Entdemokratisierung führt. Sie schuf eine Stigmatisierung von Langzeitarbeitslosen und signalisiert Ausgrenzung. Die Betroffenen gelten als unqualifiziert und vom Rest der Gesellschaft abgehängt. Die Machtverhältnisse verteilten sich in äußerst ungleicher Weise auf zwei Schreibtischseiten – die Stärkeren sitzen im Jobcenter. Durch die ständigen Änderungen im Sozialgesetzbuch II, interne Weisungen und hohe personelle Fluktuation oder Ausfälle in den Jobcentern ist es kaum möglich, ein einheitliches Arbeiten mit entsprechender Rechtssicherheit zu ermöglichen. Eine tatsächliche Hilfe kann unter diesen Umständen von den Erwerbslosen gar nicht mehr als solche erkannt werden und wird als zusätzliche Belastung empfunden, dabei ist die Erwerbslosigkeit an sich schon extrem belastend. Es macht also keinen Sinn, den Betroffenen noch zusätzliche Belastungen zuzumuten, davon hat am Ende keine der beiden Seiten etwas. Es muss das Ziel sein, ein angstfreies System zu schaffen. Dazu muss im ersten Schritt die derzeitige Sanktionspraxis abgeschafft werden, was den Gesetzgeber nicht mehr als eine Unterschrift kostet. Im zweiten Schritt müssen die zu niedrigen Regelsätze angehoben werden, damit eine echte gesellschaftliche Teilhabe wieder möglich wird. Das hat auch zur Folge, dass der Mindestlohn so ansteigen muss, dass arbeitende Menschen von Sozialleistungen unabhängig werden. Die Politik muss sich vom Gedanken verabschieden, dass unser Staat ein Luxusgut ist, das man unter Finanzierungsvorbehalte stellen kann. Vielmehr ist unser (Sozial- und Rechts-)Staat ein Element unserer Demokratie. Wir sollten nie vergessen: Jeden von uns trennen nur zwölf Monate vom Ausschluss aus der Gesellschaft über Hartz IV. Die Agenda 2010 hat einen gesellschaftlichen Sozialabbau bewirkt, in dem der Mensch auf der Strecke bleibt. Kurzum, wir benötigen dringender denn je eine Änderung der sozialen Verantwortung gegenüber allen Menschen unserer Gesellschaft. Dieses Buch stellt nur die Spitze des Eisbergs dar.

Einleitung

Hätte mir jemand noch vor wenigen Jahren gesagt, dass ich einmal für viele Menschen zum Hoffnungsträger werden sollte, dann hätte ich ihn ohne zu zögern für verrückt erklärt. Schließlich bin ich weder Jeanne d’Arc noch ein weiblicher Robin Hood, sondern einfach Inge Hannemann. Ich bin nicht besonders groß und bringe gerade mal 50 Kilogramm auf die Waage, habe seit meinen Kindertagen Rheuma, als Folge davon eine kaputte Schulter und eine versteifte Wirbelsäule, um nur einige meiner gesundheitlichen Einschränkungen zu nennen. Und dennoch habe ich einen Kampf angenommen, den ich zwar nicht suchte, den ich aber durchaus bereit bin auszufechten. Seit meine Vorgesetzten beim Jobcenter von Hamburg-Altona beschlossen haben, dass die selbstverständlichsten Grundrechte der freien Meinungsäußerung für eine Arbeitsvermittlerin nicht gelten, gab es für mich im Grunde keine Wahl. Weil ich nicht bereit war, den Mund zu halten und gegen meine Überzeugung Dienst nach menschenverachtenden und kontraproduktiven Vorschriften zu machen, hat man mich vom Dienst freigestellt. Ich wurde von meiner Stelle als Arbeitsvermittlerin im Jobcenter Hamburg-Altona bei vollen Bezügen nach Hause geschickt, weil ich Menschlichkeit gepaart mit Sachverstand im Umgang mit Arbeitssuchenden angebrachter und wirkungsvoller fand als Sanktionen oder zu erfüllende Quoten. Warum sollte ich Menschen durch Mittelkürzungen bestrafen, die ohnehin ganz unten auf unserer sozialen Skala angekommen waren? Menschen, die vor der großen sogenannten Sozialreform durch unseren früheren Bundeskanzler Gerhard Schröder, der Agenda 2010, mit großer Wahrscheinlichkeit gar nicht erst in diese Lage gekommen wären. Menschen, die verzweifelt sind, die Hilfe und Verständnis brauchen und lösungsorientierte Jobcentermitarbeiter statt Drohung und Bestrafung. Menschen, denen durch Mittelkürzungen oftmals noch das letzte Stück Boden unter den Füßen weggezogen wird. Als Arbeitsvermittlerin wurde ich viel zu oft Zeugin von Willkür und Machtmissbrauch diesen Menschen gegenüber. Denn wie soll man es anders nennen, wenn beispielsweise einer Familie, die der deutschen Sprache nicht mächtig ist, ein elektronisch erstellter Brief geschickt wird, in dem ihnen in zwei kurzen Sätzen mitgeteilt wird, dass ihr Sohn sanktioniert wird und das Arbeitslosengeld II für drei Monate vollständig entfällt? Ohne eine Begründung, ohne Änderungsbescheid, ohne Anhörung und ohne die Möglichkeit, Rückfragen zu stellen oder Widerspruch zu erheben, ist ein solches Verfahren nichts anderes als Willkür. Ich für meinen Teil kann aber die herabwürdigende Art und Weise, mit der in den Jobcentern in vielen Fällen mit den sogenannten «Kunden» umgegangen wird, nicht tatenlos mit ansehen.

Viele deutsche Bürger meinen, weil sie ins Arbeitsleben integriert seien, gehe sie das Schicksal von Langzeiterwerbslosen nichts an. Sie denken, dass sie selbst niemals in diese Situation kommen könnten, und irren sich doch gewaltig. Denn Arbeitslosigkeit kann heutzutage jedem «passieren»: dem Manager wie dem Medienmacher oder dem Mechaniker. Doch davor verschließen jene, die (noch) Arbeit haben, gern die Augen. Durch die Medien aufgehetzt, sehen sie verächtlich auf die Bezieher von Arbeitslosengeld II herab und sind der Meinung, hier würden ihre Steuergelder verschwendet. Auf eine groteske Art und Weise haben sie tatsächlich recht. Und doch sind es nicht die Gelder, die die sogenannten Hartz-IV-Empfänger erhalten, die sich unser Land nicht leisten kann. Es sind die Unsummen, die uns das kranke System von Zeit- und Leiharbeitsfirmen, die Minijobs und Ein-Euro-Jobs sowie zahlreiche sinnlose «Maßnahmen» kosten. Aus der Agenda 2010 entstand nämlich über die Jahre ein krakenartiges Gebilde von Profiteuren, die, finanziell durch unsere Regierung unterstützt, unseren Arbeitsmarkt nach und nach zerstören, statt ihn zu sanieren. Zu Buche schlagen werden die Folgen jener rigorosen und bornierten Vorschriften, die den Mitarbeitern der Jobcenter bundesweit aufgezwungen werden und gegen die ich meine Stimme erhebe.

Mit meiner Kritik stehe ich nicht alleine da. Zahllose Jobcentermitarbeiter sind derselben Meinung, nur wagen sie nicht, sie offen zu äußern. Denn was dann passieren kann, ist am Fall Inge Hannemann klar zu sehen: Statt meiner Bitte um konstruktive Gespräche nachzukommen, um gemeinsam Lösungen für die offensichtlichen Missstände zu finden, wurde ich schlicht und einfach vom Dienst suspendiert. Und nicht etwa, weil ich schlechte Arbeit geleistet hätte, meine überdurchschnittlichen Beurteilungen belegen das Gegenteil. Trotzdem wurde ich von der Bundesagentur für Arbeit zur Erzfeindin erklärt, weil ich es wagte, mit meinen Sorgen und meiner Kritik an die Öffentlichkeit zu gehen.

Aber so einfach geht das nicht. Wir leben in einem Rechtsstaat, und darum gilt auch hier das alte biblische Zitat: «Recht muss Recht bleiben». Darum klage ich auf Wiedereinstellung. Das Recht steht auf meiner Seite, denn arbeitsrechtlich kann gegen mich kein Vorwurf erhoben werden.

Doch längst ist aus meinem Fall ein Politikum geworden. Und auch für mich geht es um viel mehr als nur um die Aufhebung meiner Freistellung: Es geht darum, dass wir in diesem Land endlich wieder zu einer Beschäftigungspolitik zurückfinden, die diesen Namen auch verdient. Eine Politik, die für die Bürger da ist, und nicht für einige wenige, die sich auf Kosten aller bereichern. Eine Wirtschaftspolitik, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt und nicht den Profit. Eine mutige Politik, die es wagt, die Menschenwürde des Einzelnen über die Interessen von Lobbyisten zu stellen.

Diesen Kampf führe ich nicht für mich. Ginge es nur um meine Person, hätte ich längst einen anderen Bereich gefunden, in dem ich meine Fähigkeiten einsetzen kann. Ich habe in meinem Leben schon viele Herausforderungen gemeistert, ich bin ausreichend qualifiziert, um wieder eine Arbeit, die mich befriedigt, zu finden. Doch es geht um mehr, es geht um die Sache. Diesen Kampf führe ich deshalb vor allem für all jene Menschen, die durch das ungerechte System der Hartz-IV-Diktatur ihres Lebens nicht mehr froh werden, und für diejenigen, die nur zwölf Monate von dieser Diktatur entfernt sind, wenn sie arbeitslos werden. Wenn wir alle immer schweigen und klein beigeben, wird sich nie etwas ändern. Es wird Zeit, dass sich jemand dieser Sache annimmt. Und darum nehme ich die Herausforderung an.

1. Sanktionen statt Unterstützung?

Als ich im September 2006 beim Jobcenter zunächst in Hamburg-Hamm meine Stelle antrat, war ich voller Tatendrang. Ich freute mich auf die Herausforderung, Menschen, die seit mehr als einem Jahr ohne Arbeit waren, zu helfen, wieder eine Beschäftigung zu finden. Für diese Tätigkeit war ich außerdem bestens qualifiziert: Ich hatte zuvor in Süddeutschland nicht nur als Dozentin in der Weiterbildung von Erwachsenen gearbeitet, sondern auch als Integrationsberaterin und Fallmanagerin in den neu entstandenen Jobcentern für Erwerbslose nach dem Sozialgesetzbuch II. Ich kannte also die Thematik und brachte eine Menge Erfahrung mit, und die wollte ich nun einsetzen.

Die Jobcenter sind bekanntlich für jene Erwerbslosen zuständig, die länger als ein Jahr ohne Beschäftigung sind und Arbeitslosengeld II beziehen, auch «Hartz IV» genannt. Aufgrund meiner Vorerfahrungen wurde ich später für junge Erwachsene unter 25 Jahren eingeteilt, die im Jobcenter-Jargon «U25» genannt werden. In der ersten Teamsitzung erklärte ich meinen Kollegen, dass es mir nichts ausmachte, auch schwierige Fälle zu übernehmen, und so übertrugen sie mir bald jene «Kunden», die laut ihren Akten erhöhte «Vermittlungshindernisse» aufwiesen – mit anderen Worten: die richtig harten Brocken.

Ja, tatsächlich werden in der allgemeinen Sprachregelung der Bundesagentur für Arbeit Arbeitssuchende «Kunden» genannt. Ich nehme an, das ist höflich gemeint, und doch mutet mich bis heute diese Bezeichnung seltsam an. Vor allem, weil ich rasch bemerkte, dass in vielen Fällen unsere Kunden gar nicht als solche behandelt werden. «Der Kunde ist König», sagt der Volksmund, doch der Kunde im Jobcenter ist, wenn wir beim Bild des Märchens bleiben wollen, doch eher ein Bettler, ein Bittsteller. Das wurde mir allerdings erst nach und nach so richtig klar.

Als meine ersten «Kunden» zu den Gesprächsterminen erschienen, fiel mir auf, wie angespannt sie waren. Niedergeschlagen oder trotzig, aggressiv oder ängstlich – all die jungen Menschen, die auf der anderen Seite meines Schreibtischs Platz nahmen, schienen das Schlimmste von mir zu erwarten. Und spätestens nach Durchsicht ihrer Akten und den ersten Gesprächen wurde mir klar: Allesamt schleppten sie ein ganzes Bündel an Problemen mit sich herum.

Ich habe sehr gern mit Menschen zu tun; sie interessieren mich einfach. Die Geschichte, die jeder Einzelne mitbringt, und die ganz persönliche Art eines jeden, sich im Leben seinen Platz zu suchen – das alles finde ich unerhört spannend. Ich verschanze mich nicht im Büro hinter Schreibtisch und Büchern. Trotzdem liebe ich den Umgang mit Zahlen und Statistiken und kann mich stundenlang mit ihnen beschäftigen, denn für mich sind sie Abbilder einer Wirklichkeit. Ich habe über die Jahre gelernt, aus ihnen alles Mögliche herauszulesen, zu erkennen, was diese scheinbar trockenen Zahlen für das wirkliche Leben bedeuten. Doch im Mittelpunkt all meiner Interessen stand schon immer der Mensch.

Und hier saßen sie also vor mir. An den Mienen konnte ich ablesen, was sich in ihren Köpfen wohl abspielte. Ich konnte fühlen, wie stark die beiden Schreibtischseiten polarisierten: Auf meiner Seite lag ganz viel Macht – und auf der anderen entsprechend das Gefühl von Ohnmacht. Schließlich konnte ich Entscheidungen treffen, die mein Gegenüber ins Mark treffen würden. Doch das kam mir überhaupt nicht in den Sinn. Diese Sache mit dem Obrigkeitsgefühl – das kenne ich persönlich gar nicht. Ich sage immer: Unter der Dusche sehen wir alle gleich aus.

«Hallo», sagte ich also freundlich, «wie geht’s denn so?»

Der junge Mann mir gegenüber, der bislang auf seine Hände gestarrt hatte, als seien sie das Interessanteste auf der Welt, blickte auf und sah mir misstrauisch in die Augen. Aus der Akte wusste ich: Er hieß André W., war 19 Jahre alt. Er hatte weder einen Schulabschluss noch eine Ausbildung, dafür 18000 Euro Schulden. Damit war er kein Einzelfall. Die Überfülle an Kaufangeboten auf Pump zu niedrigsten Zinsen und der permanente Beschuss von Seiten der Werbung sorgen dafür, dass gerade Menschen, die es sich am wenigsten leisten können, als Ausgleich zu einem Leben voller Probleme über ihre Verhältnisse leben – im wahrsten Sinn des Wortes.

«Wie soll es denn weitergehen?», fragte ich André. «Was kann ich für Sie tun?»

Er zuckte mit den Schultern und verschränkte die Arme. Aus der Akte wusste ich, dass seine Bemühungen um Arbeit wiederholt an der Verschuldung gescheitert waren. Welcher Personalchef stellt gern einen neuen Mitarbeiter ein, dessen Gehalt sofort gepfändet wird? Es sind wahrlich wenige, die sich daran nicht stören. In der Lohnabteilung muss der Pfändungsaufwand abgelesen und an eine dritte Stelle abgeführt werden. Das bedeutet für den Arbeitgeber einen höheren Personalaufwand. Von dem negativen Image, das ein verschuldeter Bewerber mit sich bringt, natürlich ganz zu schweigen. Nachdem André klar geworden war, dass er niemals Arbeit finden würde, wenn er die Wahrheit sagte, hatte er seine Schulden beim letzten Arbeitgeber einfach verschwiegen. Doch auch das hatte ihm nichts genützt. Spätestens beim ersten Lohnzettel kam alles ans Licht, und André wurde fristlos entlassen.

«Rauchen Sie?», fragte ich ihn.

Wieder sah er mich an, als könne er nicht glauben, was er da hörte.

«Ja», sagte er überrascht.

Ich kramte in meiner Tasche, holte das Tabakpäckchen samt Filter und Zigarettenpapier heraus.

«Na, dann wollen wir mal», sagte ich und erhob mich. An der Tür sah ich mich nach ihm um. «Wollen Sie hier auf mich warten oder lieber mitkommen?»

 

Es lag auf der Hand, die meisten meiner neuen «Kunden» kamen voll negativer Erwartungen zu dem Pflichttermin bei ihrer neuen Sachbearbeiterin. Warum dies so war, darüber zerbrach ich mir damals den Kopf noch nicht. Ich mochte diese jungen Leute, und gerade wenn sie besonders bockig wirkten, reizte mich die Herausforderung, ihre Schale behutsam zu durchbrechen und an sie heranzukommen. Mein Auftrag war es, ihnen dabei zu helfen, Arbeit zu bekommen. Sie sollten erkennen, dass ich auf ihrer Seite stand, auch wenn ich auf der anderen Seite des Schreibtischs saß. Kurz miteinander vor die Tür zu gehen und eine zusammen zu rauchen, das war ein Weg, und manchmal war es der einzige, der möglich war. Oft waren die Gespräche demütigend für meine Partner, sie mussten ihr Scheitern eingestehen, denn wer zu mir kam, der hatte «es» nicht geschafft.

«Wissen Sie was», sagte ich damals zu André, «am liebsten möchte ich Sie hier überhaupt nicht mehr sehen.»

«Ich hab auch keine Lust hierherzukommen», konterte er.

«Sehen Sie. Also was können wir tun, dass das nicht mehr nötig ist?»

Nicht umsonst spricht man vom «Schuldenberg». Jeder, der in diese Falle tappt, empfindet es so: Er steht vor einem Berg, und je höher die Schulden, desto unüberwindlicher erscheint er dem Betroffenen. Briefe werden ungeöffnet in eine Schublade gelegt, weil man einfach nicht weiß, was man tun soll. Die Lawine rollt, und man selbst hat nichts mehr unter Kontrolle. Man kann nur den Kopf einziehen und darauf warten, dass das Unglück über einen hereinbricht. Es ist schwer, sich aus eigener Kraft daraus zu befreien. Und seien wir mal ehrlich: Was hätten wir mit 19 in so einer Situation getan?

Schulden sind ein sogenanntes Vermittlungshindernis. «Stolpersteine» nenne ich diese Hindernisse, die den Weg ins Berufsleben erschweren oder oft sogar ganz versperren. Davon kann es eine Menge geben, Schulden sind nur ein Beispiel dafür. Es beginnt häufig schon damit, dass der Schulabschluss fehlt und in der Folge natürlich keine Ausbildung gemacht werden konnte. Viele sogenannte rechtschaffene Bürger, die die Hartz-IV-Empfänger verurteilen, geben den Betroffenen selbst die Schuld dafür. Tatsächlich muss man mit 19 noch keine 18000 Euro Schulden gemacht haben, und das allein mit 18 verschiedenen Handyverträgen.

«Du bist erwerbslos, hast kein eigenes Einkommen», sagte ich zu dem jungen Mann, nachdem ich sein Vertrauen gewonnen hatte. «Wieso musst du unbedingt ein teures Smartphone für knapp 600 Euro haben?»

«Wieso», fragte er kämpferisch, «Sie haben doch auch eines!»

Ich persönlich bin der Meinung, dass Schuldzuweisungen die Lage nicht besser machen. Natürlich ist es leichtsinnig, sich mit Handyverträgen zu verschulden. Und doch muss man in der Biographie weiter vorne ansetzen:

«Wieso hast du eigentlich die Schule abgebrochen?»

Und schon ist man mit einer solchen Frage mitten in einer Geschichte, in der nichts lief, wie es bei einem jungen Menschen laufen sollte. Meist sind es verquaste Familiengeschichten voller Leid, mitunter auch voller Gewalt, die hinter einem solchen Schicksal stehen. Eltern, die sich nicht kümmerten. Niemand, der da war, um gewisse Werte zu vermitteln, der Halt geben und als Vorbild wirken konnte. Kinder, die sich selbst überlassen wurden und sich irgendwie durchwurschteln mussten. Wenn ich die richtigen Fragen stellte und genau zuhörte, kam ich oft zu dem Schluss, dass diese jungen Erwachsenen statt Verachtung durchaus Respekt verdienten, weil sie es geschafft hatten, trotz widriger Umstände in nicht noch größere Schwierigkeiten zu geraten. Dass sie schafften, das tägliche Leben zu meistern, grenzte oft an eine Meisterleistung.

 

Besonders in Erinnerung blieb mir die Geschichte von Jessica R., die besonders vertrackt schien. Jessica, die heute 22 Jahre alt ist, steckte, als ich sie kennenlernte, in einer schier aussichtslosen Situation. Ihre Mutter ging fort, als Jessica zwölf Jahre alt war, und ließ sie bei ihrem Vater zurück. Dieser war hochgradig alkoholabhängig, und wenn er getrunken hatte, was er täglich reichlich tat, dann wurde er aggressiv. Er schrie und tobte, und nicht selten schlugen seine Verbalattacken in physische Gewalt um. Eines Tages fand Jessica auf der Straße einen herrenlosen Hund. Es war Liebe auf den ersten Blick bei beiden, und Jessica nahm ihn mit nach Hause, was den Vater noch mehr gegen sie aufbrachte. Doch der Hund gab dem Mädchen den emotionalen Halt, den ihr die Eltern nicht bieten konnten. Ganz allein schaffte sie es, in diesem Haushalt voller Terror ihren Realschulabschluss zu machen, und diesen sogar mit einer durchschnittlich guten Note. Jessica hatte auch klare Vorstellungen davon, was sie werden wollte. Sie hätte gerne eine Schneiderlehre begonnen, doch ohne jede Unterstützung und unter stetem Beschuss von Seiten ihres alkoholkranken Vaters schaffte sie es nicht, eine Ausbildungsstelle zu finden.

Da ihr Vater Hartz IV bezog und sie als seine Tochter dadurch ebenfalls im Jobcenter erfasst war, bat sie ihre Sachbearbeiterin, von zu Hause ausziehen zu dürfen und eine eigene Wohnung genehmigt zu bekommen, damit sie den Angriffen ihres gewalttätigen Vaters nicht mehr länger ausgesetzt wäre. Damals war sie erst 17, und ihr Antrag wurde abgelehnt. Grundsätzlich ist vom Sozialgesetzbuch II vorgesehen, dass junge erwerbslose Erwachsene bis zu ihrem fünfundzwanzigsten Lebensjahr bei ihren Eltern leben müssen. Auch im Fall von Jessica wurde keine Ausnahme in Betracht gezogen.

Nachdem ihr Vater sie immer wieder brutal geschlagen hatte und sie sogar um ihr Leben fürchten musste, versuchte Jessica, das Jugendamt einzuschalten. Wegen «personellem Engpass» reagierte das Amt allerdings nicht auf Jessicas Hilferuf. In ihrer Not wandte sich die junge Frau mehrmals an die nächstgelegene Polizeiwache, doch auch hier fand sie keine Unterstützung. Und so blieb Jessica nichts anderes übrig, als sich an besonders schlimmen Tagen gemeinsam mit ihrem Hund zu Freunden zu flüchten, ehe die Situation zu Hause wieder einmal eskalierte.

Das Jobcenter nahm keine Rücksicht auf die Nöte der jungen Frau. Stattdessen drängte man sie, endlich eine Ausbildung zu beginnen oder eine ungelernte Arbeit anzunehmen. Auf ihre persönlichen Probleme ging man nicht ein. Wen wundert es, dass das Mädchen immer scheuer wurde und es oft nicht wagte, die Wohnung ihrer Freunde zu verlassen aus Angst, ihr Vater könnte herausfinden, wo sie sich so oft versteckt hielt. Aus diesem Grund versäumte sie auch hin und wieder die Pflichttermine beim Jobcenter. Ihr damaliger Sachbearbeiter tat daraufhin das, was in den Weisungen steht: Er sanktionierte sie mit Kürzungen ihrer Bezüge, und der Druck auf die junge Frau wurde noch größer.

An diesem Punkt in Jessicas Geschichte lernte ich sie kennen; ihr Fall war unter denen, die mir nun zugeteilt worden waren. Und so kam eines Tages eine völlig verängstigte junge Frau zu mir ins Büro. Ihren Hund hatte sie auch dabei, und als ich sah, wie eingeschüchtert Jessica R. war, nutzte ich die Gelegenheit, um mich zunächst einmal mit ihr über den Vierbeiner zu unterhalten. Ich selbst bin mit allen möglichen Tieren aufgewachsen und habe da keine Berührungsängste, ganz im Gegenteil. Es dauerte eine Weile, bis ich Jessica R. dazu ermutigen konnte, mir ihre Geschichte zu erzählen. Dann aber brach alles nur so aus ihr heraus. Unter Tränen erzählte sie mir von den schwierigen Jahren, die hinter ihr lagen, und von der ausweglosen Situation, in der sie sich momentan befand.

«Ich kann nicht mehr bei meinem Vater wohnen bleiben», schluchzte sie. «Er ist so unberechenbar. Neulich hat er fast meinen Hund umgebracht. Ich glaube, er lässt all seinen Frust darüber, dass meine Mutter ihn verlassen hat, an mir aus.»

Ich ließ ihr Zeit und stellte eine Menge Fragen, und so fügte sich mir nach und nach ein immer klareres Bild von Jessicas Situation zusammen.

«Ich würde so gerne Schneiderin lernen», erzählte mir Jessica. «Schon als Kind hab ich kleine Sachen genäht. Leider hat meine Mutter die Nähmaschine mitgenommen, als sie auszog. Aber auf der Maschine meiner Freundin hab ich schon ein paar Sachen für mich gemacht. Ich hab ja eh kaum Geld, um mir was zum Anziehen zu kaufen.»

Jessica verzog den Mund zu einem bitteren Lächeln. Als inzwischen 18-jährige sogenannte «erwerbsfähige Angehörige in der Bedarfsgemeinschaft» mit ihrem Vater erhielt sie nach dem Regelsatz monatlich 299 Euro. Nach der Sanktionierung «wegen Meldeversäumnis» durch meine Kollegin war der Betrag allerdings auf 269,10 Euro zusammengeschrumpft. Zwar musste Jessica in der häuslichen Gemeinschaft mit ihrem Vater davon keine Mietkosten bestreiten, doch für alles andere, das Essen für sie selbst und ihren Hund, Toilettenartikel, Kleider, Schuhe, Fahrkarten und so weiter – für all das sollten die 299 Euro reichen.

«Ich will nicht mein Leben lang von Hartz IV leben», erklärte Jessica entschlossen. «Ich will einen Beruf lernen und selbst für mich sorgen. Aber wenn ich dort wohnen bleiben muss, schaff ich das nie.»

Wieder traten Tränen in ihre Augen. Mir war klar, das Mädchen war durch den jahrelangen Terror von Seiten ihres Vaters völlig zermürbt und verängstigt. Es gab keinen anderen Weg: Sie musste dort raus.

Trotz der Vorschrift, dass junge Erwachsene bis zu ihrem 25. Lebensjahr bei ihren Eltern wohnen müssen, gibt es natürlich Wege und Mittel, ihnen im Ernstfall zu einer eigenen Wohnung zu verhelfen. Und wenn Jessicas Fall kein ernster war, welcher dann? Allerdings konnte ich das als Arbeitsvermittlerin nicht im Alleingang entscheiden. In solchen Fällen muss das Jugendamt aktiv werden und eine Empfehlung schreiben, dass eine eigene Wohnung aus familiären Gründen absolut notwendig ist. Erst dann darf ich die Mietkosten für eine eigene Wohnung genehmigen.

Also versuchte ich auf Jessicas ausdrücklichen Wunsch hin erneut, das zuständige Jugendamt einzuschalten. Dort jedoch herrschte noch immer ein «personeller Engpass», weitere Wochen vergingen und nichts geschah. Schließlich begab sich Jessicas Vater tatsächlich in eine Fachklinik zu einer Entziehungskur, und die junge Frau atmete auf. Sie hatte nun wenigstens ein paar Wochen Ruhe und die Chance, sich von dem Dauerstress mit ihrem Vater zu erholen. Zumindest glaubte sie das. Denn eines schönen Tages klingelte es an der Tür, und ein Gerichtsvollzieher stand davor. Jessica bekam fast einen Nervenzusammenbruch, als der ihr erklärte, dass ihr Vater auf ihren Namen Schulden gemacht habe. Offenbar hatte er monatelang Waren in hohem Wert bestellt – und zwar auf den Namen der Tochter. Nun sah sich Jessica mit hohen Zahlungsforderungen konfrontiert.

Unter dieser neuen Belastung drohte die junge Frau endgültig zusammenzubrechen – wer konnte ihr das verdenken? Da sie inzwischen Vertrauen zu mir gefasst hatte, rief sie völlig verzweifelt bei mir an.

«Komm sofort vorbei», sagte ich, «wir kriegen das schon irgendwie in den Griff.»

Ich fand, wenn diese junge Frau schon keine Eltern mit genügend Verantwortungsgefühl für ihr Kind hatte, dann musste ich ihr eben helfen. Kurzerhand vereinbarte ich einen Termin beim Amtsgericht, rief auch den Gerichtsvollzieher an und bat ihn hinzu. Es war nicht ganz einfach, und Jessica hatte viel Glück, denn der Gerichtsvollzieher war ein verständnisvoller Mensch und die Richterin hatte das Herz auf dem rechten Fleck – und so gelang es uns, die Schulden auf den Vater zu übertragen, der sie ja auch tatsächlich verursacht hatte.

Natürlich fürchtete sich Jessica jetzt noch mehr vor ihrem Vater.

«Wenn der nach Hause kommt», sagte sie, «dann kann ich was erleben.»

«Wie lange dauert denn seine Kur noch?», fragte ich.

«Nur noch zwei Wochen», war die Antwort.

Es war klar, die junge Frau musste nun aus der häuslichen Gemeinschaft mit diesem Vater, der unberechenbare Tobsuchtsanfälle bekam und nicht einmal davor zurückschreckte, die Zukunft seiner Tochter mit Schulden zu belasten, ausziehen. Wenn das Jugendamt nicht in die Pötte kam, dann mussten wir es anders versuchen. Aber zwei Wochen, das war einfach zu wenig Zeit.

«Weißt du was», sagte ich zu Jessica, «ich glaube, deinem Vater würde es guttun, wenn er seine Kur noch ein bisschen verlängert.»

Sie sah mich fragend an. Ich bat sie um die Telefonnummer des behandelnden Hausarztes. Ich rief ihn an und erklärte ihm die Situation. Und wieder hatte Jessica Glück: Der Arzt verstand genau, was auf dem Spiel stand, nämlich nicht mehr und nicht weniger als die Zukunft eines jungen Menschen, und verlängerte nach Rücksprache mit den behandelnden Ärzten in der Klinik die Entziehungskur um weitere vier Wochen.

Mit meiner Rückenstärkung ging Jessica nun endlich zur Polizei – diesmal nicht als Bittstellerin um Hilfe, sondern um gegen ihren Vater Anzeige wegen Körperverletzung zu erstatten. Die nächste dringend notwendige Maßnahme war es, die junge Frau weit weg von ihrem Vater unterzubringen. Für eine begrenzte Zeit konnte sie zu Verwandten ihrer Mutter ziehen, die außerhalb der Stadt wohnten und deren Anschrift der Vater nicht kannte. Jessica zog mit Sack und Pack und vor allem mit ihrem vierbeinigen Freund aus der alten Wohnung aus und hielt die neue Adresse streng geheim. Auch ich hinterlegte sie sicherheitshalber nicht im Computer des Jobcenters – man konnte ja nie wissen. Als der Vater aus seiner verlängerten Entziehungskur nach Hause kam, war seine Tochter verschwunden. Nun hatte er niemanden mehr, an dem er seine Wut auslassen konnte.

Da Jessica große Angst davor hatte, ihr Vater könnte ihr vor dem Jobcenter auflauern, denn dies war die einzige Anlaufstelle, von der er wusste, dass sie immer noch gültig für seine Tochter war, vereinbarte ich mit ihr, dass wir die Beratungstermine vorerst telefonisch abhalten würden.

So endlich dem Psychoterror ihres Vaters entronnen, stabilisierte sich die junge Frau, kam zur Ruhe und fand die Kraft und Energie, ihre eigene Zukunftsplanung in die Hand zu nehmen. Sie absolvierte erfolgreich zwei Praktika, eine wichtige Maßnahme, um ihr Selbstbewusstsein zu stärken und sich in der Arbeitswelt zu orientieren.

Der nächste Schritt war es, dem Mädchen auf die eigenen Beine zu verhelfen, die Unterbringung bei den Verwandten war ja von vornherein als vorübergehend geplant gewesen. Da das Jugendamt nach wie vor nicht aktiv wurde, wählte ich einen anderen Weg: Schlussendlich war es eine staatlich anerkannte Straßensozialstation, die Jessicas Fall begutachtete und die längst überfällige Empfehlung für eine eigene Wohnung ausstellte. Denn erst mit einem solchen offiziellen Schreiben konnte ich ihr die Kostenübernahme für die Miete genehmigen.

Jessica zog in ihre eigene kleine Wohnung und fand eine Lehrstelle als Damenschneiderin. Heute benötigt sie die Hartz-IV-Zuwendungen nicht mehr, sie steht auf eigenen Beinen. Kurz vor meiner Freistellung besuchte sie mich im Jobcenter – fast hätte ich in der selbstbewussten und fröhlichen jungen Frau das eingeschüchterte Mädchen von einst nicht wiedererkannt.

«Das hätte ich niemals geschafft», sagte sie, «wenn Sie mir nicht so geholfen hätten.»

«Geschafft hast du das selbst», gab ich lächelnd zurück. «Ich habe nur geholfen, ein paar Stolpersteine aus dem Weg zu räumen.»

 

Das war es, weshalb ich mich damals entschlossen hatte, beim Jobcenter team.arbeit.hamburg die schwierigen «U25»er zu übernehmen. Sicher, es gab Fälle, da waren meine Bemühungen von weniger Erfolg gekrönt. Und doch fand ich fast immer einen Weg, um den Leuten zu helfen, auch wenn ich mir damit bei meinen Kollegen und Vorgesetzten nicht nur Freunde machte.

Denn im Fall von Jessica R. machte ich aus Sicht der Teamleitung mehrere kapitale Fehler: Ich mischte mich mehr ein, als ich sollte, als ich den Fall nicht nur nach Jessicas Verhalten gegenüber dem Jobcenter beurteilte, sondern den ganzen Menschen samt seiner Lebenssituation unter die Lupe nahm. Ich übertrat meine Kompetenzen in mehreren Punkten: Da war die Sache mit dem Gerichtsvollzieher. Hier einzuschreiten ist eigentlich nicht Sache eines Sachbearbeiters beim Jobcenter. Und doch: Hätte ich das Mädchen so ins Messer laufen lassen sollen? Die Sanktionierung aufzuheben, die verhängt worden war, als Jessica aus Angst vor Zusammentreffen mit ihrem Vater nicht zu den Terminen erschienen war, bedeutete einen weiteren Verstoß gegen die «Empfehlungen», die man an uns richtete. Mich an den Hausarzt des Vaters zu wenden – auch das lag außerhalb meiner Befugnisse. Einen Weg am Jugendamt vorbei zu suchen und zu finden, überschritt außerdem meine Zuständigkeit. Dass ich mit Jessica einige Monate lang die Beratungsgespräche am Telefon führte, statt darauf zu bestehen, dass sie bei mir im Büro erschien, dafür erhielt ich auch wirklich eine Rüge. Auf die Gefahr hin, dass alles bislang Erreichte umsonst gewesen wäre, wenn Jessica vor dem Jobcenter auf ihren Vater getroffen wäre, hätte ich auf ihrem Kommen bestehen sollen. Vor allem, dass ich ihre neue Anschrift bei den Verwandten nicht ins System eingespeist hatte, ging eigentlich gar nicht. Und doch fand ich es wichtiger, ein Menschenleben zu schützen, als der Bürokratie Genüge zu tun. Dass ich am Ende einen fast schon aufgegebenen Fall in die Selbständigkeit und Unabhängigkeit vom Jobcenter hatte führen können und dies sogar auf Dauer – dieser Erfolg wurde nicht gewürdigt.

Mir war das alles ziemlich egal. Ich hörte mir die Vorhaltungen an und scherte mich nicht weiter um sie. Da war ein Mensch, dessen Leben sich von Grund auf zum Besseren gewendet hatte, das allein zählte für mich. Und war nicht genau das unser Auftrag, sei es nun bei der Bundesagentur für Arbeit oder in den Jobcentern? Menschen zu helfen, dass sie sich kraft ihrer eigenen Arbeit selbst finanzieren konnten und uns irgendwann nicht mehr brauchten? So hatte ich es zumindest verstanden und so verstehe ich den Auftrag der Arbeitsvermittler auch heute noch. Und Frank-Jürgen Weise formulierte es ja im Zusammenhang mit dem Vermittlungsskandal von 2013 nicht anders, wenn er sagte: «Wir arbeiten für Menschen, nicht für Zahlen.»[1] Genau das ist es, was auch ich fordere: dass wir die Menschen im Fokus behalten und ihr Wohl über Statistiken und Quoten stellen.

2. Zur Unmenschlichkeit gezwungen

Doch die Wirklichkeit im Jobcenter sieht anders aus. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass einige meiner Kollegen und vor allem diejenigen in der Leitungsebene ihre Aufgabe ganz anders definierten. Im Gegensatz zu mir und manchen meiner Kollegen sahen sie sich nicht als Verbündete der Arbeitssuchenden auf ihrem Weg in die Beschäftigung, sondern als Repräsentanten einer strengen Instanz, die glaubten, den «Hartzer» überwachen und maßregeln zu müssen. Das setzt ein Menschenbild voraus, das mir einfach nicht in den Kopf will. Ich bin der festen Überzeugung, dass Menschen grundsätzlich arbeiten wollen, und all meine inzwischen gemachten Erfahrungen bestätigen dies. Besonders in Deutschland ziehen wir alle unser persönliches Selbstwertgefühl aus der Möglichkeit, etwas Sinnvolles zu leisten und unser Geld selbst zu verdienen. Ein guter Job sichert die Anerkennung durch die Umwelt, außerdem sorgt ein geregeltes Arbeitsleben für soziale Kontakte und eine Tagesstruktur, und all das ist für viele Menschen so wichtig wie die Luft zum Atmen. Zu arbeiten bedeutet, Teil einer Gemeinschaft zu sein und dazu beizutragen, dass unsere Gesellschaft funktioniert. Ein gutes Arbeitsumfeld macht Menschen zufrieden, die Möglichkeit, etwas Sinnvolles zu leisten und die eigenen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen und zu erweitern – all das gehört zu einem selbstverwirklichten und glücklichen Leben dazu. Michael Neumann und Jörg Schmidt haben dies in ihrem Aufsatz, der vom Roman Herzog Institut veröffentlicht wurde[2], treffend formuliert: «Empirisch ist längst nachgewiesen, was intuitiv ohnehin nie strittig war: Arbeiten macht uns glücklicher als Arbeitslosigkeit.»

Die Autoren erwähnen eine Untersuchung in zwölf europäischen Staaten, die belegte, «dass Arbeitslosigkeit unglücklich macht».

Offenbar scheint dies auch in Deutschland zu gelten – nur nicht für diejenigen, die Hartz IV beziehen. Verbreitet ist die Meinung, der «Hartzer» an sich sei faul, liege am liebsten auf Malle am Strand und freue sich über die großzügigen Zuwendungen vom deutschen Staat. Der «Hartzer» an sich kann angeblich nichts, lacht sich ins Fäustchen, während die anderen arbeiten, steht erst gegen Mittag auf und drückt sich um jedes Bewerbungsgespräch herum. Er nutzt ohne Gewissensbisse die Wohltaten des deutschen Sozialstaates aus – wieso um alles in der Welt sollte er sich anstrengen, wo er doch alles in den Hintern geschoben bekommt? Wer «Hartzer» wird, ist garantiert selbst schuld an seiner Situation, der muss ganz gewaltig was falsch gemacht haben, ansonsten wäre er niemals «dort unten» gelandet.

Einfach nur dummes Stammtischgeschwätz? Das vermutete ich früher auch. Umso entsetzter war ich, als mir langsam, aber sicher klar wurde, dass dieses Gedankengut innerhalb der Jobcenter ebenfalls weit verbreitet war. Und nicht etwa nur unter den Jobcentermitarbeitern, sondern fatalerweise auch ganz oben in der Führungsriege.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich hatte zahlreiche ausgesprochen nette und sensible Kollegen. Und noch heute habe ich bundesweit unzählige Unterstützer aus den Reihen der Arbeitsagenturen und der Jobcentermitarbeiter aller Ebenen, die so denken wie ich. Sie versorgen mich ständig mit einer Fülle an Informationen, jetzt, wo man mich aus dem System entfernt hat. Ich schätze und bewundere diese Menschen. Es ist alles andere als einfach, unter dem steten Druck der Vorschriften, die die Sanktionspraxis betreffen, sich selbst und seinen Idealen treu zu bleiben. Mir und meinen Kollegen wurde das Leben mit der Zeit immer schwerer gemacht – und das nicht unbedingt von Seiten unserer «Kunden». Es ist das System Hartz IV selbst, was wirklich sinnvolle Arbeit schwierig bis unmöglich macht. Es sind die Vorschriften, die verhindern, dass die Arbeitsvermittler den Betroffenen helfen können, ihre «Vermittlungshindernisse», jene Stolpersteine also, die sich mit der Zeit bei vielen ansammeln, aus dem Weg zu räumen und ihnen den Weg in die Beschäftigung zu ebnen. Unsere Situation in den Jobcentern ist hochgradig grotesk: Gerade das System, das angeblich geschaffen wurde, um den Menschen zu helfen, entwickelt Vorschrift um Vorschrift, die genau den gegenteiligen Effekt haben. Und das kann auf Dauer nicht gutgehen.

Wenn ich zurückdenke an meine Kolleginnen und Kollegen, dann sehe ich ganz unterschiedliche Menschen vor mir. Da waren diejenigen, die aus helfenden Berufen zu uns kamen, die zuvor als Sozialpädagogen gearbeitet hatten oder direkt von der Uni, voller Enthusiasmus, voller Ideen. Es dauerte nicht lange, und diese waren wieder weg – enttäuscht davon, dass sie so wenig von dem, was sie sich vorgestellt hatten und was so nötig wäre, umsetzen konnten. Andere blieben, passten sich an und verloren in erschreckendem Maße all ihre Begeisterung, weil sie nicht so agieren konnten, wie sie es gerne getan hätten. Denn wie soll man Arbeitssuchenden helfen, wenn überhaupt keine Arbeitsplätze vorhanden sind, an die sie vermitteln werden könnten?

Diesen einmal so engagierten Mitarbeitern wird mit der Zeit bewusst, dass ihr Schreibtisch mehr ist als ein Möbel, auf das man die Akte legen kann – dass er nämlich eine unsichtbare Schranke darstellt, die sie nur öffnen können, wenn sie ein, zwei, drei Vorschriften ignorieren. Wer von den Jobcentermitarbeitern sich unter diesen Umständen nicht nach einer anderen Arbeit umsah, der sah sich gezwungen, mit der Zeit sein kritisches Denken abzuschalten, um nach Weisung verfahren zu können, ohne von seinem schlechten Gewissen aufgefressen zu werden.