Helmut Kohl
Vom Mauerfall zur Wiedervereinigung
Meine Erinnerungen
Knaur e-books
Dr. Helmut Kohl, geboren am 3. April 1930 in Ludwigshafen am Rhein. Seit 1947 Mitglied der CDU. Von 1959 bis 1976 Mitglied des Landtags von Rheinland-Pfalz. Von 1969 bis 1976 Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz. Von 1973 bis 1998 Bundesvorsitzender der CDU. Von 1976 bis 2002 Mitglied des Deutschen Bundestages. Vom 1. Oktober 1982 bis 27. Oktober 1998 Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Seit Dezember 1998 Ehrenbürger Europas. Helmut Kohl ist mit 16 Jahren Regierungszeit bis heute der am längsten amtierende deutsche Bundeskanzler. Er war der sechste Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland und der erste Bundeskanzler des wiedervereinten Deutschland. Helmut Kohl lebt mit seiner Frau Dr. Maike Kohl-Richter in seiner Heimatstadt.
Der vorliegende eBook »Vom Mauerfall zur Wiedervereinigung« fasst die einschlägigen Kapitel des zweiten und dritten Bandes der Erinnerungen Helmut Kohls zusammen; diese wurden teilweise gekürzt und überarbeitet.
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Für meine Frau Maike
Aus Anlass des 25. Jahrestags des Falls der Berliner Mauer im November dieses mit Gedenkmomenten reich erfüllten Jahres 2014 erscheinen meine Erinnerungen zum Prozess der deutschen Einheit in einer dem Jubiläum angemessenen schönen Ausgabe. Dafür danke ich dem Droemer Verlag.
In meinen aus den Memoirenbänden II und III zusammengefassten Erinnerungen der Jahre 1989/90 mit dem die Ereignisse einordnenden Vorwort beschreibe ich, was in den entscheidenden Monaten zwischen Michail Gorbatschows Besuch in Deutschland im Sommer 1989 und dem 3. Oktober 1990, dem Tag der deutschen Wiedervereinigung, passiert ist, warum die Einbettung in den europäischen Einigungsprozess wie in die Nato für das Erlangen der deutschen Einheit elementar war, welche die wichtigen Momente und kritischen Situationen oder Fragestellungen waren und welche Rolle Vertrauen gerade in diesen Tagen spielte.
Wenn ich heute auf die Jahre 1989 und 1990 und auch den 20. Jahrestag des Mauerfalls vor fünf Jahren zurückblicke, kann ich feststellen: Das alles war nicht selbstverständlich. Wir Deutschen müssen dankbar für das Erreichte sein, und wir dürfen stolz darauf sein, das schmale Zeitfenster zur Wiedererlangung der Einheit erfolgreich und friedlich genutzt zu haben. Wir haben seit 1990 zumal vor dem Hintergrund der damaligen, insbesondere wirtschaftlich sehr schwierigen Ausgangssituation viel erreicht, auch wenn noch manches zu tun bleibt.
Die Herausforderungen sind andere geworden, aber sie sind unverändert groß geblieben. Das sage ich insbesondere mit Blick auf Europa. Europa ist aktuell in keinem guten Zustand, aber es wird gelingen, wenn die Politik beherzt vorangeht und die Menschen entschlossen mitnimmt und wenn wir das Vertrauen ineinander wieder stärken und das Vertrauen der Menschen in Europa und den Euro zurückgewinnen.
Wenn wir das beherzigen, mache ich mir keine Sorgen um Deutschland und Europa. Wir wollen nicht vergessen: Es geht um viel, es geht um unser aller Zukunft.
Helmut Kohl
Ludwigshafen, im Juli 2014
Am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer – über vier Jahrzehnte nach Beginn des Kalten Krieges, 28 Jahre nach ihrer Errichtung.
Die Mauer von Berlin hatte jahrzehntelang nicht nur – schlimm genug – Familien zerrissen, eine Stadt und ein Land faktisch in zwei Teile geteilt. Sie war auch das Symbol des Kalten Krieges. Sie stand für die Spaltung Berlins, unseres Landes, Europas und der Welt in einen freien und einen unfreien Teil.
Die Mauer fiel schließlich ganz friedlich, ohne einen Schuss, ohne Blutvergießen. Es war wie ein Wunder. Der friedliche Protest der Menschen in der DDR hatte sich über Monate langsam, aber stetig aufgebaut und war schließlich nicht mehr aufzuhalten. Das starrsinnige SED-Regime, das sich bis zuletzt grundlegenden Reformen verweigerte, scheiterte am Freiheitswillen der Menschen – so, wie es Konrad Adenauer, der erste Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, 40 Jahre zuvor vorausgesehen hatte.
Nach dem Mauerfall im November 1989 sollte nicht einmal ein Jahr vergehen, bis wir die Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit und mit Zustimmung unserer Partner und Verbündeten in der Welt erreichten. Am 3. Oktober 1990 konnten wir den Tag der deutschen Einheit feiern. Es war der Triumph der Freiheit.
So ist der 20. Jahrestag des Mauerfalls für uns Deutsche vor allem ein Tag großer Freude und Dankbarkeit. Zugleich ist er für uns auch ein gewichtiges Datum, uns im historischen Kontext bewusst zu machen, wie es zum Mauerfall und wie es anschließend zur deutschen Einheit kam. Denn weder Mauerfall noch Wiedervereinigung sind zwangsläufige Ereignisse der Geschichte, die sich einfach so ergeben haben.
Mauerfall und Wiedervereinigung sind vielmehr das Ergebnis eines seit 1945/49 andauernden, schwierigen und immer wieder auch höchst umstrittenen politischen Balanceaktes. Es war die stete Balance zwischen Abgrenzung und Annäherung. Einerseits galt es, die deutsche Frage offenzuhalten. Andererseits galt es, so weit wie möglich und ohne Aufgabe der eigenen Grundpositionen »normale Beziehungen« zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR aufzubauen, den Menschen im östlichen Teil unseres Landes Erleichterungen zu verschaffen und der Entfremdung zwischen den Deutschen in Ost und West entgegenzuwirken.
Dass die Mauer irgendwann fallen und Deutschland wieder vereint würde, daran hatte ich nie einen Zweifel. Aber wie und wann dies geschehen würde, war für mich immer eine offene Frage. Lange Zeit wusste ich nicht einmal, ob sich dies noch zu meinen Lebzeiten ergeben würde. Es war immer klar, dass dafür vieles zusammenkommen musste – so, wie es in den Jahren 1989 und 1990 dann auch geschah. Nicht allein der Freiheitswillen der Menschen in der DDR, nicht allein Glasnost und Perestroika, nicht allein die Entspannungspolitik zwischen Ost und West, nicht allein US-Präsident George Bush, nicht allein der sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow, nicht allein der deutsche Bundeskanzler – niemand allein hätte ausgereicht, um die Mauer zu Fall und die Wiedervereinigung zustande zu bringen. Es bedurfte dazu vielmehr einer glücklichen, ich möchte sagen einer historischen Konstellation von Personen und Ereignissen.
Zum historischen Bewusstsein gehört auch die Erkenntnis: Mit dem Mauerfall war die Einheit noch nicht erreicht. Im Gegenteil, noch war nichts entschieden am 9. November 1989. Eine Tür hatte sich einen Spalt breit geöffnet, das ist wahr, aber entschieden war noch nichts an diesem Tag des Mauerfalls. Die Wiedervereinigung unseres Landes war vielmehr ein politischer Machtkampf um die europäische Statik und die Sicherheitsinteressen in Ost wie West. Sie war bis zuletzt ein Balanceakt im Spannungsfeld des Kalten Krieges.
Ich zitiere für die Situation, in der ich mich damals wiederfand, gerne Otto von Bismarck, denn es gibt kein besseres Bild: Wenn der Mantel Gottes durch die Geschichte wehe, müsse man zuspringen und ihn festhalten. Dafür müssen drei Voraussetzungen gegeben sein: Erstens muss man einen Blick dafür haben, dass es den Mantel Gottes gibt. Zweitens muss man ihn spüren, den historischen Moment, und drittens muss man springen und ihn festhalten (wollen). Dazu gehört nicht nur Mut. Es bedarf vielmehr einer Paarung von Mut und Klugheit. Denn Politik ist nicht wie »Zieten aus dem Busch«. Dass der Reitergeneral Zieten Schlachten für Friedrich den Großen entschieden hat, indem er aus dem Wald hervorbrach und die Gegner in einem Überraschungsangriff überwältigte, ist kein Vorbild für die Politik.
Politik braucht Gespür für das Machbare, auch für das dem anderen Zumutbare. Dies galt in besonderer Weise für die deutsche Frage, und hier erst recht in der Zeit nach dem Mauerfall. Der politische Einigungsprozess war in höchstem Maße sensibel, denn wir Deutschen waren ja nicht allein auf der Welt. In dem Moment, als die Einheit greifbar nahe schien, wäre es für die Sache der Deutschen in hohem Maße schädlich gewesen, der deutschen Einheit das Wort zu reden oder etwa deutschnationale Reden zu führen. Innerlich war ich, zumal nach dem Fall der Mauer, auf dem Weg der Einheit schon viel weiter, als ich aussprechen durfte.
Ein besonders eindringliches Beispiel dafür ist mein Zehn-Punkte-Programm, das ich zweieinhalb Wochen nach dem Mauerfall, am 28. November 1989, im Deutschen Bundestag im Alleingang, das heißt ohne jede innen- und außenpolitische Abstimmung, vorgelegt habe. Als Ziel nannte ich in Punkt zehn die Wiedergewinnung der staatlichen Einheit Deutschlands beim Namen, verzichtete allerdings bewusst auf eine zeitliche Festlegung. Mit dem in Zehn Punkte gekleideten Fahrplan habe ich die Initiative auf dem Weg zur deutschen Einheit übernommen und die Richtung unzweideutig vorgegeben. Es war damals das Äußerste, das ich wagen durfte. Die Reaktionen verdeutlichten dies einmal mehr.
Ein anderes Beispiel für die gebotene Vorsicht ist meine Rede in Dresden wiederum drei Wochen später, am 19. Dezember 1989. Zahlreiche Journalisten aus dem In- und Ausland waren angereist. Auch hier, vor der gesamten Weltöffentlichkeit, die auf uns schaute, durfte es nicht mein Thema sein, in der Frage der Einheit die Stimmung anzuheizen, auch wenn die Menschen offenkundig auf eine klare Antwort von mir warteten. Und das machte die Rede, die ich gewissermaßen aus dem Stegreif hielt, so schwierig. Ich musste den rund 100 000 Menschen in einer aufgeheizten Stimmung ein Wort der Treue und der Besonnenheit sagen. Ich durfte zugleich aber keine Formulierung wählen, die im Ausland auch nur den geringsten Anlass gegeben hätte, zu glauben, dass wir Deutschen einen unverständlichen Alleingang unternehmen würden.
Auf die Wiedervereinigung unseres Landes hatte ich immer hingearbeitet. Es entsprach meiner tiefsten Überzeugung, dass wir die deutsche Frage offenhalten mussten, bis der Moment kommen würde. Ich habe mich dabei immer in der Kontinuität Konrad Adenauers gesehen. Der erste Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland hat die entscheidenden Weichen in der deutschen Frage gestellt. Von Beginn an hatte Adenauer einen klaren Kompass. Er wollte Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg wieder in die Gemeinschaft der freien Völker zurückführen, er wollte ein freies und geeintes Europa mit einem freien und geeinten Deutschland. Er stand klar auf der Seite des freiheitlichen Westens, er war kein Wanderer zwischen West und Ost. Die Integration der Bundesrepublik in den freien Westen und die Bindung an die USA standen für ihn eindeutig vor der deutschen Wiedervereinigung, die er gleichwohl immer fest im Blick hatte.
So rief Konrad Adenauer am 5. Mai 1955, dem Tag, an dem die Westmächte die Bundesrepublik für souverän erklärten, an dem die Bundesrepublik der Westeuropäischen Union beitrat und an dem sie in die Nato aufgenommen wurde, den Landsleuten in der DDR zu: »Ihr gehört zu uns, wir gehören zu Euch. Ihr könnt Euch immer auf uns verlassen, denn gemeinsam mit der freien Welt werden wir nicht rasten und nicht ruhen, bis auch Ihr die Menschenrechte wiedererlangt habt und mit uns friedlich vereint im gleichen Staate seid.« Beharrlich hielt er auch am Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik für Deutschland fest.
Was heute manchem wie eine Selbstverständlichkeit erscheint, war in den insgesamt labilen Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg in höchstem Maße unsicher. Der Schuman-Plan von 1950 als Grundstein der heutigen Europäischen Union, der Deutschlandvertrag von 1952 mit der Aufhebung des Besatzungsstatuts und zugleich der Verpflichtung der Westmächte auf ein wiedervereinigtes Deutschland, der Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur Nato im Mai 1955, um nur einige wenige Punkte zu nennen – all dies trägt Adenauers Handschrift. Adenauer war sich sicher, dass die Attraktivität des Westens und der Freiheit irgendwann zur deutschen Wiedervereinigung führen müsste. Und er war immer auch klug genug, dies nicht um den Preis der Neutralität erreichen zu wollen.
Die brutale Niederschlagung des Volksaufstands in der DDR am 17. Juni 1953 durch sowjetische Truppen hat Konrad Adenauer darin bestärkt, dass es keine verantwortbare Alternative zur Integration in den Westen gab. Es war richtig, dass die Westalliierten als Antwort auf die Stalin-Note von 1952 im Einklang mit dem deutschen Bundeskanzler freie Wahlen in ganz Deutschland als Voraussetzung für weitere Schritte gefordert hatten. Denn die Bedingung Stalins war ein neutrales Deutschland gewesen. Adenauer ging zu Recht davon aus, dass eine Neutralisierung Deutschlands zu einem Machtvakuum in Europa führen würde, das die Sowjetunion ausfüllen würde. Dass es ihm in seiner Regierungszeit gleichwohl gelang, 1955 die letzten deutschen Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion heimzuholen, unterstreicht, dass die Westbindung für ihn kein Dogma war, das der Wahrung nationaler Interessen im Osten im Wege stand.
Aus meiner Sicht hatten Adenauers Überzeugungen nie an Aktualität verloren: Eine Wiedervereinigung ohne feste Einbettung in die westlichen Bündnisse hätte unser Land in die Neutralität geführt. Die Folge wäre letztlich ein unfreies Deutschland im Machtbereich der Sowjetunion gewesen. Der Mauerfall am 9. November 1989 und die deutsche Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 sind daher nicht zuletzt die beeindruckende, späte Bestätigung von Adenauers konsequentem Kurs der Westbindung mit Wiedervereinigungsvorbehalt, an dem wir über die Jahre festgehalten hatten.
Wahr ist auch, dass das Festhalten an der deutschen Frage immer schwieriger wurde, weil der Zeitgeist immer stärker dagegen stand. Je länger die Teilung dauerte, desto größer wurde in der Bundesrepublik die Gruppe derer, die sich mit der Zweistaatlichkeit zumindest arrangiert hatte und die Teilung Deutschlands als Realität akzeptiert wissen wollte. Schon in den siebziger Jahren war die Einheit nur noch für wenige in unserem Land eine Herzensangelegenheit. Nicht die Mehrheit der Menschen, aber sicher eine Mehrheit der politischen Klasse in unserem Land hatte die Idee der Einheit längst aufgegeben. Diese Haltung war durchaus parteiübergreifend anzutreffen. Der Unterschied zwischen den Parteien lag aber darin, wo die Mehrheit der Partei und wo ihre Führung stand.
Wer damals für die Einheit eintrat, galt als Ewiggestriger oder Kriegstreiber. Ich erinnere mich noch sehr gut an die Zeit, als ich 1976 als Oppositionsführer nach Bonn kam. Weil ich einer der wenigen war, die noch an die deutsche Einheit glaubten, stand ich in dem Ruf des »Hardliners«. Mit meinem Amtsantritt als Bundeskanzler 1982 schürten meine innenpolitischen Gegner sogleich Ängste vor einer vermeintlichen »neuen Eiszeit« zwischen Ost und West, die mit mir als Regierungschef anbrechen sollte. Meine Gegner sollten sich irren, das Gegenteil war der Fall: Unter meiner politischen Führung wurden ganz wesentliche Weichenstellungen auf dem Weg zur Einheit vorgenommen. Ich trieb den europäischen Integrationsprozess im Tandem mit Frankreichs Staatspräsident François Mitterrand voran. Ich bemühte mich um ganz konkrete Erleichterungen für die Menschen in der DDR, ich versuchte, keinen Anlass für Spannungen zwischen Ost und West zu geben, signalisierte auch der Sowjetunion Gesprächsbereitschaft, bot Möglichkeiten der Zusammenarbeit an und hielt doch an meinen deutschlandpolitischen Grundpositionen fest.
Mit meiner Politik folgte ich der Adenauerschen Logik: Europäische Einigung und deutsche Einheit sind zwei Seiten derselben Medaille. Zu Beginn meiner Kanzlerzeit war der europäische Einigungsprozess an einem Tiefpunkt angelangt. Viele glaubten nicht mehr an die Idee des gemeinsamen Hauses Europa. Das hässliche Wort der »Eurosklerose« beherrschte das Meinungsbild und drückte die ganze Mutlosigkeit aus. Doch mit Überzeugung und Ausdauer sind wir, die Befürworter der europäischen Integration, weiter Schritt für Schritt und gegen Kleinmut und Ängstlichkeit der Skeptiker auf dem europäischen Einigungsweg vorangegangen.
Mit Erfolg, denn als 1989 die Wiedervereinigung auf die politische Tagesordnung rückte, war zwar noch vieles zu tun, aber waren mit meinem Zutun doch ganz wesentliche Fortschritte gemacht worden: So hatten wir in den achtziger Jahren die Einheitliche Europäische Akte unter anderem zur Vollendung des Europäischen Binnenmarktes unterzeichnet. Bereits ab Mitte der achtziger Jahre hatte ich mich auch gemeinsam mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand für die Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung eingesetzt und die Weichen in diese Richtung gestellt.
In der Deutschlandpolitik führte ich mit der Übernahme der Kanzlerschaft ein, dass der alljährliche Bericht zur Lage der Nation inhaltlich wieder erweitert und im Titel mit dem Zusatz »im geteilten Deutschland« versehen wurde. Ich sah darin zugleich ein wichtiges Signal nach innen wie nach außen. Mit dem Milliardenkredit an die DDR, der mit meiner Rückendeckung im wesentlichen über Franz Josef Strauß lief, nahmen wir den Gesprächsfaden mit der DDR wieder auf und erreichten als Gegenleistungen erhebliche menschliche Erleichterungen, wie den Abbau der Selbstschussanlagen an der innerdeutschen Grenze, Erleichterungen bei der Familienzusammenführung und beim Mindestumtausch.
Die Entscheidung aller Entscheidungen auf dem Weg zur deutschen Einheit war der Nato-Doppelbeschluss, den mein Vorgänger Helmut Schmidt gegen den Willen seiner Partei auf den Weg brachte und den ich mit meiner Regierung 1983 gegen alle Widerstände in unserem Land durchsetzte. So überzeugt ich von der Richtigkeit der Entscheidung bis heute bin, so persönlich schwierig war sie damals. Es war eine sehr einsame Entscheidung. Das Bild von Hunderttausenden Demonstranten, die gegen den Nato-Doppelbeschluss auf die Straße gingen, habe ich bis heute vor Augen. Ich erinnere mich auch an die eisigen Mienen der Sozialdemokraten, als der Sozialist Mitterrand sich in einer Rede vor dem Deutschen Bundestag ohne Wenn und Aber an unsere Seite stellte – und gegen seine deutschen Parteifreunde, die mit ihrer Ablehnung in Westeuropa völlig isoliert waren.
Ich bin zutiefst überzeugt, dass ohne den Nato-Doppelbeschluss 1989 nicht die Mauer gefallen wäre und wir 1990 nicht die Wiedervereinigung erreicht hätten. Die Welt hätte eine ganz andere Entwicklung genommen. Das Risiko war offenkundig. Ohne Nato-Doppelbeschluss drohte eine massive Machtverschiebung in Europa zugunsten der Sowjetunion. Die Nato mit den Amerikanern hätte sich schrittweise aus Kerneuropa zurückgezogen. Mindestens die Bundesrepublik Deutschland, Österreich und die DDR, wenn nicht sogar die Benelux-Staaten und Italien wären in der Folge zur sogenannten atomwaffenfreien Zone geworden und entmilitarisiert worden, während die Sowjetunion ihren Einflussbereich ausgedehnt und vor allem von der Wirtschaftskraft der Bundesrepublik profitiert hätte. Entgegen allen Befürchtungen seiner Gegner und Kritiker machte die mit dem Nato-Doppelbeschluss verbundene Standfestigkeit des Westens die Entspannungspolitik zwischen Ost und West erst möglich – und damit auch Michail Gorbatschow mit Glasnost und Perestroika in der Sowjetunion.
Meine Bundesregierung verteidigte gegen alle Widerstände auch die grundlegenden Positionen unserer Deutschlandpolitik. Dazu gehörte vor allem die Frage der deutschen Staatsbürgerschaft. Ich erinnere mich sehr genau an die Debatte, die gerade in der Zeit meines Amtsantritts als Bundeskanzler heftig geführt wurde. Die Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft sollte über die Jahre eine der hartnäckigsten Forderungen Honeckers an die Bundesregierung bleiben. Für meine strikte Ablehnung hatte ich gute Gründe. Mit der Aufgabe der einen deutschen Staatsbürgerschaft hätten wir zugleich die Idee der einen deutschen Nation aufgegeben, wir hätten damit das entscheidende Band der Gemeinsamkeit zwischen den Menschen in beiden Teilen Deutschlands aufgelöst, und wir hätten den Menschen in der DDR einen ganz wesentlichen Schutz und ein gutes Stück Hoffnung genommen. Zu den praktischen Folgen hätte gehört: Ungarn hätte 1989 keine völkerrechtliche Grundlage gehabt, unseren Landsleuten den Weg in die Freiheit »legal« zu ermöglichen. Und die Menschen aus der DDR hätten – wie Ausländer – bei uns um Asyl nachsuchen müssen.
Weniger gewichtig in der Konsequenz, aber bedeutsam für die Betroffenen, war auch immer die zweite große Forderung Honeckers an die Bundesregierung, die Zentrale Erfassungsstelle für DDR-Unrecht in Salzgitter zu schließen. Ich habe mich auch dieser Forderung – ebenfalls im Gegensatz zu den Sozialdemokraten – deutlich widersetzt. Ich habe es, im Gegenteil, immer für einen Verrat an den politischen Gefangenen in der DDR gehalten, dass die sozialdemokratisch geführten Bundesländer Mitte der achtziger Jahre damit drohten und es zum Teil auch beschlossen, ihren Anteil an der Finanzierung dieser Stelle einzustellen.
Die Einladung meines Vorgängers Helmut Schmidt an Erich Honecker hielt ich aufrecht, als ich ins Amt kam. Es war notwendig, mit dem anderen Teil Deutschlands im Gespräch zu bleiben. Als der SED-Generalsekretär 1987 endlich Bonn besuchen sollte, verband ich die Begegnung mit dem Junktim, dass unsere Tischreden beim offiziellen Abendessen live im westlichen und vor allem auch im östlichen Teil unseres Landes gesendet wurden. Millionen Menschen in der DDR blickten an diesem Abend durch den Eisernen Vorhang und konnten am Fernsehen miterleben, wie ich Honecker sagte: »Das Bewusstsein für die Einheit der Nation ist wach wie eh und je, und ungebrochen ist der Wille, sie zu bewahren. […] Für die Bundesregierung wiederhole ich: Die Präambel unseres Grundgesetzes steht nicht zur Disposition, weil sie unserer Überzeugung entspricht. Sie will das vereinte Europa, und sie fordert das gesamte deutsche Volk auf, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden. Das ist unser Ziel. Wir stehen zu diesem Verfassungsauftrag, und wir haben keinen Zweifel, dass dies dem Wunsch und Willen, ja der Sehnsucht der Menschen in Deutschland entspricht.«
Wie die Union sahen sich auch die Sozialdemokraten im Grundsatz stets der deutschen Frage verpflichtet. Der Unterschied zu uns aber bestand darin, dass die SPD immer stärker national ausgerichtet war und den Primat der Westintegration nie in ganzer Konsequenz akzeptierte. Während die Union im Balanceakt zwischen Annäherung und Abgrenzung bei ihrer klaren Distanz blieb, ging die SPD eher auf Annäherungskurs mit der SED. Das offenkundigste Beispiel dafür bleibt das SPD-SED-Papier von 1987. Der Skandal zeigt sich in der zentralen Aussage: »Keine Seite darf der anderen die Existenzberechtigung absprechen. Unsere Hoffnung kann sich nicht darauf richten, dass ein System das andere abschafft. Sie richtet sich darauf, dass beide Systeme reformfähig sind und der Wettbewerb der Systeme den Willen zur Reform auf beiden Seiten stärkt. Koexistenz und gemeinsame Sicherheit gelten also ohne zeitliche Begrenzung.« Das hierin zum Ausdruck kommende ideologische Arrangement der SPD mit dem SED-Unrechtsregime war auch innerhalb der SPD selbst umstritten. Das Papier betont die Gemeinsamkeiten und verwischt die grundlegenden, menschenverachtenden Unterschiede, die uns systembedingt trennten. Es war zugleich eine Absage an die auch in der Präambel unseres Grundgesetzes verankerte Verpflichtung, die deutsche Einheit anzustreben. Am Vorabend der Wiedervereinigung, in den entscheidenden Monaten in den Jahren 1989 und 1990, zeigte sich diese Ambivalenz in einer in sich völlig zerstrittenen SPD, die sich in innerparteilichen Kämpfen und populistischen Sprüchen gegen die deutsche Einheit verlor und Ängste bei den Deutschen in West wie Ost schürte.
Natürlich gab es auch in den Reihen der Union, dem Zeitgeist folgend, Befürworter einer stärkeren Annäherung an die DDR und das SED-Regime, dies allerdings nur am Rande, nie in der Mehrheit. Beispielhaft dafür stehen meine innenparteilichen Widersacher, die mich auf dem Bremer Parteitag noch im September 1989 – also während die Welt sich grundlegend veränderte und die Lösung der deutschen Frage immer näher rückte – stürzen wollten, um den Kurs der Partei zu ändern. Mit meiner Wiederwahl zum Parteivorsitzenden entzog die Basis diesem Ansinnen den Boden und gab zugleich ein klares Votum für meinen deutschlandpolitischen Kurs ab.
Die entscheidenden Verbündeten auf unserem Weg waren die Amerikaner. Sie erwiesen sich einmal mehr als Schutzmacht denn als Besatzungsmacht und als Freunde der Deutschen. Die inhaltlich bedeutsamste Rede eines amerikanischen Präsidenten für das deutsch-amerikanische Verhältnis hielt George Bush Ende Mai 1989 in Mainz, wenige Monate nachdem er Präsident der Vereinigten Staaten geworden war. Es war eine ganz bewusste Proklamation auch an die Adresse unserer europäischen Partner wie an die Sowjetunion, als Bush vor dem Hintergrund der weltpolitischen Veränderungen Amerika und Deutschland »partners in leadership« nannte. Während des gesamten Einigungsprozesses konnte ich mich auch persönlich immer auf meinen Freund George Bush verlassen, mit dem ich mich über den gesamten Zeitraum eng abstimmte. Dies war vor allem in der Frage der Bündniszugehörigkeit des vereinten Deutschlands außerordentlich hilfreich. Unser Schulterschluss beruhte neben persönlicher Sympathie ganz wesentlich darauf, dass wir die gleichen Grundüberzeugungen von Freiheit hatten.
Ganz ähnlich, was die Bedeutung von Vertrauen angeht, und doch ganz anders, was die deutsche Frage betrifft, verhielt es sich mit Michail Gorbatschow. Das Staatsoberhaupt der Sowjetunion wollte die deutsche Einheit ursprünglich nicht. Er sah die Notwendigkeit von Reformen nicht zuletzt aus der eigenen Erfahrung mit der desolaten wirtschaftlichen Lage in Russland. Mit den Worten Glasnost und Perestroika öffnete er den Weg für Veränderungen im gesamten Ostblock. Gleichwohl, und das habe ich in Gesprächen immer wieder feststellen können, wollte er die Konsequenzen seines Reformkurses nicht zu Ende denken. Er wollte die Öffnung des Ostblocks, aber er wollte das daraus sich zwangsläufig ergebende Ende auch der Sowjetunion nicht sehen oder nicht wahrhaben. Sein größtes Verdienst bleibt, dass er seine Politik den Notwendigkeiten immer wieder anpasste. Dazu gehört vor allem, dass er in den aufgeregten Tagen des Mauerfalls in Berlin die sowjetischen Panzer in den Kasernen gehalten hat und den Aufstand nicht blutig niederschlagen ließ. Die friedliche Linie behielt er über den gesamten Einigungsprozess bei. Wir Deutschen können ihm für seinen Mut nicht dankbar genug sein. Er ist damit auch ein großes persönliches Risiko eingegangen. Michail Gorbatschow musste 1989/90 ständig fürchten, von den Reformgegnern in der Sowjetunion weggeputscht zu werden. Für uns hätte dies bedeutet, dass die Grenze mit Mauer und Stacheldraht über Nacht wieder hochgezogen und die deutsche Frage auf Jahre verschoben worden wäre.
Michail Gorbatschow hat für seine friedliche Linie einen hohen Preis bezahlt. Ich erinnere mich gut daran, wie er bei seinem Besuch im Juni 1989 in Bonn unter dem Eindruck der »Gorbimanie« in der Bundesrepublik zu mir sagte, auf dem Bonner Marktplatz habe er sich gefühlt wie auf dem Roten Platz in Moskau. Als ich dann später, Ende der neunziger Jahre, nach dem Zerfall der Sowjetunion mit Michail Gorbatschow über den Roten Platz in Moskau ging, haben sich die Menschen von ihm abgewandt.
Unsere europäischen Nachbarn und Partner trafen der Mauerfall und die Aussicht auf die Wiedervereinigung Deutschlands wie ein Schock. Viele hatten damit gerechnet, dass die deutsche Einheit kommt, aber nicht zu ihren Lebzeiten und schon gar nicht zu diesem Zeitpunkt. Der Mauerfall kam daher für die meisten schlicht ungelegen. Selbstverständlich war in vielen Verträgen in den vorangegangenen Jahren das Recht der Deutschen auf die Einheit verankert worden, aber das war gestern gewesen mit der Aussicht auf übermorgen. Und nun war sie da, unsere historische Chance auf ein geeintes deutsches Vaterland. Und nach kurzer Zeit schon flammte das alte Misstrauen gegen die Deutschen wieder auf – nur für kurze Zeit zwar, aber dafür umso heftiger. Aus dem Kreis unserer europäischen Verbündeten stand nur einer von Beginn an fest an unserer Seite: der spanische Ministerpräsident Felipe González, der keine Minute einen Zweifel aufkommen ließ, wo sein Platz war.
Margaret Thatcher war die Ehrlichste unter den Gegnern der Einheit und sagte: »Zwei Deutschland sind mir lieber als eines.« Sie sagte auch: »Zweimal haben wir die Deutschen geschlagen, jetzt sind sie wieder da!« Die britische Regierungschefin, die sich schließlich aus Einsicht in die Unabwendbarkeit der Entwicklung nicht mehr gegen die Wiedervereinigung unseres Landes sperrte, hatte irrtümlich darauf gesetzt, dass Gorbatschow der Nato-Zugehörigkeit eines vereinten Deutschlands nie zustimmen würde. Sie sah sich darin zumindest anfänglich mit François Mitterrand einig.
Auch von dem Präsidenten der Grande Nation kam manches unfreundliche Wort, bis er sich schließlich zu einer für die Deutschen klaren, freundlichen Position bekannte. Mitterrands Umschwenken von seiner anfänglich kritischen Haltung zur Wiedervereinigung Deutschlands auf Zustimmung lag sicher ganz wesentlich darin begründet, dass ich ihn einmal mehr davon überzeugen konnte: Die deutsche Einigung und die europäische Einigung waren für mich zwei Seiten derselben Medaille. Dafür stand nicht zuletzt die deutsch-französische Initiative zur Einführung der gemeinsamen europäischen Währung, des Euro, und für die Politische Union, die wir im Frühjahr 1990 parallel zum deutschen Einigungsprozess mit ganz konkreten Schritten vorantrieben.
Und so haben wir Deutschen schließlich mit Gottes Hilfe und der Hilfe unserer Freunde und Verbündeten nach über 40 Jahren des Kalten Krieges, in nicht einmal einem Jahr ab dem Zeitpunkt des Mauerfalls, die Wiedervereinigung unseres Landes in Frieden und Freiheit erreicht. Es hätte alles auch ganz anders kommen können. Es war auch ein Geschenk. Das wollen wir nie vergessen. Es sollte uns einmal mehr Ansporn und Verpflichtung für die Zukunft sein.
Der vorliegende Band enthält meine Erinnerungen an die aus meiner Sicht wichtigsten Ereignisse vom Mauerfall bis zur Wiedervereinigung. Ich habe dafür die einschlägigen Abschnitte aus meinen Erinnerungsbänden II und III überarbeitet, stärker thematisch statt chronologisch zusammengefasst, ergänzt und verdichtet. Sie haben insoweit auch Neuigkeitswert für die Leser, die meine Memoiren schon kennen. Bewusst beginne ich nicht erst mit dem Tag des Mauerfalls, sondern bereits mit dem Deutschlandbesuch Michail Gorbatschows im Juni 1989 in Bonn. Den Besuch mit der berühmten Szene im Garten des Kanzleramts auf der Mauer unten am Rhein halte ich für eine Schlüsselbegegnung auf unserem Weg zur Einheit unseres Vaterlands. Diese Begegnung hat, so denke ich, ganz wesentlich dazu beigetragen, dass Gorbatschow seine Sicht auf Deutschland veränderte und dass er hier auch das notwendige Vertrauen zu mir aufbaute. Der vorliegende Band endet am 3. Oktober 1990 um Mitternacht am Reichstag in Berlin in einem Meer fröhlich-feiernder Menschen und schwarz-rot-goldener Deutschlandfahnen.
Helmut Kohl
Ludwigshafen, im Juli 2009
Sechs Wochen nachdem die Ungarn Anfang Mai 1989 begonnen hatten, ihre Grenzsperranlagen abzubauen und den »Eisernen Vorhang« zu demontieren, kam Michail Gorbatschow, der Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU und Vorsitzende des Obersten Sowjets, zu seinem ersten Staatsbesuch in die Bundesrepublik Deutschland. Der Besuch war eine Schlüsselbegegnung zwischen ihm und mir, deren weitreichende Folgen im Juni 1989 noch niemand erahnen konnte.
Ich freute mich darauf, Gorbatschow wiederzusehen. Wir hatten uns für den mehrtägigen Besuch viel vorgenommen. Unser gemeinsames Ziel war es, die Beziehungen unserer beiden Länder in Anerkennung der jeweiligen Vertrags- und Bündnisverpflichtungen und trotz aller grundsätzlichen Unterschiede auf eine ganz neue Basis zu stellen. Wir wollten damit unseren Beitrag zur Bewältigung der historischen Herausforderungen in der Welt leisten und vor allem die Chancen der Veränderungen für Frieden in Europa und der Welt nutzen. Ich verband damit auch Hoffnung für die deutsche Frage.
Unsere Begegnung stand unter drei Leitmotiven, die wir uns bei meinem Besuch in Moskau im Oktober 1988 gemeinsam vorgenommen hatten:
Wir wollten die Beziehungen zwischen der Sowjetunion, unserem größten und wichtigsten östlichen Nachbarn, und der Bundesrepublik auf allen Gebieten ausbauen. Diese Beziehungen waren für uns von zentraler Bedeutung.
Wir wollten das Fundament des Vertrauens zwischen beiden Staaten und Regierungen verbreitern und darauf einen Zustand guter Nachbarschaft dauerhaft begründen.
Wir wollten einer über die Verständigung der Regierungen hinausführenden Aussöhnung der Völker den Weg ebnen.
Der 12. Juni 1989, an dem das Staatsoberhaupt der UdSSR mit seiner Frau Raissa kurz nach 11 Uhr auf dem Köln-Bonner Flughafen landete, war ein herrlicher Tag. Gorbatschow wurde von rund 70 Delegationsmitgliedern begleitet; unsere Gäste hatten sogar ihre eigenen schweren SIL-Limousinen aus Moskau mitgebracht. Mit 21 Schuss Salut wurde der Staatsgast empfangen.
Fast zwei Stunden dauerte das erste von insgesamt drei vertraulichen Gesprächen zwischen Gorbatschow und mir im Bundeskanzleramt. Gorbatschow schien mir dabei in viel besserer Verfassung zu sein als noch bei meinem Besuch wenige Monate zuvor in Moskau. Vor allem im Blick auf seine eigene Situation kam er mir viel optimistischer vor. Zu Beginn überreichte ich dem Gast aus Moskau zwei Silbermünzen, die anlässlich des Besuchs mit unseren Porträts geprägt worden waren. Gorbatschow bedankte sich und stellte mit einem ironischen Lächeln eine gewisse Ähnlichkeit der beiden Porträts fest. In den Vorberichten zum Besuch Gorbatschows hatte ich ein Interview mit seiner Mutter im Fernsehen gesehen, das mich sehr beeindruckte. Ich erlaubte mir deshalb, dem Generalsekretär ein Geschenk für seine Mutter mitzugeben. Michail Gorbatschow zeigte sich von der Geste sehr gerührt. Seine Mutter, sagte er, sei eine sehr einfache Frau, die nun schon 78 Jahre alt sei, während sein Vater, eigentlich der robustere und sportlichere von beiden, im Alter von nur 66 Jahren plötzlich gestorben sei.
Bei unserem Gespräch ging es zunächst um die weltpolitische Lage. Im Mittelpunkt standen dabei die Ost-West-Beziehungen und die damit verbundenen komplizierten Abrüstungsfragen. Neben den Ergebnissen des Brüsseler Nato-Gipfels, der wenige Tage zuvor stattgefunden hatte, behandelten wir die Konsequenzen, die sich aus der amerikanischen Präsidentenwahl ergaben. Gorbatschow wollte von mir Näheres über die Persönlichkeit des neuen Präsidenten George Bush und seiner Frau Barbara erfahren. Er machte deutlich, dass Bush ihm etwas ambivalent erscheine. Ganz offen berichtete ich ihm über das gute Verhältnis zwischen Bush und mir und vor allem zwischen Barbara Bush und meiner Frau Hannelore, die sich auf Anhieb außerordentlich gut verstanden hätten. Ich erläuterte, wie sich mir die außen- und innenpolitische Lage des amerikanischen Präsidenten darstellte, und zeichnete ein ausgesprochen positives und europafreundliches Bild meines Freundes George Bush. Ich beschrieb auch seine starke Rolle beim jüngsten Nato-Gipfel. Zu Barbara Bush merkte ich an, dass sie im Weißen Haus zur Beruhigung beitrage. Als Mutter und Großmutter habe sie sicher keinen Sinn für Scharfmacherei. Auch mein besonderes Verhältnis zum französischen Staatspräsidenten François Mitterrand erläuterte ich kurz. Zwischen uns gebe es in zentralen Fragen keine Meinungsunterschiede.
Schließlich kamen wir auf die DDR zu sprechen. Unter Bezug auf die grundlegenden Veränderungen in den sozialistischen Staaten wies Gorbatschow darauf hin, dass es zu einer Destabilisierung führen müsse und damit auch die Verständigung zwischen West und Ost gefährden würde, wenn jemand versuchen würde, von außen Einfluss zu nehmen. Mit allem Nachdruck unterstrich ich, dass die Bundesrepublik nicht an einer Destabilisierung der DDR interessiert sei. Im Augenblick jedoch trage Generalsekretär Honecker selbst zur Destabilisierung der DDR bei, weil er nicht bereit sei, Veränderungen durchzusetzen. Ich erläuterte Gorbatschow, dass man mich immer wieder aufforderte, öffentlichen Druck auf die DDR auszuüben, damit dort wie in der Sowjetunion, Polen und Ungarn Reformen durchgeführt würden. Mir sei bewusst, dass die Lage in der DDR immer schwieriger werde, und ich würde mich deshalb mit öffentlichen Äußerungen zurückhalten, könne allerdings die innenpolitischen Wirkungen nicht völlig außer acht lassen.
Gorbatschow zeigte keine Reaktion. Er wollte offenbar keine Kritik an Honecker üben. Aber was er dann sagte, zeugte doch von einer bemerkenswerten Distanz zur Ost-Berliner Führung: Auch für die DDR gelte der Grundsatz, dass jeder für sich selbst verantwortlich sei. Moskau habe nicht die Absicht, anderen Lehren zu erteilen. Man bitte ja selbst auch nicht darum, belehrt zu werden. Sein Land trete für positive Veränderungen in allen Beziehungen, für die politische Erneuerung, für den Umbau der Wirtschaft sowie für die Selbständigkeit der sozialistischen Staaten ein.
Wir waren uns einig, dass es jetzt, in dieser Stunde der Veränderungen, darauf ankam, klug zu handeln und trotz der unterschiedlichen Positionen Verständnis füreinander zu haben. Als Vorsitzender der größten christlich demokratischen Partei Europas war ich ideologisch vom Generalsekretär der KPdSU weit entfernt und dennoch an seinem Erfolg interessiert. Gorbatschows Erfolg würde die Chance auf Frieden erhöhen, und mit seinem Reformkurs würden wir auch in der deutschen Frage, in der ich sicherlich nicht mit ihm übereinstimmte, weiterkommen. Ich war dabei ohne Illusionen. Mir war wohl bewusst, dass Gorbatschow über eine Veränderung der europäischen Statik – und dazu gehörte auch die deutsche Frage – mit mir nicht diskutieren wollte, und so lenkte ich das Gespräch auf die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern, insbesondere die Wirtschaftsbeziehungen, und betonte, mir hier eine Verbesserung zu wünschen. Entscheidend war jetzt, dass wir in Anerkennung bestehender, auch gewichtiger Unterschiede – wie in der deutschen Frage – gleichwohl auf Zusammenarbeit setzten, wo dies sinnvoll und vernünftig war, ohne unsere Grundpositionen aufzugeben.
Zum Ende unserer ersten Gesprächsrunde, als wir wieder auf den Brüsseler Nato-Gipfel und aktuelle Abrüstungsfragen zurückkamen, bot ich Michail Gorbatschow an, in den vor uns liegenden Monaten, die sehr wichtig werden dürften, sehr direkt zusammenzuarbeiten und immer dann zum Telefon zu greifen, wenn es konkrete Fragen gebe. Wichtig sei, dass man miteinander spreche. Dann falle es auch leichter, zu Lösungen zu kommen, wenn tatsächlich einmal Probleme auftreten würden. Schon am nächsten Tag wurde eine Vereinbarung zwischen unseren beiden Ländern über die Einrichtung einer direkten Nachrichtenverbindung zwischen dem Bundeskanzleramt und dem Kreml unterzeichnet. Ich bot dem Generalsekretär schließlich an, meinen außenpolitischen Berater Horst Teltschik direkt nach Moskau zu entsenden, wenn dies erforderlich sei. Gorbatschow stimmte zu.
Am Ende des Gesprächs, nachdem wir uns beide zufrieden über den offenen und freundschaftlichen Charakter unserer Begegnung geäußert hatten, erwähnte ich einen Punkt, der noch unbefriedigend war: die Einbeziehung West-Berlins in die Schiffahrtsabkommen. Ich fragte Gorbatschow ganz direkt, ob dieses Problem nicht doch zu lösen sei, solange er in der Bundesrepublik weile. Bei seiner Abreise war auch dieses Problem gelöst und für alle Zeit erledigt.