Richard A. Muller
Jetzt
Die Physik der Zeit
Aus dem Amerikanischen von
Sebastian Vogel
FISCHER E-Books
Richard A. Muller, geb. 1944, ist Professor für Physik an der Universität von California in Berkeley. Für seine Forschungen in experimenteller Kosmologie wurde er 1982 mit dem renommierten MacArthur-Genius-Fellowship ausgezeichnet. Muller ist Autor zweier Bestseller, Physics for Future Presidents. The Science Behind the Headlines sowie Energy for Future Presidents. The Science Behind the Headlines und hat sich in der wissenschaftlichen Debatte um den Klimawandel engagiert. Für seine Lehre und seine beliebten Physikvorlesungen für ein allgemeines Publikum erhielt er 1999 von der Universität Berkeley den Distinguished Teaching Award.
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Sie lesen jetzt das Wort »jetzt« – und schon ist es vergangen. Das flüchtige Dasein der Gegenwart hat Philosophen und Physiker vor die größten Rätsel gestellt: Was ist die Zeit? Und warum fließt sie? Generationen von Wissenschaftlern haben sich vergeblich um Antworten bemüht, einige haben es aufgegeben. Nicht so Richard A.Muller. Er hat eine Theorie der Zeit aufgestellt, die neu ist und experimentell überprüfbar. Um sie vorzustellen, erklärt er zunächst mit großem Geschick die physikalischen Grundkonzepte wie Relativität, Entropie, Verschränkung, Antimaterie und Urknall. Darauf aufbauend entfaltet er seine provozierend neue Sicht mit all ihren Folgen für die Philosophie oder die Frage nach der Willensfreiheit. Eine kraftvolle und überzeugende Vision für die Lösung des alten Rätsels der Zeit.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Now. the Physics of Time« im Verlag W.W. Norton, New York/London 2016
© 2016 by Richard A.Muller
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2018 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Für die Verwendung des Auszugs aus »As Time Goes By« von Herman Hupfeld dankt der Verlag der Bienstock Publishing Company o/b/o Redwood Music Ltd.
Covergestaltung: buxdesign, München
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403822-3
Aristoteles, Physik, 4. Buch, Kapitel 10, übers. von Hans Günther Zekl, Hamburg: Felix Meiner, 1987, S. 205.
Übers. v. C.F. v. Weizsäcker, in ders.: Zeit und Wissen, München: Hanser, 1992, S. 81–82.
Beide Zitate übers. v. H. Kober, München: Goldmann, 2008, S. 158.
»Zur Elektrodynamik bewegter Körper«, Collected Papers of Albert Einstein, Bd. 2, Dok. 23.
Teile dieses Abschnitts wurden in veränderter Form übernommen aus meinem Buch Energy for Future Presidents: The Science Behind the Headlines (New York: W.W. Norton, 2012) [dt. Physik für alle, die mitreden wollen: über Atomkraft, schmutzige Bomben, Weltraumforschung, Solarenergie und die globale Erwärmung; Köln: Fackelträger, 2009].
Die Fluchtgeschwindigkeit berechnet sich nach der Gleichung GMm/r = ½mv2; darin ist G die Gravitationskonstante, m die Masse und r der Radius. Demnach ist v = =
= 5 × 108 Meter pro Sekunde.
Ausgeschrieben ergibt sich 10–27 = 0,000000000000000000000000001. Die 1 erscheint also in der 27. Dezimalstelle. Das entspricht dem reziproken Wert von 10, der 27-mal mit sich selbst multipliziert wird. In der Schreibweise der Tabellenkalkulation (der von Excel und wissenschaftlichen Taschenrechnern benutzt wird) lautet die Zahl 1E – 27. Im Folgenden wird die Masse der Erde mit 1024 angegeben, das ist eine 10, die 24-mal mit sich selbst multipliziert wird; auf die 1 folgen dabei 24 Nullen. In der Tabellenschreibweise lautet sie 1E + 24.
Hier der Beweis, dass alle Zahlen gleich sind. Es sei A = 13 und B = 13; C und D können zwei beliebige Zahlen sein. Dann ist A = B. Multiplizieren wir beide Seiten mit (C–D), so erhalten wir A(C–D) = B(C–D). Ausmultiplizieren ergibt AC–AD = BC–BD oder umgeformt AC–BC = AD–BD. Durch Ausklammern erhalten wir C(A–B) = D(A–B), und durch Kürzen gelangen wir zu C = D. Da C und D willkürliche Zahlen waren, habe ich damit bewiesen, dass alle Zahlen gleich sind. Der Fehler lag darin, durch (A–B) zu dividieren. Das ist nicht erlaubt, denn A–B = 0. Eine einfache (aber offensichtlich fehlerhafte) Version des Beweises lautet Cx0 = Dx0. Hier brauchen wir nur noch die Nullen zu kürzen.
Weiterhin muss man in die Berechnungen einbeziehen, dass die Satelliten sich nicht mit unendlicher Geschwindigkeit bewegen; deshalb erhält man eine geringfügig kleinere Abweichung: Sie beträgt nicht 18, sondern nur 13,8 Kilometer.
In dieser Formulierung hat nicht nur der Raum, sondern auch die Energie vier Komponenten, nämlich die Energie und die drei Komponenten des Impulses. T wird als »Energie-Impuls-Tensor« bezeichnet, aber für einfache, schwache Felder ist er einfach die Dichte von Energie bzw. Masse.
Die unendliche Sturzzeit erörtern L. Susskind und J. Lindesay auf Seite 22 in ihrem 2005 erschienenen Buch An Introduction to Black Holes, Information and the String Theory Revolution. Sie stationieren entlang der Sturzbahn sogenannte »Fidos«-Beobachter, die das Objekt fallen sehen und für Außenstehende berichten. »Nach dieser Sichtweise überquert das Teilchen den Horizont nie, sondern es nähert sich ihm asymptotisch an.« Man kann sich vorstellen, dass sich diese Schlussfolgerung durch die Quantentheorie verändert.
Heute sind manche Fachleute der Ansicht, dass Eddingtons Messungen allzu gut mit Einsteins Vorhersagen übereinstimmten – danach waren seine Instrumente nicht so gut, dass er damit eine derartig genaue Messung vornehmen konnte; aber selbst wenn Eddingtons Befunde nicht vollkommen objektiv waren, werden sie durch neuere Erkenntnisse in vollem Umfang bestätigt.
C.P. Snow, »Die zwei Kulturen. Rede Lecture, 1959«, in: Die zwei Kulturen. Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. C.P. Snows These in der Diskussion, hg. v. Helmut Kreuzer, München 1987, S. 30.
Der Entropieverlust des heißen Kaffees ist –Wärme/TTasse. Der Entropiegewinn des Zimmers beträgt +Wärme/TZimmer. Die Werte für die Wärmemenge sind (abgesehen vom Vorzeichen) die gleichen, aber da TZimmer kleiner ist als TTasse, ist der Entropieverlust der Tasse geringer als der Entropiegewinn des Zimmers.
In der Physik hat k den Wert 1,38 × 10–23 Joule pro Grad Kelvin, wenn man den natürlichen Logarithmus verwendet. In den hier verwendeten Einheiten und unter Benutzung der Logarithmenbasis 10 ist k = 7,9 × 10–24 Kalorien je Grad Kelvin.
Der Logarithmus einer Zahl mit der Basis 10 ist ungefähr die Zahl der Nullen in dieser Zahl. Der Logarithmus von 1000000 ist beispielsweise 6.
Eine längere Liste von Problemen, mit denen wir uns befassen mussten, findet sich in meinem Artikel »The Cosmic Background Radiation and the New Aether Drift«, der im Mai 1978 in der Zeitschrift Scientific American erschien.
Shawn Carlson, »A Double-Blind Test of Astrology«, Nature 318 (5. Dezember 1985): 419–425; doi:101038/318419a0.
Genau genommen, stehen einem qubit zwei Zustände zur Verfügung, während ein Bit zwei Werte (0 oder 1) haben kann.
Feynman verwendete den älteren Begriff Quantenmechanik. Als die Quantenphysik erstmals formuliert wurde, konzentrierte sie sich tatsächlich auf Fragestellungen aus der Mechanik, auf Objekte und ihre Bewegungen; die moderne Quantenphysik deckt aber auch das Quantenverhalten von Feldern ab, darunter insbesondere elektromagnetische Felder und die Felder der Kernkräfte; deshalb halte ich es für zutreffender, den modernen Begriff Quantenphysik zu verwenden.
Dies ist vergleichbar mit den drei Stadien beim Erkennen der Wahrheit, wie Schopenhauer sie beschrieben haben soll. Siehe das Zitat zu Beginn von Kapitel 4.
Δx ist die Unschärfe der Position; Δp ist die Unschärfe des Impulses; das Symbol ≥ bedeutet »gleich oder größer als«; h ist die Planck-Konstante.
Eine Schätzung für die Planck-Länge lässt sich aus den im Text beschriebenen allgemeinen Prinzipien folgendermaßen ableiten: Eine typische Mindestenergie in einem Quader mit den Abmessungen L wird in der Quantenphysik angegeben als E = hc/(2πL), wobei h die Planck-Konstante ist. Aus der Quantenphysik ergibt sich, dass die Energie des »Nullpunkts« die Hälfte davon ist, also hc/(4πL). Für ein schwarzes Loch legen wir L auf den Schwarzschild-Radius für Masse M = E/c2 fest. Die Gleichung lautet dann RS = L = 2GM/c2. Fassen wir diese Gleichungen zusammen, so erhalten wir , die Gleichung für die Planck-Länge.
Eine modernere Version könnte anfangen mit »Eine AAA-Batterie fehlte, und die Computermaus streikte …«; am Ende stünde dann der Atomkrieg.
In Jurassic Park sind pflanzenfressende Dinosaurier auch stets sanft und ungefährlich. Ich frage mich, ob der Drehbuchautor Michael Crichton und der Regisseur Steven Spielberg wohl glaubten, dass das Gleiche auch für alle pflanzenfressenden Säugetiere gilt, so für Elefanten, Nashörner, Büffel und Flusspferde.
Echte 3-D-Brillen funktionieren in der Regel mit Licht, das bei +45 und –45 Grad polarisiert ist, oder sie bedienen sich der »zirkularen« Polarisation, so dass der Effekt nicht mehr davon abhängt, in welchem Winkel der Betrachter den Kopf hält.
Das No-Communication-Theorem wurde ursprünglich 1989 von Philippe Eberhard und Ron Ross bewiesen, zwei meiner Kollegen in Berkeley; später wurde es von anderen weiterentwickelt, insbesondere 2003 von Asher Peres und Daniel Terno.
Eine Anmerkung für die Experten: Das Heisenberg-Bild, eine andere Formulierung der Quantenphysik, enthält nicht ausdrücklich Wellenfunktionen, dafür aber Zustandsvektoren, die sich ebenfalls mit unendlicher Geschwindigkeit verändern können.
Siehe »The Most Embarrassing Graph in Modern Physics«, gepostet auf Sean Carrolls Blog am 17. Januar 2013, http://www.preposterousuniverse.com/blog.
Nach der physikalischen Theorie ist die Mindestwärmemenge, die dabei entsteht, ; dabei ist k unser alter Freund, die Boltzmann-Konstante aus der statistischen Physik, und T ist die absolute Temperatur.
Anmerkung für die Experten: Dirac musste die zusätzliche Annahme der »minimalen elektromagnetischen Kopplung« machen, um den magnetischen Aspekt zu erhalten. Es war die einzige zusätzliche Annahme, zu der er gezwungen war. Für andere Teilchen, die man damals für Elementarteilchen hielt – beispielsweise das Proton – erwies sie sich als falsch. Heute wissen wir, dass ein Proton sich aus drei Quarks und einigen anderen Dingen zusammensetzt.
Trekkies wissen, dass der Satz »Beam me up, Scotty« in dieser genauen Form in der Originalserie nie vorkam; nur einmal sagte Kirk »Scotty, beam me up«.
Das Labor hieß damals »Lawrence Radiation Laboratory at Berkeley«. Später wurde es in »Lawrence Berkeley Laboratory« oder kurz »Berkeley Lab« umbenannt. Ich glaube, man wählte den Namen absichtlich so lang, damit die meisten Menschen den Spitznamen verwendeten; der Name »Lawrence« wurde mit Bomben in Verbindung gebracht. Das Bevatron trug seinen Namen, weil es als erste Maschine die Teilchen auf eine Milliarde Elektronenvolt (one billion electron volts) beschleunigen konnte.
Mills Konzept war auch mathematisch fehlerhaft. Ganz allgemein kann man nicht gleichzeitig das Ergebnis von zwei Variablen (Gutes und Zahl) maximieren, sondern nur eines.
Um eine beliebige Richtung des Lichtes einzubeziehen, muss man Einsteins zusätzliche Transformationsgleichungen Y = y und Z = z verwenden. Wir beginnen mit vx2 + vy2 + vz2 = c2 und berechnen Vx, Vy und Vz. Dabei stellt sich heraus, dass Vx2 + Vy2 + Vz2 = c2 , wobei sich aber die Richtung des Lichtes verändert. Diese Richtungsänderung wird als »Aberration« bezeichnet und lässt sich als Verschiebung der scheinbaren Richtung beobachten, in der ein Stern von der sich bewegenden Erde aus gesehen steht.
Verändert aus Energy for Future Presidents (W.W. Norton 2012).
Zuvor erschienen in Physics and Technology for Future Presidents (Princeton University Press, 2010).
Jetzt – jener rätselhafte, flüchtige Zeitpunkt, der seine Bedeutung in jedem Augenblick ändert – verwirrt seit jeher Priester, Philosophen und Physiker, und das aus gutem Grund. Um das Jetzt zu verstehen, braucht man Kenntnisse über Relativitätstheorie, Entropie, Quantenphysik, Antimaterie, Zeitreisen in die Vergangenheit, Verschränkung, den Urknall und dunkle Energie. Erst jetzt verfügen wir über alle physikalischen Kenntnisse, um das Jetzt zu verstehen.
Die schwer fassbare Bedeutung von Jetzt war ein Stolperstein für die Entwicklung der Physik. Wir verstehen die Zeitdehnung durch Geschwindigkeit und Gravitation und sogar die Umkehr der Zeit in der Relativitätstheorie, aber wir haben keine Fortschritte gemacht, wenn es darum geht, die verblüffendsten Aspekte der Zeit zu verstehen: ihr Fließen und die Bedeutung des Jetzt. Das grundlegende Zeichenbrett der Physik, Raum-Zeit-Diagramm genannt, geht über solche Fragen hinweg; Physiker halten dieses Fehlen unsinnigerweise manchmal für eine Stärke und gelangen zu dem Schluss, das Fließen der Zeit sei eine Illusion. Aber das ist rückständig. Solange wir die Bedeutung des Jetzt nicht dingfest machen können, werden weitere Fortschritte in der Erforschung der Zeit – jenes Schlüsselaspekts der Realität – weiterhin auf Hindernisse stoßen.
Mit diesem Buch verfolge ich das Ziel, die wesentlichen physikalischen Aspekte zusammenzusetzen wie Puzzlesteine, bis sich ein eindeutiges Bild des Jetzt herauskristallisiert. Damit das klappt, müssen wir auch diejenigen Puzzlesteine finden und entfernen, die an den falschen Orten eingesetzt wurden.
Dass das Rätsel bisher so schwer zu lösen war, liegt daran, dass dazu ein breites Spektrum physikalischer Kenntnisse erforderlich ist. Physik ist weder einfach noch geradlinig, und deshalb behandelt dieses Buch eine ungeheure Menge von Themen – eigentlich vielleicht zu viele für einen einzigen Band. Man kann deshalb durchaus hin und her blättern und mit Hilfe des Registers wichtige Gedanken finden, die man vielleicht vermisst hat. Ebenso kann man sich meine Erzählung als eine Art Krimi vorstellen, in dem sich allmählich immer mehr Anhaltspunkte ergeben, bis sie schließlich zu einer bemerkenswerten Auflösung führen.
Mein Hintergrund ist vorwiegend die Experimentalphysik – die Konstruktion und Benutzung neuer Gerätschaften, mit denen man physikalische Tatsachen, die zuvor verborgen waren, vermessen oder gelegentlich auch neu entdecken kann. Zwei meiner Projekte standen in unmittelbarem Zusammenhang mit unseren Kenntnissen über die Zeit: eine Messung der Mikrowellentrümmer des Urknalls und eine genaue Vermessung der früheren Ausdehnung des Universums einschließlich der Entdeckung dunkler Energie, die diese Expansion beschleunigt. Ich muss zwar zugeben, dass ich auch einige rein theoretische Fachartikel geschrieben habe, das tat ich aber vor allem dann, wenn die Finanzmittel für Experimente knapp waren oder wenn die Theorie nach meiner Überzeugung vom richtigen Weg abgekommen war. So weit ich weiß, ist dies derzeit das einzige Buch, das gezielt von der Zeit handelt und von einem Physiker geschrieben wurde, der tief in der experimentellen Arbeit steckt; ich werde versuchen, einige Einblicke in die Herausforderungen und Frustrationen zu geben, mit denen solche Arbeiten verbunden sind.
Der Weg zum Verständnis des Jetzt besteht aus fünf Teilen.
In Teil I mit der Überschrift Verblüffende Zeit erläutere ich zunächst einige handfest nachgewiesene und dennoch erstaunliche Aspekte der Zeit, die im Wesentlichen von Albert Einstein entdeckt wurden. Zeit kann sich nicht nur dehnen, biegen und umkehren, sondern solche Verhaltensweisen haben auch Einfluss auf unser tägliches Leben. Das Satellitensystem GPS, das dafür sorgt, dass wir uns nicht verirren, stützt sich in großem Umfang auf Einsteins Relativitätsgleichungen, die von diesen seltsamen Eigenschaften der Zeit handeln. Die Relativitätstheorie hat uns den Begriff der vierdimensionalen Raumzeit beschert. Die wichtigste Aussage von Teil I lautet: Wir wissen eine Menge über die Zeit, und ihr Verhalten ist nicht einfach, aber gut bekannt. Wie schnell sie läuft, hängt von den lokalen Bedingungen der Geschwindigkeit und Gravitation ab, und selbst die Reihenfolge von Ereignissen – die Frage, welches Ereignis sich zuerst abgespielt hat – ist keine allgemeingültige Wahrheit. Darüber hinaus liefert uns Einsteins Relativitätstheorie einen großen Teil des Gerüsts, das wir brauchen, um die Bedeutung des Jetzt zu verstehen.
Der Teil II trägt die Überschrift Ein gebrochener Pfeil. Hier entferne ich aus dem Puzzle ein Stück, das an die falsche Stelle gepresst wurde, eine Theorie, die den Fortschritt beim Verstehen des Jetzt mehr als jede andere behindert hat. Dieser falsch angebrachte Puzzlestein ist die Theorie des Physikers Arthur Eddington, die angeblich eine Erklärung für den Zeitpfeil liefert – für die Tatsache, dass die Vergangenheit über die Zukunft bestimmt und nicht andersherum. Um ihn aus dem Weg zu räumen, präsentiere ich zuerst die bestmögliche Argumentation, die seine Theorie unterstützt, und erst danach mache ich auf ihre tödlichen Schwächen aufmerksam.
Eddington führte das Fließen der Zeit auf die Zunahme der Entropie zurück, die ein Maß für die Unordnung im Universum darstellt. Heute wissen wir über die Entropie des Universums viel mehr als Eddington, der seine Theorie 1928 formulierte, und ich werde darlegen, dass er das Pferd von hinten aufzäumte. Das Fließen der Zeit verursacht die Zunahme der Entropie, nicht andersherum. Die Erzeugung von Entropie hat nicht die tyrannische Wirkung, die man ihr häufig zuschreibt. Wie sich herausstellt, ist die Kontrolle über die Wege der Entropie entscheidend für unser Verständnis des Jetzt.
Im Teil III, Gespenstische Physik, kommt ein weiteres wichtiges Element für das Verstehen des Jetzt hinzu: die geheimnisvolle Wissenschaft der Quantenphysik. Sie ist vielleicht die erfolgreichste Theorie aller Zeiten – Vorhersagen und Beobachtungen stimmen bis auf zehn Dezimalstellen überein –, und doch ist sie sowohl beunruhigend als auch besorgniserregend. Das gespenstische Verhalten der Quantenwellen und ihrer Messung verletzt in krasser Weise Einsteins Relativitätsprinzipien, allerdings nicht so, dass man es unmittelbar beobachten oder ausnutzen könnte. Das Verhalten der Quantenwelle stellt unser Realitätsempfinden in Frage und entwickelt es weiter – ein Empfinden, das sich als entscheidend erweisen wird, wenn wir Licht in das Jetzt bringen wollen. So ergibt sich aus der Quantenphysik unter Umständen die höchst beunruhigende – oder vielleicht auch befreiende – Folgerung, dass die Vergangenheit nicht mehr über die Zukunft bestimmt, oder jedenfalls nicht vollständig. Einige Aspekte der Quantenphysik, die der Intuition am stärksten widersprechen, insbesondere das seltsame Merkmal der Verschränkung, wurden experimentell bestätigt, und diese (überraschenden!) experimentellen Befunde legen die Vermutung nahe, dass die eingeschränkte Fähigkeit, die Zukunft vorherzusagen, für alle Zeiten eine grundlegende Schwäche der Physik bleiben wird.
In Physik und Realität, dem Teil IV, untersuche ich die Grenzen der Physik. Keine Sorge, die Zeit und das Jetzt gehören nicht in diesen Bereich; sie haben ihren Ursprung in der Physik, aber wie wir sie wahrnehmen, hängt von unserem Gespür für die Realität ab, einem Gespür, das über die Physik hinausreicht. Die Mathematik bildet eine Welt der Realität ab, die sich nicht durch physikalische Experimente belegen lässt; das gilt sogar für etwas so Einfaches wie die Tatsache, dass die Quadratwurzel von 2 eine irrationale Zahl ist. Andere Themen dagegen sind real, gehören aber nicht in die Domäne für der Physik; dazu gehört zum Beispiel die Frage, wie die Farbe Blau eigentlich aussieht. Die Leugnung nichtphysikalischer und nichtmathematischer Wahrheiten wurde von Philosophen als Physikalismus bezeichnet. Der Physikalismus ist ein Glaube und hat alle Merkmale einer Religion. Leider führen die Indizien entgegen Einsteins glühender Hoffnung zu der Schlussfolgerung, dass die Physik unvollständig ist und nie in der Lage sein wird, die gesamte Realität zu beschreiben.
Im Teil V mit der Überschrift Jetzt werden die einzelnen Anhaltspunkte des Puzzles zusammengesetzt und zeigen in einem einheitlichen Bild, warum die Zeit fließt und welche Bedeutung der flüchtige Augenblick hat, den wir Jetzt nennen. Die Lösung liegt in einem Ansatz, der den Urknall vierdimensional betrachtet. Die Explosion des Universums schafft ständig nicht nur neuen Raum, sondern auch neue Zeit. Der vorderste, expandierende Rand der Zeit ist das, was wir als Jetzt bezeichnen, und der Fluss der Zeit ist die ständige Erschaffung von neuen Jetzts. Wir erleben den neuen Augenblick anders als den vorangegangenen, weil er der einzige ist, in dem wir Entscheidungen treffen und unseren freien Willen ausüben können, um damit die Zukunft zu beeinflussen und zu verändern. Allen Argumenten der klassischen Philosophen zum Trotz wissen wir heute, dass der freie Wille mit der Physik vereinbar ist; wer anders argumentiert, orientiert sich an der Religion des Physikalismus. Wir können die Zukunft nicht nur mit wissenschaftlichen, sondern auch mit nichtwissenschaftlichen Kenntnissen wie Empathie, Tugend, Ethik, Fairness und Gerechtigkeit beeinflussen, um so den Fluss der Entropie zu lenken und eine Stärkung der Zivilisation – oder auch ihre Zerstörung – ins Werk zu setzen.
Drei mögliche Tests dieses vierdimensionalen Modells der fortschreitenden Zeit schaue ich mir näher an. Die beobachtete beschleunigte Expansion des Universums, die im Zusammenhang mit der dunklen Energie steht, sollte von einer Beschleunigung im Ablauf der Zeit begleitet sein. Diese Theorie sagt vorher, dass die Zeit derzeit schneller fließt als in der Vergangenheit, und das führt zur Vorhersage einer neuen und (möglicherweise) beobachtbaren Zeitdehnung, einer neuen Rotverschiebung. Effekte sind vielleicht auch bei der Untersuchung der ersten Augenblicke des Urknalls zu erkennen; diese Ära der Inflation, so die Hoffnung, kann man vielleicht eines Tages durch den Nachweis von Gravitationswellen erforschen, die damals ausgesandt wurden; solche Wellen können wir indirekt beobachten, indem wir das Polarisierungsmuster der Mikrowellenstrahlung studieren.
Der dritte Test wurde konzipiert, als das LIGO (Laser Interferometer Gravitational-Wave Observatory, Laser-Interferometer-Observatorium zur Beobachtung von Gravitationswellen) 2016 erstaunlicherweise zwei große, verschmelzende schwarze Löcher nachweisen konnte. Solche Ereignisse lassen neuen Raum entstehen, und nach der 4-D-Theorie entsteht dabei auch neue Zeit; diese sollte im späteren Teil des Pulses für eine Verzögerung sorgen, die man beobachten kann, wenn zukünftige Ereignisse größer oder näher sind und sich durch ein stärkeres Signal verraten.
Wer mehr über die mathematischen Grundlagen lesen will, findet Einzelheiten über die Relativitätstheorie und die mathematischen Befunde in mehreren Anhängen; darüber hinaus stehen dort auch einige phantasievolle Gedichte und Gedanken über die nichtphysikalische Realität.
Machen wir uns also daran, das Puzzle zusammenzusetzen.
Was die Zeit angeht, waren große Philosophen verzweifelt und verwirrt – erst die Physik macht uns Hoffnung, sie verstehen zu können.
Hier ist eine Tatsache über Sie selbst, die nur die Wenigsten kennen – vielleicht kennt sie niemand außer Ihnen: Sie lesen genau jetzt dieses Buch. Ich kann sogar noch präziser werden: Sie lesen genau jetzt das Wort Jetzt.
Außerdem habe ich etwas behauptet, von dem Sie wissen, dass es stimmt, wobei ich persönlich es aber nicht wusste und immer noch nicht weiß: Sie lesen genau jetzt das Wort Jetzt, aber mir ist diese Tatsache vollkommen unbewusst – es sei denn, ich blicke Ihnen gerade über die Schulter und Sie zeigen beim Lesen mit dem Finger auf die Wörter.
Jetzt ist ein äußerst einfacher, aber auch faszinierender und rätselhafter Begriff. Wir wissen, was er bedeutet, und doch können wir ihn kaum definieren, ohne uns im Kreis zu drehen. »Jetzt ist der Zeitpunkt, der die Vergangenheit von der Zukunft trennt.« Nun gut, aber definieren wir jetzt einmal Vergangenheit und Zukunft, ohne das Wort Jetzt zu verwenden. Und was wir mit Vergangenheit und Zukunft meinen, ändert sich ständig. Vor kurzer Zeit lag das Lesen dieses Absatzes noch in der Zukunft. Jetzt liegt es zum größten Teil bereits in der Vergangenheit.
Jetzt liegt der ganze Absatz in der Vergangenheit (es sei denn, Sie blättern zurück). Jetzt bezeichnet einen bestimmten Zeitpunkt. Aber dieser Zeitpunkt verändert sich ständig. Deshalb benutzen wir Uhren. Sie sagen uns, welche Zahlen mit dem Jetzt verbunden sind; das nennen wir die momentane Uhrzeit. Uhren aktualisieren sich ständig, in der Regel jede Sekunde. Die Zeit schreitet erbarmungslos fort. Wir können im Raum stillstehen, aber nicht in der Zeit. In der Zeit bewegen wir uns, aber über diese Bewegung haben wir keine Kontrolle – es sei denn, Zeitreisen würden sich als möglich erweisen.
Die Bedeutung von Jetzt ist nur eines von vielen Geheimnissen jenes seltsamen Phänomens, das wir Zeit nennen. Es ist bemerkenswert, dass wir eine Menge über die Zeit und insbesondere über ihre seltsamen, der Intuition widersprechenden Aspekte wissen, die mit Einsteins Relativitätstheorie zu tun haben, aber ebenso bemerkenswert ist auch, dass wir so wenig über die Grundlagen der Zeit wissen – darüber, was sie ist und in welcher Verbindung sie zur Realität steht. Dieses Buch handelt von der Zeit – von dem, was wir wissen und was wir nicht wissen.
Fließt die Zeit? Am 18. April 1906 um 5 Uhr 12 wurde San Franzisco von einem starken Erdbeben erschüttert. Der Zeitpunkt dieses Ereignisses bewegt sich nicht; wir können ihn in der Wikipedia nachschlagen. Was sich aber bewegt, was tatsächlich fließt, ist die Bedeutung von Jetzt. Das Jetzt schreitet voran, verändert sich, bewegt sich in der Zeit vorwärts.
Vielleicht ist es auch sinnvoller, wenn man sagt, dass die Zeit am Jetzt vorüberfließt. Das ganze Thema der »Bewegung« lässt sich nur schwer beschreiben. Wenn wir sagen, dass ein Auto sich bewegt, stellen wir seine Position zu einem bestimmten Zeitpunkt und dann seine Position zu einem anderen Zeitpunkt fest. Die Geschwindigkeit ist die zurückgelegte Strecke, dividiert durch die dafür notwendige Zeit – sie wird beispielsweise in Kilometern pro Stunde angegeben. Diese Methode versagt völlig, wenn wir das Jetzt beschreiben wollen. Jetzt ist genau jetzt; warten wir einen Augenblick, dann ist Jetzt immer noch genau jetzt. Bewegt es sich? Ja, die Bewegung der Zeit wird daran deutlich, dass die Bedeutung von jetzt sich ständig verändert. Mit welcher Geschwindigkeit bewegt sich die Zeit? Mit einer Sekunde pro Sekunde.
Es gibt noch eine dritte Sichtweise: Danach wird die Zeit in jedem Augenblick neu erschaffen, und diese neu erschaffene Zeit stellt das Jetzt dar. Sind das nun philosophisch oder physikalisch unterschiedliche Sichtweisen? Kann man sie sich aussuchen, oder steckt in einer davon mehr Wahrheit, mehr Sinn als in der anderen? Diese Frage gehört zu denen, die ich in dem vorliegenden Buch untersuchen werde.
Angenommen, die Zeit bliebe stehen. Würden wir es bemerken? Wenn ja, wie? Oder nehmen wir an, sie würde stoßweise fließen, oder mit einer ganz anderen Geschwindigkeit. Könnten wir den Unterschied feststellen? Nicht ohne weiteres, zumindest dann nicht, wenn wir die Darstellung der Zeit übernehmen, wie sie in Filmen häufig verwendet wird, so wie etwa in Dark City, Klick, Interstellar oder Lara Croft: Tomb Raider. Wie wir Menschen die Bewegung des Jetzt, das Fließen der Zeit wahrnehmen, hängt offensichtlich davon ab, wie viele Millisekunden es dauert, bis ein Signal von einem Auge, einem Ohr oder einer Fingerspitze zum Gehirn gelangt und dort aufgezeichnet, wahrgenommen und erinnert wird. Beim Menschen sind das einige Zehntelsekunden, bei einer Fliege nur wenige Tausendstelsekunden. Das ist der Grund, warum es uns so schwerfällt, eine Fliege zu fangen. Für die Fliege nähert sich die bedrohliche Hand in Zeitlupe – ganz ähnlich wie in Clockstoppers.
Die Geschwindigkeit der Zeit ist nicht nur in der Science-Fiction ein heikles Thema. Die Relativitätstheorie liefert uns ganz bestimmte Beispiele, insbesondere im Zwillingsparadoxon. Ein Zwilling reist nahezu mit Lichtgeschwindigkeit und erlebt weniger Zeit als der zu Hause gebliebene Bruder, spürt aber keinen Unterschied; beide Zwillinge erleben die Zeit auf die gleiche Weise, obwohl sie ganz unterschiedlich fließt. Dieses seltsame Phänomen wollen wir ein wenig genauer betrachten.
Die Hoffnung, das Jetzt zu verstehen, stützt sich auf den ungeheuren Fortschritt der Physik im 20. Jahrhundert. Aber sehen wir uns kurz an, welche Frustrationen man in der Antike erlebte.
Die Physik von Aristoteles nahm von der Antike bis zur Renaissance eine beherrschende Stellung ein. Sie war die wissenschaftliche Bibel für die katholische Kirche des Mittelalters. Galileo leugnete einige in diesem Buch aufgestellte Behauptungen und wurde deshalb vor Gericht gestellt. In vier Kapiteln seiner Physik schlug Aristoteles sich mit den Begriffen von Zeit und Jetzt herum, und am Ende war er völlig verwirrt. Er schrieb:
Weiter, was das »Jetzt« angeht, welches augenscheinlich Vergangenes und Zukünftiges trennt, so ist nicht leicht zu sehen, ob es die ganze Zeit hindurch immer ein und dasselbe bleibt, oder ob es immer wieder ein anderes wird. Wenn es einerseits wieder und wieder ein anderes wird, kein Teil aber dessen, was in der Zeit immer wieder ein anderes (ist), gleichzeitig (mit anderen sein kann) – sofern nicht der eine umfaßt, der andere umfaßt wird, so wie ein kleinerer Zeitabschnitt von einem größeren (eingeschlossen wird) –, und wenn, was jetzt nicht ist, früher aber war, notwendig irgendwann einmal zugrunde gegangen sein muß: dann können auch die Jetzte nicht gleichzeitig im Verhältnis zueinander sein, sondern es muß je das frühere untergegangen sein …[1]
Sind das tiefsinnige Gedanken, oder sind sie einfach nur verworren? In dem Bemühen, über das Jetzt genaue Aussagen zu machen, verhedderte sich Aristoteles in seinen eigenen Worten. Ein wenig Trost können wir in der Tatsache finden, dass selbst ein so angesehener Denker das Thema offensichtlich undurchschaubar fand.
Augustinus klagt in seinen Bekenntnissen, er sei nicht in der Lage, das Fließen der Zeit zu verstehen: »Was ist Zeit? Wenn mich niemand fragt, weiß ich es; wenn ich es erklären möchte, weiß ich es nicht.« Diese Klage wurde im 15. Jahrhundert geschrieben, sie hallt aber auch im 21. noch in uns wider. Ja, wir wissen, was Zeit ist. Warum also können wir sie nicht beschreiben? Was für ein Wissen haben wir da eigentlich?
Augustinus’ Dilemma erwächst zum Teil aus seiner Maxime, dass Gott allmächtig, allwissend und überhaupt Alles ist. Zusätzlich vollzieht er einen erstaunlichen Gedankensprung: Gott muss auch zeitlos sein. Dieser bemerkenswerte Gedanke bereitete den Weg für die moderne Physik – eine Physik, die das Verhalten von Objekten in der Zeit mittels Raum-Zeit-Diagrammen beschreibt, ohne aber einen Bezug zu der Tatsache herzustellen, dass die Zeit fließt oder dass ein Jetzt existiert.
Für Menschen, so Augustinus, gibt es weder Vergangenheit noch Zukunft, sondern nur drei Gegenwarten: »eine Gegenwart vergangener Dinge, die Erinnerung; eine Gegenwart gegenwärtiger Dinge, den Anblick; eine Gegenwart zukünftiger Dinge, die Erwartung.« (Gab dies Dickens die Anregung zu A Christmas Carol?) Es ist aber nicht zu verkennen, dass er mit seiner Einsicht unzufrieden ist. Er sagt: »Meine Seele strebt danach, dieses höchst verworrene Rätsel zu kennen.«
Auch Albert Einstein hatte Schwierigkeiten mit dem Begriff des Jetzt. Der Philosoph Rudolf Carnap schreibt in seiner Intellektuellen Autobiographie:
Einmal sagte Einstein, das Problem des Jetzt beunruhigte ihn ernstlich. Er erklärte, die Erfahrung des Jetzt bedeute etwas Besonderes für den Menschen, etwas von Vergangenheit und Zukunft wesentlich Verschiedenes, aber dieser wichtige Unterschied komme in der Physik nicht vor und könne dort nicht vorkommen. Dass die Wissenschaft diese Erfahrung nicht erfassen könne, schien ihm ein Gegenstand schmerzlicher, aber unvermeidlicher Resignation zu sein … Es gebe etwas Wesentliches bezüglich des Jetzt, das schlicht außerhalb des Bereichs der Wissenschaft liege.[2]
Carnap ist mit Einsteins Schlussfolgerung nicht einverstanden und sagt: »Da die Wissenschaft im Prinzip alles sagen kann, was sagbar ist, bleibt keine unbeantwortbare Frage übrig.« Aber wenn man anderer Meinung ist als Einstein, muss man sehr vorsichtig sein. Es ist bemerkenswert einfach, seine Grübeleien abzutun, als wären sie nur emotional und von ihrem Wesen her nicht tiefgründiger als unsere eigenen Gedanken. Einsteins einfache Aussagen sollte man niemals für Anzeichen eines einfachen Denkens halten. Philosophen meinen manchmal, sie würden große Tiefsinnigkeit erreichen, wenn sie gewichtige Wortschöpfungen wie »chronogeometrischer Fatalismus« erfinden (womit die Annahme einer konstanten Lichtgeschwindigkeit gemeint ist). Einstein dagegen hatte eine Art, Dinge so zu sagen, dass sogar ein Kind sie verstehen konnte – eine Fähigkeit, die ihn zum meistzitierten Wissenschaftler aller Zeiten machte.
Manche Theoretiker interpretierten die Tatsache, dass das Fließen der Zeit in der Physik nicht vorkommt, nicht wie Einstein als Mangel, sondern als Zeichen einer tiefer liegenden Wahrheit. So äußert beispielsweise Brian Greene in seinem Buch Der Stoff, aus dem der Kosmos ist die Ansicht, die Relativitätstheorie rufe »die Gleichheit im Universum aus, mit dem Erfolg, dass jeder Augenblick so real wie jeder andere ist«. Er erklärt, wir hätten eine »hartnäckige Illusion von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft«[3] – eine Sichtweise, die an Augustinus erinnert. Da die Relativitätstheorie das Fließen der Zeit nicht behandelt, zieht er den Schluss, dieses Fließen könne kein Teil der Wirklichkeit, sondern nur eine Illusion sein. Für mich zäumt er mit einer solchen Logik das Pferd von hinten auf. Statt daran festzuhalten, dass Theorien unsere Beobachtungen erklären, geht dieser Ansatz davon aus, dass man die Beobachtungen so lange hin und her drehen muss, bis sie zur Theorie passen.
Die Atheisten spotteten, Einstein sei im höheren Alter von der Physik weggedriftet und habe einen religiösen Glauben entwickelt. Sie äußerten sich aber nie zu seiner Sorge, die Wissenschaft könne nicht einmal diese wesentlichsten Aspekte der Welt bearbeiten: das Fließen der Zeit und die Bedeutung des Jetzt. Viele Wissenschaftler gehen davon aus, dass alles, was sich durch die Physik nicht untersuchen lässt, auch nicht Teil der Realität ist. Ist diese Aussage eine Behauptung, die sich überprüfen lässt, oder ebenfalls eine religiöse Glaubensüberzeugung? Philosophen geben einem solchen Dogma den Namen Physikalismus. Kann man die Überzeugung, dass die Physik alles einschließt, überprüfen und beweisen? Oder rechnet man damit, dass alle Physiker diesem Glauben anhängen, genau wie das Christsein eine inoffizielle, aber notwendige Voraussetzung ist, wenn man sich als potentieller US-Präsident positionieren will? Angenommen, man stellt den Physikalismus in Frage: Läuft man dann Gefahr, wie Einstein verhöhnt zu werden, weil man in Richtung der Religion abdriftet?
Sir Arthur Eddington genießt unter Physikern wegen vieler experimenteller und theoretischer Beiträge großes Ansehen, besonders blieb er aber in Erinnerung, weil er scheinbar eine bahnbrechende Erklärung für den Zeitpfeil lieferte, jene (zumindest für diejenigen, die darüber nachgrübeln) rätselhafte Tatsache, dass wir uns an die Vergangenheit erinnern, nicht aber an die Zukunft. Aber auch wenn Eddington eine Erklärung für die Richtung der Zeit anbot, war ihr Fließen für ihn ein Rätsel. In seinem 1928 erstmals erschienenen Buch Das Weltbild der Physik und ein Versuch seiner philosophischen Deutung schrieb er, dass es das große Rätsel der Zeit sei, dass sie vergeht. Und dann klagt er, dass das ein Aspekt sei, den der Physiker manchmal zu vernachlässigen scheint.
In seinem Buch Eine kurze Geschichte der Zeit erwähnt Stephen Hawking das Jetzt-Dilemma nicht. Vielmehr konzentriert er sich auf das, was wir wissen, und womit sich die aktuellen theoretischen Arbeiten befassen. Hawking spricht über den Pfeil der Zeit, aber nicht über ihr Fließen; er diskutiert die Relativität der Zeit, aber nicht das Rätsel des Jetzt. Das Gleiche tun auch praktisch alle anderen neueren Bücher über die Zeit. Sie handeln von potentiellen Theorien, mit denen man die Gleichungen der Physik »vereinheitlichen« kann, aber nicht von solchen, mit denen sich die Bedeutung des Jetzt und sein Fließen erklären ließen.
Aber es besteht Hoffnung.
Wenn wir mit dem Begriff des Jetzt klarkommen wollen, müssen wir uns auf eine Reise durch eine abstrakte, erstaunliche Physik begeben: durch die Physik der Zeit, die Bedeutung der Realität und eine neuerliche Untersuchung des freien Willens. Zu Beginn erörtern wir das wundersame, eigenartige Verhalten der Zeit; es grenzt ans Unglaubliche, ist aber handfest nachgewiesen. Die größten Durchbrüche fanden zu Beginn des 20. Jahrhunderts statt, als Einstein entdeckte, dass die Geschwindigkeit der Zeit sowohl von der Geschwindigkeit als auch von der Gravitation abhängt. Die Zeit ist flexibel, dehnbar und kann sich sogar umkehren. Diese Effekte sind so stark, dass sie bei der Konstruktion der heutigen GPS-Satelliten berücksichtigt werden. Wäre das GPS-System nicht so eingestellt, wie es Einsteins Entdeckungen entspricht, es würde uns kilometerweit in die Irre führen. Und auch jeder, der ein Handy besitzt, trägt die Relativität in der Tasche.
Die seltsamsten Aspekte der Zeit treten in den schwarzen Löchern auf, jenen rätselhaften Objekten, die wir mittlerweile überall im Kosmos finden. Wer in ein schwarzes Loch stürzt, wird nicht nur in Stücke gerissen, sondern reist (jedenfalls nach der derzeitigen Theorie) außerdem nicht nur in die Unendlichkeit, sondern, wie wir noch genauer erfahren werden, sogar darüber hinaus. Betrachtet man schwarze Löcher mit einem neuen Blick, so sieht man weit mehr als nur Schwärze. Um dabei unser Gespür für die Realität stark zu strapazieren, brauchen wir nicht in ein schwarzes Loch zu fallen. Schwarze Löcher sind auch für den Zeitpfeil von Bedeutung; nach der derzeitigen (noch nicht belegten) Theorie enthalten sie (zusammen mit einem »Ereignishorizont« in der Unendlichkeit) den größten Teil der Entropie im Universum.
Anschließend werden wir uns mit der Zeit nach der Relativitätstheorie beschäftigen, in der Eddington über die Richtung der Zeit nachgrübelte und zu dem Schluss gelangte, dass sie durch ein bestimmtes physikalisches Gesetz festgelegt wird, den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik; dieser besagt, dass die Unordnung in der Welt, die in Form ihrer Entropie gemessen wird, zunimmt und für alle Zeiten weiter zunehmen wird. Es ist ein seltsames Gesetz, das nicht auf einer physikalischen Grundlage aufbaut, sondern auf der Tatsache, dass unser Universum eigenartig gut organisiert ist; deshalb besagen die Gesetze der Wahrscheinlichkeit, dass es nur eine Richtung gibt: abwärts, hin zu immer mehr Durcheinander und Zufälligkeit mit dem Kältetod als letztem Ziel. Ist das unsere Zukunft? Nicht unbedingt. Zunehmendes Durcheinander im Universum ist paradoxerweise von zunehmender Organisation begleitet, die sich mit der Bildung von Planeten, Lebewesen und Zivilisation verbindet.
Wie ich darlegen werde, gibt es zu dem Zeitpfeil, der in Richtung der Entropie weist, ernstzunehmende Alternativen, darunter einige rätselhafte Aspekte der Quantenphysik, die man bisher nicht versteht. Die »Theorie der Messung« wird häufig erwähnt und zitiert (»theory of measurement« liefert bei Google 239 Millionen Treffer), in Wirklichkeit gibt es eine solche Theorie aber nicht. Die dramatischste Entdeckung im Zusammenhang mit Messungen war die experimentelle Bestätigung einiger seltsamer Eigenschaften der Verschränkung, eines Phänomens, das verdeckte, schneller als das Licht ablaufende Vorgänge voraussetzt. Möglicherweise versteckt sich in der noch zu entdeckenden Theorie der Messung auch die Antwort auf einige ungelöste Fragen nach der Zeit. Wenn wir die Bedeutung des Jetzt aufklären wollen, wird die Quantenphysik eine Schlüsselrolle spielen.
Manche Fachleute glauben, die Zeit sei ein Teil unseres Bewusstseins und könne sich nie auf die Physik reduzieren lassen. Die meisten Physiker sind zwar der Ansicht, die gesamte Realität sei ihre Domäne, wie ich aber zeigen werde, stimmt das nicht – manche Kenntnisse sind ebenso real wie die Beobachtungen der Wissenschaft, man hätte sie aber experimentell niemals entdecken können und wird sie niemals durch Messungen bestätigen. Ein einfaches Beispiel ist die Tatsache, dass man die Quadratwurzel von 2 nicht als Bruch schreiben kann, der nur ganze Zahlen enthält. Ein anderes ist das Wissen darüber, wie die Farbe Blau aussieht.
Ist der Zeitpfeil ein psychologisches Phänomen? Würden wir es bemerken, wenn die Zeit rückwärts liefe? Wie der große Physiker Richard Feynman deutlich gemacht hat, können wir die Positronen – Antimaterieteilchen, die in der Science-Fiction Raumschiffe antreiben und heute bereits in Krankenhäusern zur medizinischen Diagnose eingesetzt werden – als Elektronen betrachten, die sich in der Zeit rückwärts bewegen. Kann auch das Jetzt sich in der Zeit rückwärts bewegen? Können wir es?
Am Ende werde ich die Ansicht vertreten, dass die Ursachen für das Fließen der Zeit und die Windungen des rätselhaften, flüchtigen Jetzt tatsächlich im Bereich der Wissenschaft liegen – aber nicht im Konzept der Entropie, sondern in den physikalischen Aspekten der Kosmologie. Um das Jetzt zu verstehen, müssen wir nicht nur die Relativität und den Urknall miteinander verbinden, sondern auch begreifen, dass das Gemetzel der Entropie seine Grenzen hat. Wir werden uns mit der Frage beschäftigen müssen, welche Folgerungen sich aus der Quantenphysik für das Thema und insbesondere (was vielleicht überrascht) für die Bedeutung des freien Willens ergeben. Diese neue Vorstellung vom freien Willen ist zwar für die Erklärung des Jetzt nicht notwendig, sie wird aber wichtig, wenn wir erkennen wollen, warum das Jetzt für uns eine so große Bedeutung hat.
Raum und Zeit bilden gemeinsam die Bühne, auf der wir leben und sterben; es ist die Bühne, auf der die klassische Physik ihre Vorhersagen macht. Aber die Bühne selbst wurde bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht erforscht. Wir sollten die Story, die Gestalten, die Windungen der Handlung zur Kenntnis nehmen, aber nicht ihre Plattform. Dann kam Einstein. Er hatte die geniale Erkenntnis, dass auch die Bühne in den Bereich der Physik gehört, dass Raum und Zeit überraschende Eigenschaften haben, die man analysieren und zur Grundlage von Vorhersagen machen kann. Auch wenn er daran verzweifelte, das Jetzt zu verstehen, sind seine Arbeiten für unser Verständnis von zentraler Bedeutung. Einstein machte der Physik die Zeit zum Geschenk.
Die entscheidenden Fragen nach der Zeit sind die einfachsten …
Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr die Zeit nie verstehen.
Mit besten Empfehlungen an Matthäus 18,3
Auch wenn es sich vielleicht so anhört, stammt das folgende Zitat nicht aus einem Kinderbuch über die Uhrzeit:
Wenn ich zum Beispiel sage: »Jener Zug kommt hier um 7 Uhr an«, so heißt dies etwa: »Das Zeigen des kleinen Zeigers meiner Uhr auf 7 und das Ankommen des Zuges sind gleichzeitige Ereignisse.«[4]
Dieser scheinbar banale Satz stand am 30. Juni 1905 in den Annalen der Physik, der führenden physikalischen Fachzeitschrift jener Zeit. Den Artikel kann man mit Fug und Recht als die grundlegendste und wichtigste Abhandlung in der Physik seit 1687 bezeichnen, als Isaac Newton das Fachgebiet mit der Veröffentlichung seiner Principia mehr oder weniger begründet hatte. Sein Autor sollte zum Inbegriff des Genies und der wissenschaftlichen Produktivität werden, und 95 Jahre später wurde er vom Time Magazin (welch zutreffender Name!) als Mann des Jahrhunderts bezeichnet – eine Ehre, die kaum jemand in Frage stellte. Jene Worte über den kleinen Zeiger seiner Uhr wurden von Albert Einstein verfasst.
Albert Einstein 1904, ein Jahr vor der Relativitätstheorie.
Einsteins Aufsatz trug den Titel »Zur Elektrodynamik bewegter Körper«. Was haben kleine Zeiger von Uhren und die Ankunft von Zügen mit der Elektrodynamik zu tun, der Erforschung von Elektrizität und Magnetismus? Wie sich herausgestellt hat, eine ganze Menge. Einsteins Artikel handelt in Wirklichkeit von Raum und Zeit, und er verfolgte damit das Ziel, beide zu Forschungsthemen der Physik zu machen. Ein passenderer Titel wäre vielleicht »Die Relativitätstheorie – ein revolutionärer Durchbruch in unserer Auffassung von Raum und Zeit«. Vor Einstein waren Raum und Zeit nur Koordinaten, die dazu dienten, eine Frage zu stellen und die Lösung zu formulieren. »Wann wird der Zug ankommen?« Die Antwort wird in Form eines Zeitpunktes gegeben. Einstein zeigte, dass es so einfach nicht war.