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Impressum

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel «You Me Everything» im Verlag Simon & Schuster, London.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, April 2018

Copyright © 2018 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

«You Me Everything» Copyright © 2018 by Jane Costello

Redaktion Susann Rehlein

Umschlaggestaltung FAVORITBUERO, München

Umschlagabbildung Tancha,Vector Tradition/Shutterstock

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ISBN Printausgabe 978-3-499-27304-9 (1. Auflage 2019)

ISBN E-Book 978-3-644-40194-5

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-40194-5

Manchester, England, 2006

Manchmal kippt das Leben das Beste und das Schlimmste, das es zu bieten hat, an ein und demselben Tag über einem aus.

Wahrscheinlich keine ungewöhnliche Erkenntnis während einer Geburt, aber es ist nicht der übliche Cocktail aus Schmerz und Freude, der mich darauf bringt. Es ist eher der Umstand, dass ich während der qualvollen Stunden, bis ich endlich das winzige Menschlein kennenlernen darf, das neun Monate lang meinen Körper mit mir geteilt hat, ständig versuche, seinen Vater zu erreichen – um ihn per Handy aus der Kneipe, Bar oder Frau zu holen, in der er gerade steckt.

«Haben Sie an Ihre Unterlagen gedacht?», fragt die Hebamme, als ich allein im Krankenhaus ankomme.

«Meine Unterlagen habe ich dabei. Nur meinen Freund habe ich leider verlegt», sage ich mit einem entschuldigenden Lächeln. Ich lehne mich an den Empfangstresen und warte, dass die Wehe abebbt. «Er kommt sicher bald nach.» Schweiß sammelt sich in meinem Nacken. «Ich habe ihm schon einige Nachrichten hinterlassen.» Zwölf, um genau zu sein. «Er ist bei einer Firmenveranstaltung. Wahrscheinlich hat er dort kein Netz.»

Ein Teil von mir hofft immer noch, dass das stimmt. Ich bin eben finster entschlossen, in Adam das Gute zu sehen.

Die Hebamme wirkt beruhigend mütterlich, mit stämmigen Beinen, einem Busen, auf dem man einen Blumentopf abstellen könnte, und einer Frisur, die man nur so hinbekommt, wenn man über Nacht Schaumwickler trägt. Auf ihrem Namensschildchen steht Mary. Ich kenne Mary erst drei Minuten und weiß bereits, dass ich sie mag, was ein gutes Zeichen ist, zumal sie gleich meinen Muttermund untersuchen wird.

«Na kommen Sie, Herzchen, wir besorgen Ihnen ein Zimmer.»

Ich greife nach der Reisetasche, die mir der Taxifahrer hereingeschleppt hat, aber sie kommt mir zuvor und hebt sie an, wobei sie ins Schwanken gerät.

«Wie lange haben Sie denn vor zu bleiben?», ruft sie lachend, und ich gebe mir die größte Mühe mitzulachen, obwohl gerade die nächste Wehe kommt. Ich schiele fast vor Schmerz, fest entschlossen, nicht eine der Gebärenden zu sein, die mit ihrem Geschrei alle in Angst und Schrecken versetzen.

Als der Schmerz nachlässt, schleiche ich Mary hinterher, den grell erleuchteten Korridor entlang. Dabei kontrolliere ich erneut mein Handy. Ungefähr ein Dutzend SMS von meiner Mum und von Becky, meiner besten Freundin, aber immer noch keine von Adam.

So war das alles nicht geplant.

Ich will das nicht allein durchstehen.

«Alles in Ordnung, meine Liebe?», fragt Mary, als wir vor der Tür des Kreißsaals stehen. Ich nicke stumm. Dabei fühle ich mich trotz ihrer vertrauenerweckenden Gegenwart furchtbar allein und voller Angst. Das wird wohl erst vergehen, wenn Adam kommt, um mir die Stirn abzutupfen und meine Hand zu halten.

Der Raum ist klein und zweckmäßig eingerichtet, mit dünnen gemusterten Vorhängen vor den Fenstern, die ihm den Charme eines Jugendherbergszimmers verleihen. Der Himmel draußen hat die Farbe von Rübensirup, und der perlweiße Mond versteckt sich hinter Wolken.

«Hüpfen Sie mal hier drauf», sagt Mary und klopft auf die Liege.

Ich lege mich auf den Rücken und spreize die Beine. Sie verkündet sachlich: «Ich gehe jetzt rein», und schiebt ihre Hand in mich. Mir treten die Augen hervor, und ich kann nicht mehr atmen.

«Vier Zentimeter.» Sie richtet sich auf, lächelt und zieht sich die Latexhandschuhe aus. Die nächste Wehe baut sich auf. «Sie liegen in den Wehen, Jessica.»

«Wie aufregend», ächze ich. Ich wage nicht einzuwenden, dass das für mich keine wirklich neue Erkenntnis ist; immerhin habe ich meinen Küchenboden bereits vor Stunden mit Fruchtwasser getauft.

«Am besten legen Sie sich jetzt auf den Geburtsball und lassen sich von der Schwerkraft helfen. Ich kümmere mich kurz um die Frau nebenan. Wenn Sie mich brauchen, drücken

Becky wohnt nicht weit weg, aber Mum ist noch immer die erste Wahl in der Not, so peinlich es auch gewesen ist, ihr zu gestehen, dass sich Adam längst aus dem Staub gemacht hat.

«Meine Mutter steht auf Abruf bereit. Wenn ich von meinem Freund bis zwei Uhr nichts höre, kommt sie.»

«Hervorragend», sagt Mary und lässt mich mit meinem Hüpfball, einem iPod mit Jack-Johnson-Songs und einem Lachgas- und Sauerstoffgerät allein. Ich habe vergessen zu fragen, wie man das Gerät benutzt.

Punkt zwei rufe ich Mum an. Sechs Minuten später ist sie da, eingehüllt in eine Wolke von Estée Lauders Beautiful. Sie trägt eine schmale Jeans und eine weiche Leinenbluse und hat eine riesige Sporttasche dabei, in der ihre Last-Minute-Gebärausrüstung verstaut ist. Diese besteht aus einer kleinen Videokamera, einem Gänsedaunenkissen, Zahnputzzeug, der Zeitschrift Die Frau und ihr Heim, etwas Handcreme, einer Schale Trauben, zwei großen Tupperdosen mit frisch gebackenen Keksen, einigen rosafarbenen Handtüchern und – kein Witz – einem Kuscheltier.

«Wie geht es dir?», fragt sie ängstlich und zieht sich einen Stuhl heran. Dabei klemmt sie sich eine Strähne ihres blonden Haars hinter das Ohr. Sie trägt nur eine Andeutung von Make-up – bei ihrer schönen Haut braucht sie auch nicht mehr, nur einen Tupfer Foundation, Mascara und ein wenig hellbraunen Lidschatten, der das Blau ihrer Augen unterstreicht.

«Ganz gut. Und selbst?»

«Mir geht es sehr gut. Ich bin überglücklich, hier zu sein.»

«Es kann doch nicht sein, dass du nur sechs Minuten von zu Hause bis hierher gebraucht hast?», frage ich und nehme einen tiefen Zug aus dem Sauerstoffgerät.

«Ich stehe schon seit Mitternacht auf dem Krankenhausparkplatz. Man weiß ja nie, ob nicht irgendwo Stau ist.»

«Wenn sich Adam doch nur einen Bruchteil deiner Gedanken machen würde», murmele ich.

Ihr Lächeln erlischt. «Hast du ihm noch eine SMS geschickt?»

Ich nicke und versuche zu verbergen, wie aufgebracht ich bin. «Ja, aber offenbar war irgendetwas viel wichtiger als das hier.»

Sie greift nach meiner Hand und drückt sie. Sie ist es nicht gewohnt, dass ich gekränkt bin. Ich bin eigentlich überhaupt nicht der gekränkte Typ. Eigentlich bin ich so gut wie nie wirklich wütend auf jemanden oder auf etwas, außer vielleicht auf die Zustände in der Dritten Welt und unsere schreckliche Breitband-Verbindung.

Aber in dieser Nacht ist alles anders.

«Ich hasse ihn», schniefe ich.

Sie schüttelt den Kopf und streichelt mit den Fingerspitzen meine Hand. «Nein, tust du nicht.»

«Mum, du hast ja keine Ahnung, was in letzter Zeit so passiert ist.» Ich fürchte mich davor, sie ins Bild zu setzen, weil das die Seifenblase meiner Träume sicher endgültig zum Platzen bringt – den Wunsch, dass ein Familienleben mit Adam

Sie atmet tief durch. «Okay. Versuch bitte, dich jetzt nicht darüber aufzuregen. Dieser Moment kommt nie wieder. Hast du Hunger?» Sie holt eine ihrer Tupperdosen heraus.

Ich bringe ein Lächeln zustande. «Im Ernst?»

«Nicht?», erwidert sie überrascht. «Ich bin fast vor Hunger umgekommen, als ich dich auf die Welt gebracht habe. Ich hatte schon einen halben Zitronenkuchen intus, bevor überhaupt meine Fruchtblase platzte.»

 

Meine Mutter ist eine echte Hilfe bei der Geburt. Sie bringt mich zwischen den Wehen zum Lächeln und beruhigt mich zumindest so lange, bis ich komplett die Kontrolle verliere und nur noch schreien kann.

«Warum haben sie dir nichts gegen die Schmerzen gegeben?», fragt sie leise.

«Ich hab ihnen gesagt, dass ich keine Epiduralanästhesie will. Ich wollte eine natürliche Geburt. Ich habe schließlich … Yoga gemacht.»

«Jess, du versuchst gerade, ein menschliches Wesen durch deine Vagina zu pressen. Ich glaube, du brauchst mehr als Atemübungen und eine Kerze.»

Sie hat natürlich recht. Nachdem ich mich zum x-ten Mal übergeben habe – davon erzählt einem vorher auch keiner –, packt mich ein derart unvorstellbarer Schmerz, dass ich auch Crack geraucht hätte, wenn es in Reichweite gewesen wäre. Eine blasse Sonne scheint durch das Fenster, und eine andere Hebamme, die sich bestimmt vorgestellt hat, als ich gerade

«Tut mir leid, Jessica, Sie sind schon zu weit für eine Epiduralanästhesie. Sie können eine Betäubungsspritze haben, wenn Sie wollen, aber dieses Baby wird schon sehr bald da sein.»

Meine Beine zittern unkontrolliert, der Schmerz nimmt mir den Atem und die Fähigkeit, normal zu sprechen oder auch nur vernünftig zu denken.

«Ich will nur, dass Adam hier ist. Mum … bitte

Sie fummelt hektisch an ihrem Handy herum, um ihn anzurufen, lässt es fallen, flucht über ihre Ungeschicklichkeit und kriecht auf dem Boden herum. Da klingelt mein Handy.

Und ich werde von der furchtbaren und wundersamen Macht meines eigenen Körpers fortgerissen.

Ungefähr eine Minute und drei Presswehen nach der Pethidinspritze erblickt mein Baby das Licht der Welt, und der Schmerz verzieht sich wie Wolken am Himmel.

Er ist ein Wunder, mein kleiner Junge, mit seinen runden Ärmchen und Beinchen und diesem verwirrten Gesichtsausdruck. Er blinzelt, und sein Gesichtchen wird ganz glatt, als die Hebamme ihn mir in die Arme legt.

«Oh mein Gott», keucht Mum. «Er ist …»

«Wunderschön», flüstere ich.

«Gewaltig», versetzt sie.

Ich kannte Neugeborene bisher nur als hilflos und zart, aber William ist ein hilfloser Viereinhalb-Kilo-Brocken. Und er weint gar nicht, jedenfalls nicht in diesen ersten Minuten, sondern kuschelt sich einfach an meine warme Brust und macht alles wieder gut.

Fast alles.

Ich weiß nicht, was überwältigender ist, als er sich uns nähert – das Parfüm einer anderen Frau oder der säuerliche Gestank nach Alkohol. Er trägt noch die Kleidung vom Tag zuvor. Den Lippenstift hat er in der Hektik nicht von seinem Hals wischen können, sodass ein Fleck in Schlampenpink von seinem Ohr bis zu seinem Hemd reicht.

Plötzlich will ich ihn weder in meiner noch in der Nähe meines Babys haben – keine noch so große Menge antibakteriellen Handgels kann etwas an der Tatsache ändern, dass er vollkommen neben der Spur ist. In mehr als einer Hinsicht. Und ich frage mich, seit wann ich das eigentlich schon weiß.

«Darf … darf ich sie mal nehmen?», fragt er und streckt die Arme aus.

Mum zuckt zusammen, und ich sauge scharf die Luft ein. «Es ist ein Junge, Adam.»

Überrascht blickt er auf, lässt die Arme hängen und sieht uns an, offenbar außerstande, noch irgendetwas zu sagen, ganz zu schweigen, das Richtige zu tun.

«Du hast es verpasst», stelle ich fest und wische mir eine Träne von der Wange. «Wie konntest du es nur verpassen, Adam.»

«Jess, hör zu … Ich kann alles erklären.»

Zehn Jahre später, Sommer 2016

Ich weiß gar nicht, warum ich neuerdings so schlecht packe. Früher, als ich noch Zeit und Muße hatte, aufblasbare Kissen und Kosmetik in Reisegrößen zu kaufen, konnte ich das gut. Es liegt gar nicht daran, dass ich zu wenig Platz zur Verfügung hätte; mein alter Citroën platzt aus allen Nähten. Trotzdem habe ich das unangenehme Gefühl, etwas vergessen zu haben – oder gleich mehrere Etwasse.

Das Problem ist, dass ich mir keine Liste gemacht habe. Heutzutage sind Listen ziemlich in Mode und die Lösung für praktisch alles, selbst für den Fall, dass die Welt untergeht. Leider bin ich bereits in der Phase, in der so viel zu tun ist, dass ich nur noch vor mich hin hetze und Listen unerreichbarer Luxus sind. Außerdem kann ich auch noch am Ziel einkaufen, wenn ich etwas vergessen habe – wir fahren schließlich nur nach Frankreich aufs Land, nicht ins Amazonasbecken.

Wenn ich schon planlos gepackt habe, dann weiß ich nicht, wie man Williams Packversuche nennen soll. In seiner Reisetasche sind hauptsächlich Haribos, die er nach einem Übernachtungsbesuch unter seinem Bett gefunden hat, Bücher mit Titeln wie Die giftigsten Schlangen der Welt, einige Wasserpistolen unterschiedlichen Formats und eine Auswahl penetrant riechender Toilettenartikel.

Ich setze mich auf den Fahrersitz, drehe den Schlüssel und bin wie immer überrascht, dass der Motor tatsächlich anspringt. «Hast du auch alles?», frage ich.

«Glaub schon.» Mein Herz zieht sich beim Anblick seines strahlenden Gesichts schmerzhaft zusammen. Seit ich ihm gesagt habe, dass wir den Sommer mit seinem Dad verbringen werden, ist er völlig aus dem Häuschen. Ich beuge mich zu ihm rüber, um ihm ein Küsschen zu geben. Er nimmt es hin, aber die Zeiten, in denen er die Arme um mich schlang und verkündete, dass ich die beste Mum sei, die er je gehabt habe, sind lange vorbei.

William ist groß für sein Alter, beinahe schlaksig, trotz seines enormen Appetits und seiner aktuellen Leidenschaft für Pizza von Domino’s. Die Größe hat er von seinem Vater, ebenso die Augenfarbe, die aussieht wie flüssige Schokolade, seine leicht bräunende Haut und das dunkle Haar, das sich in seinem Nacken kräuselt.

Ich bin gerade mal 1,64 Meter groß, es wird also nicht lange dauern, bis er mich überragt. Aber auch jetzt schon kommt kaum jemand auf die Idee, dass er mein Kind sein könnte. Meine Haut ist blass, voller Sommersprossen und wird schon beim ersten Sonnenstrahl rot. Mein schulterlanges blondes Haar lockt sich nicht wie das meines Sohnes, aber ganz glatt ist es auch nicht; es hat einen Knick, der mich früher furchtbar geärgert hat – damals, als ich sonst keine Sorgen hatte.

«Darauf muss eigentlich keiner aufpassen, mein Schatz. Hin und wieder muss nur die Post aus dem Briefkasten genommen werden.»

«Und wenn jemand einbricht?»

«Das wird nicht passieren.»

«Woher weißt du das?», fragt er.

«Wenn jemand in dieser Straße einbrechen will, ist unser Haus sicher das letzte, das er aussuchen würde.»

Ich hatte unser winziges Reihenhäuschen in Süd-Manchester dank einer Finanzspritze von Dad direkt nach Williams Geburt kaufen können, kurz bevor die Gegend trendy wurde.

Zu den ironisch gemeinten Bingo-Abenden in der Falafel-Bar am Ende der Straße gehe ich nicht, und ich habe vielleicht einmal das Quinoa-Sauerteigbrot in der Biobäckerei probiert. Aber ich bin sehr für diese Art von Läden. Doch die dank Falafel und Quinoa gestiegenen Immobilienpreise bedeuten auch, dass ich vermutlich die einzige dreiunddreißigjährige Alleinerziehende mit mickrigem Gehalt bin, die in dieser Gegend wohnt. Ich unterrichte Kreatives Schreiben in der Oberstufe der Schule hier, und das bringt mehr inhaltliche als finanzielle Zufriedenheit.

«Bei Jake Milton haben sie aber eingebrochen», verkündet William düster, als wir die Straße hinunterfahren. «Sie haben den ganzen Schmuck von seiner Mum geklaut, das Auto seines Dads und Jakes Xbox.»

«Wirklich? Wie schrecklich.»

«Echt, ja. Er war schon auf dem letzten Level von Garden Warfare», seufzt er und schüttelt den Kopf. «Das kriegt er nie wieder hin.»

Ich tippe den Code für die beiden Eingangstüren ein und schreibe unsere Namen in die Liste. Ein Schwall altmodischer Küchengerüche dringt in die Eingangshalle – zu lange gebratenes Fleisch und totgekochtes Gemüse. Aber es ist alles sauber, hell und gut in Schuss hier, auch wenn der Innenarchitekt farbenblind gewesen sein muss. Die Tapete mit dem geprägten Wirbelmuster ist avocadogrün, der Boden mit roten und blauen Teppichfliesen bedeckt, und die Fußleisten sind in einem Orangeton lackiert, den jemand fälschlicherweise für natürlich gehalten haben muss.

Hinter einer Flügeltür befinden sich der Speisesaal und der Fernsehraum. Von dort aus hört man Mittagessengeräusche, also machen wir uns dorthin auf, statt den Flur entlang zu Mums Zimmer zu gehen.

Einer der Dauerbewohner tritt mit einem Gesichtsausdruck aus dem Badezimmer, als wäre er gerade in Narnia angekommen. «Alles in Ordnung, Arthur?», frage ich ihn sanft. Er richtet sich sofort auf. «Ich suche nach meinen Pfannen. Hast du mir meine Pfannen weggenommen?»

«Wir waren es nicht, Arthur. Wollen wir in den Speisesaal gehen?» Ich will ihn schon daran hindern, die Tür zur Besenkammer aufzumachen, als sich die Flügeltür öffnet und Raheem vom Pflegepersonal kommt, um ihn wegzuführen.

«Hi», sagt William. Raheem ist Mitte zwanzig und kommt aus Somalia. Außerdem besitzt er eine Xbox, deshalb haben William und er immer viel zu besprechen.

«Ja, gut.» Mein Sohn würde niemals ein Essensangebot ablehnen, es sei denn, ich habe mir für die Zubereitung ungeheure Mühe gegeben. Dann zieht er immer ein Gesicht, als ob ich ihm einen Teller voller dampfender Industrieabfälle servieren würde.

Arthur schlurft, von Raheem gefolgt, durch die Tür, und ein weiterer Mann erscheint. Auf seiner Stirn haben sich jahrelange Sorgen eingegraben.

«Granddad!» Auf Williams Gesicht breitet sich ein Lächeln aus, und die blassgrauen Augen meines Vaters erwachen funkelnd zum Leben.

Es ist eins der kleinen Wunder in meiner Welt, dass mein Vater regelrecht aufleuchtet, sobald sein Enkel in der Nähe ist – und das trotz des unvorstellbaren Drucks, der auf ihm lastet. «Bist du bereit, William?»

«Jawohl. Alles gepackt und auf dem Weg, Granddad.»

Mein Vater fährt ihm durchs dicke, lockige Haar und tritt einen Schritt zurück, um ihn sich noch einmal genau anzusehen. «Ich hätte mit dir zum Friseur gehen sollen, bevor ihr losfahrt.»

«Ich mag meine Haare lang, Granddad.»

«Du siehst aus wie ein explodiertes Kissen.»

William kichert, obwohl er diesen Scherz öfter gehört hat, als er zählen kann.

«Wie viele Minuten haben viereinhalb Stunden?», fragt mein Vater.

«Hm. Zweihundert und … siebzig.»

«Guter Junge.» Er zieht ihn an sich und umarmt ihn.

Die Tatsache, dass mein Sohn in Mathe auf der Liste der Begabten und Talentierten seiner Schule steht, ist leider nicht das Verdienst seiner Eltern. Dieses Fach ist definitiv nicht meine Stärke, und die einzigen Zahlen, mit denen Adam sich auskennt, sind weibliche Maße.

Aber mein Vater, der Buchhalter ist, war für William immer

Und als er zur Schule kam, wartete mein Vater immer vor dem Schultor und nahm ihn mit, um mit ihm Hausaufgaben zu machen oder ihn zum Karate zu bringen, während ich bei der Arbeit war.

In den letzten Jahren hat sich das alles geändert. Meine Mutter ist nicht mehr die Grandma, die sie einmal war – sie ist nicht mehr die Frau, die noch vor sieben, acht Jahren mit William auf dem Schoß die große, geschwungene Rutsche im Indoorspielplatz in unserem Viertel hinuntergerast ist. Sie hat sich nie darum gekümmert, dass sie vielleicht selbst wie ein großes Kind wirkte; während andere Frauen ihres Alters ihren Latte schlürften, schlüpfte sie einfach aus ihren Schuhen und stürzte sich mitten ins Getümmel, und William kreischte vor Begeisterung.

«Ich geb dir ein bisschen Taschengeld mit», sagt mein Vater und wühlt in seiner Hosentasche.

«Das musst du aber nicht, Granddad», murmelt William nicht sehr überzeugend, als mein Vater ihm eine Zwanzigpfundnote in die Hand drückt.

«Kauf dir auf der Fähre einen Comic.»

«Kann ich auch eine Cola haben?»

«Natürlich», antwortet mein Vater, bevor ich es verbieten kann.

«Danke, Granddad. Das weiß ich sehr zu schätzen.» William huscht in den Speisesaal, um seine Grandma zu finden, und ich bleibe noch, um ein wenig mit meinem Vater zu plaudern.

«Natürlich müssen wir das. Ich dachte, ich geb Mum ihr Mittagessen, bevor wir abfahren.»

«Das mache ich gleich. Ich wollte nur noch schnell eine Zeitung kaufen.»

«Nein, ich würde das gern tun, wenn es dir nichts ausmacht.»

Er nickt und atmet tief durch. «Na gut. Aber versprich mir, dass du versuchst, dich in Frankreich ein bisschen zu erholen. Du hast den Urlaub wirklich nötig.»

Ich lächele zweifelnd. «So nennst du das? Urlaub?»

«Du wirst es genießen, wenn du es zulässt. Und bitte tu das unbedingt. Tu es um deiner Mum willen, wenn dir das hilft. Sie will das wirklich, weißt du.»

«Ich finde immer noch, dass wir zu lange weg sind.»

«Seit zehn Jahren leben wir schon damit, Jessica. In den nächsten fünf Wochen wird absolut gar nichts passieren.»

 

Mum sitzt ganz hinten im Speisesaal, neben dem offenen Terrassenfenster. William sitzt daneben und plaudert mit ihr. Zu dieser Tageszeit, wenn die Sonne hoch steht und gleichzeitig eine kühle Sommerbrise hereinweht, ist es der schönste Platz hier. Sie trägt das türkisfarbene Kleid, das ich ihr vor ein paar Monaten online bestellt habe, und sitzt in ihrem Rollstuhl. Aber wirklich ruhig sitzt Mum nur sehr selten. Dank der schweren Medikamente, die sie nimmt, zuckt sie immerhin nicht mehr so heftig wie früher. Leider wirken die Medikamente keine Wunder, dessen werde ich mir auch heute wieder schmerzlich bewusst. Sie krümmt und windet sich, ihre Gesichtszüge und knochigen Gliedmaßen nehmen sonderbare

«Hallo, Mum.» Ich beuge mich zu ihr hinunter, um sie zu umarmen, und drücke sie ein bisschen länger als gewöhnlich.

Dann löse ich mich von ihr, um zu sehen, ob ihr schlaffer Mund mein Lächeln erwidern kann. Sie braucht eine Weile, aber schließlich bringt sie doch ein abgehacktes: «Eh … mein Liebling» zustande.

Ich kann Mum immer noch verstehen, obwohl ich beinahe die Einzige bin. Sie spricht nur noch in Drei- oder Vierwortsätzen, und das ziemlich undeutlich. Ihre Stimme ist heiser und leise.

«Wie ich sehe, hast du dir wieder den besten Platz gesichert. Die anderen sind garantiert neidisch.»

Eine lange Pause folgt, während der meine Mutter sichtlich nach Worten ringt. «Hab sie bestochen», bringt sie schließlich hervor, und ich lache.

Eine Pflegekraft erscheint und stellt ihr das Essen auf den Tisch, entfaltet ein großes Plastiklätzchen und bindet es ihr um den Hals. Ich will es ein wenig glätten, aber ihr linker Arm schnellt immer wieder nach oben.

Ich überlege, den Babylöffel zu nehmen, beschließe dann aber, es zu lassen, falls Mum doch lieber selbst zu essen versuchen will. In letzter Zeit will sie das nur noch selten, auch wenn sie das Gefüttertwerden zu Beginn empört abgelehnt hat.

Sie lebt schon seit einem knappen Jahr in den Willow Bank

«Aufgeregt?», fragt Mum William.

«Ich kann es kaum erwarten!», antwortet er. «Dad hat schon ganz viel für uns geplant, Grandma. Und wir kriegen die tollste Hütte, stimmt doch, Mum? Wir gehen Kajak fahren und Bergsteigen, und er will mir zeigen, wie man Sachen repariert.»

Ich mache mir ernsthafte Sorgen wegen der Erwartungen meiner Mutter an diese Reise. Die Idee dazu ist ganz und gar auf ihrem Mist gewachsen, und sie hat sie gleich dramatisch als ihren «letzten Wunsch» bezeichnet. Sie gibt ganz offen zu, dass das immer zieht, wenn sie unbedingt ihren Willen bekommen will.

Nach der Trennung von Adam und mir war meine Mutter genauso wütend auf ihn wie ich, und sie verstand sehr gut, warum ich ihn mir vom Leib halten wollte. Und obwohl sie keinerlei Interesse daran hatte, uns wieder zusammen zu sehen, wollte oder hoffte sie, dass zumindest William eine Beziehung zu seinem Vater aufbauen könnte. Dann zog Adam

Es ist nicht so, dass Adam seine Vaterpflichten komplett vernachlässigt. Er bezahlt den Kindesunterhalt rechtzeitig, denkt an Williams Geburtstag und skypt, wenn er sagt, dass er skypen wird. Aber unser Sohn ist nur ein winziges Puzzleteil in Adams buntem Leben. Sie sehen sich vielleicht zwei- oder dreimal im Jahr. Und ich bin mir nicht einmal sicher, ob Adam noch protestieren würde, wenn ich ihm vorwürfe, dass er kein echtes Interesse an seinem Sohn hat.

Mum konnte das einfach nicht verwinden – nicht nur den seltenen Kontakt, sondern auch die Tatsache, dass ich nie etwas dagegen unternahm. Ich habe Adam bereitwillig ziehen lassen. Wenn ich ehrlich bin, war es mir sogar ganz recht. Ich hatte schließlich genug Liebe für uns beide zu geben.

Sicher malt meine Mutter sich in ihren Träumen nicht unbedingt aus, wie Adam und ich nur für William jeden Sonntag zusammen zu Abend essen und uns, bebend vor unterdrückter Abneigung, die Bratensoße reichen, aber sie hat sich über Jahre hinweg immer wieder darüber ausgelassen, dass er eine echte Beziehung zu seinem Dad braucht.

Doch Adam führt inzwischen ein luxuriöses Leben in der Dordogne, während wir in Manchester im Reihenhaus wohnen. Aber ich verstehe schon, was sie sagen will. Ich teile ihre Meinung nicht, aber ich verstehe sie. Und immer wenn ich sie ansehe und sehe, welche Kämpfe sie täglich ausficht, erinnert mich das daran, dass ich kaum das Recht habe, ihr etwas zu verwehren. Also schickte ich Adam vor ein paar Wochen eine E-Mail und schlug vor, ihn zu besuchen. Wahrscheinlich ist er beim Lesen vor Schreck ohnmächtig geworden.

Aber wenn ich William und ihn zumindest dazu kriegen

«Ich … liebe Frankreich», lässt sich Mum jetzt hören, und ihr unsicherer Blick fällt auf William. «Mach Fotos.»

Wir waren ein paarmal in Frankreich im Urlaub, als ich ungefähr so alt war wie William jetzt, und von dem Moment an, in dem wir mit unserem Vauxhall Cavalier auf die Fähre rollten, war ich jedes Mal vom Scheitel bis zur Sohle mit Vorfreude angefüllt. Wir verbrachten den Urlaub jedes Jahr in unserem Wohnwagen auf demselben Campingplatz, und es war immer himmlisch, endlose Sonnentage, Frühstück mit süßen Teilchen, die mit echter Schokolade gefüllt waren.

«Probier mal die Tretboote», sagt sie. «Deine Mum … hat sie geliebt.»

Bei der Erinnerung daran, wie meine Mutter und ich kichernd über den See am Campingplatz strampelten, habe ich einen Kloß im Hals.

William erzählt irgendetwas, in dem ein Stockbett vorkommt, und ich schlucke mühsam und erinnere mich daran, dass wir ja nur ein paar Wochen fort sind. Es hilft niemandem, wenn ich jetzt anfange zu weinen, egal wie schmerzhaft diese Sache hier ist.

Ich schaue auf den Tisch und sehe, dass meine Mutter den Löffel nicht angerührt hat. Also nehme ich damit ein wenig matschige Gemüsepampe auf und hebe ihn zu ihrem Mund.

«Exklusiver Tischservice», murmelt sie, und ich schnaube, halb gerührt, halb amüsiert.

Wir beginnen unsere 1400 Kilometer lange Reise in bester Stimmung und singen uns durch eine Playlist, in der es von den Beatles bis Avicii alles gibt. Wir plaudern über das Frankreich, das ich aus meiner Kindheit kenne, und ich erzähle William von den weichen Sandstränden, der traumhaften Eiscreme und davon, wie meine Mutter mir beibrachte, Blackjack um Francs und Centimes zu spielen.

Eine Weile spielt William auf meinem iPad. Er hängt so krumm über dem Bildschirm, dass ich plötzlich befürchte, seine Wirbelsäule könne für immer so bleiben, also lege ich uns das Hörbuch Billionaire Boy von David Walliams ein, und wir müssen so sehr lachen, dass meine Wangen schmerzen. Dann tritt darin eine Figur auf, die mit einem It-Girl ausgeht. Ich habe keine Ahnung, ob er überhaupt weiß, was das ist. Aber ich fühle mich wie Anfang des Jahres, als er mich fragte, woher eigentlich die Babys kommen. Damals bin ich sofort losgegangen und habe ein Aufklärungsbuch gekauft, das er lesen sollte, bevor er mir weitere Fragen stellte. So wollte ich Peinlichkeiten vermeiden. «Warum sollte mir das denn peinlich sein?», fragte er damals voller Unschuld und zwang mich, ihm daraus vorzulesen, sodass ich mich notgedrungen damit abmühte, Sätze wie und das nennen manche Leute wichsen, fröhlich entspannt vorzutragen.

«Von hier aus haben wir eine tolle Aussicht», sage ich heiter, worauf er entgegnet: «Ich muss gleich kotzen.» Er übergibt sich während unserer sechsstündigen Nachtüberfahrt siebenmal, sodass wir kein Auge zubekommen, und als wir schließlich von Bord gehen, sieht er aus wie dieses Kind aus Der Exorzist. Wir müssen auf dem ersten Rastplatz hinter der Grenze anhalten und eine Stunde abwarten, bis es ihm bessergeht. Wir sitzen auf einem Grasstreifen, trinken Wasser und schauen zu, wie ein Strom britischer Familien versucht, falsch herum durch einen Kreisel zu fahren.

William schläft den Rest der Reise und wacht nur hin und wieder auf, um auf die Toilette zu gehen. Das lässt mich bis zur Dordogne mit meinen Gedanken alleine. Dort eröffnet sich vor uns eine Landschaft mit Wäldern und Feldern, und wir gleiten durch das Land, entdecken verwunschene Weiler, deren Häuser mit knallroten Geranien berankt sind.

Aber auch die Schönheit der Landschaft kann meine Gedanken nicht von meiner Mutter ablenken. Es sind dieselben Gedanken, die mir so viel Angst gemacht haben, dass ich Anfang des Jahres zum ersten Mal in meinem Leben Antidepressiva nahm. Ich hatte mich nie für jemanden gehalten, der Stimmungsaufheller braucht – im Gegenteil, ich hatte geglaubt, eher ein lustiger Typ zu sein. Ich war doch immer die Erste gewesen, die zu Weihnachten einen albernen Hut aufsetzte, Karaoke sang oder sich mit William ein Wasserpistolengefecht lieferte. Das Stärkste an Stimmungsaufhellern, was ich bis dahin genommen hatte, war ein Magnum Mandel,

Aber seit meine Mutter in Willow Bank wohnt, gegen das wirklich nichts einzuwenden ist, habe ich mich schleichend verändert. Vor sechs Monaten wurde es dann richtig schlimm. Nicht, dass die Leute etwas bemerkt hätten. Ich habe die Rolle der alten Jess ziemlich gut weitergespielt. Aber in mir sieht es jetzt anders aus. Was als verständliche Sorge um Mums immer schlechter werdenden Zustand begann, entwickelte im Laufe der Zeit ein Eigenleben. Depression ist nicht der richtige Ausdruck dafür. Es war mehr eine erdrückende Furcht, die Unfähigkeit, an etwas anderes zu denken als an eine triste Zukunft, die immer grauer aussah, je schwerer das Leben für meine Mutter wurde.

Die Tabletten helfen, auch wenn ich sie immer noch nicht gern nehme. Aber sie haben nichts an dem Auslöser geändert, der all das in Gang gesetzt hat: dass meine Mutter in einem Heim lebt und langsam ihre Persönlichkeit verliert. Und dass daran niemand irgendetwas ändern kann.

Auf einer Allee von Walnussbäumen, umgeben von üppiger Vegetation, verkündet unser Navi schließlich, dass wir unser Ziel erreicht haben. Aber da wir meilenweit von allem entfernt sind, redet unser Navi eindeutig Mist.

Ich wühle im Handschuhfach nach der Karte, von der ich so sehr gehofft hatte, dass ich sie nicht würde benutzen müssen, und nachdem ich ein paarmal falsch abgebogen bin, finde ich eine Kreuzung mit dem Wegweiser zum Château de Roussignol.

 

Der Kies der Auffahrt knirscht unter den Rädern, und mein Herz flattert. Für einen Augenblick frage ich mich, ob ich mich nicht doch auf diesen Urlaub freue. Ich nehme an, ich darf das, obwohl ich ihn in Adams Nähe verbringen muss.

Es gab mal eine Zeit, in der ich ihn abgrundtief hasste, aber Hass liegt mir einfach nicht und ist viel zu anstrengend. Also war ich immer ein Ausbund an Zivilisiertheit – ich lächelte um Williams willen, wenn er kam, um ihn abzuholen; ich rief pflichtschuldigst «Wie toll!», wenn unser Sohn McDonald’s Happy Meal pries, das Adam ihm mal wieder vorgesetzt hatte.

Doch selbst wenn ich unbedingt irgendwelchen Hass auf Adam haben wollte, würde ich es nicht fertigbringen. Ich bin inzwischen vollkommen unempfindlich für ihn. Ich habe

Mein Sohn regt sich jetzt und setzt sich auf. Er reibt sich die Augen und wird mit dem Blick auf das Château de Roussignol belohnt. Ich habe es bisher nur auf Fotos gesehen, das aber in jedem einzelnen Stadium der Renovierung. Am Anfang war es eine heruntergekommene Ruine. Das war, noch bevor William sprechen konnte. Damals schickte mir Adam regelmäßig E-Mails mit angehängten Bildern des Châteaus. Alle hielten ihn für verrückt, als er es kaufte.

Man konnte erkennen, dass es ein herrschaftliches Gebäude war, aber nur, wenn man viel Phantasie und ein scharfes Auge besaß, denn die Mauern waren vollkommen überwuchert. Es gab keine Elektrizität, Mäuse unter den Dielen, und die Rohrleitungen stammten aus grauer Vorzeit. Aber trotz aller seiner Fehler war Adam entschlossen genug, sich der Aufgabe zu stellen, das muss ich zugeben.

Die E-Mails, die drei Jahre lang jeden Monat in meiner Mailbox aufpoppten, erlaubten mir einen Einblick in sein neues Leben, um den ich nie gebeten hatte: die körperliche Arbeit, seine besessene Planung, seine unglaublich ehrgeizige Vision für das Château. Ich machte mir die ganze Zeit Sorgen, dass das finanzielle Risiko zu groß war und er womöglich den Kindesunterhalt würde senken müssen, ohne den wir in den ersten Jahren nicht hätten überleben können.

Ich las seine Mails mit einer Mischung aus Interesse, Eifersucht, Wut und Verzweiflung. Aber im Nachhinein glaube ich, dass er sie nur deshalb schrieb, weil er das beinahe

Als unser Sohn fast drei war, war klar, dass Adam es geschafft hatte. Das Château war fast fertig. Ich wollte auf keinen Fall bitter werden, nicht angesichts seines Erfolges, für den er immerhin hart gearbeitet hatte. Wobei ich zugeben muss, dass ich es kaum glauben konnte, wie schnell er nach unserer Trennung mit einer anderen schlief, während ich noch mit wunden Brustwarzen, Schlafentzug und der Vorstellung kämpfte, dass mein Tag dann erfolgreich war, wenn ich es schaffte, mir vor drei Uhr nachmittags die Zähne zu putzen.

«Sind wir da?», fragt William und strahlt. «Wow, das ist aber toll, oder?»

«Das ist es. Dein Dad hat ganze Arbeit geleistet.»

Das Château ist umwerfend schön, eher ein französisches Herrenhaus als das, was ich mir unter einem Schloss vorstelle, aber mit aller Pracht und allem neoklassizistischem Glanz, den man sich nur wünschen kann. Es hat drei Stockwerke, und über den cremefarbenen Mauern thront ein silbrig graues Dach. Die riesigen Fenster sind von muschelfarben lackierten Fensterläden eingerahmt. Zwei Steinstufen mit einem verschnörkelten gusseisernen Geländer führen zu einer großen Rundbogentür. Ein hoher, mit Efeu überwucherter Balkon gibt den Blick auf die Kiesauffahrt frei, die von üppigen Zypressen gesäumt ist. Töpfe mit bunten Blumen stehen davor.

Wir suchen uns einen Parkplatz. Der Duft von Thymian und Lavendel liegt in der Luft, und man hört nur das sanfte Rauschen der Bäume und den Gesang der Nachtigallen.

«Ich kann es kaum erwarten, Dad zu sehen», sagt William. «Kommt er, um uns zu begrüßen?»

Adam hat geschworen, in der Sekunde unserer Ankunft herauskommen und William in den Arm nehmen zu wollen, aber das erwähne ich lieber nicht. Immerhin sprechen wir von Adam, und weil er auf die SMS nicht geantwortet hat, die ich ihm vor einer Stunde an der Tankstelle geschickt habe, will ich nichts riskieren. Ich schalte den Motor aus und öffne die Fahrertür.

«Komm, wir gehen ihn suchen», schlage ich vor und steige aus. «Er erkennt dich sicher gar nicht wieder. Du bist ja mindestens fünf Zentimeter gewachsen, seit ihr euch zum letzten Mal gesehen habt.»

Wir haben Adam seit Weihnachten nur ein Mal gesehen. Da war er bei seiner neuen Freundin Elsa in London zu Besuch. Wie die meisten Frauen, die Adam nach mir gedatet hat, ist auch Elsa einige Jahre jünger als er und buchstäblich atemlos in seiner Gegenwart, seinen funkelnden Blicken vollkommen ausgeliefert.

Ich kann mir kaum vorstellen, dass ich ihm gegenüber einmal dieselben Gefühle hatte, aber es muss wohl so gewesen sein. Wir waren mehr als drei Jahre zusammen, einige Zeit davon auch verliebt, und haben immerhin ein Baby gemacht, wenn das auch eher ein Unfall war. Das war, bevor ich begriff, dass Adam es genauso meinte, als er sagte, dass er niemals Vater werden wollte. Er gab bereitwillig zu, dass er einfach nicht aus demselben Holz geschnitzt war wie mein eigener Vater. Der nun wirklich weit entfernt davon ist, perfekt zu sein, aber dessen Liebe in meinem Leben immer gegenwärtig war, ob er mit mir mit meinem Puppenhaus spielte oder mir später das Autofahren beibrachte. Diese Dinge interessierten Adam

Und deswegen musste ich unsere Beziehung beenden. Es war die traurigste Entscheidung meines Lebens. Aber ich hatte keine Wahl.

Wir betreten die kühle Empfangshalle und gehen an den langen, uralt wirkenden Tresen, auf dem eine bauchige Glasvase mit üppigen, stark duftenden Blumen steht. Daneben liegt eine weiße Schreibunterlage. Der Designerstuhl hinter dem Tresen ist leer, weshalb William ein paarmal die silberne Klingel betätigt.

Wir werden von einer jungen Frau in einem kurzen schwarzen Rock, einer weißen Bluse und Ballerinas begrüßt. Sie hat glatte, taufrische Haut, leuchtend weiße Zähne und langes blondes Haar, das wie bei einem Dressurpferdchen zusammengebunden ist.

«Kann ich Ihnen helfen?» Sie ist Engländerin und spricht mit der hohen, selbstsicheren Stimme, die auf eine gute Herkunft und eine gewisse gesellschaftliche Stellung weist. Ich würde sagen, dass sie Mitte zwanzig ist. Sie ist keineswegs dünn, aber nichts an ihr wabbelt, außer den Körperteilen, die wabbeln sollen. Und die wabbeln sogar ziemlich.

«Wir haben eines der Ferienhäuschen reserviert. Der Name ist Pendleton. Jessica.»

Auf ihrem Gesicht breitet sich ein Lächeln aus, als hätte sie gerade erfahren, dass Schokoladenostereier keine Kalorien haben.

«Jess! Ich bin Simone.» Sie legt ihren Stift hin, marschiert

«Und du musst William sein!»

William tritt von einem Fuß auf den anderen. «Ja.»

Sie lächelt immer noch breit. «Du siehst ja wirklich genauso aus wie dein Dad!»

Er ist erfreut. «Oh.»

«Ehrlich, wie aus dem Gesicht geschnitten. Einfach unglaublich gutaussehend.» Williams Wangen färben sich dunkelrot. «Ich bin jedenfalls begeistert, euch beide kennenzulernen. Und, William, wir beide werden sicher noch viel miteinander zu tun haben, denn ich konnte Adam davon überzeugen, dass wir in diesem Sommer auch Aktivitäten für Kinder anbieten, die ich organisieren werde.»

William grinst jetzt ebenfalls. Man könnte einen Bleistift in seine Wangengrübchen stecken, so breit lächelt er.

«Wenn du Fußball magst, bist du hier genau richtig. Soll ich dich in die Liste eintragen?»

William ist das einzige Kind in seiner Klasse und wahrscheinlich in der gesamten 89-jährigen Geschichte seiner Schule, das sich einen feuchten Kehricht für dieses Spiel interessiert.

«Ähm … ja», antwortet er. Ich blinzele überrascht.

«Für welche Mannschaft bist du denn?»

Er schluckt. «Manchester.»

«City oder United?», hakt sie nach.

«Ähm … beide.»

Sie kichert, und er stimmt ein. Sie schaut in ihren Computer. «Gut, also dann checken wir euch mal in euer

«Es kommt noch eine dritte Person dazu, stimmt das?»

«Ja, meine Freundin Natasha, aber erst in ungefähr einer Woche.»

«Ah, verstehe. Geputzt ist schon. Ich kann euch hinbringen.»

Sie verschwindet in ein Hinterzimmer und holt einen Schlüssel. Dann geht sie mit uns hinaus in den strahlenden Sonnenschein und springt in einen Golfwagen, während William und ich ihr in unserem Wagen hinterherfahren.

«Na, die ist doch nett, oder?», sage ich.

«Ja, und sie riecht so gut», erwidert William begeistert. Dazu fällt mir keine angemessene Antwort ein.

Die Straße führt um das Château herum, auf einen wunderschönen Pool zu, an dem sonnengelbe Liegen und passende Sonnenschirme stehen. Eine Handvoll junger Familien ist hier; Kleinkinder in Surfanzügen mit bretonischen Matrosenstreifen und auch Kinder in Williams Alter plantschen im Wasser.

Von der Barterrasse, auf der ein paar Tische und Stühle stehen, hat man Aussicht auf den Pool. Sie liegt im Schatten einer mit duftendem, blühendem Geißblatt berankten Pergola. Weiter hinten entdecke ich einen Tennisplatz, ein Fußballfeld und eine knallbunte Spielecke, alles inmitten gepflegter Gärten und romantischer Rosen- und Lavendelbeete.

Auf dem Weg zu einer bewaldeten Ecke des Grundstücks entdecke ich einen Wegweiser zu Les Écuries – den Ställen. Die Temperatur fällt im Schatten der Bäume, und nach kurzer Fahrt erreichen wir einen kleinen Parkplatz neben ein paar

«Es ist wunderschön», sage ich zu Simone, als wir über den staubigen Hof zur Tür ganz am Ende gehen. «Wie viele Ferienhäuschen gibt es hier denn?»

«Einundzwanzig. Einige von ihnen haben zwei Zimmer, andere drei. Nicht alle sind alte Stallgebäude – die ehemaligen Dienstbotenquartiere auf der anderen Seite des Grundstücks sind ebenfalls renoviert.» Sie beugt sich zu mir und flüstert: «Aber diese hier sind die hübschesten. Und sie sind nur ein paar Minuten zu Fuß vom Château entfernt.» Sie lässt einen gusseisernen Schlüssel in das Schloss der dicken alten Holztür gleiten und stößt sie auf.

Innen ist das Ferienhäuschen schlicht und rustikal gehalten, mit hell gefliestem Boden und einer offenen Küche. Als Erstes fällt der große, altmodische Kamin ins Auge, vor dem zwei kleine blaue Sofas stehen. Es gibt einen großen Esstisch, und die Küche ist mit einer tiefen Keramikspüle, gusseisernen Töpfen, die an den Wänden hängen, und einer Arbeitsfläche aus dicken Eichenplanken ausgestattet. Die Schlafzimmer sind weiß getüncht und haben Balken an der Decke. Hübsch gemusterte Tagesdecken liegen auf den Betten, daneben auf den Nachttischchen stehen Emailvasen.

«Es ist wunderhübsch. Vielen Dank», sage ich. William sucht sich schon sein Zimmer aus.

«Adam wird sich freuen, dass ihr es mögt», entgegnet sie.

«Und … wo ist er?»

«Oh! Ich sollte euch noch sagen, dass er diesen Nachmittag einen Termin hat», erwidert sie vage. «Er wollte bei eurer Ankunft hier sein, aber der Termin war unaufschiebbar.» Ich beiße mir auf die Unterlippe und nicke höflich.

«Dieses Auto packt sich nicht von alleine aus», sage ich zu William, als Simone gegangen ist. «Wenn ich es vor die Tür fahre, hilfst du mir dann?»