Buch
Wir befinden uns im Jahr 2016, und in der Welt des Tom Barren hat die Technologie alle Probleme der Menschheit gelöst: Es gibt keine Kriege mehr, keine Armut, keine unreifen Avocados. Leider kann Tom all das nicht wirklich genießen, denn er ist zutiefst unglücklich: So starb nicht nur seine Mutter viel zu früh und ließ den Heranwachsenden allein zurück mit einem zwar genialen, aber lieblosen Vater. Tom hat zudem gerade auch noch die Frau seiner Träume verloren.
Eine wirklich verzweifelte Lage, und die führen oft zu verzweifelten Taten. Da kommt es Tom gelegen, dass sein Vater eine Zeitmaschine erfunden hat. Doch als Tom damit in die Vergangenheit reist, um alles irgendwie wiedergutzumachen, richtet er ein fürchterliches Chaos an. Ein Chaos, das ihn am Ende wieder in die Gegenwart katapultiert – allerdings ist diese so ganz anders als die perfekte Gegenwart, aus der er gestartet ist. Sie ist unordentlich und allzu menschlich, voller Fehler und Unvollkommenheiten: Es ist unsere ganz normale Alltagswelt, in der Tom sich anfangs so gar nicht zurechtfindet. Er möchte eigentlich sofort sein perfektes Zuhause wiederherstellen. Bis er in dieser neuen, unperfekten Welt auf eine wunderbare alternative Version seines eigenen Lebens trifft: eine liebende Familie, einen erfüllenden Beruf und eine Version seiner Traumfrau, die noch viel liebenswerter und menschlicher ist als die, die er für immer verloren glaubte. Die wahre Liebe seines Lebens. Doch darf man sich sein Leben einfach so aussuchen? Darf man eine perfekte Welt zerstören, auch wenn es für die eine große Liebe ist? Toms Suche nach der Antwort auf diese Fragen schickt ihn auf eine ebenso spannende wie mitreißende Reise quer durch alle Kontinente und durch etliche Jahrzehnte …
Autor
Elan Mastai wurde in Vancouver geboren und lebt heute mit seiner Frau und seinen Kindern in Toronto. Als Drehbuchautor wurde er bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. »Die beste meiner Welten« ist sein erster Roman.
Elan Mastai
Die beste meiner Welten
Roman
Deutsch von Rainer Schmidt
Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »All our wrong todays« bei Dutton, an imprint of Penguin Random House LLC, New York.
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1. Auflage
Copyright © der Originalausgabe 2016 by Elan Mastai
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Published by arrangement with TYPEWRITER BOOKS INC.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Redaktion: Alexander Behrmann
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München, unter Verwendung eines Entwurfs von Penguin Random House UK
Umschlagmotiv: © Mike Kemp/Getty Images
TH · Herstellung: Han
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-20502-7
V001
www.goldmann-verlag.de
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Für meine Frau
1
Die Sache ist also die: Ich komme aus der Welt, die wir haben sollten. Das sagt Ihnen natürlich nichts, denn Sie leben hier, in der beschissenen Welt, die wir haben. Aber die hätte nie so werden sollen. Und daran bin nur ich schuld – na ja, ich und in einem geringeren Maße mein Vater und, ja, ein bisschen vermutlich auch Penelope.
Es ist schwer zu sagen, wie man diese Geschichte anfangen soll. Aber okay – Sie kennen die Zukunft, die sich die Leute in den fünfziger Jahren für uns vorgestellt haben? Fliegende Autos, Dienstmädchenroboter, Nahrungspillen, Teleportation, Raketenrucksäcke, Fließbandgehwege, Strahlenpistolen, Hoverboards, Ferien im Weltraum und Stützpunkte auf dem Mond. Die ganze chromblitzende, alles verwandelnde Technologie, von der unsere Großeltern sicher waren, dass sie gleich um die Ecke auf sie wartete. Alles, was man auf Weltausstellungen zu sehen bekam und in Science-Fiction-Heften mit Titeln wie Fantastic Future Tales und The Amazing World of Tomorrow lesen konnte. Sehen Sie es vor sich?
Tja, es war auch so.
Es ist alles so gekommen, mehr oder weniger genau so, wie man es sich vorgestellt hatte. Ich rede nicht von der Zukunft. Ich rede von der Gegenwart. Heute, im Jahr 2016, lebt die Menschheit in einem techno-utopischen Paradies voller Überfluss, Sinn und Wunder.
Bloß, wir tun es nicht. Natürlich nicht. Klar, wir leben in einer Welt, wo es iPhones und 3D-Drucker gibt und, was weiß ich, Drohnenschläge und alles Mögliche. Aber es sieht wohl kaum aus wie bei den Jetsons. Auch wenn es so aussehen sollte. Und das hat es auch getan. Aber dann nicht mehr. Beziehungsweise es würde noch so aussehen, wenn ich nicht getan hätte, was ich getan habe. Oder, nein, Moment, was ich getan haben werde.
Tut mir leid, aber selbst mit der besten Ausbildung, die man als Bürger der Welt von morgen genossen haben kann, muss man die Grammatik dieser Situation als ziemlich kompliziert empfinden.
Vielleicht ist es falsch, diese Geschichte in der ersten Person zu erzählen. Wenn ich mich in die dritte Person flüchte, werde ich vielleicht ein bisschen Distanz oder Einsicht oder Seelenfrieden finden. Einen Versuch ist es wert.
2
Tom Barren erwacht in seinem eigenen Traum.
Jede Nacht, wenn er schläft, kartografieren Neuralscanner seine Träume, sodass seine bewussten wie auch seine unbewussten Gedankenmuster effizient nachgebaut werden können. Jeden Morgen senden die Neuralscanner die Daten des aktuellen Traumzustands in ein Programm, das eine virtuelle Projektion in Echtzeit generiert, in die er beim Aufwachen nahtlos übergeleitet wird. Der planlose Plot des Traums wird zunehmend linear und klar, bis im Augenblick des vollen Bewusstseins eine psychologisch erfreuliche Lösung erreicht wird …
Tut mir leid – ich kann so nicht schreiben. Es ist unecht. Es ist risikolos.
Die dritte Person ist deshalb so beruhigend, weil sie alles unter Kontrolle hat. Das ist ein wirklich angenehmes Gefühl, wenn über Ereignisse berichtet wird, die so oft außer Kontrolle geraten sind. Es ist, wie wenn ein Naturwissenschaftler eine biologische Probe beschreibt, die er durch ein Mikroskop betrachtet. Aber ich bin nicht das Mikroskop. Ich bin das Ding auf der Glasplatte. Und ich schreibe das hier nicht, damit ich mich wohlfühle. Wenn ich Wohlbehagen wollte, würde ich einen Roman schreiben.
In einem Roman fügt man all diese atmosphärischen, aufschlussreichen Details zu einem Porträt der Welt zusammen. Aber im Alltag bemerkt man diese Kleinigkeiten kaum. Das kann man gar nicht. Der Verstand rauscht an allem vorbei, erst recht, wenn man zu Hause ist an einem Ort, der praktisch kaum zu trennen ist von der Innenseite des Verstandes oder der Außenseite des Körpers.
Wenn man aus einem echten in einen virtuellen Traum erwacht, ist es, als wäre man auf einem Schlauchboot, das hierhin und dorthin rast, je nachdem, wo die verschwommenen, undurchschaubaren Strömungen des Unbewussten es hintragen, bis man auf einen weiten, ruhigen, flachen See hinaustreibt und die schlüpfrige, nervenaufreibend gespenstische Szene sich zu heitergelassener, beruhigender Klarheit auflöst. Die Geschichte kommt zu einem Abschluss, der sich richtig anfühlt, und so beunruhigend ihr Inhalt auch sein mag, man erwacht doch mit dem erfrischenden Gefühl, dass eine solide Ordnung wiederhergestellt ist. Und dann erkennt man, dass man im Bett liegt, bereit, den Tag in Angriff zu nehmen, und zwar ohne diese klebrigen Knorpel des Unbewussten, die noch in den engen Falten des Geistes hängen.
Vielleicht ist es das, was ich von der Welt, aus der ich komme, am meisten vermisse. Denn in dieser Welt hier ist das Aufwachen beschissen.
Hier hat anscheinend kein Mensch je daran gedacht, auch nur die rudimentärste Technologie anzuwenden, um diesen Vorgang erträglicher zu machen. Matratzen vibrieren nicht unterschwellig, um die Muskulatur zu lockern. Kein Ventil reinigt den Körper mit punktgenauen Dampfstrahlen, während er schlummert. Ich meine – Bettdecken bestehen hier aus Büscheln von Pflanzenfasern, die zu Fäden verzwirbelt und gelegentlich mit Federn vollgestopft sind. Mit Federn. Von richtigen Vögeln. Das Aufwachen sollte der beste Augenblick des Tages sein, der unbewusste und der bewusste Verstand synchronisiert und harmonisch.
Zum Ankleiden gehört ein Automat, der jeden Morgen ein neues Outfit zuschneidet und näht, und zwar nach Maßgabe des persönlichen Stils und Körpertyps. Das Material besteht aus den lasergehärteten Fasern eines lichtempfindlichen Flüssigpolymers, die über Nacht für die tägliche Verwendung recycelt werden. Zum Frühstück produziert ein ähnlicher Automat eine dem jeweiligen Appetit entsprechende Mahlzeit aus einem nährstoffreichen Gel, das nach strengen Maßgaben in Bezug auf Farbe, Geschmack und Textur zusammengemischt wird. Das mögen Sie eklig finden, aber in der Praxis ist es nicht zu unterscheiden von dem, was Sie für richtiges Essen halten, nur dass es auf eine sehr individuelle Weise auf die Geschmacksrezeptoren Ihrer Zunge abgestimmt ist, sodass jedes Mal ein ideales Geschmacksempfinden zustande kommt. Sie kennen das enttäuschende Gefühl, das Sie befällt, wenn Sie eine Avocado aufschneiden, nur um festzustellen, dass sie entweder hart oder unreif oder unter der Schale braun und fleckig ist? Tja, ich wusste nicht, dass so etwas vorkommen kann, ehe ich herkam. Jede Avocado, die ich bis dahin gegessen hatte, war perfekt.
Es ist verrückt, mit Wehmut an Erlebnisse zu denken, die stattgefunden und zugleich doch nicht stattgefunden haben. Zum Beispiel, morgens komplett erholt aufzuwachen. Mir war nicht mal klar, dass ich so etwas als selbstverständlich betrachten konnte. Es war einfach so. Aber genau das ist natürlich der springende Punkt: So, wie es war … war es nie.
An eins jedoch denke ich nicht mit Wehmut zurück: Jeden Morgen, wenn ich in dieser glitzernden Utopie aufwachte und mich anzog und frühstückte, war ich allein.
3
Am 11. Juli 1965 erfand Lionel Goettreider die Zukunft.
Natürlich haben Sie noch nie von ihm gehört. Aber da, wo ich herkomme, ist Lionel Goettreider der berühmteste, meistgeliebte, bestgeachtete Mensch auf dem Planeten. In jeder Stadt sind etliche Straßen, Gebäude, Parks, alles Mögliche nach ihm benannt. Mit Hilfe des einprägsamen mnemotechnischen Liedchens kann jedes Kind seinen Namen buchstabieren: G-O-E-T-T-R-E-I-D-E-R.
Sie haben keine Ahnung, wovon ich rede. Aber wenn Sie daher kämen, wo ich herkomme, wäre das Liedchen Ihnen so vertraut wie das A-B-C-Lied. Vor einundfünfzig Jahren erfand Lionel Goettreider eine revolutionäre Methode, um unerschöpfliche, robuste, absolut reine Energie zu gewinnen. Seine Erfindung nannte man bald nur die Goettreider-Maschine. Der 11. Juli 1965 war der Tag, an dem er sie zum ersten Mal einschaltete. Sie machte alles möglich.
Stellen Sie sich vor, in den letzten fünfzig Jahren hätte es keinerlei Energieeinschränkungen gegeben. Keine Notwendigkeit, tiefer und immer tiefer in die Erde zu bohren und den Himmel schmutziger und immer schmutziger zu machen. Atomenergie war unnötig tumultuös, Kohle und Öl waren von sinnloser Düsternis. Sonne-, Wind- und selbst Wasserkraft wurden zu altmodischen Lo-Fi-Alternativen, für die sich niemand mehr interessierte, außer vielleicht ein paar schrulligen Aussteigertypen.
Und wie funktionierte die Goettreider-Maschine?
Wie funktioniert Elektrizität? Wie funktioniert ein Mikrowellenofen? Wie funktioniert Ihr Smartphone, Ihr Fernseher, Ihre Fernbedienung? Verstehen Sie das wirklich auf der, sagen wir, konkreten technischen Ebene? Wenn diese Geräte verschwänden, könnten Sie sie neu entwickeln, entwerfen, von Grund auf rekonstruieren? Und wenn nicht, warum nicht? Sie benutzen sie doch praktisch jeden Tag.
Aber natürlich können Sie es nicht. Denn wenn Sie beruflich nichts damit zu tun haben, brauchen Sie es auch nicht zu wissen. Sie funktionieren einfach, problemlos, wie sie es sollen.
Da, wo ich herkomme, verhält es sich mit der Goettreider-Maschine genauso. Sie war wichtig genug, um den Namen Goettreider so bekannt zu machen wie Einstein oder Newton oder Darwin. Aber wie sie funktionierte? Technisch, meine ich? Ich kann es Ihnen wirklich nicht sagen.
Sie wissen grundsätzlich, wie ein Staudamm Energie produziert? Turbinen machen die natürliche Triebkraft des Wassers, das der Gravitation folgend abwärts fließt, nutzbar, um Elektrizität zu erzeugen. Zugegeben, das ist ungefähr alles, was ich über Wasserkraft weiß. Die Schwerkraft zieht das Wasser nach unten, und wenn man eine Turbine hineinhängt, dreht das Wasser sie und erzeugt dabei irgendwie Energie.
Das Gleiche macht die Goettreider-Maschine mit dem Planeten. Sie wissen, dass die Erde sich um ihre Achse dreht und zugleich um die Sonne kreist, während die Sonne endlos durch das Sonnensystem wandert. Wie das Wasser die Turbine antreibt, nutzt die Goettreider-Maschine die unaufhörliche Rotation des Planeten, um grenzenlose Energie zu produzieren. Das hat etwas mit Magnetismus und Gravitation zu tun, und … ehrlich, ich weiß es nicht. Ich weiß auch nicht, wie eine Alkali-Mangan-Batterie funktioniert, ein Verbrennungsmotor oder eine Glühlampe. Sie funktionieren einfach.
So ist es auch mit der Goettreider-Maschine. Sie funktioniert einfach.
Hat sie jedenfalls. Bevor – Sie wissen schon. Bevor ich kam.
4
Ich bin beileibe kein Genie. Wenn Sie bis hierher gelesen haben, ist Ihnen das bereits klar.
Mein Vater dagegen ist ein anerkanntes, ausgewachsenes Genie erster Güte. Nachdem er seinen dritten Doktortitel erworben hatte, arbeitete Victor Barren ein paar entscheidende Jahre auf dem Gebiet der Langstrecken-Teleportation, bevor er sein eigenes Labor gründete, um in einer speziellen Nische seines Fachs zu forschen. Sein Interesse galt der Zeitreise.
Selbst da, wo ich herkomme, galten Zeitreisen als mehr oder weniger unmöglich. Übrigens nicht wegen der Zeit, sondern wegen des Raums.
Aus folgendem Grund ist jeder Zeitreise-Film, den Sie bisher gesehen haben, absoluter Blödsinn: weil die Erde sich bewegt.
Das wissen Sie. Außerdem habe ich es im letzten Kapitel erwähnt. Die Erde dreht sich einmal am Tag um sich selbst, kreist einmal im Jahr um die Sonne, und die Sonne legt ihre eigene kosmische Strecke im Sonnensystem zurück und rast selbst durch eine Galaxie, die auf ihrer epischen Bahn durch das Universum zieht.
Der Boden unter Ihren Füßen bewegt sich sehr schnell. Am Äquator rotiert die Erde mit mehr als 1000 Meilen pro Stunde, vierundzwanzig Stunden am Tag, während sie die Sonne mit etwas mehr als 67 000 Meilen pro Stunde umkreist. Das macht 1 600 000 Meilen pro Tag. Unterdessen ist unser Sonnensystem im Verhältnis zu der Galaxie namens Milchstraße mit mehr als 1 300 000 Meilen pro Stunde unterwegs und legt so am Tag knapp 32 000 000 Meilen zurück. Und so weiter.
Wenn Sie in der Zeit nach gestern zurückreisen würden, wäre die Erde an einem anderen Ort im Raum. Und selbst wenn Sie nur eine Sekunde zurückreisen, hätte die Erde sich unter Ihren Füßen um fast einen halben Kilometer bewegt. In einer Sekunde.
Filme über Zeitreisen sind also allesamt Unsinn, weil die Erde sich bewegt, ständig und immer. Reisen Sie um einen Tag in die Vergangenheit, landen Sie nicht da, wo Sie waren, sondern im klaffenden Vakuum des Weltalls.
Marty McFly ist nicht dreißig Jahre früher in seiner Heimatstadt Hill Valley, Kalifornien, aufgetaucht. Sein aufgepimpter DeLorean ist in der endlos leeren Schwärze des Kosmos erschienen, ungefähr 350 000 000 000 Meilen weit von der Erde entfernt. Vorausgesetzt, er verlor nicht sofort das Bewusstsein wegen Sauerstoffmangels, würde die Abwesenheit des Luftdrucks alle seine Körperflüssigkeiten zum Brodeln bringen, teilweise verdampfen und gefrieren lassen. Er wäre in weniger als einer Minute tot.
Der Terminator würde im All wahrscheinlich überleben, weil er ein unaufhaltsamer Killerroboter ist, nach der Reise von 2029 nach 1984 hätte Sarah Connor allerdings einen Vorsprung von 525 000 000 000 Meilen.
Bei einer Zeitreise geht es nicht nur darum, in der Zeit zurückzureisen. Man muss auch punktgenau an einen bestimmten Ort im Raum zurückkehren. Sonst landet man genau wie bei der guten alten Teleportation am Ende in etwas anderem.
Denken Sie nur mal daran, wo Sie jetzt gerade sitzen – sagen wir, auf einer olivgrünen Couch. Eine weiße Keramikschale mit nachgemachten grünen Birnen und echten braunen Kiefernzapfen steht neben Ihren Füßen auf dem Teakholz-Couchtisch. Eine Stehlampe aus mattem Edelstahl leuchtet Ihnen über die Schulter. Ein grober Teppich liegt auf den Bodendielen aus aufgearbeiteten alten Scheunenbrettern, die viel zu teuer waren, aber ziemlich toll aussehen …
Wenn Sie sich nur ein paar Zollbreit in irgendeine Richtung teleportieren, sind Sie Teil eines massiven Gegenstands. Nur einen Zoll tief, und Sie sind verletzt. Zwei, und Sie sind verstümmelt. Drei, und Sie sind tot.
In jeder Sekunde des Tages sind wir alle nur drei Zoll weit davon entfernt, tot zu sein. Teleportation ist deshalb nur dann sicher und effizient, wenn sie zwischen zwei genau festgelegten Punkten innerhalb eines präzise kalibrierten Systems stattfindet.
Die frühe Arbeit meines Vaters auf dem Gebiet der Teleportation war deshalb so wichtig, weil sie ihm half, die Mechanik der Diskorporierung und Wiederzusammenfügung eines menschlichen Körpers zwischen zwei definierten Punkten zu verstehen. Bei allen bisherigen Zeitreiseversuchen war dies das Hindernis. Die Umkehrung des Zeitstroms ist gar nicht so kompliziert. Unerhört kompliziert ist die verzögerungsfreie Reise durch den Raum, möglicherweise über Milliarden von Meilen hinweg und mit absoluter Zielgenauigkeit.
Das Genie meines Vaters arbeitete nicht nur an der Lösung der theoretischen und logistischen Herausforderungen der Zeitreise. Es zeigte sich auch in der Einsicht, dass unser Retter in dieser Frage – wie in so vielen anderen Zusammenhängen des Alltagslebens – Lionel Goettreider hieß.
5
Die erste Goettreider-Maschine wurde einmal ein- und nie wieder ausgeschaltet. Sie läuft ohne Unterbrechung seit Sonntag, dem 11. Juli 1965, 14 Uhr 03.
Goettreiders erste Maschine war dazu gedacht, große Mengen von Energie zu bändigen und abzugeben. Sie war ein experimenteller Prototyp, dessen Leistung die grandiosesten Erwartungen seines Erfinders übertraf. Aber das Entscheidende an einer Goettreider-Maschine ist ja, dass sie niemals abgeschaltet werden muss, genau wie auch der Planet niemals aufhört, sich zu drehen. Also lief der Prototyp immer weiter, nachdem er einmal eingeschaltet worden war – vor einer kleinen Gruppe von sechzehn Beobachtern in einem Kellerlabor in Sektion B7 des San Francisco State Science and Technology Center.
Da, wo ich herkomme, kennt jedes Schulkind die Namen und Gesichter der Sechzehn Zeugen. Über jeden einzelnen von ihnen wurden zahlreiche Bücher geschrieben, und ihre Anwesenheit bei diesem beispiellosen Wendepunkt der Geschichte wurde als definierendes Moment in die Chronologie ihres jeweiligen Lebens eingearbeitet, ob dies den Tatsachen entsprach oder nicht.
Unzählige Kunstwerke haben Die Einschaltung der Goettreider-Maschine dargestellt. Sie ist Das letzte Abendmahl der modernen Welt, und jedes der sechzehn Gesichter repräsentiert eine bestimmte, klar kodifizierte Reaktion. Skepsis. Ehrfurcht. Bestürzung. Amüsiertheit. Neid. Zorn. Nachdenklichkeit. Angst. Unbeteiligtheit. Besorgnis. Aufregung. Gelassenheit. Panik. Dann noch drei. Verdammt, das sollte ich eigentlich wissen …
Als der Prototyp eingeschaltet wurde, wollte Goettreider eigentlich nur seine Berechnungen verifizieren und beweisen, dass seine Theorie nicht völlig fehlgeleitet war. Die Maschine brauchte nur zu laufen. Und sie lief auch, aber sie hatte einen größeren Defekt. Sie gab eine einzigartige Strahlungssignatur ab, die später Tau-Strahlung genannt werden sollte – eine kleine Reverenz an die Verwendung des griechischen Buchstabens Tau, mit dem die Physik in Relativitätsgleichungen den richtigen Zeitpunkt bezeichnet.
Als sich die wundersamen, energieproduzierenden Kapazitäten der Maschine ausbreiteten und allmählich die ganze Welt antrieben, wurde die Tau-Strahlungssignatur bei den im großen Maßstab industrietauglichen Modellen eliminiert. Aber der Prototyp lief weiter und theoretisch bis in alle Ewigkeit in Goettreiders Labor in San Francisco – das inzwischen eins der meistbesuchten Museen des Planeten ist –, weil Respekt, Nostalgie und eine unzweideutige Klausel in Goettreiders Testament es so bestimmten.
Mein Vater hatte die Idee, die Tau-Strahlungssignatur des Prototyps als Brotkrumenspur durch Raum und Zeit zu benutzen, jede Krume so groß wie ein Atom, ein zusammengeknoteter Faden in die Vergangenheit, der sich durch den Kosmos schlängelte und im wichtigsten Augenblick der Geschichte verankert war – im Sonntag, dem 11. Juli 1965 um 14:03:48 Uhr, in exakt der Sekunde, in der Goettreider die Zukunft in Gang setzte. Das bedeutete, dass mein Vater nicht nur in der Lage war, jemanden zu einem sehr konkreten Augenblick in der Zeit zurückzusenden, sondern dass die Spur der Tau-Strahlung den Betreffenden auch zu einem genau bestimmten Ort zurückbringen konnte – in Lionel Goettreiders Labor, kurz bevor die Welt sich für immer veränderte.
Mit dieser Erkenntnis hatte mein Vater so gut wie jedes Einzelteil des Zeitreisepuzzles gefunden. Nur eins fehlte noch, eine Kleinigkeit im Vergleich mit dem Transport eines empfindsamen Menschen in die Vergangenheit, aber bedeutend insofern, als ja dabei nicht versehentlich die Gegenwart zertrümmert werden durfte: Es musste sichergestellt werden, dass der Zeitreisende die Vergangenheit in keiner spürbaren Weise beeinflussen konnte. Im Plan meines Vaters gab es mehrere entscheidende Sicherheitsvorkehrungen, aber die einzige, die mich interessiert, ist die Defusionssphäre. Denn ihretwegen kollidierte Penelope Weschlers Leben mit meinem.
6
Fast jeder Gegenstand auf dem Gebiet von Kunst und Unterhaltung ist in dieser Welt hier anders. Zu Anfang waren die Variationen eher unbeträchtlich, aber als die Sechziger zu Ende gingen und die gewaltigen technologischen und gesellschaftlichen Sprünge der Siebziger folgten, änderte sich beinahe alles. Jahrzehnte einer Popkultur, die es nie gegeben hat, fünfzig Jahre, in denen Schriftsteller, Maler und Musiker einen ganz anderen Korpus von Werken schufen. Manchmal finden sich faszinierende Parallelen – ein unvollendeter Strang in einer Story, der in einer anderen zum Höhepunkt führt, eine Textzeile aus dem Mund der falschen Figur, eine auffallende, visuelle Komposition im Rahmen eines neuen Kontexts, eine vertraute Akkordfolge mit radikal verändertem Text.
Der 11. Juli 1965 war der Wendepunkt der Geschichte, auch wenn es da noch niemand wusste.
Zum Glück wurde Lionel Goettreiders Lieblingsroman schon 1963 veröffentlicht: Katzenwiege von Kurt Vonnegut Jr.
Vonnegut schreibt anders, wo ich herkomme. Hier hat man allem Witz und Scharfsinn zum Trotz den Eindruck, dass er glaubte, ein Romanautor könne keinen wirklichen Einfluss auf die Welt ausüben. Er war gezwungen zu schreiben, aber er hatte wenig Vertrauen darauf, dass sein Schreiben etwas verändern könnte.
Weil Katzenwiege einen so starken Einfluss auf Lionel Goettreider hatte, galt Vonnegut als einer der bedeutendsten Philosophen des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts. Für Vonnegut persönlich war das wahrscheinlich gut, für seine Romane hingegen eher nicht, denn sie wurden zunehmend predigthaft.
Ich werde Ihnen keine Zusammenfassung von Katzenwiege liefern. Es ist kurz und sehr viel besser geschrieben als dieses Buch hier. Also lesen Sie es einfach. Es ist müde, frech und weise – meine drei Lieblingseigenschaften bei Menschen und Kunstwerken.
Nebenbei gesagt – »müde, frech und weise« sind die drei kodifizierten Reaktionen, die mir vorhin bei den Sechzehn Zeugen der Einschaltung nicht einfallen wollten.
Katzenwiege handelt von vielen Dingen, aber ein wesentlicher Bestandteil des Plots dreht sich um die Erfindung von Eis-9, einer Substanz, die alles gefrieren lässt, was mit ihr in Berührung kommt. Ihr Schöpfer verliert die Kontrolle über sie, und sie zerstört alles Leben auf dem Planeten.
Lionel Goettreider las Katzenwiege und gewann eine entscheidende Erkenntnis. Er sprach von dem »Unfall«: Wenn man eine neue Technologie erfindet, erfindet man auch den Unfall, zu dem diese Technologie führen kann.
Mit der Erfindung des Autos erfindet man auch den Autounfall. Mit dem Flugzeug erfindet man den Flugzeugabsturz. Mit der Kernspaltung erfindet man die Kernschmelze. Und wenn man Eis-9 erfindet, erfindet man auch die Möglichkeit, aus Versehen den ganzen Planeten einzufrieren.
Als Lionel Goettreider die Goettreider-Maschine erfand, wusste er, dass er sie erst einschalten durfte, wenn er wusste, welchen Unfall er erfunden hatte – und wie man ihn verhindern konnte.
Mein Lieblingsexponat im Goettreider-Museum ist die Simulation dessen, was hätte passieren können, wenn die Maschine beim ersten Einschalten irgendeine Fehlfunktion gehabt hätte. Im Worst-Case-Szenario bringen die beispiellosen Energiemengen, die von der Maschine angezogen werden, das Aufnahmesystem zum Ausfall und lösen eine Explosion aus, die San Francisco zu einem glühenden Krater zusammenschmelzen lässt, den Pazifik mit Tau-Strahlen verseucht, zehntausend Quadratmeilen fruchtbaren Landes zu einem bösartigen Brei verbrennt und einen beeindruckenden Streifen Nordamerikas für Jahrzehnte unbewohnbar macht. Eltern beschwerten sich gelegentlich bei den Kuratoren des Museums, weil die alptraumhaften Bilder der Simulation für Kinder allzu drastisch waren. Und da das Experiment ja offensichtlich nicht gescheitert war, gebe es doch keinen Grund, die Aufmerksamkeit von Goettreiders majestätischem Beitrag zur menschlichen Zivilisation durch groteske Spekulationen über imaginäre globale Katastrophen abzulenken, oder? Am Ende wurde die Simulation in eine entlegene Ecke des Museums geschafft, wo Generationen von Highschool-Teenagern auf ihrem Klassenausflug im Dunkeln hockten und zusahen, wie die Welt in einer Endlosschleife auseinanderbrach.
Ich bin kein Genie wie Lionel Goettreider oder Kurt Vonnegut oder mein Vater. Aber ich habe auch eine Theorie: Den »Unfall« gibt es nicht nur in einer Technologie, sondern auch bei Menschen. Jeder Mensch, den du kennenlernst, eröffnet auch die Möglichkeit eines Unfalls mit diesem Menschen. Alles, was gut laufen und was schiefgehen kann. Es gibt keine Intimität ohne Folgen.
Und damit bin ich wieder bei Penelope Weschler und unserem Unfall. Bei unser aller Unfall.
7
Penelope Weschler sollte eigentlich Astronautin werden. In frühkindlichen Evaluationsrastern ließ sie die notwendige geistige Gewandtheit, körperliche Tüchtigkeit und einen unerschütterlichen Ehrgeiz erkennen. Schon als Kind wusste Penelope, dass dies der richtige Weg für sie war, und sie wollte nichts anderes. Sie trainierte ununterbrochen, in der Schule und außerhalb davon. Nicht das Gehen auf dem Mond. Jeder konnte auf dem Mond gehen. Jeder konnte einen Monat lang im Orbit kreisen. Penelope würde die nächste Grenze überschreiten: Sie würde das All erforschen.
Es ging nicht nur um Studieren, Trainieren und ständiges Testen. Es hatte auch eine soziale Komponente. Besser gesagt, eine antisoziale. Bei langfristigen Weltraumeinsätzen verlangten die Rekrutierungsbehörden, dass man mit Eltern und Geschwistern aufwuchs, damit man über Empathiemodelle verfügte, die man auf Missionen, die jahre- und manchmal sogar jahrzehntelang dauerten, gegenüber den anderen Astronauten zur Anwendung bringen konnte. Man sollte fähig sein, etwas für andere Menschen zu empfinden. Gleichzeitig aber sollte man niemanden zu Hause allzu sehr vermissen, damit man nicht nach den ersten sechs Monaten einer sechsjährigen Mission einen Zusammenbruch erlitt. Es ist eine gleitende psychologische Skala: Selbstsichere Einzelgänger mit nie geschiedenen Eltern sind gut, Soziopathen mit Haifischaugen eher nicht.
Von der Junior Highschool an unterhielt Penelope freundschaftliche, aber absichtlich begrenzte, persönliche Beziehungen. Niemand sollte sie an die Erde binden.
Und sie war einfach der Hammer. Die Beste ihres Jahrgangs in allen Kategorien. Allgemein anerkannt als geborene Missionsleiterin. Sie würde Pionierleistungen vollbringen. Sie würde die Stürme des Jupiter mit eigenen Augen sehen und bei einem Weltraumspaziergang auf den Ringen des Saturn surfen. Und dafür lohnte es sich, auf enge Freundschaften und romantische Beziehungen und einen treuen Hund zu verzichten.
Alles lief nach Plan. Bis sie zum ersten Mal ins All sollte.
Der Start verlief tadellos. Penelope erfüllte ihre Aufgaben derart präzise, dass man jungen Rekruten an ihrem Beispiel demonstrierte, wie glänzend die Fähigkeiten eines Astronauten sein können. Sie war vorbereitet. Sie war bereit. Sie war perfekt.
Bis sie die oberste Schicht der Erdatmosphäre hinter sich ließ und ihr Kopf plötzlich völlig leer war.
Es gibt eine kleine Unterordnung von Menschen, deren kognitive Funktionen im All durcheinandergeraten. Irgendwie hat es damit zu tun, dass die Druckveränderung durch das Vakuum sich auf die Bindung zwischen den Molekülen der Neuronen im Gehirn auswirkt. Niemand weiß genau, warum es passiert. Aber Penelope gehörte zu dieser Untergruppe. Irgendwie war diese Tatsache in den jahrelangen, rigorosen Tests unbemerkt geblieben. Gerade steuert sie die Startrakete noch geschickt durch die letzten Schichten der Atmosphäre und sieht zum ersten Mal die gähnende Weite des Weltraums vor sich, ihr Herz klopft in einem gemessenen, aber ekstatischen Rhythmus, und sie ist so glücklich wie nie zuvor. Und dann … nichts.
Sie weiß nicht, wer sie ist. Sie weiß nicht, wo sie ist. Sie weiß nicht, was sie tun soll. Etwas in ihrer grundlegenden Verfassung verhindert, dass sie eine Panikattacke bekommt, wie es den meisten Leuten passieren würde, wenn sie plötzlich am Steuer eines gottverdammten Raumschiffs aufwachten und der Planet hinter ihnen zurückwiche. Aber sie kann sich an nichts erinnern. Die Armaturen, deren Beherrschung sie in jahrelanger Arbeit erlernt hat, sagen ihr nichts; da sind nur unergründliche Akronyme über scheinbar regellos blinkenden Lampen. Sie starrt aus der Glaskuppel hinaus in den strahlenden Sternendunst, der über die schwarze Leinwand des Weltraums gestrichen ist und der aussieht wie die Pollenwolken, die aus den Zedern im Garten ihrer Großeltern wehten, wenn die Eichhörnchen von Ast zu Ast sprangen, wobei sie nicht versteht, weshalb sie jetzt an etwas denkt, das sie zuletzt mit acht Jahren gesehen hat, während diese Stimmen in ihrem Kopfhörer laut und beharrlich werden.
»Entschuldigung«, sagte sie, »aber ich weiß nicht genau, wo ich gerade bin.«
Ihre Kopiloten, genauso gut ausgebildet und angeheizt von kleinen Flämmchen des Neides angesichts dessen, dass sie immer hoch über ihnen gestanden hatte, enthoben Penelope ihrer Pflichten. Sie mussten die Mission zu einem hohen Preis abbrechen, weil ihre unberechenbare Anwesenheit alle anderen in Gefahr brachte. Im Handumdrehen wurde Penelope, die Beste unter den Besten der Besten, zu einer Gefahr.
Für die unvermittelte Rückkehr nach Hause auf einen Beobachtersitz geschnallt, betrachtete sie die aufsteigende Erde unter ihr, blau lackiert und von weißen, meteorologischen Wirbeln überzogen. In ihren Augen brannten Tränen. Es war das Schönste, was sie je gesehen hatte, und sie würde es nie wiedersehen, auch wenn sie das noch nicht wusste.
Auf der Erde normalisierten ihre geistigen Fähigkeiten sich wieder, und sie begriff, dass ihre Astronautenkarriere zu Ende war. Sie hatte vorgehabt, den Planeten für Jahrzehnte zu verlassen. Stattdessen hatte sie weniger Zeit im All verbracht als ein Tourist, der sein Geld für einen Samstagnachmittagsausflug mit dem Discount Shuttle durch die Thermosphäre verprasste. Dasselbe Gehirn, das sie zur perfekten Astronautin machte, machte es ihr jetzt unmöglich, ihre Arbeit zu tun.
Die meisten Menschen wären niedergeschmettert gewesen. Aber Penelope war nicht wie die meisten Menschen. Sie tauchte für ein paar Monate tief in die Schwerkraftsenke einer spiralförmigen Depression und lehnte jede pharmazeutische Intervention ab, um ihre medizinische Qualifikation für ein späteres Unternehmen nicht zu beeinträchtigen, und dann fand sie einen neuen Ehrgeiz, der ihrem Talent zu strenger Disziplin neue Nahrung gab.
Wenn sie keine Astronautin werden konnte, würde sie Chrononautin werden.
8
Ich verlasse mein Apartment in der 184. Etage eines 270-stöckigen Hochhauses, das durch ein Geflecht von Brücken mit sieben anderen Hochhäusern verbunden ist. Am Fuße des achteckigen Komplexes befindet sich ein Verkehrsknotenpunkt. Mein Vater hat ein paar Strippen gezogen; das Gebäude gehört demselben Immobilienkonzern, der auch die Wohneinheit meiner Eltern verwaltet, und deshalb ist mein Apartment nicht den dichtesten Gebäudeansammlungen von Toronto zugewandt, sondern ich habe einen ganz anständigen Blick auf den Lake Ontario und das Biosphären-Reservat der Niagara-Schichtstufe in der Ferne. Am gekrümmten Horizont funkelt die Morgensonne auf den Türmen der Innenstadt von Buffalo.
Viele Leute fahren mit ihren eigenen Autos zur Arbeit, aber ehrlich gesagt, der dreidimensionale Verkehr ist Mist. So hoch der Coolness-Faktor eines fliegenden Autos auch sein mag, er wird doch stark beeinträchtigt durch die Staus in Höhe des zwanzigsten Stocks über jeder Straße.
Ich fahre lieber mit einer Transitkapsel auf einem der übereinander verlaufenden Gleise, die durch die Stadt führen. Eine solche Kapsel ist eine schnittige Metallhülse, die sich öffnet wie eine Muschel. Darin befinden sich eine gepolsterte Sitzbank, Displays und Lautsprecher, die man mit seinem Entertainment-Interface verbinden kann. Die Kapsel fährt im innerstädtischen Verkehrssystem, wohin man will, und ein ausfahrbares Hover-Triebwerk ermöglicht es, kurze Distanzen auch unabhängig vom Netz zurückzulegen.
Ich komme zwölf Minuten zu spät zur Arbeit, was typisch für mich ist. Mein Chef ist zu sauer über praktisch jeden Aspekt meines Lebens, um sich über meine chronische Unpünktlichkeit noch aufzuregen. Mein Chef ist nämlich mein Vater.
Auf dem Schild draußen am Gebäude steht THE CHRONONAUT INSTITUTE. Ich finde das unerträglich abgeschmackt, aber da alle Angestellten meines Vaters ihn verehren, bin ich klar in der Minderheit. Niemand sonst würde auf die Idee kommen, angesichts dieses blöden Schildes die Augen zu verdrehen, wenn er morgens zur Arbeit kommt. Sie alle haben viel zu viel damit zu tun, angesichts meiner Person die Augen zu verdrehen.
Eines sollte ich deutlich sagen: Nur weil ich in einem Labor arbeite, bin ich noch lange nicht intelligent. Da, wo ich herkomme, arbeitet jeder in einem Labor.
Alle banalen Funktionen des Alltags werden durch Technologie erledigt. Es gibt keine Lebensmittelgeschäfte, keine Tankstellen, keine Fast-Food-Lokale. Niemand holt den Müll aus einer Tonne am Straßenrand ab oder repariert Ihnen das Auto, etwa mit Hilfe von Werkzeug in einer Werkstatt. Niedere körperliche Arbeiten, wie sie die globale Arbeitnehmerschaft in vergangenen Epochen beherrschten, sind jetzt automatisiert und mechanisiert, und die internationalen Konzerne, die für die entsprechenden Technologien zuständig sind, beschäftigen sich nur noch mit kleineren Verbesserungen. Wenn Ihr Bioabfall-Beseitigungsmodul kaputt ist, würden Sie keinen Klempner anrufen, selbst wenn es noch Klempner gäbe, denn in Ihrem Gebäude sind Reparaturdrohnen ständig einsatzbereit. Ein Laternenanzünder mit einem Krug Petroleum und einem Docht an einer langen Stange hat für das heutige Leben so viel Bedeutung wie Schneider, Hausmeister, Gärtner und Schreiner.
Einrichtungen wie Buchhandlungen und Cafés gibt es noch, aber sie sind spezialisierte Nischengeschäfte für Nostalgiefetischisten. Man kann in ein richtiges Restaurant gehen und sich sein Essen mit der Hand zubereiten lassen. Aber der Kellner, der es serviert, ist im Grunde ein Schauspieler, der eine Rolle auf einem Set spielt, auf dem Sie ebenfalls nur ein Darsteller sind, während ein umfassendes Live-Action-Narrativ sich um Sie herum in Echtzeit abspielt.
In Abwesenheit materieller Bedürfnisse hat die Weltwirtschaft sich nahezu exklusiv auf Entertainment verlegt. Entertainment ist das Fundament und der Treibstoff der modernen Zivilisation. Wir arbeiten heute fast alle in Labors, in denen wir die nächste coole Innovation im Entertainment entwerfen, entwickeln und realisieren. Eigentlich braucht man nichts anderes in einer Welt, in der fast nichts mehr von einem verlangt wird – außer der Bezahlung für dieses Entertainment. Je neuer und glänzender und wilder es ist, desto mehr kostet es.
Treibt einen Wissenschaftler das Bedürfnis an, unknackbare Codes zu knacken und unerschließbares Neuland zu erschließen, sind allenfalls ein paar chronisch unterfinanzierte Regierungsbehörden überhaupt motiviert, Mittel für dieses Codeknacken und Neuland-Erschließen zur Verfügung zu stellen. Wenn man es aber schafft, das Gleiche als das neueste, glänzendste, wildeste Entertainment weit und breit zu präsentieren, kann man Finanzmittel ohne Ende kassieren.
Deshalb hat mein Vater, der allgemein als eins der größten Genies der Welt gilt, seine Karriere und seinen Ruf, einfach gesagt, dem Zeitreisetourismus gewidmet.
»Zeitreise« allein ist kein Anreiz für Investitionen. Fügt man aber das Wort »Tourismus« hinzu, die Verheißung eines nie versiegenden Stroms von Kunden, die Schlange stehen, um die Ära des Lebens auf der Erde, die sie gern mit eigenen Augen sehen möchten, zu besuchen – na, dann fließt das Geld in Strömen. Daher: Chrononauten.
9
Das Experiment meines Vaters, das für den 11. Juli 2016 angesetzt ist, wird die ersten Menschen in der Zeit zurücksenden und sie zu Zeugen des Augenblicks machen, in dem die erste Goettreider-Maschine eingeschaltet wurde, wobei die Maschine selbst als Anker in der Zeit dienen wird, indem ihre Tau-Strahlungssignatur die Bahn der Erde durch den Raum bis zum 11. Juli 1965 verfolgen wird – einundfünfzig Jahre zurück.
Im Jahr 2015 war es fünfzig Jahre her, dass die Goettreider-Maschine eingeschaltet wurde – was natürlich eine große Sache war. Jede Stadt auf dem Planeten bemühte sich, alle anderen mit ihren örtlichen Feierlichkeiten zu übertreffen. Der kollektive Blutdruck der Dänen erklomm beängstigende Höhen, als sie die Gelegenheit nutzten, die Welt daran zu erinnern, dass Lionel Goettreider seine großen wissenschaftlichen Entdeckungen zwar in den Vereinigten Staaten von Amerika gemacht hatte, tatsächlich aber in Dänemark geboren war. Die wichtigste Veranstaltung jedoch fand im Goettreider-Museum statt, das um das alte San Francisco State Science and Technology Center herum entstanden war – dessen zementgraue Wände und niedrigen Fenster im Innern eines modernen Gebäudes erhalten waren, eines spektakulären Kristallwirbels, in dem sich tagsüber das Sonnen- und nachts das Mondlicht bricht.
Am Morgen des 11. Juli 2015, eines Samstags, stand Victor Barren auf einem Podest, für die Medien perfekt vor dem Goettreider-Museum positioniert, und eröffnete die Fünfzig-Jahr-Feier mit der öffentlichen Bekanntmachung, dass das erste Zeitreise-Experiment der Welt sich genau ein Jahr nach diesem Augenblick abspielen werde – morgens um 10:00 Uhr am Montag, dem 11. Juli 2016. Er deutete auf eine große Uhr auf seinem Podest und startete den Countdown: 31 622 400 Sekunden, 527 040 Minuten, 8784 Stunden, 366 Tage. Es würde das größte Experiment seit, ja, seit der Einschaltung der Goettreider-Maschine werden. Und sobald die einschlägigen staatlichen Sicherheitsanforderungen erfüllt wären, würde die Technologie der Öffentlichkeit kommerziell zur Verfügung stehen. Lizenzierte Chrononauten-Anlagen würden jedermann die Möglichkeit bieten, gefahrlos durch die Zeit zu reisen. Die Leute flippten aus vor lauter Aufregung. Die Zeitmaschine meines Vaters würde ganz sicher eines der erfolgreichsten Produkte aller Zeiten werden.
Auf diese Weise machte Victor Barren sich zum Star der Fünfzig-Jahr-Feiern der Goettreider-Maschine.
Die große Uhr wurde ins Chrononautische Institut nach Toronto geschafft und setzte dort ihren Countdown fort, als wäre der präzise Augenblick, in dem mein Vater seinen Platz unter den Giganten der Wissenschaft einnehmen würde, eine mathematische Unausweichlichkeit. Es war nichts weiter nötig, als dass dieser Uhr die Zahlen ausgingen.
Übrigens hatte die Sache mit dem fünfzigsten Jahrestag keinerlei wissenschaftliche Bedeutung. Es war nichts als theatralische Effekthascherei, mit der die öffentlichen Erwartungen befeuert und die Finanziers beeindruckt werden sollten, die in die vorgeblich bahnbrechende neue Form von High-End-Entertainment meines Vaters investiert hatten.
Damit daraus aber ein rentables Geschäft werden konnte, musste mein Vater beweisen, dass der Mensch gefahrlos durch die Zeit reisen konnte. Auftritt: die Chrononauten.
Aus Gründen der Sicherheit ist der Prototyp der Zeitmaschine auf ein einziges, feststehendes Ziel programmiert: auf Lionel Goettreiders Kellerlabor in San Francisco, Kalifornien, und auf den 11. Juli 1965. Dort und nur dort hin führt die Spur der Tau-Strahlung. Damit sollte verhindert sein, dass eine Fehlberechnung die Chrononauten in die falsche Ära schickt. Der Prototyp hängt wie eine Gondel zwischen zwei Alpengipfeln – man kann damit nicht einfach fahren, wann und wohin man will. Wenn das Experiment erfolgreich ist und der Weg zwischen 2016 und 1965 präzise in Raum und Zeit kartografiert ist, werden weitere Erkundungen möglich sein. Aber bis zum Start der Mission ist es nur eine sehr teure und unbewiesene Theorie. Die Chrononauten müssen also auf alles gefasst sein.
Das Team besteht aus sechs Personen, anscheinend die ideale Zahl für eine Mission dieser Art. Aus psychologischer Sicht ist es groß genug, um das Gefühl einer Einheit zu vermitteln, aber zugleich klein genug, um halbwegs intime individuelle Bindungen zu pflegen. Jeder der sechs ist gründlich dazu ausgebildet, auf vielfältige Weise zu überleben. Nicht nur in körperlicher, sondern auch in kultureller Hinsicht. Angenommen, es geht tatsächlich etwas schief und sie reisen nicht fünf Jahrzehnte, sondern fünf Jahrhunderte oder fünf Jahrtausende in die Vergangenheit: Das ganze Team muss äußerst vertraut mit den Vor-Ort-Bedingungen jeder Ära sein, in der sie sich vielleicht wiederfinden.
Es gibt ein Abbruchprotokoll, das sie wie mit der Schleuder in die Gegenwart zurückbringen soll, aber es kann entscheidende Sekunden kosten, es in Gang zu setzen, von der Lebensgefahr nicht zu reden. Natürlich gibt es eine Rückholfunktion, die sich im Falle eines katastrophalen Systemausfalls automatisch aktiviert, sodass selbst wenn das ganze Team stirbt, die Technologie selbst nicht in der Vergangenheit verlorengeht, wo sie unvorstellbare Konsequenzen für die Zukunft haben könnte.
Natürlich ist es unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten sinnvoller, ein unbelebtes Objekt oder ein abgerichtetes Tier zurückzuschicken. Aber dieser vorsichtigere Ansatz ist mit zwei Problemen verbunden. Zum einen will mein Vater, dass schon vom ersten Augenblick an jeder komplett von den Socken ist, und ein Team von Leuten in der Zeit zurückreisen zu lassen ist sehr viel cooler, als wenn es sich um einen Roboter oder ein Kaninchen handelt. Zweitens ist der Spielraum für Fehler, wenn man sich an der Raum-Zeit zu schaffen macht, so winzig, dass es besser ist, wenn flinke menschliche Gehirne wohlüberlegte Entscheidungen treffen und bei unerwarteten Zwischenfällen niemand aus Versehen die Zeitlinie auf verhängnisvolle Weise verändert. Denn das wäre schlecht.
Schiefgehen konnte fast alles. Man braucht Leute, die unter höchstem Druck die Ruhe bewahren und in unberechenbaren, lebensgefährlichen Situationen am Leben bleiben können. Sechs Chrononauten, und jeder einzelne gehört zu den beeindruckendsten Persönlichkeiten unter den Lebenden.
Weshalb es völlig absurd war, dass ich an dieser Mission beteiligt war.