DAS KUSCHELTIERDRAMA

Prof. Dr. Achim Gruber

mit Shirley Michaela Seul

DAS KUSCHELTIERDRAMA

Ein Tierpathologe über das stille Leiden
der Haustiere
Mit einem Vorwort von Michael Tsokos

Illustrationen von Linus Beckmann

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Achim Gruber

Prof. Dr. Achim Gruber, Jahrgang 1966, leitet das Institut für Tierpathologie des Fachbereichs Tiermedizin an der Freien Universität Berlin. Er ist Mitherausgeber und Co-Autor der beiden deutschen Standardwerke zur Tierpathologie und als einziger Tiermediziner ordentliches Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Nach mehr als 300 Veröffentlichungen in wissenschaftlichen Fachpublikationen ist »Das Kuscheltierdrama« sein erstes populäres Sachbuch. Achim Gruber ist verheiratet, Vater von drei Kindern und stolzer Besitzer eines Mischlingshundes aus dem Tierheim.

Impressum

Aktualisierte eBook-Ausgabe Februar 2021

Droemer eBook

© 2021 Dromer Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe

Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit

Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Dr. Ulrike Strerath-Bolz

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: © FinePic / shutterstock.com

ISBN 978-3-426-45489-3

Die »Tiergeschichten« in diesem Buch haben sich so oder so ähnlich zugetragen. Namen und Orte wurden verändert, um Tiere und Personen zu schützen.

 

Wegen der überwiegenden Zahl von Frauen im tierärztlichen Beruf wird in diesem Buch die weibliche Form »Tierärztin« stets für beide Geschlechter verwendet.

 

Die in diesem Buch dargestellten Bewertungen sind Standpunkte des Autors und nicht unbedingt der Freien Universität Berlin.

Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen,
Leiden oder Schäden zufügen.

Wer ein Tier hält, betreut oder zu betreuen hat,
muss das Tier seiner Art und seinen Bedürfnissen entsprechend angemessen ernähren,
pflegen und verhaltensgerecht unterbringen.

 

Aus § 1 und § 2, Tierschutzgesetz

Vorwort

Es ist noch keine zwei Jahre her, dass ich einen Vormittag mit Achim Gruber in dem von ihm geleiteten Institut für Tierpathologie der Freien Universität Berlin verbringen durfte.

Als Rechtsmediziner mit über zwei Jahrzehnten praktischer Erfahrung an Tatorten und in Sektions- und Gerichtssälen ist mir eigentlich nichts Skurriles und Bizarres mehr fremd, was Menschen sich und ganz besonders anderen Lebewesen antun, egal wie ungewöhnlich und schräg diese Geschichten auch sind. Das dachte ich zumindest.

Und dann wurde ich an diesem Vormittag in Berlin-Dahlem eines Besseren belehrt. Denn diesmal war nicht ich es, der spannende Geschichten aus seinem Berufsalltag erzählte und mein Gegenüber lauschte verblüfft und sprachlos, was da wohl noch alles kommen würde. Nein, diesmal war es genau andersherum. In diesem Moment war ich es, der staunend nicht genug von den Geschichten bekommen konnte, die Achim Gruber mir von seinen Begegnungen mit seinen vierbeinigen, gefiederten oder schwimmenden Patienten erzählte und von seinen Schilderungen der Untersuchung ihrer toten Körper, knöchernen Überreste oder der mikroskopischen Spuren ihrer winzig kleinen Killer.

 

»Tierpathologen lösen auch Kriminalfälle«, schreibt Gruber. In der Tat, forensische Fragestellungen werden auch in der Tierpathologie bearbeitet. Und das hat seine absolute Berechtigung. Das weiß ich spätestens, seit ich vor fünfundzwanzig Jahren das erste Mal, und dann immer wieder, in der Rechtsmedizin mit entsprechenden Fragestellungen konfrontiert wurde, die ich in meinen Anfangsjahren, damals noch in Hamburg, gemeinsam mit einem Hamburger Tierarzt bearbeitete:

Von wem wurde das Reh mit einem Speerwurf getötet; gibt es vielleicht DNA-Spuren des Täters am Speer? Wurde der auf einem Bahndamm gefundene verbrannte Igel mit Brandbeschleuniger übergossen und angezündet oder Opfer eines Waldbrandes in der Nähe, von wo er sich noch wegschleppte? Hätte der von einem Polizeibeamten erschossene Bullterrier den ersten Schuss in sein linkes Vorderbein überlebt, wenn der Beamte nicht noch sechs weitere Schüsse auf den Kopf des nach dem ersten Schuss schon handlungsunfähigen Tieres abgefeuert hätte? Ist der Dackel erfroren oder eines natürlichen Todes gestorben, nachdem er von seinem überdrüssigen Besitzer bei Minusgraden an einer Landstraße ausgesetzt wurde?

Dass ich als Rechtsmediziner, dessen Profession es ist, unklare oder gewaltsame Todesfälle von Menschen aufzuklären, mit der Untersuchung von Tierkadavern beauftragt wurde, basierte damals offenbar auf der Unkenntnis meiner Auftraggeber über die Profession der Tierpathologen. Tierpathologen sind speziell ausgebildet für Tierkrankheiten, vergleichende Medizin zwischen den Arten und die besonderen Gesetzesvorschriften, die für die Bewertung von Gewalt an Tieren andere Regeln bereithalten als etwa die bei Gewalt am Menschen in Deutschland angewendete Strafprozessordnung.

 

Achim Gruber nimmt uns mit an die Schauplätze seiner Geschichten, wir blicken ihm im Sektionssaal über die Schulter und mit ihm gemeinsam durchs Mikroskop. Ich habe bei der Lektüre dieses Buches, aus der Perspektive des Tierpathologen und -forensikers, einen ganz neuen Blickwinkel auf Abgründe in unserer Gesellschaft kennengelernt, und ich habe viele Ähnlichkeiten bei der Arbeit und Vorgehensweise von Tierpathologen und Rechtsmedizinern erkennen können.

Auch der Tierpathologe schaut bei den Fragestellungen, die er bearbeitet, wie der Rechtsmediziner, ständig über den Tellerrand seiner Profession. Gruber sezierte 2011 im Team den über die Stadtgrenzen Berlins hinaus bekannten Eisbären Knut. Drei Jahre zuvor, 2008, obduzierte ich in der Berliner Rechtsmedizin seinen Pflegevater, den Tierpfleger, der das von seiner Mutter nach der Geburt verstoßene Eisbärbaby Knut von Hand aufzog. Der Mensch und das Tier. Beide verdienen eine Klärung ihrer Todesumstände und Todesursachen.

 

Achim Gruber erzählte mir in seinem Institut seine tierischen Erlebnisse und Projektionen auf die menschliche Gesellschaft in einer ihm eigenen, leichten und lockeren Art, die er auch in diesem Buch anschlägt und mit der er immer den richtigen Ton findet, auch wenn es um tragische, grausame und bestürzende Details seiner bewegenden Fälle geht. Aus jedem Kapitel in diesem Buch klingt ein sehr humaner Ansatz Grubers heraus, mit den animalischen Geschichten umzugehen. Und insofern glaubt man ihm sofort, wenn er zum Schluss seines Buches reflektiert, dass die Art, wie wir mit Tieren umgehen, den Grad unserer Humanität widerspiegelt. Wobei diese Aussage ohne Abstriche für unseren Umgang mit allen Schwachen und Schwächsten unserer Gesellschaft Gültigkeit hat – nicht nur im Tierreich.

 

Michael Tsokos

Eröffnung

»Du, der hat da doch was.«

»Was soll der haben?«

»Doch, fühl mal. Da ist doch ein Knubbel.«

»Hm. Stimmt. Seltsam, ist mir noch gar nicht aufgefallen. Dabei kraul ich ihn jeden Tag.«

»Das fühlt sich echt komisch an. Geh mal lieber zur Tierärztin.«

Wir lieben unsere Haustiere, aber weil wir Menschen sind, machen wir Fehler im Umgang mit ihnen. Manche Begleittiere erheben wir auf die Stufe von menschlichen Gefährten, wenngleich es für ihr Wohl oft besser wäre, sie ihrer tierischen Natur entsprechend zu behandeln. Das würde auch einige Krankheiten vermeiden, unter denen Haustiere heute leiden. Denn sie sind uns anvertraut und ausgeliefert, sie sind von uns abhängig – zuweilen auch vom Geldbeutel des Halters. Wir entscheiden über sie in der Hoffnung, das Beste für sie zu wählen. Dabei wissen wir häufig nicht gleich, was das Beste ist. Manchmal machen wir den Fehler, zu glauben, was für uns gut ist, was wir mögen, gefällt auch dem Tier. Und irren dabei. An Tierliebe und guter Absicht, auch Moral, mangelt es den meisten von uns nicht, eher an Wissen und konsequentem Handeln.

 

Unsere Beziehung zu und unser Umgang mit Tieren sind auch Spiegel unserer Gesellschaft und stehen – heute vielleicht mehr denn je – unter dem Einfluss des Zeiten- und Kulturwandels. Unsere freie Zeit, unser Wohlstand und unsere Bedürfnisse, die in unseren zwischenmenschlichen Beziehungen nicht immer ganz erfüllt werden, haben unser Verhältnis zu unseren tierischen Freunden in den letzten Jahren und Jahrzehnten geprägt wie nie zuvor. In unserer modernen Gesellschaft haben wir für die Grundanstrengungen der Menschheit, die unsere Evolution und damit unsere Biologie und unser Verhalten bestimmten, den Autopiloten eingeschaltet. Nahrungsbeschaffung, Vermeidung von Krankheit und Schutz vor Gewalt dominieren unseren Alltag in der Regel nicht mehr. Die so verfügbar gewordene Zeit, auch wenn wir gern klagen, sie sei zu knapp, können wir mit angenehmeren Dingen verbringen: mit Kultur, Hobbys, Sport und natürlich mit unseren Tieren. Manchmal kommen sie im Alltagsstress zu kurz, manchmal erhalten sie zu viel Aufmerksamkeit. Ja, für einige Menschen sind ihre Haustiere die wichtigsten Geschöpfe auf Erden, ihre Lebensgefährten, und zuweilen sollen sie die Einsamkeit des Menschen lindern. Damit bürden wir unseren tierischen Freunden eine Last auf, weil sie ihrem Wesen nach nicht anstreben, partnerschaftlich auf gleicher Ebene mit Menschen zu leben. Partnerschaftlichkeit und Augenhöhe sind keine Generaltugenden, auch nicht im Wolfsrudel, dort geht es um Hierarchien, Beutegemeinschaft und Rollenverteilung. Hinzu kommt, dass Hund und Mensch recht unterschiedliche Vorstellungen von Höflichkeit haben. Im Umgang mit einem Hund empfiehlt sich Kürze und Klarheit – er wird uns dennoch nicht als verroht wahrnehmen. Im Gegenteil: Wenn wir ihm menschliche Verhaltensweisen entgegenbringen und im Gegenzug dieselben erwarten, säen wir Missverständnisse. Tiere sind keine Menschen – wobei sie den Platz auf dem Sofa natürlich nicht zurückweisen. Doch werden unsere Kuscheltiere zum Ersatz für fehlende Sozialpartner, so bekommt ihnen das nicht immer gut.

 

Als Tierpathologe bin ich auch Zeitzeuge einer Gesellschaft, in der das Spektrum von abgöttischer, oft blinder Tierliebe bis hin zur verabscheuungswürdigen Ausbeutung reicht. Als Leiter des Instituts für Tierpathologie an der Freien Universität Berlin blicke ich auf ein breites und vielfältiges Tätigkeitsfeld, und manchmal auch in Abgründe des Mensch-Tier-Verhältnisses. Von Fischen über Vögel zu Reptilien und Panzernashörnern; ich arbeite mit Zootieren, Exoten, Versuchstieren, landwirtschaftlichen Nutztieren und natürlich Haustieren, von denen ich in diesem Buch am meisten erzählen werde.

Warum gerade Haustiere? Das lässt sich leicht erklären. Nutztiere stehen in den letzten Jahren regelmäßig im Fokus der kritischen Berichterstattung und betreffen einen wichtigen Teil der Mensch-Tier-Beziehung, die sich ständig im Wandel befindet. Unsere Heimtiere aber, mit denen wir uns täglich umgeben, leiden ebenfalls unter uns, wenn auch oft im Verborgenen. In diesem Buch geht es um die Albträume bei uns zu Hause, nicht um das Leiden in Ställen oder Versuchstierhaltungen. Niemand bricht in ein Wohnzimmer ein und filmt Haustierelend. Auf dem Sektionstisch jedoch offenbaren sich Schicksale, die oft ungewollt oder fahrlässig, manchmal aber auch bewusst und absichtlich durch Menschenhand herbeigeführt wurden – Vernachlässigung, Qualzucht, Doping und Gewalt bis hin zur Sodomie.

Und ja, Tierpathologen lösen auch Kriminalfälle. Hat der Nachbar die Katze vergiftet, oder ist sie eines natürlichen Todes gestorben? Ist beim Tod des hoch lebensversicherten Zuchthengstes nachgeholfen worden? Hat der verstorbene Welpe seine tödliche Erkrankung vom Züchter mitgebracht oder sich erst bei seinen Besitzern angesteckt? Lag ein Behandlungsfehler der Tierärztin vor? In solchen und vielen anderen Streitigkeiten werde ich von Gerichten als Gutachter bestellt.

 

In fast jedem zweiten deutschen Haushalt lebt ein Haustier, Tendenz deutlich steigend. Wir halten rund 34 Millionen von ihnen, darunter fast 14 Millionen Katzen und mehr als 9 Millionen (steuerlich gemeldete) Hunde. Dazu zählen auch 6 Millionen zumeist in Kinderzimmern wohnende Kleintiere wie Kaninchen, Hamster, Chinchillas und Meerschweinchen sowie gut 5 Millionen Ziervögel. Rund eine Million Pferde kommen in Freizeit und Sport zum Einsatz. Darüber hinaus tummeln sich in 4 Millionen deutschen Aquarien, Terrarien und Teichen etwa 100 Millionen Fische und Reptilien. Alle diese Tiere stehen unter dem besonderen Schutz des Tierschutzgesetzes. Als Tierpathologe gehört es zu meinen Aufgaben, Missstände aufzudecken und Tierqualen auf die Spur zu kommen. Das ist nicht immer einfach, es erfordert manchmal auch detektivischen Spürsinn.

 

Aus Tieren als Subjekten der Natur haben wir über die letzten mehr als zwanzigtausend Jahre Objekte des Menschen gemacht. Tiere werden als Wirtschaftsgüter gehandelt, als Pelz getragen und verzehrt. Wilde Tiere leiden unter den Folgen der Globalisierung und des Klimawandels. Heute wie nie zuvor perfektionieren wir diese Prozesse auf allen Ebenen. Aus herrschaftlichen, freien Kreaturen wurden Untertanen. Wie heißt es in der Bibel: »Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: … Machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel des Himmels und über alles Getier, was auf Erden kriecht.« (1. Mose 1,28) Als Zeitzeuge am Obduktionstisch bekomme ich oft in erschreckender Weise zu sehen, was das heißen kann. Das Mikroskop des Tierpathologen ist auch ein Kaleidoskop in die Mensch-Tier-Beziehung.

 

Wir Obertanen entscheiden über unsere Untertanen. Bekommen sie eine Wurmtablette, eine neue Hüfte, oder müssen sie mit der alten kriechen, kriegen sie Zahnbehandlung, eine Chemotherapie oder Euthanasie? Wir schöpfen aber auch großen Wert aus diesen »Untertanen«, denn Tierhalter leben gesünder. Der Kontakt mit Haustieren wirkt sich günstig auf Blutdruck, Kreislauf und die Gemütslage aus, und wer einen Hund hält, wird sich öfter an der frischen Luft bewegen. Und Tiere halten ihr Fell für uns hin. Nicht nur auf dem Teller, in der Forschung und in Kriegen, sondern auch jeden Tag in unseren Wohnzimmern und Tierarztpraxen. Wären Tiere und Menschen wirklich gleichberechtigt, wie manche Tierrechtler fordern, müssten Tiere ganz anders behandelt werden.

Auch ich wünsche mir einen fairen Umgang mit unseren tierischen Freunden, doch dieser kennzeichnet ein Dilemma. Unsere heutige Gesellschaft bejaht das Leid der Tiere zum Nutzen der Menschen. Das Paradoxe ist, dass wir zwar Krankheiten bei Tieren heilen, dass wir Tiere aber oft auch krank machen, indem wir ihnen Gutes tun wollen oder nur an unser eigenes Wohl denken, indem wir uns Menschen als Krone der Schöpfung sehen. Während wir uns selbst in mancher Beziehung dem Status von Göttern annähern, erheben wir Tiere in den Menschenstand und fügen ihnen damit Leid zu. Der Untertan wird dann zum Obertan und sitzt neben Frauchen auf dem Sofa, bestimmt den Tagesablauf und teilt des Nachts das Bett – wenn auch heimlich. Denn wer gibt so was schon zu? Hunde gehören nicht in Menschenbetten, zumindest in der Theorie.

 

Manches »tierunliebe« Verhalten mag zwingend notwendig sein, anderes geschieht vielleicht nur aus Gewohnheit und vieles aus Unwissenheit. Aus Unwissenheit tun Menschen Tieren auch Schreckliches an. Manchmal, wenn ich an meinem Mikroskop sitze und schlechte Nachrichten für Patienten und Besitzer erspähe, frage ich mich, wie man dieses Leid durch frühzeitige Aufklärung hätte vermeiden können. Unwissenheit möchte ich, so gut ich kann, mit diesem Buch beseitigen und Ihnen den einen oder anderen Tipp an die Hand geben, wie Sie jeden Tag und besonders im Krankheitsfall mit Ihrem Tier fair, artgerecht und zum Wohle aller Beteiligten umgehen können.

 

Im Folgenden schildere ich beispielhafte Einzelschicksale meiner tierischen Helden. Aus der Perspektive des Pathologen mit Sezierbesteck und Mikroskop blicke ich auch auf die Hintergründe des Umgangs mit den Tieren, die wir als Haustiere in unsere Familien aufgenommen haben. Drei separate Themenbereiche spiegeln aus verschiedenen Blickwinkeln die dynamischen Veränderungen dieser Mensch-Haustier-Beziehung über die letzten Jahrzehnte.

Zunächst werden tierische Kriminalfälle dokumentiert, die ich als forensischer, also gerichtsmedizinischer Gutachter begleiten durfte. Das Spektrum reicht von mysteriösen Todesfällen über brutale Tierquälereien bis hin zu Kannibalismus, Mord und Totschlag.

Darauffolgend rücken uns Infektionskrankheiten auf den Pelz, die durch die immer engeren Kontakte zwischen Tier und Mensch zwischen den Arten übertragen werden. Manche tierischen Erreger befallen uns Menschen, und nicht weniger Killerkeime halten wir selbst für unsere Heimtiere bereit. Durch Globalisierung und Klimawandel importieren wir zusätzlich neue und tödliche Infektionen aus den entlegensten Regionen der Erde in unsere Wohn- und Kinderzimmer. Wie wir uns davor schützen können – auch das ist Thema dieses Buches, in dem es mir um das Tier- wie um das Menschenwohl geht.

Abschließend melden sich Opfer von falsch verstandener Züchtung zu Wort. Denn wir formen unsere Kuscheltiere, wie es uns gefällt, und übersehen das Leid, das wir ihnen damit antun – Liebe, die weh tut. Unsere Weste ist in Bezug auf unsere gezüchteten Familienmitglieder nicht so rein, wie wir es uns gern einreden. Hierfür möchte ich sensibilisieren, auch mit den Abbildungen.

 

Jeder kann in seinem Umgang mit Tieren, oft auch im Umgang mit dem scheinbar vertrauten Haustier, noch etwas besser machen. Für das Tier und damit irgendwie auch für uns, denn geht es dem Tier gut, freut sich der Mensch. Sie tun uns so gut, diese befellten oder geflügelten oder beflossten Geschöpfe! Obwohl sie scheinbar Zeit kosten in ihrer Hege und Pflege, schenken sie uns Zeit, weil die mit ihnen verbrachten Minuten und Stunden aus der Zeit fallen. Jeder Tierfreund kennt das. Man hat nichts gemacht, außer mit dem Hund, der Katze gespielt, das Pferd gestriegelt, die Fische beobachtet – und fühlt sich entspannt, bereichert, aufgetankt. Dieses Buch soll dazu beitragen, dass dies immer wieder sorglos geschehen kann.

Auf der Fährte des Tierpathologen

Wenn ein lieb gewonnenes Tier erkrankt, leiden wir mit ihm. Leiden wir dann wie das Tier oder wie ein Mensch? Leidet das Tier womöglich ohnehin genau wie ein Mensch? Und was ist mit den Wildtieren, die nicht in der Obhut eines Menschen stehen? Leiden sie weniger, wie oft behauptet wird? Oder nur unbemerkt? Sind unsere Haustiere etwa verweichlicht wie wir, degeneriert und naturentfremdet?

Trotz aller Forschung wissen wir nicht, wie Tiere Schmerz empfinden und ob sie anders damit umgehen als Menschen. Wir können lediglich jene Signale lesen, die wir mit unseren menscheneigenen Sinnen empfangen, und das sind nicht allzu viele, wie wir heute wissen. Verzieht jemand das Gesicht schmerzlich, tut ihm etwas weh, und wenn er Aua sagt oder vor Pein weint, sind wir sicher. Tiere sagen nicht Aua. Aber verbergen sie ihren Schmerz tatsächlich, um ihre Fraßfeinde nicht aufmerksam zu machen oder nicht vom Rudel verstoßen zu werden? Trotz aller Nähe tappen wir, was die Emotionen unserer tierischen Freunde betrifft, oft im Dunkeln.

»Aber ich spür doch, was mit meinem Tier los ist«, sagen viele Tierfreunde. Auch ich spüre im Umgang mit unseren tierischen Familienmitgliedern etwas. Doch als Wissenschaftler verlasse ich mich nicht aufs Spüren. Ich will wissen, um dann besser im Interesse des Tieres handeln zu können. Deshalb schaue ich durchs Mikroskop, und was ich dort erkenne, übersetzt das Befinden und Leid der Tiere präziser als mein vages Gespür. Meine mächtigste Waffe der Erkenntnis ist das Mikroskop, denn jede Krankheit hinterlässt ihren Fingerabdruck im Gewebe. Pathologen sind Spurensucher. Eine Tierärztin mag vermuten, bei einem Knötchen könnte es sich um Krebs handeln, und eine Gewebeprobe einschicken. Der Blick durch das Mikroskop auf die Biopsie des Knötchens verrät mir, ob es wirklich Krebs ist und wenn ja, welcher. Die rechtzeitige pathologische Diagnose ist eine Abkürzung; sie versetzt uns in die Lage, viel Leid, Aufwand und Kosten zu ersparen, und nicht selten ist sie lebensrettend. Nach der Diagnose des Tierpathologen schlägt die Tierärztin dem Tierhalter ein Maßnahmenspektrum mit möglichen Vorgehensweisen vor und kann Aussagen über den damit verbundenen Aufwand und die Kosten machen. Vor allem aber über die unterschiedlichen Konsequenzen, also Prognosen, für das Tier. Die Prognose ist der Blick in die Zukunft, die Glaskugel des Pathologen. Der Halter wägt schließlich ab und entscheidet, je nach seinen Möglichkeiten, moralischer Einstellung und Geldbeutel.

Leider erfolgen Biopsieuntersuchungen beim Pathologen oft erst nach einem regelrechten Tierarzt-Hopping, nicht selten mit viel Kummer, Ängsten, Frustration und Kosten, und dann ist es manchmal leider zu spät. Knötchen können völlig harmlos sein. Sie können aber auch wachsen, sich ausbreiten und eine Operation erfordern. Je mehr Zeit ein Tumor für sein Wachstum erhält, desto höher wird das Risiko eines schlechten Ausgangs für den Patienten. Das ist bei Menschen nicht anders. Deshalb wundere ich mich oft, warum Besitzer ihre Kaninchen, Katzen oder Hunde erst bei der Tierärztin vorstellen, wenn Tumoren bereits golf-, tennis- oder handballgroß sind. Ob die Operation klein, mit schmalen Rändern und Bikininarbe endet oder viel benachbartes Fleisch weggeschnitten werden muss, hängt wesentlich von der Diagnose des Pathologen ab. Ist der Tumor gutartig und oberflächlich, ist er in der Tiefe verwurzelt oder besteht das Risiko einer Metastasierung in andere Organe? Vielleicht muss auch ein Bein amputiert werden. Mit einer solchen Maßnahme stößt ein Tierhalter mancherorts auf wenig Verständnis. Ist doch nur ein Tier. Warum lässt du es nicht einschläfern? Nach meiner Erfahrung leiden Nachbarn und verständnislose Beobachter viel mehr unter einer Amputation als das betroffene Tier selbst und sein Besitzer.

Hat der Patient wirklich Glück gehabt, weil er noch am Leben ist, wenn auch auf drei Beinen? Wie ein Tierhalter mit einem Befund umgeht, reflektiert sein eigenes Mensch-Tier-Verhältnis. Das Tier, der Patient, um den sich alles dreht, hat kein Stimmrecht. Es muss schlucken, wofür sich Tierärztin, Frauchen und Herrchen entscheiden. Und auch seine Lebensumstände muss ein Tier hinnehmen. Es kann Glück haben oder Pech.

 

In den letzten Jahren hat die Medizin rasante Fortschritte gemacht. Die Verfahren zur Identifizierung des genetischen Codes und veränderter Moleküle bei Krankheit werden immer schneller und immer bezahlbarer. Wir wissen heute, dass Krebs nicht gleich Krebs ist. Wir können Hunderte von Arten unterscheiden, an denen wir erkranken können. Die Erkenntnisse der Humanmedizin schwappen mit einiger Verzögerung auch in die Tiermedizin, wo wir zunehmend ähnlich differenzieren. Man spricht beim Menschen von personalisierter Medizin oder Präzisionsmedizin, wenn der individuelle Patient mit seiner ihm ganz eigenen Krankheit diagnostiziert und therapiert wird. Medizinverständnis bis auf Molekülebene, modernste Diagnostik und innovative Medikamente haben zu vielen segensreichen Durchbrüchen in der Therapie beim Menschen geführt, und die Entwicklung schreitet auf allen Ebenen voran. Personalisierte Medizin und Präzisionsmedizin lösen grobes Schubladendenken ab und verbessern die Heilungschancen wesentlich, besonders auch bei früher tödlichen Krebserkrankungen. Die personalisierte Tiermedizin dagegen steckt noch in den Welpenschuhen, auch wenn der Trend dahin deutlich zu erkennen ist. Die Methoden dafür sind vorhanden oder können etabliert werden. In welchem Ausmaß allerdings Präzisionsmedizin auch für Tiere auf breiter Front bezahlbar wird und der Ethik der Patientenbesitzer entspricht, wird erst die Zukunft zeigen.

Ein kurzer Blick auf die Tierpathologie

Die Tiermedizin blickt auf eine lange Tradition zurück, wenngleich Tiere über viele Jahrhunderte nicht operiert wurden, um ihnen zu helfen, sondern obduziert, um die Neugier des Menschen zu befriedigen. Damals hatten Tiere noch keine Seele. Ob sie ihnen in den letzten Jahrzehnten gewachsen ist? Oder ob der Mensch gereift ist und nun den Tieren eine Seele zugesteht?

 

Über die längste Zeit unserer Geschichte wurden Tierkörper eröffnet, um Erkenntnisse über Anatomie, Physiologie und Krankheiten des Menschen zu erhalten. Der menschliche Körper, besonders der von Verstorbenen, war aus moralischen Gründen tabu für solche Eingriffe. Da es sich ja »nur« um Tiere handelte, die damals ganz offenbar keiner auch nur annähernd vergleichbaren Ethik unterlagen, schreckte man nicht vor Vivisektionen zurück, also Eingriffen an lebenden Tieren, sehr wahrscheinlich ohne jede Betäubung. Es liegen historische Schilderungen aus 450 v. Chr. vor, wie etwa lebenden Hunden die Sehnerven durchtrennt wurden, um die Folgen auf das Augenlicht zu studieren. An lebenden Schweinen wurde das schlagende Herz untersucht. Galenos von Pergamon, der berühmte griechische Arzt und Anatom (129–201), zerstörte bei lebenden Hunden, Affen, Ziegen und Schweinen systematisch einzelne Organe, um deren Funktion zu studieren. Auch in der frühchristlichen Zeit galten Menschenleichen für derartige Zwecke als unantastbar. Leichenöffnungen an Tieren hingegen und die Demonstration ihrer Organe wurden im Mittelalter als Spektakel auch öffentlich gegen Zahlung eines Eintrittsgelds abgehalten. Eine angewandte Form der Tierpathologie (Pathologie = griech. für pathos, Leiden oder Krankheit, und logos, Lehre) zum Nutzen des Menschen besteht seit Jahrtausenden in der Untersuchung von Schlachttierkörpern durch Metzger und Abdecker. Die Unbedenklichkeit von für den menschlichen Verzehr vorgesehenen Tieren und deren Organen zählt zu den elementaren Speisevorschriften verschiedener Religionen. Fleischbeschau an Schlachthöfen stellt bis heute eine unverzichtbare Anwendung tierpathologischer Expertise dar.

 

Eine gesellschaftliche Bedeutung pathologischer Untersuchungen für die Tiere selbst erhielten systematische Tierobduktionen erst im 18. und 19. Jahrhundert, als verheerende Seuchen unter landwirtschaftlichen Nutztieren grassierten. Die historischen Viehseuchen wie Rinderpest, Maul- und Klauenseuche, Schafpocken, Lungenseuche und Rotz hinterlassen in den Kadavern mit bloßem Auge erkennbare charakteristische, manchmal sogar beweisende – wir nennen das dann pathognomonische – Muster an den Organen. Tollwut und viele andere Erkrankungen ließen sich jedoch erst an mikroskopischen Präparaten erkrankter Gewebe nachweisen und verstehen, also deutlich nach der Erfindung des Mikroskops durch Malpighi (16281694) in Bologna und Leeuwenhoek (16321723) in Delft. Die tiermedizinische und -pathologische Kunst stand im 18. und 19. Jahrhundert auch beim Militär hoch im Kurs zur Gesunderhaltung der Kavalleriepferde. In der heutigen industrialisierten Tierproduktion, besonders auch bei der Erkennung eingeschleppter oder neu entstandener Infektionskrankheiten, sind die Tierpathologen der in Deutschland flächendeckend existierenden Veterinäruntersuchungsämter unverzichtbar, mit ihrem bloßen Auge, mit Mikroskop und vielen Spezialtechniken. Die Pathologie der Heimtiere war die längste Zeit der Geschichte hingegen völlig unbedeutend; erst in den letzten Jahren kümmern sich mehr Tierpathologen um Heimtiere als um Nutztiere.

 

Eine Redewendung besagt: Pathologen haben keine Freunde. Denn Pathologen überbringen schlechte Nachrichten. Immer wieder kommt es vor, dass Pharmakonzerne Millionen in die Entwicklung eines neuen Medikaments investieren, bis ein Pathologe das hoffnungsvolle Produkt beerdigt, weil es unerwünschte Nebenwirkungen entfaltet. Nein, so jemand macht sich keine Freunde. Doch die Pathologie ist eine Wissenschaft für das Leben. Wir erforschen Krankheiten, um den Kranken zu helfen und die Gesunden davor zu bewahren. Im Gegensatz zur Annahme, dass Pathologen lediglich Tote untersuchen, beschäftigen wir uns viel öfter – und lieber – mit lebenden Tieren. Die toten Tiere machen nur einen kleinen Teil der Arbeit aus. Meistens kümmere ich mich darum, dass die Lebendigen weiter am Leben bleiben, und dabei geht es um die Tiere, aber manchmal auch um die Menschen in ihrem Umfeld.

 

Die kleine Sarah ist schwer krank, und niemand findet heraus, was dem Kind fehlt. Und nun ist auch noch ihr Wellensittich gestorben. Das arme Mädchen. Kaum eine Tierärztin würde wegen eines toten Wellensittichs den Tierpathologen hinzuziehen. Doch als sie von der Erkrankung des Mädchens erfährt, bekommt sie Elefantenohren: Verrät der tote Wellensittich dem Tierpathologen, woran Sarah erkrankt ist? Es gibt nicht wenige Tierkrankheiten, die auf Menschen übertragen werden können. Und umgekehrt. Deshalb sollten Menschen mit Lippenherpes beispielsweise keine Kaninchen oder Chinchillas küssen. Es wäre ein Todeskuss.

Unsere Expertisen betreffen nicht nur offensichtliche Krankheiten, sondern auch Verhaltensauffälligkeiten. Ein aggressiver Hund soll eingeschläfert werden. Was aber, wenn seinem aggressiven Verhalten eine organische Ursache zugrunde liegt? Hatte der Fuchs, der die Gans stahl und danach den Jäger biss, Tollwut oder einen Gehirntumor? Was wirklich dahintersteckt, entlarvt der Pathologe.

In der Praxis

Manchmal werde ich gefragt, ob ich schon als Kind aus Neugier gern tote Vögel und Regenwürmer seziert hätte. Die Antwort lautet: Nein. Meine Begeisterung galt stets den lebenden Tieren. Sie begleiten mich, meinen Eltern sei Dank, seit ich auf der Welt bin. Bei uns zu Hause gab es immer einen Hund, außerdem Schildkröten, Kaninchen, Wellensittiche, Nymphensittiche, Kanarienvögel. Bevor ich zum Gymnasium ging, war ich schon Aquarianer mit einer Handvoll Amazonasfischen. Gemeinsam mit meinen Geschwistern schaute ich unseren Mäuschen beim Tanzen zu. Diese Tanzmäuse waren damals »in«: possierliche, schwarz-weiße Tierchen, die sich den ganzen Tag im Kreis drehten und nur zum Schlafen und Fressen still hielten. Wie putzig. Nein, nicht putzig, wie ich heute weiß. Diese armen Kreaturen mussten tanzen, weil sie an einem Gendefekt litten. Auch der sogenannte Dancing Dobermann ist kein vierbeiniges Fred-Astaire-Talent, sondern ein Opfer von Züchtung. Seine Halter ahnen das vielleicht nicht. Man lacht, man führt ihn vor. Wie die Bodenpurzler-Tauben. Sie können kaum noch fliegen und nicht mehr richtig laufen, ihre reingezüchteten Bewegungsdefekte erquicken dennoch das Herz ihrer Züchter. Damals kümmerte das niemanden.

 

Als Schuljunge hatte ich genug Zeit für unsere Tiere; damals hatten Kinder ja allgemein viel Muße, ihren Interessen nachzugehen. Unser Langhaardackel Nicki lag mir besonders am Herzen. Oft streifte ich mit ihr durch Wald und Feld, und wenn ich mal groß sein würde, wollte ich Tierarzt werden. In der Pubertät war Nicki meine engste Vertraute. Mit ihr sinnierte ich über die wichtigen Themen und auch über meine erste Fünf in Latein. Und danach war die Welt wieder im Lot.

Die starke Prägung durch Tiere in meinem Umfeld und meine Faszination für das Spannungsfeld Mensch–Natur–Technik führten mich zum Studium der Tiermedizin in Hannover. Als Student arbeitete ich in Heimtierpraxen mit und verbrachte viel Zeit in der Kleintierklinik der Universität. So bereitete ich mich geradlinig auf meine eigene Praxis als Kleintierarzt vor. Die meisten Tierärzte spezialisieren sich: auf Kleintiere – Hund und kleiner –, Pferde oder landwirtschaftliche Nutztiere.

Die Tätigkeit in den Tierarztpraxen befriedigte mich aber nicht, denn sie ließ mir zu viele Fragen offen. Tiere erfolgreich zu behandeln war ein tolles Gefühl, doch das reichte mir nicht, wenn ich mir unklar darüber war, woran die Tiere wirklich litten und warum. Manche wurden gesund, andere nicht. Woran lag das? Ein Hund mit Durchfall wurde mir vorgestellt, ich verordnete ein Medikament, zwei Tage später war der Durchfall weg, die Halterin bedankte sich überschwänglich mit einer Flasche Wein. Das war mir unangenehm, denn ich wusste nicht, ob meine Therapie geholfen hatte oder ob der Hund auch ohne das Medikament gesund geworden wäre. Mein Lehrtierarzt meinte, ich solle mich an der Flasche Wein als Bestätigung meiner Arbeit freuen – gesundes Tier und glückliche Patientenbesitzerin, was will man mehr? Ja, das war in gewisser Weise das Ziel, doch ich hätte meinen Patienten manchmal gern besser geholfen, also gezielt, denn es gab ja auch schwierigere Fälle als Wald-und-Wiesen-Durchfall. Und natürlich wollte meine Forscherseele mehr wissen. Letztlich war ich für die Praxis einfach zu neugierig. So entschloss ich mich konsequent für die Tierpathologie, um den offenen Fragen auf den Grund gehen zu können.

 

Unsere zweibeinigen Kollegen, so nenne ich die Humanpathologen gern mit einem interdisziplinären Augenzwinkern, haben es nur mit einer einzigen Spezies zu tun, während bei meinen vierbeinigen Kollegen und mir gerade die vergleichende Pathologie, die Würdigung von Unterschieden zwischen den Arten, im Vordergrund steht. Unterschiede nicht nur in der Anatomie, dem Verhalten und den Körperfunktionen, viel mehr noch in den Krankheiten und Todesursachen. Ein kleiner Hund mag von Weitem aussehen wie eine Katze, er ist aber keine. Ein Hund kann an Krankheiten leiden, die bei einer Katze niemals auftreten würden – Staupe zum Beispiel. Tierärzte und Tierpathologen müssen prinzipiell alle Krankheiten aller Tiere kennen, ob Ratte oder Nilpferd. Nicht selten hilft auch der Blick über den Tellerrand auf die Krankheiten des Menschen, denn der Mensch ist für uns lediglich eine weitere Spezies. Diese tierartlich-vergleichende Perspektive hilft uns immer wieder bei scheinbar neuen Krankheiten oder besonders schwierigen oder seltenen Fällen. So war es neulich bei einem Hund, der uns nach seiner Euthanasie mit rätselhaftem Krankheitsbild zur Untersuchung gebracht wurde. Der Kopf des noch jungen Labradorwelpen war immer größer geworden, und keine Tierärztin wusste Rat. Erst hatte man es für einen Wespenstich gehalten, aber als der Schädel gigantische Ausmaße annahm, der Arme durch Gebissentstellung nicht mehr fressen konnte und auch das verzweifelte Tierarzthopping nicht half, entschied man sich für den letzten Weg (siehe Abb. 1).

Die Großkopfkrankheit, hier bei einem Labrador Retriever, kommt beim Hund seltener vor als beim Pferd, wo sie als Big Head Disease bekannt ist.

 

Den Patientenbesitzern ließ das unerklärliche Schicksal ihres jungen Hundes keine Ruhe. Hatten sie selbst vielleicht etwas falsch gemacht? Gab es eine Gefahrenquelle in ihrer Umgebung? Sie baten mich um Klärung der Todesursache, weil sie sich in absehbarer Zukunft wieder einen Hund anschaffen und einen möglichen Fehler vermeiden wollten. Der Obduktionsbefund erinnerte mich sofort an die Großkopfkrankheit der Pferde, und so fanden wir den Grund schnell und die Patientenbesitzer konnten trotz ihrer Trauer aufatmen: Es handelte sich um eine beim Junghund nur sehr selten vorkommende Entwicklungsstörung der Knochen als Zeichen einer schleichenden Phosphatvergiftung. Bei diesem Welpen war eine Nierenmissbildung die Ursache, fahrlässiges Verhalten oder gar eine Schuld der Besitzer waren auszuschließen. Auch bestand keine Gefahr für einen neuen Hund. Bei Pferden dagegen liegt oft ein Fütterungsfehler vor, also ein leicht abstellbarer Irrtum des Halters. Leicht abstellbar, wenn man die Zusammenhänge kennt.

Die Krankheiten der Tiere mit ihren oft entscheidenden Unterschieden zwischen den Spezies stellen die Kernkompetenz allein des Tierpathologen dar. Menschenpathologen – dies muss hier einmal betont werden – sind weder für Tierkrankheiten noch für Speziesunterschiede ausgebildet. Leider werde ich vereinzelt um eine Zweitmeinung gebeten bei fraglichen Diagnosen, die von zweibeinigen Pathologen zu vierbeinigen Gewebeproben gestellt wurden, oft mit fatalen Fehleinschätzungen, teils auch mit tödlichen Konsequenzen für die betroffenen Tiere. Dabei handelt es sich auch um ein förmliches Übernahmevergehen nach den Kammergesetzen. Andersherum weise ich Untersuchungen von Menschenproben zurück, die von Tierärztinnen schon mal von sich selbst, ihren Familienmitgliedern oder Freunden entnommen und mir anvertraut werden, weil sie meine tierischen Kompetenzen schätzen.

Aufschneider

Der Beruf des Tierarztes wird mit Augenzwinkern als der zweitälteste Beruf der Welt bezeichnet, weil Menschen mit Tieren schon sehr lange zusammenleben. Aufgrund gemeinsamer Bestattungsfunde von Menschen mit Hunden vor etwa 14000 Jahren datiert man erste Domestikationen in mindestens diesen Zeitraum, andere Schätzungen gehen von weit über 20000 Jahren aus. Da zu diesem Zeitpunkt auch die ersten Tiere in Menschenobhut gestorben sind, postuliere ich die Tierpathologie als drittältesten Beruf der Welt.

Der Ausbildungsweg zum Beruf des Tierpathologen ist lang. Das ist leicht erklärbar durch die große Stofffülle und den hohen Anspruch, prinzipiell über alle Krankheiten der Tiere Bescheid zu wissen. Von meinen Studierenden verlange ich: »Sie müssen alle wichtigen und häufigen Krankheiten der bei uns lebenden Tiere kennen, plus solche Krankheiten, die sozusagen vor der Tür stehen, wie Seuchen, die leicht eingeschleppt werden können, plus Tierkrankheiten, die auf den Menschen übertragen werden können und umgekehrt.« Damit ist der theoretische Anspruch umrissen. Zugegeben, ich selbst kenne auch nicht alle Blutgefäßparasitosen in Afrika. Aber das verrate ich niemandem.

Nach dem Tiermedizinstudium erfolgt eine Fachtierarztausbildung an einer der dafür zugelassenen Ausbildungsstellen, die ein möglichst breites Spektrum an Tierarten und Krankheiten bieten soll. Die Mindestdauer zum »Fachtierarzt für Pathologie« zählt mit fünf Jahren im Anschluss an das fünfeinhalbjährige Studium der Tiermedizin zu den längsten Spezialisierungen. Die Promotion zum Dr. med. vet. wird in der Regel darin abgeschlossen. Heute arbeiten in Deutschland etwa zweihundertfünfzig Fachtierärzte für Pathologie in Diagnostiklaboren, der Tierseuchenbekämpfung, Industrie, Forschung, an den Universitäten und ganz wenige auch als niedergelassene Tierpathologen.

 

»Wie können Sie als Tierfreund einen Beruf wählen, in dem man Tiere aufschneidet?«, werde ich gelegentlich gefragt. Ja, als »Aufschneider« werden Pathologen manchmal bezeichnet, es gibt sogar einen Film dieses Titels über meine zweibeinigen Kollegen. Aber um den lebenden Tieren und auch ihren Besitzern zu helfen, müssen wir zwangsläufig für den Laien völlig unzumutbare Tätigkeiten verrichten. Dies gilt jedoch, wenn auch in etwas milderer Form, für alle praktizierenden Tiermediziner, die in der kurativen Praxis zum Teil schlimme Anblicke aushalten müssen – entstellte Hunde nach schweren Autounfällen oder vom Pferderipper entsetzlich zugerichtete Stuten. Eine gewisse Abhärtung und sachliche Distanz sind nötig, um sich schnell auf die helfenden Handgriffe konzentrieren zu können. Zu starke eigene emotionale Betroffenheit kann den Blick und das Urteilsvermögen trüben. Tierärzte und viel mehr noch Pathologen sind also nicht abgebrüht, sondern gehen während ihrer Ausbildung durch eine lange, versachlichende Schule, die bereits im ersten Semester mit Anatomie-Präparierkursen beginnt. Gewöhnung stellt sich ein, zumeist jedoch keine Abstumpfung. Ich selbst würde nie ein eigenes Tier oder ein Tier, das ich zu Lebzeiten gut kannte, obduzieren. Falls dies einmal wirklich nötig sein sollte, würde ich Kollegen bitten und Distanz wahren. Umso mehr erstaunt es mich, wenn Studierende ab und zu ihre eigenen verstorbenen Lieblinge vorbeibringen und selbst bei uns obduzieren wollen, aus Neugier und mit unserer Hilfe. Auch hier erfahre ich immer wieder, wie unterschiedlich das Verhältnis von Menschen zu ihren Tieren sein kann und dass Tierliebe viele Gesichter hat.