Langsame Jahre

Cover

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel «Años lentos» bei Tusquets Editores, Barcelona

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2019

Copyright © 2019 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«Años lentos» Copyright © 2012 by Fernando Aramburu

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Umschlaggestaltung Anzinger und Rasp, München

Umschlagabbildung Universal History Archive/Getty Images

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ISBN Printausgabe 978-3-498-00104-9 (1. Auflage 2019)

ISBN E-Book 978-3-644-00245-6

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-00245-6

Ich, Herr Aramburu, habe aus den Ihnen bekannten Gründen als Kind neun Jahre bei Verwandten in San Sebastián verbracht. Und das kam so: Meine arme Mutter war von dem Kerl, der ihr Ehemann war und den in diesem Bericht mit Namen zu nennen ich mich strikt weigere, verlassen worden und konnte mich und meine Brüder nicht allein durchbringen. Sie suchte Hilfe im Dorf, fand dort keine, und infolgedessen blieb ihr nichts anderes übrig, als uns ins Armenhaus von Pamplona zu schicken.

Nur für ein paar Monate, sagte sie unter Tränen, doch wir ahnten, dass sie log, um uns die Gefangenschaft erträglicher zu machen. Wegen der Liebe, die wir für sie empfanden, taten wir so, als glaubten wir, dass wir bald wieder zu Hause sein würden. Da dies aber nicht die Geschichte ist, die Sie für Ihren Roman brauchen, kürze ich sie ab und sage bloß, dass meine Mutter eine Schwester hatte, die als junges Mädchen nach San Sebastián gegangen war, um da in einer Baskenmützenfabrik zu arbeiten. Sie hat auch als Hausmädchen bei einer französischen Familie gearbeitet, und ich weiß nicht, was noch alles.

Ich war der Jüngste, noch ein Kind, galt als artig und kam aus diesen Gründen als Erster in Frage. Meine Brüder entwickelten daraufhin eine Art Seelenverwandtschaft miteinander, die immer noch anhält und von der ich leider ausgeschlossen bin, obwohl ich mich mit beiden gut verstehe, besser allerdings, wenn ich sie einzeln treffe, als wenn wir alle drei zusammen sind.

Mit dieser Erklärung beende ich die Vorrede zur Familie, die Sie für Ihren Roman ja nicht brauchen. Unnötig war sie aber nicht, denn sie gibt dem, was folgt, einen Sinn; und außerdem finde ich es, eingedenk dessen, was Sie mir gesagt haben, auch besser, wenn die Geschichte meiner Erinnerungen einen Anfang hat, als wenn sie keinen hätte. Sie haben mich ermuntert, mich so auszudrücken, wie mir der Schnabel gewachsen ist; präzise zwar, aber um Struktur und Stil muss ich mich nicht kümmern, denn das ist ja Ihre Sache als der Schriftsteller, der Sie sind.

Also, an einem Nachmittag Anfang 1968 kam ich in einem Autobus, der «die Roncalesa» genannt wurde, in San Sebastián an. Ich war gerade acht Jahre alt geworden. Ein Nachbar aus dem Dorf brachte meine Mutter und mich in seinem Auto nach Pamplona. In Pamplona schien die Sonne, und das einzige Wasser, das ich sah, war das, was meiner Mutter aus den Augen lief. In San Sebastián war der Himmel bedeckt. Es fiel dieser feine Regen, von dem man nicht nass zu werden scheint, der aber genauso nass macht wie jeder andere Regen, und der bei uns sirimiri heißt. Da ich an einem einzigen Nachmittag so verschieden aussehende Himmel erlebte, war mir, als wäre ich sehr weit fortgeschickt worden.

Ich wusste nur, dass irgendein Verwandter kommen und mich abholen würde. Das war gut so, denn ohne Hilfe hätte ich mich nie zurechtgefunden in der Stadt, in der ich nur ein Mal, im Alter von zwei, vielleicht drei Jahren anlässlich einer Familienfeier gewesen war und von der ich nicht mehr wusste als ein paar unwesentliche Dinge, die meine Mutter mir erzählt hatte.

Ich stieg aus dem Autobus, holte mein Gepäck, die Reisenden gingen ihrer Wege, und ich blieb allein auf dem Bürgersteig zurück. Ohne zu wissen, auf wen ich wartete, harrte ich über eine halbe Stunde unter einer Schaufenstermarkise aus. In meinem Dorf gab es damals nichts dergleichen. Gut, wir hatten die Metzgerei von Ceferino Arrastia, mit einem niedrigen Fenster, durch das man die Würste sehen konnte, die drinnen hingen.

Ich war schon fast so weit, einen Polizisten um Hilfe zu bitten, als mit aufgespanntem Schirm mein Cousin Julen auftauchte. Er hielt eine Kippe zwischen die Zähne geklemmt und ließ mich gleich seine Verachtung spüren, indem er fünf oder sechs Meter vor mir eine Bar betrat.

Als er wieder herauskam, war das Erste, was er zu mir sagte:

«Was willst denn du Scheißer aus Navarro hier?»

Darauf folgte als Begrüßung ein angedeuteter Boxhieb von diesem Kraftmeier.

Wir gingen im Regen durch mir gänzlich unbekannte Straßen. Julen war Läufer und Bergwanderer und ließ mich das auch gleich spüren. Er sagte, wir würden zu Fuß gehen, woraus ich naiverweise schloss, dass sich ein öffentliches Verkehrsmittel nicht lohnte, weil es nur eine kurze Entfernung zurückzulegen galt. Den Irrtum

Julen schritt mit seinem schwarzen Regenschirm und einer Hand in der Hosentasche entschlossen voraus; ich hinter ihm her mit einem dieser Koffer von damals, das heißt, ohne Rollen, und der Pappschachtel, in die meine Mutter zwei lebende Hühner als Geschenk für die Verwandtschaft gepackt hatte.

Das war zu schweres Gepäck, um mit meinem Cousin Schritt halten zu können. Aus Angst, zurückzubleiben und mich zu verlaufen, versuchte ich, meinen Nachteil dadurch auszugleichen, dass ich streckenweise rannte, doch mit meinem Gepäck kam ich kaum in seine Nähe und fiel dann auch schon wieder zurück.

So erreichten wir, ich völlig durchnässt vom Schweiß und vom Regen, die herrliche Promenade, hinter der die Bucht beginnt. Es war Flut, und das Wasser stand so hoch, dass nur noch ein schmaler Streifen Sand zu sehen war. An manchen Stellen schlugen die Wellen schon gegen die Mauer. Da und dort spritzte das Wasser gar über die Brüstung.

Julen bemerkte mein staunendes Gesicht. Er wartete, bis ich herangekommen war, und sagte dann verschmitzt:

«Das ist das Meer, das die Navarros uns Basken im Krieg stehlen wollten. Jeder von ihnen kam mit zwei Eimern, und alle zusammen haben sie uns einen Haufen Wasser geklaut.»

Er fragte mich, ob ich wisse, wo meine Landsleute das gestohlene Wasser versteckt hatten. Ich glaubte, er meine es ernst, und versicherte ihm, dass es in meinem Dorf nicht sein konnte, da gäbe es nicht einmal einen Fluss, aber vielleicht hätten sie den Stausee von Alloz damit gefüllt.

Um den Scherz abzurunden, sagte er:

«Du hast hoffentlich daran gedacht, ein paar Liter davon mitzubringen, oder?»

«Ihr Navarros seid wirklich üble Burschen.»

Auf dem weiteren Weg fand er sogar noch Zeit, mich weiter zu demütigen. Denn als wir durch das Viertel El Antiguo kamen, befahl er mir, unter einer hohen Laterne, die man am Ende der Straße sehen konnte, auf ihn zu warten. Ich tat, wie mir geheißen, brachte mich aber vor dem anhaltenden sirimiri im Eingang einer Apotheke in Sicherheit. Er besuchte unterdessen zwei oder drei Bars, bevor er sich wieder zu mir gesellte.

Wir gingen knapp eine Stunde von der Bushaltestelle bis zum Stadtrand, wo schon die Felder begannen. Dort standen, zusammengedrängt zwischen Hügeln, ein paar weiße Häuser, die größten bis zu drei Stockwerke hoch. Sie gehörten noch zum Viertel von Ibaeta. Es waren Arbeiterwohnungen, die vor Jahren vom gewerkschaftlichen Bauverein «Heim und Architektur» errichtet worden waren. Unter dem Franco-Regime also, wie eine Zementplatte am Eingang des Viertels bestätigte, auf der das Symbol von Joch und Pfeilen prangte, was ich Ihnen, Herr Aramburu, ja wohl nicht erzählen muss, da Sie viele Jahre in der Nummer 4 dieses Fleckens, Vororts oder was immer gewohnt haben. Ich nehme an, dass diese Tatsache es mir erspart, den Ort näher zu beschreiben.

Doch zurück zu meinem Bericht. Julen und ich erreichten das Haus meines Onkels und meiner Tante, als es schon dunkel zu werden begann. Dort angekommen, legte mein Cousin seinen Schirm auf die Erde und forderte mich auf, ihn zu nehmen, wobei er mir den Koffer und den Karton mit den Hühnern abnahm, um damit seiner Familie zu zeigen, dass er mir unterwegs tragen geholfen hatte. Dann stieß er im Treppenhaus einen lauten, recht ungewöhnlichen Pfiff aus, der zur Folge hatte, dass nur seine Mutter im dritten Stock und keiner von den Nachbarn auf den anderen Stockwerken die Tür öffnete, als wir gerade den obersten Treppenabsatz erreicht hatten. Meine Verwandtschaft empfing

Danach schimpfte sie mit mir wegen meiner durchnässten Kleidung und tadelte meine Mutter wegen der Hühner, die doch nicht nötig gewesen wären. Den Tadel wiederholte sie, als ich ein Paket etwas zerdrückter Feigen sowie ein in Packpapier eingewickeltes Viertel Spanferkel aus dem Koffer holte.

Wir aßen zu fünft in der Küche, saßen alle am Tisch, außer Tante Maripuy, die unentwegt am Herd hantierte und im Stehen aß.

Ich wunderte mich, wie wenig meine Verwandten miteinander sprachen. Jeder starrte auf seinen Teller, als wollte er das, was darauf lag, genau in Augenschein nehmen. Da keine Unterhaltung das Geräusch der kauenden Münder dämpfte, hörte man sie schlucken und schmatzen, ein bisschen so wie Schweine, ich meine, ohne dass gute Manieren für nachsichtiges Überhören sorgten. Die Geräusche ihrer Gefräßigkeit vermischten sich mit dem Klappern von auf Porzellan treffendes Besteck.

Allein in dem Moment, als wir uns an den Tisch setzten, stellten sie mir ein paar Fragen zu meiner Reise und über meine Mutter und meine Brüder; danach wurde nicht mehr gesprochen, bis auf ein paar Gesprächsrudimente, die ihnen zur Verständigung ausreichten.

«Brot?»

«Da.»

Nachdem die Suppe aufgetragen war, sagte mein Onkel:

«Heiß.»

Und meine Tante, ohne ihn dabei anzusehen:

«Puste.»

Im Verlauf dieses ersten Abendmahls tat Julen mir einen Gefallen und zeigte mir damit, dass er mich nicht so blöd fand, wie ich befürchtete. Und das kam so: Meine Tante, die eine großartige Köchin war, wenngleich ihre Gerichte nicht immer meinem

Diese Art Fisch hatte ich bis dahin noch nie gegessen. In meinem Dorf kannte man damals nur solche Sorten, wie sie freitags ein Zigeuner auf den Straßen verkaufte: Sardinen, Barben, Makrelen, das heißt, gemeine See- oder Flussfische, nie jedoch Aale, und Meeresfrüchte sowieso nicht.

Kurzum, schon der Anblick der schwarzen Haut genügte, dass mein Magen rebellierte. Meine Tante, die mich für unterernährt hielt und ihrer Schwester in Sachen Kinderernährung unbedingt eine Lektion erteilen wollte, gab mir die zwei größten Stücke aus dem Topf, dazu reichlich Beilagen und eine große Kelle Soße.

Zuerst knabberte ich an den Kartoffelstückchen in der Hoffnung, Zeit zu gewinnen, wozu, wusste ich nicht, was Kinder sich eben so ausdenken. Und obwohl keiner meiner Verwandten Augen für mich hatte, war mir, als würde jeder meinen Widerwillen bemerken. Irgendwann fragte Tante Maripuy streng:

«Schmeckt’s dir nicht, oder was?»

«Ich habe bloß keinen Hunger.»

Meine Tante war keine nachgiebige und schon gar keine diplomatische Frau.

«Iss!»

Ich nahm ein weißes Stück von dem Fisch in den Mund, und sobald ich das sülzige, gummiartige Aalfleisch zwischen den Zähnen spürte, musste ich würgen. Julen, der mir gegenüber saß, stieß seine Gabel in eines meiner beiden Stücke, teilte es in vier mundgerechte Happen, die er locker verputzte, und genauso schnell wie das erste Stück Aal ließ er danach auch das zweite in seinem robusten Körper verschwinden.

Nach dem Abendessen machten Mutter und Tochter den Abwasch; mein Onkel setzte seine Kappe auf und ging zur Bar Artola hinunter, der einzigen, die es im Viertel gab; mein Cousin

Weil es noch so früh war und man Stimmen von der Straße und aus dem Haus hörte, fand ich keinen Schlaf. Also drehte ich mich mit dem Gesicht zur Wand und weinte, dachte an meine Mutter, mein Dorf, den Regen und den Aal, hörte zwischendurch auf, aber bloß, weil meine Augen trocken waren und eine Weile brauchten, bis sie neue Tränen produzierten.

Irgendwann in der Nacht kam Cousin Julen herein, mit dem ich das Zimmer teilte. Ich tat, als würde ich schon schlafen, aber er hörte mich im Dunkeln schluchzen.

Mein Cousin hatte Käsefüße. In San Sebastián, in der Schule, in die ich geschickt wurde, im Haus meiner Verwandten habe ich mich an vieles gewöhnt, was mir anfangs merkwürdig vorkam. Nie jedoch konnte ich mich an die Marter gewöhnen, neben den bloßen Füßen oder ausgezogenen Schuhen meines Cousins einschlafen zu müssen.

Als er im Bett lag und im Dunkeln die letzte Zigarette des Tages rauchte, sagte er zu mir:

«Wärst du ein Baske, würdest du nicht weinen. Hast du schon mal Eisen weinen sehen? Aber klar, du bist ein Weichei aus Navarro, da bleibt das ja nicht aus. Du bist eine Memme, und außerdem wirst du, weil du nass geworden bist, morgen sicher krank sein.»

In der Nacht wurde ich immer wieder wach und zog mir die Decke über den Kopf, um den Gestank aushalten zu können, den seine zwischen unseren Betten auf den Boden geworfenen Schuhe und Socken verströmten.

Txomin Ezeizabarrena, sechsundvierzig Jahre. Repariert in Straßenkleidung eine Steckdose im Esszimmer. Er arbeitet als Elektriker in der Ford-Werkstatt im Gros-Viertel (überprüfen). Er hat fünf Mäuler und das der Frau zu stopfen, der Ärmsten. Nach der letzten Geburt ist ihr Mund halbseitig gelähmt. Als junge Frau sicher hübsch. Mit so einem Mund kann sie nur schlecht sprechen. Man versteht sie kaum. Die Beschreibung zweitrangiger Figuren besser nicht allzu ausführlich. Vorsicht mit verräterischen Einzelheiten. Die Tapete um die Steckdose herum ist von einem Kurzschluss schwarz verbrannt. Txomin erklärt, als wollte er Maripuy das Handwerk beibringen. Er ist redselig, sympathisch (Beispiel bringen) und gutaussehend. Mit kleinen Reparaturarbeiten im Viertel verdient er sich ein wenig hinzu. Die Gardinen hätten in Brand geraten können, sagt er. Maripuy macht ein erschrockenes Gesicht. Der Verdacht wird nicht weiter erörtert, da es an der Tür klingelt. Eine Nachbarin (Identität nötig?) bringt die Urne mit der Heiligen Jungfrau. Kurzer erklärender Einschub: Sie wird von den Nachbarn reihum weitergegeben etcetera. Die Namen stehen auf einem Zettel, der auf die Rückseite der Urne geklebt ist. Maripuy stellt sie an den üblichen

Meine Cousine Mari Nieves war zur Zeit dieser Erinnerungen siebzehn Jahre alt, nicht besonders hübsch, gesund und kräftig, ein bisschen mollig, wenn auch noch nicht so dick wie heute; sie hatte einen starken, zu Herrschsucht neigenden Charakter, der sich nicht geändert hat und dem ihrer Mutter gleicht, mit der sie damals immerzu stritt.

Die Natur war so grausam, ihr einen maßlosen sinnlichen Appetit mitzugeben. Mari Nieves hatte reichlich Gelegenheit und war auch ungeniert genug, ihn auf den verschiedenen, nicht nur sexuellen Wegen zu stillen, die dem Menschen zur Verfügung stehen. Ich allerdings hatte den Eindruck, dass sie diese unaufhörliche Begierde weniger genoss als unter ihr litt, nicht zu reden von den Angehörigen, angeführt von ihrer Mutter.

Besagter Appetit oder Furor, der vielleicht gar kein solcher war, aber ich kann es nicht anders ausdrücken, bestimmte ihr ganzes Tun und vermutlich auch ihr Denken und ihre Träume. Kann aber auch sein, dass ich mir das alles nur eingebildet habe. Nehmen Sie’s nicht allzu wörtlich.

Außerdem war sie vulgär. Sie nahm nämlich die Bratenschere aus der Schublade, schnippte damit durch die Luft und schrie ärgerlich, die Lippen noch feucht vom Saft:

«Willst du vielleicht, dass ich dir den Pimmel abschneide?»

Und dann kichernd, als müsste sie gleich laut loslachen:

«Da wärst du nicht der Erste.»

Diese Anekdoten, die ich Ihnen hier schriftlich mitteile, sind von hoher Vertraulichkeit. Ich bitte Sie, meine Cousine Mari Nieves in Ihrem Roman respektvoll zu behandeln und ihr, wie Sie mir versprochen haben, einen fiktiven Namen zu geben, egal welchen, sodass die Verwandtschaft, die Nachbarn und sie selbst die benannte Person nicht wiedererkennen können.

Ich war seit zwei oder drei Wochen im Haus meiner Tante, als ich erstmals mitbekam, was meine Cousine mit den Jungs aus dem Viertel trieb. Obwohl Boshaftigkeit bei mir noch ein sehr unterentwickelter Sinn war, argwöhnte ich bald so einiges aufgrund von Mutmaßungen, Gerüchten und Andeutungen sowie dem allmählichen Begreifen dessen, was ich zufällig den Gemeindepfarrer hatte sagen hören.

Und das kam so: An den Samstagen musste ich meine Tante zu dem Altenheim begleiten, das der Stiftung José Matía Calvo gehörte und auf der anderen Seite der Landstraße lag. Im selben

Die Messe wurde fast ausschließlich in Euskera gehalten, da Don Victoriano Wert auf die Förderung dieser Sprache legte. Über diesen Priester könnte ich Ihnen ein paar Sachen und auch einige Sächelchen erzählen, wenn das für Ihren Roman von Interesse wäre. Ich bezweifle aber, dass Sie eine so außergewöhnliche Persönlichkeit unerwähnt lassen können, wenn Sie, wie Sie mir gesagt haben, einen wahrhaftigen Roman über eine Familie aus Ibaeta zur Zeit Ihrer Kindheit schreiben wollen. Denn so wie die Gläubigen behaupten, die Seelen der Menschen seien Besitz Gottes, so behaupte ich, ohne Furcht, mich irren zu können, dass dieser Priester die Privatleben vieler Menschen beherrschte. Auch glaube ich nicht, Ihnen ans Herz legen zu müssen, wie wichtig es ist, Don Victoriano einen anderen Namen zu geben, falls Sie ihn in Ihren Roman aufnehmen, denn da gibt es noch ein paar Verwandte von ihm, die sich beschweren könnten, er selbst wohl nicht, denn soviel ich weiß, ist er schon gestorben. Woraus man schließen kann, dass, sollte er in den Himmel gekommen sein, es keinen Heiligen und keinen Engel mehr gibt, der jetzt nicht Euskera lernt, und dass sie allesamt, Gott eingeschlossen, der Sprachprüfung entgegenzittern. Sollte der Herr Pfarrer aber in der Hölle gelandet sein, wie meine Tante es immer prophezeit hat, werden der Teufel und alle Verdammten wegen der Liste ihrer Sünden, die er ihnen mitgebracht hat, jetzt wohl baskische Grammatik pauken.

Entschuldigen Sie die Albernheit. Ich fahre fort. Weder meine Tante noch ich verstanden ein Wort Euskera; da sie jedoch mit dem Ritual vertraut war, konnte sie sich die Liturgie im Geiste auf Spanisch zurechtlegen. Ich glaube, dass sie das auch gekonnt hätte, wenn die Messe auf Russisch oder Japanisch gelesen worden wäre, denn ebenso wichtig, wie sich einen Ehrenplatz an der Seite des Herrn zu sichern, war ihr der freie Sonntag.

Ich erinnere mich an Don Victoriano in einem grellbunten