Cover

Michael Kogon

Lieber Vati!
Wie ist das Wetter bei Dir?

Erinnerungen an meinen Vater
Eugen Kogon
Briefe aus dem KZ Buchenwald

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Michael Kogon

Michael Kogon, geboren 1928 in Wien, Österreicher, ist der älteste Sohn des großen deutschen Nachkriegspublizisten Eugen Kogon (Verfasser von »Der SS-Staat« und Herausgeber der »Frankfurter Hefte«). Michael Kogon ist Diplom-Volkswirt, Schriftsteller und Übersetzer. Er lebt heute in der Schweiz.1995-1998 zusammen mit Prof. Gottfried Erb Herausgeber der Gesammelten Schriften Eugen Kogons. Kogon war auch ein Freund des französischen Diplomaten und Autors Stéphane Hessel. Er hat die Bücher Hessels ins Deutsche übersetzt.

Impressum

eBook-Ausgabe 2014

Pattloch eBook

© 2014 Pattloch Verlag GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildungen: FinePic®, München

Bildnachweis: Alle Abbildungen aus dem Privatbesitz des Autors
außer Abbildung 12 (© Sammlung Gedenkstätte Buchenwald)

ISBN 978-3-629-32073-5

Hinweise des Verlags

Wenn Ihnen dieses eBook gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weiteren spannenden Lesestoff aus dem Programm von Knaur eBook und neobooks.

Auf www.knaur-ebook.de finden Sie alle eBooks aus dem Programm der Verlagsgruppe Droemer Knaur.

Mit dem Knaur eBook Newsletter werden Sie regelmäßig über aktuelle Neuerscheinungen informiert.

Auf der Online-Plattform www.neobooks.com publizieren bisher unentdeckte Autoren ihre Werke als eBooks. Als Leser können Sie diese Titel überwiegend kostenlos herunterladen, lesen, rezensieren und zur Bewertung bei Droemer Knaur empfehlen.

Weitere Informationen rund um das Thema eBook erhalten Sie über unsere Facebook- und Twitter-Seiten:

http://www.facebook.com/knaurebook

http://twitter.com/knaurebook

http://www.facebook.com/neobooks

http://twitter.com/neobooks_com

Endnoten

1

Unser merkwürdiges, wichtiges Leben – Eugen Kogon im Gespräch mit Leonhard Reinisch, Sendung vom 9. Juni 1975 in der Reihe Sonntag um sechs des Bayerischen Rundfunks

2

Eugen Kogon, Othmar Spanns Soziologie und der Katholizismus, Abendland, 4. Jg. (1928/29), Nr. 9 (Mai 1929), S. 276

3

Beitrag Eugen Kogons zum Schlussgespräch der Tagung Hitler – eine Erweckungsbewegung vom 6.–8. Januar 1978 in der Theodor Heuss-Akademie in Gummersbach

4

Unser merkwürdiges, wichtiges Leben – Eugen Kogon im Gespräch mit Leonhard Reinisch, Sendung vom 9. Juni 1975 in der Reihe Sonntag um sechs des Bayerischen Rundfunks

5

Zeugenaussage Eugen Kogons im Nürnberger Ärzteprozess vom 9. Dezember 1946–20. August 1947, Protokoll vom 6. Januar 1947

6

Unser merkwürdiges, wichtiges Leben – Eugen Kogon im Gespräch mit Leonhard Reinisch, Sendung vom 9. Juni 1975 in der Reihe Sonntag um sechs des Bayerischen Rundfunks

7

Zeugenaussage Eugen Kogons im Nürnberger Ärzteprozess vom 9. Dezember 1946–20. August 1947, Protokoll vom 6. Januar 1947

8

Rudolf Ebneth: Die österreichische Wochenschrift »Der Christliche Ständestaat« – Deutsche Emigration in Österreich 1933–1938, Matthias-Grünewald-Verlag, Mainz 1976

9

Rudolf Ebneth, a.a.O., S. 62

10

Eugen Kogon, Der SS-Staat – Das System der deutschen Konzentrationslager, 5. Auflage, Kindler Verlag, München 1974, S. 20

11

Unser merkwürdiges, wichtiges Leben – Eugen Kogon im Gespräch mit Leonhard Reinisch, Sendung vom 9. Juni 1975 in der Reihe Sonntag um sechs des Bayerischen Rundfunks

12

Eugen Kogon, Stellungnahme zu einem Satz von Joachim Fest in der Biographie »Hitler«, 14.8.1974, ohne Bestimmungsangabe

13

Eugen Kogon, Der Deutsche Katholikentag, in: Die Neue Zeitung, 29. Oktober 1933

14

Unser merkwürdiges, wichtiges Leben – Eugen Kogon im Gespräch mit Leonhard Reinisch, Sendung vom 9. Juni 1975 in der Reihe Sonntag um sechs des Bayerischen Rundfunks

15

Eugen Kogon, Zelle 26

16

Peter Gundwin (Eugen Kogon), Philosophie auf dem laufenden Band, in: Das heilige Feuer – Monatsschrift für naturgemäße deutschvölkische und christliche Kultur und Volkspflege, Paderborn, 18 (1930/31), S. 61–67

17

Unser merkwürdiges, wichtiges Leben – Eugen Kogon im Gespräch mit Leonhard Reinisch, Sendung vom 9. Juni 1975 in der Reihe Sonntag um sechs des Bayerischen Rundfunks

18

Eugen Kogon, Versuch einer Meditation über die Liebe Gottes, undatiert (vermutlich 1971), ohne Bestimmungsangabe

19

Unser merkwürdiges, wichtiges Leben – Eugen Kogon im Gespräch mit Leonhard Reinisch, Sendung vom 9. Juni 1975 in der Reihe Sonntag um sechs des Bayerischen Rundfunks

20

Eugen Kogon, Der SS-Staat – Das System der deutschen Konzentrationslager; Stéphane Hessel, Tanz mit dem Jahrhundert – Erinnerungen, aus dem Französischen von Roseli und Saskia Bontjes van Beek, Arche, Zürich-Hamburg 1998

21

Alfred Missong jun., Alfred Missong – Der Entdecker der Österreichischen Nation, in: Alfred Missong, Christentum und Politik in Österreich, hrsg. von Alfred Missong jun. in Verbindung mit Cornelia Hoffmann und Gerald Stourzh, Böhlau, Wien/Köln/Graz 2006, S. 49

22

Stanniol war eine den heutigen Alufolien ähnliche Zinnfolie. Aus diesem Material wurden Weinkapseln und Verpackungen für Tabak, Seife, Schokolade usw. hergestellt.

23

Die Burgruine Hilgartsberg erhebt sich linksseits der Donau an einem Steilhang bei Hofkirchen im Landkreis Passau. Die Burg wurde 1112 erstmals erwähnt. Im Österreichischen Erbfolgekrieg wurde sie 1742 von österreichisch-ungarischen Truppen erobert und abgebrannt. Von der Ruine bietet sich eine großartige Aussicht auf das Donautal.

24

Die »Volkszählung im Deutschen Reich« war ursprünglich für 1938 geplant gewesen. Wegen des »Anschlusses« Österreichs an das Deutsche Reich war sie auf den 17. Mai 1939 verschoben worden. Der Sicherheitsdienst des Reichsführers-SS Heinrich Himmler und die Gestapo forderten, um Datenmaterial für eine Judenkartei zu erhalten, »Ergänzungskarten für die geplante Volkszählung«. In ihnen sollte die Religionszugehörigkeit aller vier Großeltern angegeben werden, um dadurch die »Rassezugehörigkeit« zu ermitteln. Für falsche Angaben sollten Gefängnisstrafen angedroht werden. Da mochten die Eltern meines Vaters noch so sehr angeblich verschollen und die Dokumente noch so sehr angeblich verschwunden sein: Der Familienname der Mutter meines Vaters und ihre Religion waren jüdisch, so stand es in den Akten, und die slawische Herkunft des unehelichen Vaters war nicht belegbar. Einen gewissen Aufschub erhielt mein Vater jedoch, weil die Auswertung der Daten lange dauerte.

25

Eugen Kogon, Chronika des hochlöblichen St. Josephs-Collegs, Ordens- und Missionsschule der Dominikaner zu Vechta im Oldenburger Münsterland, Manuskript, Vechta, 1.3. – 18.9.1921 (auszugsweise abgedruckt in: Eugen Kogon, Die Idee des christlichen Ständestaates, Band 8 der Gesammelten Schriften, Ullstein-Quadriga, Berlin 1999, S. 61ff.)

26

Der Kyffhäuserbund war ein alttraditioneller deutscher Kriegerverein, der in der Nazi-Zeit seine Selbständigkeit durch die damals konsequent gehandhabte Praxis der »Gleichschaltung« verloren hatte.

27

Prag war seit dem 16. März 1939 die Hauptstadt nicht mehr des unabhängigen Staates Tschechoslowakei, sondern eines Restgebietes mit der Bezeichnung Deutsches Reichsprotektorat Böhmen und Mähren. Diesem Rumpf gestand Hitler eine gewisse formelle Selbstverwaltung zu. In Wirklichkeit war er Besatzungsgebiet.

28

Eugen Kogon, unbetitelte Tonbandaufzeichnung, 1978, ohne Bestimmungsangabe, erstes Band, Niederschrift S. 1

29

Unser merkwürdiges, wichtiges Leben – Eugen Kogon im Gespräch mit Leonhard Reinisch, Sendung vom 9. Juni 1975 in der Reihe Sonntag um sechs des Bayerischen Rundfunks

30

Eugen Kogon, Widerstand gegen die Staatsmacht – vormals und heute, in: Zum Nachdenken, Heft 46, September 1972 (Text der Rede vom 17. Juni 1972 zur Verleihung der Wilhelm-Leuschner-Medaille an Josef Lang, Martin Niemöller und Josef Will sowie zur Eröffnung der Ausstellung Der hessische Widerstand gegen das NS-Regime im Auditorium Maximum der Philipps-Universität Marburg)

31

Eugen Kogon, Der SS-Staat – Das System der deutschen Konzentrationslager, 5. Auflage, Kindler-Verlag, München 1974, S. 73f.

32

Eugen Kogon, unbetitelte Tonbandaufzeichnung, 1978, ohne Bestimmungsangabe, erstes Band, Niederschrift S. 29f.

33

Eugen Kogon im Gespräch mit Reinhard Hoffmeister. In der ZDF-Reihe: Zeugen des Jahrhunderts (Teil II: 1945 bis heute), ZDF 1982

34

Bergfried war eine Außenstelle der Abtei Schweiklberg für Klosterzöglinge, die in Passau die letzten Klassen des dortigen humanistischen Gymnasiums besuchten.

35

Der »Jugendsekretär Volker« war Prälat Ludwig Wolkert. Der war nach dem Ersten Weltkrieg in München die führende Gestalt einer katholischen Jugendbewegung, der mein Vater als Student angehörte.

36

Eugen Kogon, Der SS-Staat, a.a.O., S. 292

37

Joseph Rovan, Mémoires d’un Français qui se souvient d’avoir été Allemand, Seuil, Paris 1999, S. 49ff.

38

Joseph Rovan, Mémoires … a.a.O., S. 54

39

Eugen Kogon, Der SS-Staat, a.a.O., S. 383

40

Eugen Kogon, unbetitelte Tonbandaufzeichnung, 1978, ohne Bestimmungsangabe, erstes Band

41

Eugen Kogon, Dr. Werner Hilpert – Persönlichkeit und Leistung, in: »Die Bundesbahn«, März 1957

42

Eugen Kogon im Gespräch mit Reinhard Hoffmeister. In der ZDF-Reihe: Zeugen des Jahrhunderts (Teil II: 1945 bis heute), ZDF 1982

43

Wiesbadener Tageblatt, 9. Mai 1978: Glorifizierung und Mystifizierung des Kriegsgeschehens, unpolitische Darstellung des NS-Staates, Führerkult und Verharmlosungstendenzen

44

Brigitte Hamann, Hitlers Wien, Piper, München/Zürich 1998

45

David Steindl-Rast, Credo – Ein Glaube, der alle verbindet, Herder, Freiburg/Basel/Wien 2010, S. 176

46

Magda Hollander-Lafon, Vier Stückchen Brot – Eine Hymne an das Leben, Adeo Verlag, Assall 2013

47

Steindl-Rast, a.a.O., S. 203

48

Jorge Semprun, Schreiben oder leben, Suhrkamp, Frankfurt 1995, S. 110

49

Eugen Kogon – Häftling in Buchenwald. Ein Film von Paul Karalus. WDR – Zeitzeugen – 21. Februar 1980

50

Zeugenaussage Eugen Kogons im Nürnberger Ärzteprozess vom 9.12.46–20.8.1947, Protokoll vom 21. April 1947

51

Eugen Kogon, unbetitelte Tonbandaufzeichnung, 1978, ohne Bestimmungsangabe, erstes Band

52

Eugen Kogon, Der SS-Staat, a.a.O., S. 82

53

Eugen Kogon, unbetitelte Tonbandaufzeichnung, 1978, ohne Bestimmungsangabe, erstes Band

54

Eugen Kogon – Häftling in Buchenwald. Ein Film von Paul Karalus. WDR – Zeitzeugen – 21. Februar 1980

55

Eugen Kogon im Gespräch mit Reinhard Hoffmeister. In der ZDF-Reihe: Zeugen des Jahrhunderts (Teil II: 1945 bis heute), ZDF 1982

56

Eugen Kogon, unbetitelte Tonbandaufzeichnung, 1978, ohne Bestimmungsangabe, erstes Band

57

Eugen Kogon, Nürnberger Ärzteprozess, Protokoll vom 6.Januar 1947

58

Eugen Kogon, unbetitelte Tonbandaufzeichnung, 1978, ohne Bestimmungsangabe, erstes Band

59

Eugen Kogon befragt von Ulrich Gembardt, Sendung vom 11. März 1979 in der Reihe Das Gespräch des Westdeutschen Rundfunks

60

Eugen Kogon, Der SS-Staat, a.a.O., S. 318ff.

61

Eugen Kogon, unbetitelte Tonbandaufzeichnung, 1978, ohne Bestimmungsangabe, erstes Band, Niederschrift S. 29f.

62

Eugen Kogon, Der SS-Staat, a.a.,O. S. 130

63

Odo Marquard, Der angeklagte und der entlastete Mensch in der Philosophie des 18. Jahrhunderts, in: ders., Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981, S. 39–66. Beide Zitate nach Walter Kardinal Kasper, Barmherzigkeit. Grundbegriff des Evangeliums – Schlüssel christlichen Lebens, Herder, Freiburg-Basel-Wien 2012, S. 11

64

Eugen Kogon: Deutschlands Erbe und Aufgabe, Rede auf der ersten öffentlichen Kundgebung der Christlich-Demokratischen Partei in Oberursel am 18.11.1945

65

Eugen Kogon, unbetitelte Tonbandaufzeichnung, 1978, ohne Bestimmungsangabe, erster Band, Niederschrift S. 2–3

66

Ebenda, S. 28–29

67

Ebenda, S. 29, 31–33

68

Eugen Kogon, Der SS-Staat, a.a.O., S. 136

69

Vgl. Michael Kogon, Ansprache anlässlich des 68. Jahrestages der Befreiung des KZ Buchenwald, gehalten am 14. April 2013 in der Gedenkstätte Buchenwald, in: Die Würde des Menschen – Stéphane Hessel, hrsg. von Wolfgang Knappe, Weimar 2013

70

Eugen Kogon, Der SS-Staat, a.a.O., S. 317

71

Eugen Kogon, Dieses merkwürdige, wichtige Leben, a.a.O., S. 72–74

72

Eugen Kogon, Dieses merkwürdige, wichtige Leben, a.a.O., S. 74

73

Eugen Kogon, Dieses merkwürdige, wichtige Leben, a.a.O., S. 79–80

74

Eugen Kogon, Dieses merkwürdige, wichtige Leben, a.a.O., S. 80–82

75

Eugen Kogon, Dieses merkwürdige, wichtige Leben, a.a.O., S. 82

76

Eugen Kogon, Dieses merkwürdige, wichtige Leben, a.a.O., S. 82–83

77

Eugen Kogon im Gespräch mit Reinhard Hoffmeister. In der ZDF-Reihe: Zeugen des Jahrhunderts (Teil II: 1945 bis heute), ZDF 1982

78

Alle Macht der Phantasie – zum 80. Geburtstag Eugen Kogons. Eugen Kogon im Gespräch mit Dr. Peter Huemer. ORF – Teleobjektiv – 5. April 1983

Für Matthias, Beate, Manuela,

Anna, Jonas, Ethan und Max

Vorwort

»Lieber Vati. Wie ist denn das Wetter bei Dir? Ich glaube Du wirst es nicht wissen, weil zu Dir keine Sonne und kein Regen kommt!«, schrieb mein Bruder Alexius am 3. März 1939 an unseren Vater ins Gefängnis. Der saß in Gestapohaft, mein Bruder und ich saßen in einem Kloster fest. Eine zerrissene Familie. Was war geschehen?

Am 12. März 1938 hatte der deutsche Reichskanzler und »Führer« Adolf Hitler den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich erzwungen. An jenem Tag wurde mein Vater, nach misslungener Flucht aus Wien, verhaftet. Er hatte sich in Österreich an Aktionen gegen Hitler beteiligt. Sieben Jahre lang hielt ihn die gefürchtete deutsche »Geheime Staatspolizei« in Gefängnissen und in einem Konzentrationslager gefangen. Mein Bruder und ich wurden für drei Jahre in einem bayrischen Kloster untergebracht. Meine Mutter schlug sich in Wien mit meiner kleinen Schwester durch. Ab September 1941 verfolgten die Nazis die Juden mit aller Härte. Das traf auch meinen Vater; seine Mutter war Jüdin. 1944 geriet Wien in den Einzugsbereich der alliierten Bomber. Das ganze Jahr 1944 hindurch musste ich als »Flakhelfer« solche Flugzeuge abschießen helfen. Im April 1945 brachte die Besetzung Wiens durch sowjetische Truppen neue Ängste und Entbehrungen. Im selben Monat erreichten amerikanische Truppen das KZ Buchenwald; mein Vater war nach siebenjähriger Gefangenschaft frei. Hitler beging Selbstmord. Deutschland kapitulierte. Die Herrschaft der Nazis war zu Ende. Ab August 1945 war unsere Familie wieder beisammen. Doch was war aus ihr geworden? Und wie hatten wir die schwere Zeit überstanden?

Die siebenjährige Gefangenschaft meines Vaters zerfällt in zwei Phasen: dreieinhalb Jahre Inhaftierung in Wien und die insgesamt ebenso lange KZ-Gefangenschaft. Als Gefangener der Gestapo in Wien schwankte mein Vater zwischen immer neuer Hoffnung auf Freilassung und immer neuer Enttäuschung. Die durch Willkür bewirkte Ungewissheit war die schlimmste seelische Folter, die er erlitt. Im KZ hingegen konnte er nicht mehr enttäuscht werden. Dass die Gestapo ihn nicht mehr freilassen würde, war ihm zur Gewissheit geworden. Doch je mehr sich das Kriegsglück von Deutschland abwendete, desto mehr konnte er hoffen, von alliierten Truppen befreit zu werden. Dies war eine zwar nicht unmittelbare, dafür aber auch nicht mehr trügerische Hoffnung.

Über seine Zeit im KZ hat mein Vater später öfter berichtet. Von diesen Berichten habe ich die aufschlussreichsten in dieses Buch aufgenommen. Anders verhält es sich mit den dreieinhalb Jahren, die mein Vater im Gefängnis verbrachte. Sie wurden bisher nur spärlich dokumentiert. Diese Lücke wird in dem vorliegenden Buch mit zahlreichen Originaldokumenten geschlossen.

Meine Eltern hatten zwei Möglichkeiten, während der Gefangenschaft meines Vaters miteinander in Verbindung zu bleiben. Die eine Möglichkeit waren »normale« Postbriefe und Postkarten. Textumfang und Schreibzeiten waren beschränkt, der Inhalt wurde zensiert. Dies ließ keine vertraulichen Mitteilungen zu. Mein Vater bediente sich mehrerer Methoden, um diese Beschränkung zu umgehen. Eine Methode war eine Wasserschrift. Wenn man das Papier anfeuchtete und gegen das Licht hielt, wurde die Schrift lesbar. Eine zweite Methode war, den Text zu verschlüsseln – am einfachsten durch die Verwendung von Decknamen.

Meine Mutter ihrerseits versuchte, die Zensur als Gelegenheit zu nutzen, um Hafterleichterungen zu erreichen. Manche ihrer Briefe und Karten wirken mehr an den Zensor als an meinen Vater gerichtet. Sie betonte die schlimmen Verhältnisse, in denen die Familie zu leben gezwungen war, und die Ungerechtigkeit der langen Gefangenschaft ihres Mannes. Nur war der Zensor die falsche Adresse. Er hatte »Vorschriftswidriges« und »Gefährdendes« durch Schwärzung unlesbar zu machen. Hingegen war es nicht seine Aufgabe, Klagen und Beschwerden an die Gestapo-Referenten weiterzugeben, damit sie endlich ein Einsehen hätten.

Die zweite Möglichkeit schriftlicher Verständigung zwischen meinen Eltern waren versteckte Mitteilungen (Kassiber). Sie setzen entweder einen persönlichen Kontakt oder den Austausch von Gegenständen (Wäsche, Toilettenartikel, Nahrungsmittel, Zeitschriften, Bücher) voraus, in denen sie versteckt werden können. Meine Eltern konnten Kassiber nur austauschen, wenn mein Vater in einem Wiener Gefängnis war. Dann durfte meine Mutter ihm einmal in der Woche saubere und geflickte Wäsche bringen, während umgekehrt er ihr seine defekte und schmutzige Wäsche herausgeben ließ. Aus dem KZ Buchenwald war ein offizieller Austausch von Gegenständen nicht möglich. Zwar konnte mein Vater Päckchen und Pakete empfangen, doch wäre es zu riskant gewesen, darin persönliche Nachrichten zu verstecken.

Der Austausch von Kassibern – in beide Richtungen – gewährleistete, so mühselig er war, einen vertraulichen Kontakt. Auf diese Weise konnte mein Vater sich einen kleinen kontrollfreien Bereich von Liebe, Austausch, Verständnis und Aufrichtigkeit mit einem Rest von Selbstbestimmung bewahren. Im Gefängnis hatte er mehrere Methoden gelernt, um Kassiber anzufertigen und versteckt auf den Weg zu bringen. Als die Kontrollen noch nicht so penibel waren, legte er sehr dünne Papierservietten zwischen Wäsche- und Kleidungsstücke. Später ritzte er Nachrichten in Packpapier ein. Wenn meine Mutter das Papier im richtigen Abstand über eine Flamme hielt, verkohlte die Schrift und wurde sichtbar. Meine Mutter musste aber sehr sorgfältig vorgehen, damit nicht das Papier in Flammen aufging. Mit zunehmender Erfahrung kritzelte mein Vater seine Botschaften auf schmale Stoffstreifen. Die nähte er in den Saum von Wäschestücken ein. Dasselbe tat meine Mutter.

Meine Mutter hob alle schriftlichen Mitteilungen meines Vaters auf, auch die Kassiber. Das war riskant. Sie musste jederzeit mit einer Durchsuchung rechnen, hatte aber in dem einen Raum, in dem sie mit uns drei Kindern lebte, kaum Verstecke. Doch sie hatte Glück. Die Kassiber überstanden Krieg und Nazizeit unentdeckt als Knäuel gräulicher Stoffstreifen mit verblasster Schrift. Die Kassiber meiner Mutter konnte mein Vater in seiner Zelle nicht aufbewahren. Sie sind verlorengegangen. Ebenso ist keiner der Briefe erhalten geblieben, die er im KZ erhielt. Er seinerseits konnte meiner Mutter unmittelbar vor seiner ersten Verschickung ins KZ alle Briefe und Postkarten übergeben lassen, die ihn bis dahin in seinem Wiener Gefängnis erreicht hatten. So sind sie erhalten geblieben.

Nach dem Tod meiner Eltern sortierte ich ab 1989 aus dem schriftlichen Nachlass meines Vaters alle von mir aufgefundenen Briefe, Postkarten und versteckten Mitteilungen der Jahre 19381945 aus. Aus dem vorhandenen Quellenmaterial konnte ich jedoch lediglich eine knappe Auswahl berücksichtigen. Dies hat folgende Gründe. 1. Ein Teil der versteckten Mitteilungen meiner Eltern in das oder aus dem Gefängnis konnte noch nicht lesbar gemacht werden. 2. Aus den erhalten gebliebenen Briefen und Postkarten sowie aus den bisher lesbar gemachten versteckten Mitteilungen habe ich alle Textstellen gestrichen, a) in denen auf Ereignisse und Personen Bezug genommen wird, die nicht mehr erklärt werden können oder die für dieses Buch uninteressant sind, b) deren Veröffentlichung Persönlichkeitsrechte verletzen würde. 3. Zusätzliche Kürzungen musste ich vornehmen, um den Rahmen des Buches nicht zu sprengen. Alle Auslassungen sind mit drei Punkten kenntlich gemacht. Alle in diesem Buch abgedruckten Briefe, Postkarten und versteckten Mitteilungen sind Erstveröffentlichungen. Die ursprüngliche Schreibweise wurde weitgehend beibehalten. Meine Eltern und meinen Bruder hätte ich gerne um ihre Einwilligung zur Veröffentlichung ihrer Briefe gebeten. Doch sie leben nicht mehr. Alle ihre Äußerungen sind achtenswert und ein authentisches Stück Zeitgeschichte. So fühle ich mich ermächtigt, anzunehmen, dass sie nichts gegen die Veröffentlichung einzuwenden gehabt hätten. Ich bin mir bewusst, dass ich, ohne etwas beschönigen zu wollen, als Sohn und Bruder der guten Erinnerung an diese drei mir nahestehenden Menschen verpflichtet bin.

Die Idee zu diesem Buch hatte mein Sohn Matthias. Ursprünglich wollte ich nur den Briefwechsel publizieren, den mein Bruder und ich in den knapp drei Jahren unseres bayrischen Kloster-Exils mit unserer in Wien verbliebenen Mutter geführt hatten. Der Verlag meinte, wenn schon, dann sollten es der gesamte Briefwechsel der auseinandergerissenen Familie und ihre Erinnerungen aus allen sieben Jahren der Inhaftierung meines Vaters sein. Das Material war vorhanden, wenngleich an mehreren, nicht immer leicht zugänglichen Orten. Ich brauchte es »bloß« zusammenzutragen, zu sichten, zu ordnen, zu kürzen und erforderlichenfalls zu erklären, zu kommentieren und die Lücken durch eigene Texte zu füllen. Es war nicht immer leicht, alle Einzelteile zu einem konsistenten Bild zusammenzufügen. Meine Frau brachte mit großem Engagement ihren Realitätssinn, ihre Sachkenntnis und ihr Sprachgefühl ein. Von meinen beiden in der Nähe wohnenden Kindern Matthias und Beate erhielt ich wertvolle Anregungen. Meine in San Francisco wohnende Tochter Manuela ließ es sich trotz der großen Entfernung nicht nehmen, das Projekt mit wichtigen Hinweisen aus ihrer Berufs- und Erfahrungswelt mitzugestalten. Dipl.-Ing. Gerhard Raganitsch, Dr. Agnes Missong-Wild und Botschafter a.D. Dr. Alfred Missong junior ließen mich bereitwillig an ihren Erinnerungen teilhaben. Elisabeth Battke überließ mir die »Skizzen von Dr. Kogon« auf S. 136. Das Bonner Archiv der Sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung öffnete mir bereitwillig seine Bestände. Ihnen allen danke ich herzlich.

Zeittafel zu Eugen Kogon

2.Februar 1903: Eugen Kogon wird in München geboren. Mutter Jüdin aus Nikolajew in der Ukraine, Vater unbekannt. Bis zum elften Lebensjahr Pflegekind in einer Münchner Familie.

19141918: Internatsschüler in zwei Klöstern.

Ab 1923: Studium der Nationalökonomie und der Soziologie in München, Florenz und Wien. Wohnsitznahme und freiberufliche Tätigkeit in Wien.

1927 Promotion. Eheschließung mit der Münchner Jugendfreundin Margarethe Lang. Eintritt in die Redaktion der Wiener katholisch-konservativen Wochenschrift Schönere Zukunft.

Oktober 1932–12. Januar 1934: Geschäftsführer und Mitgesellschafter der Neuen Zeitung.

23. Februar–12. April 1934: Chefredakteur des Österreichischen Beobachters.

Juni 1934: endgültiger Abschied von der Illusion, der Nationalsozialismus könne »verchristlicht« werden. Von da an Beteiligung an Aktionen gegen den Nationalsozialismus.

Ab 1935 Vermögensverwalter des Prinzen Coburg.

11. März 1938: beim »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich misslungene Flucht und Verhaftung.

Mai 1938: erstes Verhör. Schwanken zwischen Hoffnung und Enttäuschung.

September 1939: Verschickung in das KZ Weimar-Buchenwald. Arbeit im mörderischen »Schachtkommando«, dann durch Bestechung in einer wettergeschützten »Feldschmiede«.

Januar 1940: Rücktransport in ein Wiener Gefängnis zwecks Einvernahme als Zeuge.

Juni 1941: wieder nach Buchenwald, Arbeit in der Häftlingsschneiderei.

Februar 1942: ein zweites Mal zu Zeugenaussagen in ein Wiener Gefängnis.

August 1942: definitiv nach Buchenwald. Arbeit wieder in der Häftlingsschneiderei.

Frühjahr 1943: Gestapo-Befehl zur Überstellung nach Auschwitz zwecks Vergasung. Dramatische provisorische Rettung durch Stellenantritt als Schreiber bei einem gefürchteten SS-Lagerarzt.

Februar 1944: nochmalige Nachfrage der Gestapo Wien: »… Volljude … warum noch immer nicht überstellt?«

März 1944: Registrierung als »Volljude«. Definitive Rettung durch den SS-Arzt. Deal: Wenn der SS-Arzt Kogon und andere Gefangene schützt, wird Kogon dies nach der deutschen Kriegsniederlage wahrheitsgemäß bezeugen.

Oktober 1944: mit Deckung durch den SS-Arzt Rettung des französischen Widerstandskämpfers Stéphane Hessel.

April 1945: Amerikanische Truppen befreien das KZ Buchenwald.

1946: Erscheinen von Kogons Buch Der SS-Staat – Das System der deutschen Konzentrationslager und Gründung der Zeitschrift für Kultur und Politik Frankfurter Hefte. Von da an wurde Kogon zu einer bekannten Orientierungsfigur der moralischen und geistigen Erneuerung Deutschlands.

1.
Flucht und Verhaftung

März 1938: Der »Anschluss« Österreichs und die Flucht meines Vaters

11. März 1938, Freitag. Ein »ekelhaft kalter Tag«, erinnerte sich meine Mutter später. Mein Bruder und ich drückten Radieschensamen in die Erde der beiden Beete, die unsere Eltern uns zwischen dem Nussbaum und den Weichselbäumen zugeteilt hatten, als Aufgabe ebenso wie zum Vergnügen. Im Krottenbachtal brannten bereits die Straßenlaternen. In Sievering drüben verloren sich die Weinberge in der Dämmerung. In der Baumschule nebenan arbeitete niemand mehr. Die Kälte trieb uns ins Haus zurück. Hungrig stürmten wir die paar Stufen zur Glasveranda hinauf. Unsere Mutter hatte uns nicht gerufen. Der Tisch war nicht gedeckt, die Küche verwaist. Die Eltern drängten sich im Wohnzimmer vor dem Radio. Schließlich bat eine sehr ernste Stimme Gott, er möge Österreich schützen. Mein Vater zündete sich eine Zigarette an. Meine Mutter rannte in die Diele, schob die Portiere zur Seite und eilte die geschwungene Treppe hoch. »Promotionsurkunde im Schreibtisch rechts!«, rief mein Vater ihr nach. Nach einer Weile kam sie mit einem Koffer herunter. Das Telefon läutete, schrill. Mein Vater dämpfte seine Stimme, obwohl außer uns niemand da war, der hätte mithören können. Meine Mutter kramte im geöffneten Koffer. Es tat ihr sichtlich wohl, sich abzulenken. Einen zweiten Telefonanruf beendete mein Vater rasch. Aufgeregt redete er auf meine Mutter ein, als könne nur noch Reden helfen, und doch half gerade Reden nichts mehr. Mein Bruder und ich suchten in der Küche nach Essbarem. Die Sekretärin meines Vaters – für ihn Fräulein Schultz, für uns Tante Sophie – kam, auch sie beunruhigt, aus dem Arbeitszimmer herunter, auf dem Arm meine dreieinhalbjährige Schwester Cornelia, das Mauserl.

Bald erfuhr ich, was es mit jenem Satz im Radio auf sich gehabt hatte, in dem Gott von einem offenbar wichtigen Mann um den Schutz Österreichs gebeten worden war. Der Mann war der österreichische Bundeskanzler Kurt Schuschnigg gewesen. Mit jenem Satz hatte er seine Abdankung verkündet. Die hatte Adolf Hitler von ihm gefordert. Er sollte seinen Sessel für einen nationalsozialistischen Bundeskanzler räumen. Der sollte dann für den auch formell korrekten Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich sorgen. Schuschnigg hatte in seiner Abdankungsrede außerdem das österreichische Bundesheer angewiesen, bei einem Einmarsch deutscher Truppen sich ohne Gegenwehr zurückzuziehen. Das kleine Land lag ungeschützt vor dem aufgerissenen Maul des »großen Bruders«.

Kurz nach seiner Abdankung wurde Schuschnigg in seiner Wiener Dienstwohnung im Schloss Belvedere unter Hausarrest gestellt. Dann überstellte ihn die deutsche Gestapo als ihren Gefangenen in ihr gefürchtetes Wiener Hauptquartier im beschlagnahmten Hotel Metropol am Morzinplatz. Von dort verschickte sie ihn, wie später auch meinen Vater, in ein KZ. »Seines« hieß Dachau, dasjenige meines Vaters Buchenwald. Ein schöner Name für einen so schlimmen Ort. Das noch schlimmere KZ Auschwitz trug den Zusatznamen Birkenau. Dort wuchs keine Birke und schimmerte auch keine Au neben den offenen Gräben, in denen die frisch vergasten Menschen in unerträglichem Gestank verbrannten. In der geographischen Mitte des KZ Buchenwald stand immerhin eine »Goethe-Eiche«. Die SS hatte sie bei der Rodung pietätvoll – oder zynisch – stehen lassen.

Die Nacht jenes 11. März senkte sich schwer auf unser Land. Mein Vater schleppte den Koffer zu seinem dunkelblauen Hudson Terraplan. Abhauen, das passte nicht zu ihm. Wir standen winkend am Straßenrand: meine Mutter, mein Bruder, Tante Sophie mit dem Mauserl auf dem Arm und unsere junge fröhliche Haushaltshilfe Olga. Ebenso wie Tante Sophie wohnte Olga mit uns im Haus. Noch nie hatte unser Vater sich von unserer Mutter verabschiedet, ohne ihr mitzuteilen, was er vorhatte und wann er zurückkommen würde. Das war diesmal zwangsläufig unterblieben, außer dass er ihr etwas Tröstendes zugerufen haben mochte: Wird schon werden, mach dir keine Sorgen, bin bald wieder da, – wahrscheinlich eher: Ich hole euch bald nach. Tröstungen ohne Substanz, nur dazu gedacht, die Angst zu verscheuchen. Doch die Angst kroch in uns hoch, nachdem das Auto in der Dunkelheit verschwunden war.

Es sollte ein Abschied für längere Zeit werden, genauer gesagt: für sieben Jahre. So gesehen, hätte er feierlicher sein müssen. Der beträchtlichen Dauer stand eine sehr kurze Wegstrecke der Abwesenheit gegenüber. Nach 46 Kilometern wurde mein Vater verhaftet und nach Wien zurückspediert. Danach hatte er noch anderthalb Jahre Gestapo-Gefangenschaft zu erdulden, bis er zum ersten Mal in das KZ auf dem Ettersberg oberhalb der Goethe-Stadt Weimar verbracht wurde.

An unserem Abschied hatten auch unsere beiden Möpse Moritz und Nanette durch Dabeistehen teilgenommen. Moritz und Nanette waren Zuschauer von Natur aus. Wien und seine phlegmatischen Hunde: Ist es denkbar, dass der Charakter einer Menschenbevölkerung sich auf den Charakter der von ihr gehaltenen Hunde überträgt? Jedenfalls sorgten die beiden Möpse in unserer Familie für das Beruhigungsprogramm. Je lebhafter es zuging, desto behäbiger benahmen sie sich. Als mein Bruder und ich wenig später abgeholt wurden, um in ein bayrisches Kloster verfrachtet zu werden, sahen die beiden Möpse ebenfalls bloß zu. Bald darauf wurden auch sie abgeholt.

Moritz und Nanette waren eine Leihgabe von Onkel Jussy. Hauptmann Julius Glaser war Direktor im Wiener Bank- und Kommissionsgeschäft Hübner & Cie. Mein Vater war in jenem Bankhaus nur Prokurist, dies aber im Auftrag eines Prinzen – als Treuhänder für einen Teil von dessen Familienvermögen. Einmal war der Prinz bei uns zu Gast. Er war nicht jung, und auch Locken hatte er keine und auch keine Prinzessin an seiner Seite. Sollten die Gebrüder Grimm mich hereingelegt haben? Wenigstens einen prinzlichen Namen trug er. Der war so lang, dass ich ihn mir nicht merken konnte. Bei uns zu Hause hieß er einfach »der Prinz« oder, wenn respektvollerer Abstand gefordert war, »Prinz Coburg«.

Von 1927 bis 1933 war mein Vater Redakteur, später stellvertretender Chefredakteur der konservativ-katholischen Zeitschrift Schönere Zukunft gewesen. 1935 war er, nach einem Intermezzo bei zwei Wiener Zeitungen, in die Dienste ebenjenes Prinzen getreten. Das ideelle Bindeglied zwischen den beiden Männern war der »christliche Ständestaat«, eine unter österreichischen Katholiken weitverbreitete Idee. Mein Vater hatte sie sich im Rahmen seiner Klostererziehung angeeignet. Gemäß dieser Idee sollten die Klassengegensätze in Wirtschaft und Gesellschaft durch eine quasidemokratische berufsständische Ordnung (Nazi-Beispiel: »Nährstand, Lehrstand, Wehrstand«) überwunden und die parlamentarische Demokratie angesichts ihrer als desaströs empfundenen Funktionsunfähigkeit in vielen europäischen Ländern durch eine autokratische Staatsordnung ersetzt werden. Die europäischen Diktatoren oder Halbdiktatoren der zwanziger und dreißiger Jahre – Mussolini in Italien, Franco in Spanien, Salazar in Portugal, Horthy in Ungarn, Dollfuß und Schuschnigg in Österreich, Hitler in Deutschland – legten alle ein Lippenbekenntnis zur demokratischen Ordnung innerhalb der Stände ab, hatten aber in Wahrheit vor allem den anderen Teil der Idee im Sinne: eine nicht demokratisch legitimierte Regierung. Mein Vater versprach sich Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre viel vor allem von Mussolini, dem »Duce« und Ministerpräsidenten des Königreichs Italien, und noch die Machtergreifung Hitlers im Januar 1933 kommentierte er mit der Hoffnung, der Nationalsozialismus werde ein Bollwerk gegen den Bolschewismus sein und sich »verchristlichen« lassen.

Von seiner anfänglichen Affinität zu Teilen des politischen Systems Hitlers distanzierte sich mein Vater schon 1934. (Jahre nach dem Ende des Krieges, 1961, verarbeitete er seine Erfahrungen mit Diktatoren in dem Film Die Diktatoren. In ihm versuchte er verständlich zu machen, warum in den dreißiger Jahren so viele Menschen, auch er, auf jene Machttypen hereingefallen waren. Vermutlich war dieser erste Ausflug meines Vaters in die Welt der Filmproduktion nicht sehr gelungen. Immerhin legte er aber den Grund zu seiner anschließenden Erfolgskarriere als Moderator politischer Magazine – zuletzt von Panorama – im jungen deutschen Fernsehen.) So entschloss sich mein Vater zur »… Mitarbeit an dem, was man die Verhinderung der nationalsozialistischen Machtergreifung in österreichischen Presseorganen nennen könnte … Da fand ein Jahr lang, von 1933 auf 1934, ein erbitterter Untergrundkampf statt, in dem ich mit Rafael Spann, einem Sohn Othmar Spanns, und zwei anderen einiges gegen die Nationalsozialisten organisierte.«[1]

Othmar Spann, seit 1919 ordentlicher Professor für Nationalökonomie und Gesellschaftslehre an der Universität Wien, war der Begründer der Gesellschaftslehre des »Universalismus« und ein wichtiger Vertreter der Ständestaatsidee. Mein Vater promovierte bei ihm 1927 zum Thema Faschismus und Korporativstaat. »Der Grundgedanke des Universalismus von Spann ist der uralte aristotelische Satz, wonach ›das Ganze vor dem Teil‹ ist … Dieser Grundsatz … vom Organismus und seinen Teilganzen führt einerseits zu der Erkenntnis, daß im staatlichen Leben Autorität und Bindung (nicht Knebelung) höher stehen als die Freiheit, die ja in der Anarchie, d.h. der Autoritäts- und Bindungslosigkeit, nicht ihren Höhepunkt erreicht, wie es bei umgekehrter Rangstellung der Fall sein müßte, sondern zerfällt, weil nur Bindung Freiheit überhaupt ermöglicht; andererseits zu den ›Baugesetzen des sozialen Lebens‹, deren eines besagt, daß organisches, fruchtbares Staatsleben nur über kleine Kulturgemeinschaften (Familie, Stand) möglich ist (Stufenbau des sozialen Körpers), ein anderes aber, daß demokratische Abstimmung und politische Autonomie nur unter relativ Gleichen, also im Stand, denkbar sind.«[2] Nach anfänglichen ideologischen und organisatorischen Querverbindungen zwischen dem Spannschen Universalismus und dem Nationalsozialismus entwickelten sich die beiden Richtungen bis 1938 weit auseinander. Nach dem »Anschluss« Österreichs wurde Spann verhaftet, in das Konzentrationslager Dachau eingeliefert und schwer misshandelt.

Mein Vater hatte nach seinem Ausscheiden aus der Redaktion der Schöneren Zukunft die Leitung der von den christlichen Gewerkschaften Österreichs getragenen Neuen Zeitung übernommen. Sie erschien von Januar 1933 bis Januar 1934. Im Herbst 1933 geriet sie in finanzielle Schwierigkeiten. Mein Vater hatte bereits eine Finanzhilfe von rund 150000 Schilling organisiert. Weitere 15000 Schilling steuerte ein Nationalsozialist namens Zogelmann bei. Damit sicherte er sich eine Option auf den Erwerb der Zeitung. Mit seiner Finanzhilfe erreichte er, dass österreichische Nazis den Vertrieb der Neuen Zeitung übernehmen konnten und dass er selbst in die Finanzverwaltung der Zeitung aufgenommen wurde. Aus Angst vor Verhaftung nach einer anonymen Anzeige angeblich meines Vaters floh er Anfang Dezember nach Hitler-Deutschland. Dort gab er bei der Gestapo zu Protokoll, er habe der Neuen Zeitung 60000 (statt 15000) Schilling zur Verfügung gestellt, und demgemäß gehöre die Zeitung seither ihm beziehungsweise einer von ihm zu benennenden Gruppe. Entsprechende Belege seien aber aus seiner Schublade entwendet worden, wiederum vermutlich von meinem Vater. Die Anzeige Zogelmanns war einer der Gründe, warum die Gestapo meinen Vater nicht wieder freiließ.

Beim »Röhm-Putsch« vom 30. Juni 1934 verlor mein Vater den letzten Rest seiner Hitler-Illusionen. »Ich bin der Meinung, daß das Ereignis des 30. Juni jedem, wo immer er stand, klarmachen mußte, daß es sich in der Tat um ein Unrechtsregime äußersten Ausmaßes handelte … Der 30. Juni ist für mich also wirklich der entscheidende Einschnitt, von dem an es für mich sozusagen keinen ›Pardon‹ mehr gab.«[3] Sein politisches Engagement in den anschließenden vier Jahren bis 1938 schilderte mein Vater später so: »Auch ich half, um zuerst das Einfache, aber menschlich Wichtige zu nennen, systematisch deutschen Emigranten in Österreich. Zweitens finanzierte ich … antinationalsozialistische Bestrebungen in Deutschland selbst. Drittens versuchte ich mitzuhelfen, international alle Richtungen, die gegen den Nationalsozialismus arbeiteten, in einen Informationszusammenhang zu bringen.«[4]

Die Finanzierung »antinationalsozialistischer Bestrebungen in Deutschland« erklärte mein Vater später so: »Als Vermögensverwalter des Prinzen kam ich geschäftlich öfters nach Deutschland, wo wir große Sperrmarkbeträge hatten.«[5] … »Wir hatten damals dem Matthias-Grünewald-Verlag … für Teile seiner Tätigkeit – besonders die religiösen, kirchlichen, zum Beispiel die berühmte Riessler Bibel – 30000 Sperrmark aus unseren Vermögensbeständen vermittelt.«[6] … »Ich wurde in Deutschland zweimal von der Gestapo verhaftet. Die erste Inhaftierung 1936 dauerte nur einen Tag. Das zweite Mal verhaftete mich die Gestapo im März 1937. Beide Male warf man mir Zuwiderhandlungen gegen die deutschen Devisengesetze und, im Gesamtzusammenhang meiner Arbeit für antifaschistische Kräfte außerhalb des Reichsgebiets, die Unterstützung deutscher Emigranten in Österreich, der Tschechoslowakei und der Schweiz vor. Bei der zweiten Verhaftung wurde ich nach vierzehn Tagen bedingt auf freien Fuß gesetzt, aber ich durfte Deutschland nicht verlassen. Nach viereinhalb Monaten wurde mir in Wiesbaden der Prozeß gemacht, und ich wurde als Vertreter des Prinzen Coburg wegen wiederholten Verstoßes gegen die deutschen Devisengesetze im Zusammenhang mit der finanziellen Unterstützung eines großen katholischen Verlagshauses in Deutschland vom Ausland her zu einer Geldstrafe von 10000 Reichsmark verurteilt, die der Prinz bezahlte.«[7]

Ein Tätigkeitsbild, das dem meines Vaters ähnelt, zeichnet Rudolf Ebneth in seinem Buch Die österreichische Wochenschrift »Der Christliche Ständestaat«[8] von Klaus Dohrn. Diese Zeitschrift, deren Chefredakteur Dohrn damals war, erschien von 1933 bis 1938. Sie bildete einen ideellen Gegenpol zur Schöneren Zukunft. Weltanschauliche Konflikte zwischen den beiden Zeitschriften waren vorprogrammiert. Das schloss freundschaftliche Beziehungen zwischen meinem Vater und Klaus Dohrn nicht aus, zumal mein Vater schon vor dieser Freundschaft aus der Redaktion der Schöneren Zukunft ausgeschieden war. Dem Christlichen Ständestaat fehlte es oft an Geld. Anfang 1937 hatte Caspar Graf Preysing, ein Angestellter des Privatbankhauses Hübner & Cie, Klaus Dohrn darauf aufmerksam gemacht, dass mein Vater bereit sei, dem Christlichen Ständestaat auszuhelfen. »Kogon half tatsächlich mit verschiedenen Zuwendungen, unter anderem durch die Bezahlung von Druckrechnungen. Mitte 1937 stand sogar der Kauf der Zeitschrift durch Kogon zur Debatte.«[9]

Klaus Dohrn und mein Vater agierten gegen Hitler in vergleichbarer Weise. Die Gestapo schätzte sie jedoch unterschiedlich ein. Dohrn war aus Deutschland geflohen, weil er um sein Leben fürchtete. Mein Vater floh, weil er um seine Freiheit fürchtete. Was Dohrn in Deutschland gegen die Nazis unternommen hatte, mochte nach Nazi-Recht strafbar gewesen sein. Für das, was mein Vater in Österreich unternommen hatte, galt Nazi-Recht nicht. Für die Gestapo war dies allerdings nur ein formeller Unterschied. Dennoch scheint sie Dohrn als »Staatsfeind«, meinen Vater hingegen »nur« als Regimegegner angesehen zu haben.

1937 leistete sich mein Vater den nächsten Affront. »Im Spätherbst 1937 hatte ich in Frankfurt am Main Gelegenheit, mich mehrere Nachmittage lang mit einem SS-Führer der Burg Vogelsang eingehend zu unterhalten.«[10] In der NS-Ordensburg Vogelsang in der Eifel schulte die NSDAP 193639 ihren Kadernachwuchs. Diese Burg war in Deutschland nach den Parteitagsbauten in Nürnberg das größte Bauwerk der Nazis. »Es war eine ganz offene Aussprache. Ich glaube aber nicht, daß er mich nachher ans Messer geliefert, das heißt veranlaßt hat, daß die erste Verhaftungsliste, die die Gestapo am 12. März 1938 beim Einmarsch der deutschen Truppen in Österreich von Berlin nach Wien mitbrachte, meinen Namen enthielt. Ich vermute, daß meine Verhaftung auf ganz andere Tätigkeiten zurückging … Die Gestapo wußte, daß ich Klaus Dohrn und eine ganze Reihe anderer Persönlichkeiten sehr unterstützt hatte.«[11]

Um das Maß voll zu machen: »Im Frühjahr 1938, vor dem deutschen Einmarsch in Österreich und meiner Verhaftung gleich am ersten Tag, arbeitete ich an einem Buch Gespräche mit Deutschen. Es sollte die Erfahrungen zusammenfassen, die ich bei zwei Reisen durch Deutschland gemacht hatte … Ich erinnere mich, meinen Gesamteindruck wie folgt angedeutet zu haben: Damals, Jahre nach 1933, gab es nur wenige Deutsche, die nicht in irgendeinem Punkt mit dem Nationalsozialismus übereinstimmten und irgend etwas an seiner Praxis begrüßenswert, zumindest anerkennenswert fanden. Ebenso wenig Deutsche, außerhalb der Partei, gab es, die an dieser Praxis nicht noch mehr auszusetzen hatten. So gut wie niemanden aber gab es, wiederum außerhalb der NSDAP und ihrer direkten Anhängerschaft, der gewagt hätte, mit Sicherheit zu sagen, daß dies der richtige politische Weg der Deutschen in die Zukunft sei. Die erklärten Gegner sahen den Krieg voraus. Sonst fast jedermann verschloß die Augen davor, hoffte auf ein Arrangement in der Außenpolitik, bei dem ›Großdeutschland‹ mit respektiertem Ansehen in der Welt erhalten blieb, sowie auf ›Normalisierung‹ im Innern, das heißt Abschluß der revolutionären Veränderungen und ›vernünftige Kompromisse‹, in denen man das bereits Verfügte einschließlich massiver Unrechtsmaßnahmen hinzunehmen bereit war, wenn sie sich nicht fortsetzten.«[12]

Meine Mutter vernichtete das Buchmanuskript Gespräche mit Deutschen nach der Verhaftung meines Vaters. Ich kann mir vorstellen, wie einem Schriftsteller zumute ist, der sein Werk vernichten lassen muss. Vermutlich glaubte mein Vater, es später neu schreiben zu können. Um dafür einen Anhaltspunkt zu haben, schickte er meiner Mutter im Juni 1940 aus dem Gefängnis einen Kassiber mit dem Inhaltsverzeichnis.

Als i-Tüpfelchen seiner »regimefeindlichen Gesinnung« hatte mein Vater in einer Veröffentlichung Hitler-Deutschland »das Land der Kasernen und der Gefängnisse« genannt.

All dies zusammengenommen reichte aus, um ihn nach der Abdankung Schuschniggs zur Flucht zu bewegen. Groteskerweise erbrachte die Flucht einen neuen Straftatbestand. Einer der beiden Männer, mit denen mein Vater nach Schuschniggs Rede telefoniert hatte, war ebenjener Klaus Dohrn gewesen. Er hatte meinen Vater gebeten, ihn mitzunehmen. Ihm gelang als Einzigem die Flucht. Damit konnten die Nazis meinen Vater wegen Fluchterleichterung bzw. Fluchthilfe belangen. Ein Gestapo-Referent hielt meinem Vater bald darauf vor, allein dies reiche aus, ihn zwei Jahre in Haft zu behalten.

Die Flucht misslingt

Der Wagen meines Vaters war in der Dunkelheit verschwunden. Wir gingen mit dem Gefühl in das Haus zurück, auch wir müssten es bald verlassen. Aus einem Fenster des Nebenhauses lugte ein Hakenkreuz-Fähnchen. Die erste Ratte hatte sich aus dem Versteck gewagt, im aufsteigenden Schiff.

Mein Vater fuhr als Erstes zu Alfred Missong. Der wohnte mit seiner Familie nicht weit weg von uns in der Hartäckerstraße. Er war ein früherer Kollege aus der Zeit der gemeinsamen Redaktionsarbeit in der Schöneren Zukunft.