Cover

Bettina Landgrafe

Weiße Nana

Mein Leben für Afrika

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Bettina Landgrafe

Bettina Landgrafe, geboren 1976, kam vor zehn Jahren zum ersten Mal nach Afrika. 2007 gründete die gelernte und examinierte Kinderkrankenschwester den Verein »Madamfo Ghana«. Zunächst arbeitete sie die Hälfte des Jahres in Deutschland und verbrachte die restliche Zeit in Ghana. Seit 2010 widmet sie sich hauptsächlich ihrem Verein. Nebenher hält sie Vorträge und hat einen Lehrauftrag an der Technischen Universität Dortmund.

Weitere Infos unter: www.madamfo-ghana.de

Impressum

eBook-Ausgabe November 2012

Knaur eBook

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: privat

ISBN 978-3-426-41078-3

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So little done, so much to do.

 

Emmanuel Stephenson

Vorwort

von Atze Schröder

Wie heißt das Insekt »Paraponera clavata« auf Deutsch? Das war die Frage, mit der ich in der Sendung »Wer wird Millionär?« bei Günther Jauch im Herbst 2009 eine halbe Million gewann. Damals ahnte ich nicht, dass dies der Beginn des schönsten und beeindruckendsten Abenteuers meines Lebens war.

Schon als kleiner Junge träumte ich davon, in das für mich überaus verheißungsvoll klingende afrikanische Land Ghana zu reisen. Denn aus Ghana kam der Kakao, der mir so gut schmeckte, so hatte mein Vater es mir erzählt. Immer wieder brachte er mir Bücher über Ghana mit, die ich nur so verschlang. Lange träumte ich davon, endlich in dieses sagenumwobene Land zu fahren, doch wie so oft im Leben kam immer im letzten Moment etwas dazwischen.

Nachdem ich also bei Günther Jauch mit der Antwort »Tropische Riesenameise« punkten und meinen Gewinn davontragen konnte, überlegte ich, was ich Sinnvolles mit diesem Geldbetrag anfangen könnte. Ich beriet mich mit meinen Freunden, und einer unter ihnen, ein Arzt, der bereits in Afrika gewesen war, erzählte mir von einer Kinderkrankenschwester aus Hagen, die seit Jahren in Ghana gute und effektive Hilfsprojekte realisiere.

Mein Herz schlug höher: Ausgerechnet in Ghana war diese Frau tätig? Das erste Treffen mit Bettina Landgrafe schlug bei mir ein wie ein Blitz. Nun treffe ich durch meinen ungewöhnlichen Beruf wohl täglich die unterschiedlichsten Leute und Charaktere, aber ein derart beeindruckender Mensch war noch nie darunter gewesen. Bettina Landgrafe ist, wie man so schön sagt, ein Energiebündel mit einer ausschließlich positiven Ausstrahlung, gepaart mit einer derart großen Leidenschaft und Konzentration auf die Dinge, dass es einen fast umhaut. Schnell war klar, dass sich für mich nun endlich ein Kindheitstraum erfüllen sollte: Wir fuhren gemeinsam nach Ghana. Und diese Reise, der noch weitere folgten, übertraf meine kühnsten Träume. Einmal davon abgesehen, dass mich dieses wunderbare Land im besten Sinne gefangen nahm und verzauberte, war es ein unvergessliches Erlebnis, Bettina bei ihrer Arbeit zu erleben und ihren Umgang mit den Ghanaern aus nächster Nähe zu erspüren.

Aber was ist es, was ihre Arbeit so besonders macht? Es ist die Tatsache, dass für sie die Menschen absolut im Vordergrund stehen. Sie widmet sich ihnen und ihren Problemen mit einer solchen Hingabe, dass man nicht anders kann, als ergriffen zu sein. Denke ich an unsere gemeinsamen Reisen, dann sind es viele kleine Erlebnisse, die ein ganz besonderes Licht auf Bettina Landgrafe und die Arbeit von Madamfo Ghana werfen. Wo immer sie auftaucht, kennen die Leute sie. Einmal fuhren wir mit dem Jeep mitten durch unberührten Busch, fernab von allem. Da überholten wir einen alten Mann auf einem völlig verrosteten Fahrrad. Als er uns sah, rief er uns ein lässiges »Hallo, Bettina!« zu. Diese kleine Episode zeigte mir neben vielen anderen Situationen, in denen Bettina spontan Hilfe leistete, wie verwurzelt und beliebt sie in diesem Land doch ist.

Die Projekte, die sie aufbaut und mit Spenden umsetzt, zeichnen sich durch echte Nachhaltigkeit aus. Sie tut dies gemeinsam mit den Menschen und nicht für sie. Auch dies ist eine der Besonderheiten von Bettina Landgrafes Engagement in Afrika. Ihr Leben ist so facettenreich, so voller interessanter Situationen, so voller Mitgefühl, dass mir die Worte fehlen, dies in allen Einzelheiten zu beschreiben. Ich kann nur eines sagen: Die Begegnung mit Bettina Landgrafe hat mich im positiven Sinne in meinen Grundfesten erschüttert. Sie ist wahrhaftig der Engel von Ghana. Vor allem aber ist Bettina ein guter Mensch. Es erfüllt mich tief, mit ihr befreundet zu sein.

Für jeden mitfühlenden Menschen ist dieses Buch eine wundervolle Reise. Es nimmt den Leser mit nach Afrika und eröffnet ihm einen tiefen Einblick in das außergewöhnliche Leben einer Frau, die es schafft, in zwei Welten zu leben. Bettina Landgrafes Engagement beweist, dass sinnvolle Entwicklungsprojekte wirklich möglich sind.

 

Atze Schröder

Kapitel 1

Von Hagen nach Accra

Am Morgen trete ich aus unserem Haus in Accra, und ich spüre, über Nacht ist die Trockenzeit angebrochen. Ich laufe zurück ins Haus und rufe nach Mimie. Sie ist meine ghanaische Schwester, vertrauter und näher, als ich mir je einen Menschen hier hätte vorstellen können.

»Mimie«, rufe ich aufgeregt, »hast du’s bemerkt? Die Trockenzeit ist da!«

Dies ist meine liebste Jahreszeit. Ja, auch hier in Ghana gibt es die, auch wenn sie völlig anders aussehen als in Europa. Frühling, Sommer, Herbst und Winter, das kennen wir hier nicht. In Ghana bestimmt das Wasser die Klimaveränderungen: Es gibt jede Menge davon in der Regen- und so gut wie keines während der Trockenzeiten. In der Trockenzeit von November bis März weht der Wind aus der Sahara, also von Nord nach Süd über das Land hinweg. Dieser Wüstenwind, der Harmattan, hat im Handumdrehen die hohe Feuchtigkeit aus der Luft gesogen, die ansonsten hier für ein Treibhausklima sorgt. Ja, in Deutschland findet man sicherlich nur in den Tropenhäusern der zoologischen Gärten ein Klima, das man mit unserer Regenzeit vergleichen könnte. Dann klettert das Thermometer schon mal auf 45 Grad. Und man ist einfach immer nass – sei es von der hohen Luftfeuchtigkeit oder vom Schweiß.

Wenn ich ehrlich bin, die westafrikanischen »seasons« sind mir hundert Mal lieber. Auch wenn ich meine Wurzeln in Deutschland habe und jeder auf den ersten Blick in mein Gesicht und auf mein blondes Haar meine nordeuropäische Herkunft vermutet, so fühle ich mich doch inzwischen mehr als Ghanaerin. Manchmal denke ich sogar, ich bin im falschen Land und im falschen Körper geboren worden. Aber natürlich ist das Unsinn: Es ist alles genau so richtig, wie es ist.

Mein Handy klingelt, eines von fünf. Wenn ich im Busch unterwegs bin, dann wechsle ich nicht selten an einem Tag in fünf verschiedene Netzbereiche. Ich muss erreichbar bleiben, für meine Kontakte in Deutschland und die Mitarbeiter in Ghana.

»Heute Morgen konnten wir das einhundertunddritte Kind retten!«, sagt Emmanuel, mein Stellvertreter, der meine Hilfsorganisation Madamfo Ghana hier im Land vertritt. »Es heißt Josuah und ist fünf Jahre alt!«

Ich jubele. Ein Kind weniger, das am Voltasee von morgens bis abends einem Fischer und Menschenhändler zu Diensten sein muss: Netze schleppen, das Boot hinaus auf den See rudern und andere, für sein Alter viel zu schwere Arbeit. Eines weniger, das jederzeit ertrinken kann, wenn es zu einem der Netze hinabtaucht, das sich wieder einmal verfangen hat. Eines mehr, das endlich das tun kann, wozu jedes Kind auf dieser Erde ein Recht hat: genug essen, spielen, lernen, zur Schule gehen und in aller Ruhe behütet heranwachsen.

Ein weiteres ist gerettet. Doch noch sind Tausende da draußen, von ihren Eltern an die Fischer verkauft, rechtlos und ohne Hoffnung.

Nein, das stimmt nicht. Ich bin jetzt ihre Hoffnung, Madamfo Ghana heißt ihre Rettung. Ich habe geschworen, diesen Kindern zu helfen. Und wer mich kennt, der weiß: Ich werde nicht eher ruhen, bis ich sie da rausgeholt habe.

»Mimie«, rufe ich, »wo bist du?«

Mimie steht unter freiem Himmel an ihrem Zuschneidetisch im Hof hinter der Küche und lässt die blitzende Schere ritschratsch durch einen bonbonfarbenen Stoff gleiten. Mimie ist Modedesignerin, und wer von ihr benäht wird, der hat Glück. Ich gehöre zu diesen Glücklichen, denn in Afrika trage ich fast nur einheimische Kleidung.

»Was wird das?«, necke ich sie und zupfe an dem schillernden Material. »Ein Vorhang?«

Mimie lacht, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. Es ist ein altes Spiel zwischen uns beiden. Die Afrikaner lieben leuchtende Stoffe – und im Gegensatz zu uns Weißhäuten können sie die auch gut tragen. Heute zaubert Mimie für eine Hochzeit gleich ein Dutzend Kleider aus demselben Stoff für den gesamten weiblichen Teil der Familie.

Ein weiteres Handy klingelt, es ist das mit der deutschen SIM-Karte, eine Journalistin ist am Apparat. Das Fernsehteam, das ein Jahr zuvor Atze Schröder für einen großen Spendenmarathon hier in Ghana gefilmt hat, wird wiederkommen. Die Menschen in Deutschland, die großzügig Herz und Geldbeutel öffneten, sollen erfahren, was aus ihrer Spende geworden ist. Dazu werden wir durch das halbe Land fahren, ich habe die Reise längst organisiert und freue mich darauf.

Als ich meinen Computer starte, warten bereits mehr als 300 neue E-Mails auf mich. Jeder kann innerhalb kürzester Zeit mit einer Antwort von mir rechnen. Das bringt mich manchmal an meine Grenzen, aber mir ist das äußerst wichtig. Denn die Menschen, die für Madamfo Ghana spenden oder auch einfach nur etwas fragen wollen, haben ein Recht auf Information aus erster Hand. Unsere beiden wunderbaren Sekretärinnen Pearl und Pamela, eineiige Zwillinge, sind noch nicht im Büro, und dabei laufen auch dort bereits die Leitungen heiß.

Ein ganz normaler Morgen in Accra ist für mich angebrochen. Doch jede Herausforderung macht mir Freude, und ich bin immer gespannt, was sich hinter jeder neuen E-Mail, dem nächsten Anruf verbirgt. Bekomme ich gute Nachrichten wie die von Emmanuel, dann könnte ich an die Decke springen. Keiner weiß, wie viel Mühe und Geduld es uns kostet, die Fischer in der Voltaregion davon zu überzeugen, dass sie gleich zwei Gesetze brechen, nämlich das gegen Kinderarbeit und das gegen Menschenhandel. Und dass sie, wenn sie mit uns zusammenarbeiten, ein weit besseres Leben führen können – auch ohne Kindersklaven.

 

Das Schicksal dieser Kinder liegt mir so am Herzen, weil ich selbst weiß, was es heißt, um die eigene Kindheit betrogen zu werden. Zwar wurde ich nicht von meiner Mama verkauft, wurde nicht zur Kinderarbeit gezwungen, sondern führte das vergleichsweise bequeme Leben eines Kindes in Deutschland, das in den achtziger Jahren aufwuchs. Dennoch wurde es mir nicht in die Wiege gelegt, eine Hilfsorganisation aufzubauen, einmal in einer TV-Sendung aufzutreten oder mit einem Fernsehteam durch Ghana zu reisen. Mit etwas weniger Glück hätte ich genauso gut als jugendliche Drogentote am Bahnhof enden können. Denn ein wirkliches Zuhause hatte auch ich damals nicht.

Meine Mutter war selbst in einem Waisenhaus aufgewachsen. Mir wurde erzählt, ihre Eltern hätten sie als ganz kleines Kind dort abgegeben, weil sie sie nicht haben wollten. Obwohl wir nie darüber sprachen, kann ich mir gut vorstellen, dass auch ihre Kindheit nicht gerade glücklich war. Dann aber schien sie das große Los zu ziehen, ein angesehener Chirurg und Direktor eines Hagener Krankenhauses lud sie im Rahmen eines Lions-Club-Projekts zu seiner Familie ein. Aus einem Besuch wurden viele, und so wuchs sie nach und nach in die Familie hinein. Auf einmal hatte sie ein Zuhause, Eltern, eine Schwester und einen Bruder. Meine Großeltern liebten meine Mutter sehr und gaben ihr die gleiche Zuwendung und Geborgenheit wie ihren leiblichen Kindern. Ich denke, es war das erste Mal überhaupt, dass meine Mutter Liebe und Geborgenheit spürte.

Sie machte die Ausbildung zur Krankenschwester und arbeitete in demselben Krankenhaus, in dem ihr Pflegevater Direktor war. Alles schien in bester Ordnung.

Da verliebte sich meine Mutter bis über beide Ohren. Ihre große Liebe war ein Gastarzt, der für einige Monate aus Hamburg ans Hagener Krankenhaus gekommen war. Beide schwebten im siebten Himmel, und bald war meine Mutter schwanger. Diese Liebe hatte nur einen kleinen, aber entscheidenden Schönheitsfehler: Der Arzt war verheiratet, hatte Kinder und dachte nicht daran, seine Familie für meine Mutter und mich aufzugeben. Er verschwand und ließ ein gebrochenes Herz zurück, unter dem nach und nach ich Gestalt annahm. Als ich zur Welt kam, war er längst in sein altes Leben zurückgekehrt. Ich sollte ihn niemals sehen, ja, ich weiß bis heute nicht einmal seinen Namen. Und im Grunde interessiert er mich auch nicht.

Wer weiß, vielleicht wäre alles anders gekommen, hätte meine Mutter diesen großen Herzensschmerz irgendwie überwinden können. Offenbar war sie dazu nicht in der Lage. Um sich zu betäuben, begann sie zu trinken. So kam es, dass ich mit einer Mutter aufwuchs, die entweder bei der Arbeit oder betrunken war. Wenn sie einmal nüchtern war, dann konnte man mit ihr viel Spaß haben. Sie war liebevoll und warmherzig. War sie aber betrunken, so vergaß sie alles um sich herum. Es war mein großes Glück, dass die Familie, die meine Mutter damals an Kindes statt angenommen hatte, mich als ihre Enkeltochter betrachtete und niemals aufhörte, für mich da zu sein.

Ich kam quasi nach meiner Geburt sofort ins Haus meiner Großeltern, denn meine Mutter arbeitete im Schichtdienst. Später wanderte ich nach dem Kindergarten und nach der Schule dahin, wo es gerade passte: Entweder holte meine Mutter mich ab oder meine Pflegemutter vom Kinderschutzbund. Und wenn das nicht ging, war ich bei meinen Großeltern.

Abb. 1: Mein Tag der Einschulung

Man hat mir erzählt, dass mein Vater dort eines Tages vor der Tür stand und mich mitnehmen wollte, doch mein Großvater sagte: »Nur über meine Leiche«, und damit war die Sache erledigt.

Ich war sehr gerne im Haus meiner Großeltern, die ich von Anfang an über alles liebte. Das Schönste waren der große Garten und das Schwimmbad, das sie im Keller hatten. Meine Großeltern nahmen mich schon als Kleinkind mit ins Wasser, und so konnte ich früher schwimmen als laufen. Mein Opi brachte mir Fahrradfahren bei, las mir Bücher vor und hörte Musik mit mir. Er war mein Vater und mein Großvater in einer Person. Was ich heute bin und kann, das verdanke ich meinen Großeltern.

Ich war noch sehr klein, da wollten meine Großeltern meiner Mutter helfen, vom Alkohol loszukommen, und meldeten sie mit ihrem Einverständnis in einer Spezialklinik zur Entziehung an. Doch noch am Tag ihrer Ankunft beschloss meine Mutter, das Ganze abzubrechen. Sie sagte, sie wolle nicht so lange von mir getrennt sein, und ließ sich nicht umstimmen. Mein Großvater hat ihr das sehr übel genommen.

Für mich brach eine schwierige Zeit an. Sosehr meine Großeltern auch verhindern wollten, dass ich unter der Situation litt, war ich doch stets hin- und hergerissen zwischen ihnen und meiner Mutter. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass einmal am selben Tag zwei wichtige Veranstaltungen stattfanden, und ich sollte entscheiden, ob ich lieber mit meinen Großeltern gehen wollte oder mit meiner Mutter. Das war typisch für den Konflikt, in dem ich von Anfang an steckte.

Als ich zwölf Jahre alt war, hatten meine Mutter und meine Großeltern einen riesigen Streit, und die Folge war, dass sie den Kontakt zueinander vollkommen abbrachen. Wieder stand ich vor der Entscheidung, zu wem ich halten sollte. Ich entschied mich für meine Mutter, ich konnte sie einfach nicht im Stich lassen.

Die Jahre, die auf diesen dramatischen Bruch mit meinen Großeltern folgen sollten, waren mit die schwersten in meinem Leben. Meine Mutter versank immer mehr in ihrer Trunksucht und war kaum noch ansprechbar. Wie oft geschah es, dass ich nach Hause kam, die Wohnungstür war abgeschlossen, und der Schlüssel steckte von innen, so dass ich nicht hinein konnte. Meine Mutter lag völlig besinnungslos auf ihrem Bett und hörte mein Klingeln und Klopfen nicht. Das waren fürchterliche Stunden, und noch heute dreht sich mir der Magen um, wenn ich an diese schrecklichen Szenen denke. Wenn meine Mutter dann irgendwann endlich zu sich kam und die Tür öffnete, schlug mir dichter, kalter Zigarettenrauch entgegen. Bis jetzt blieb mir davon eine Aversion gegen Raucher, das kann ich einfach nicht ertragen.

In dieser Atmosphäre war es mir unmöglich, mich auf die Schule zu konzentrieren, und so kam es, dass ich in der achten Klasse des Gymnasiums zwei Fünfen im Schuljahrszeugnis hatte. Die Klasse wiederholen oder auf die Realschule wechseln? Ich entschied mich für Letzteres.

In dieser Zeit war ich viel zu sehr mit mir selbst und vor allem der Situation zu Hause beschäftigt. Richtige Auseinandersetzungen hatte ich mit meiner Mutter nicht, das war mit ihr einfach nicht möglich. Wenn sie trank, dann war sie so gut wie abwesend, sie tat nichts mehr, weder kochen noch sonst irgendetwas. Und das hat mich wahnsinnig gemacht. Ich weiß noch, wie ich einmal ihren Schnaps weggoss und die Flasche mit Wasser auffüllte und wie sauer sie danach auf mich war.

Diese Stimmung zu Hause belastete mich enorm. Damals begann ich, viel Zeit auf einem Reiterhof zu verbringen. Ich liebe die Natur und besonders die Tiere. Ja, ich bin wahnsinnig tierlieb, und es bereitete mir große Freude, mich um die Pferde und Ponys zu kümmern. In diesen Stunden mit den Pferden war ich glücklich. Der Reiterhof wurde zu meiner Zuflucht vor dieser schrecklichen Situation zu Hause, und ich liebte nichts so sehr, wie auf dem Rücken meines Pflegepferdes Nathan über die Wiesen und Felder zu galoppieren.

Abb. 2: Im Alter von 12 Jahren mit meinem Pflegepony Nathan

Dennoch bestand ich nach zwei Jahren die mittlere Reife mit guten Noten, denn eigentlich war ich auf der Realschule völlig unterfordert. Das kann es doch nicht gewesen sein, dachte ich prompt. Mein Ehrgeiz erwachte, und ich beschloss, das Abitur zu machen.

Ja, in dieser Zeit habe ich mich richtig aufgerappelt. Ich wusste, dass sich etwas grundlegend ändern müsste, wollte ich das Abitur schaffen. Doch das Zusammenleben mit meiner Mutter war so schwierig geworden, dass ich nicht bei ihr bleiben konnte. Es war mir unmöglich, in dieser Atmosphäre zu lernen, und so zog ich mit siebzehn in meine erste eigene Wohnung, ein kleines Einzimmerapartment. Dass dies finanziell möglich war, verdankte ich der Waisenrente, die ich nach dem Tod meines Vaters bezog, der mich schließlich als leibliches Kind anerkannt hatte.

Damals entwickelte ich eine Eigenschaft, die mir auch heute noch bei meiner Arbeit für Madamfo Ghana zugutekommt und die ich, glaube ich, von meinen Großeltern mitbekommen habe: eine unbeirrbare Entschlossenheit, eine Zielstrebigkeit, die kein Hindernis aufhalten kann. Mit diesem Biss begann ich, für mein Abitur zu lernen.

Mein Großvater meldete sich bei mir und lud mich ein, doch nach Hause zu kommen. Kurz nach meinem achtzehnten Geburtstag klingelte ich bei meinen Großeltern an der Tür, und sie empfingen mich voller Wärme und Herzlichkeit. Es war so schön, die beiden in den Arm zu nehmen! Erst da spürte ich so richtig, wie sehr sie mir gefehlt hatten. Wir haben nie über die Ursachen unserer sechsjährigen Sendepause gesprochen, und im Grunde war das auch nicht nötig. Meine Großeltern hatten ein Problem mit meiner Mutter und nicht mit mir. Meine Protestphase mit lila Ponyhaaren und hautengen Leggins hatte sich auch gelegt, nun konnte ich wieder schätzen, was mir meine Großeltern an Werten vermitteln wollten. Und vor allem konnte ich wieder dazu stehen, dass wir uns heiß und innig liebten und das bis heute tun.

Nach dem Abitur überlegte ich, was ich aus meinem Leben machen wollte. Zunächst wollte ich unbedingt zur Polizei, weil ich schon immer einen extremen Gerechtigkeitssinn in mir trug, das stand schon in einem meiner Grundschulzeugnisse. Mein Großvater hätte es gerne gesehen, wenn ich in seine Fußstapfen getreten wäre und Medizin studiert hätte, doch gerade an ihm konnte ich sehen, wie wenig Privatleben man in diesem Beruf hat. Immer wenn wir mal etwas gemeinsam unternehmen wollten, wurde er prompt ins Krankenhaus gerufen. Schließlich entschloss ich mich, Kinderkrankenschwester zu werden, und das war eine Entscheidung, die mein weiteres Leben nachhaltig prägen sollte. Nach der Ausbildung konnte ich zwischen der Kinderintensivstation und der Notaufnahme wählen. Den Dienst auf einer Station hätte ich zu langweilig gefunden, und darum meldete ich mich zur Notaufnahme, dort hatte ich schon als Schülerin gearbeitet. Man wusste nie, was als Nächstes kam, man musste hellwach sein und Entscheidungen treffen, und das war genau nach meinem Geschmack.

 

So wie hier. Bei Madamfo Ghana in Accra. Jeden Tag gibt es Überraschungen, und nicht immer nur positive. Allein die Planung einer Reise quer durch Ghana, von einem Projektort zum nächsten, grenzt mitunter an Spekulation. Denn wir mögen vielleicht bereit sein, am nächsten Tag zu starten, aber das heißt noch lange nicht, dass es auch tatsächlich losgehen kann. Das hängt von vielerlei Faktoren ab, vor allem vom Wetter.

Regnet es nämlich einige Tage ununterbrochen, dann werden die Straßen im Hinterland, von denen die wenigsten asphaltiert sind, häufig unpassierbar. Schließlich wollen wir mit unseren Projekten die Ärmsten der Armen erreichen, und die leben nun einmal meist abgeschnitten von guter Infrastruktur. Ich kann mit Recht behaupten: Da, wo wir hingehen, da geht sonst keiner freiwillig hin, und das trifft sicherlich für die meisten unserer Einsatzgebiete zu. Es gibt wenige, die Leprakranke besuchen und sich dafür interessieren, in welchen Verhältnissen sie leben. Wenige, die sich bislang um die Hygiene und Gesundheitsversorgung in weit entfernten Buschdörfern kümmern oder sich dafür einsetzen, dass die Kinder dort zur Schule gehen können.

Viele ziehen es vor, sich abzuwenden und sich mit anderen Dingen zu beschäftigen. Es ist nicht so, dass die entscheidenden Stellen in Ghana von diesen Missständen nie etwas gehört hätten. Antrag um Antrag verschwindet im Bauch einer schwerfälligen Bürokratie. Ich kann es selbst kaum glauben, wie vielen achselzuckenden Menschen ich schon gegenübersaß, die es in ihren wohlklimatisierten Büros in der Hauptstadt sehr bedauerten, dass man da leider gar nichts machen könne.

Aber man kann etwas tun, ja, man muss es einfach, auch wenn es nur eine Kleinigkeit oder ein Anfang ist. Oft werde ich gefragt, ob ich nicht das Gefühl habe, dass meine Hilfe angesichts der großen Not nur ein Tropfen auf den berühmten heißen Stein sei. Ob man denn als Einzelner überhaupt etwas bewirken könne. Meine Antwort: Ist es eine Alternative, die Hände in den Schoß zu legen und nichts zu tun? Ja, soll man denn weggehen, ohne etwas unternommen zu haben, macht es das etwa besser? Auch wenn die Hilfe mitunter nur wenige erreicht, dann ist doch immerhin diesen Menschen geholfen. Jeder wäre in einer solchen Lage froh, wenn man ihm helfen würde. Und tatsächlich haben mir meine Großeltern ja auch geholfen, als ich noch jünger war. Ohne sie hätte ich keine Chance gehabt.

Außerdem kann ich einfach nicht permanent die Augen vor dem Elend verschließen. Ich bin nun mal so geschaffen, dass ich es sehe, wenn irgendwo jemand leidet, sei es ein Mensch oder ein Tier. Es ist mir unmöglich, das einfach auszublenden und so zu tun, als sei alles Friede Freude Eierkuchen. Und wenn ich es sehe, dann muss ich auch handeln.

 

Vor kurzem hatte ich zu Hause in Hagen ein typisches Erlebnis. Ich wollte eben zu einem wichtigen Treffen fahren, als ich vor meiner Garage eine verletzte Taube entdeckte. Also verschob ich meinen Termin und fuhr stattdessen zum Tierarzt – mit der Taube in einem Karton. Im Wartezimmer hielt ich den großen Vogel vorsichtig auf meinem Schoß, als mich ein junger Mann, der mit seinem Hund auf die Behandlung wartete, ansprach.

»Kenne ich Sie nicht aus dem Fernsehen?«, fragte er, »sind Sie da nicht letzte Woche aufgetreten?«

»Ja, das ist richtig«, sagte ich, »mein Name ist Bettina Landgrafe, mein Verein heißt Madamfo Ghana.«

»Und was«, wollte mein Gegenüber wissen, »machen Sie jetzt hier?«

»Ich habe eine verletzte Taube gefunden, die bringe ich zum Tierarzt«, gab ich zurück.

»Ach«, entfuhr es ihm, »Sie retten auch Tiere?«

»Ich rette alles!«

Wir lachten. Und als der Mann mit seinem Hund aus dem Behandlungszimmer kam, drückte er mir einen Fünfzig-Euro-Schein in die Hand.

»Hier«, sagte er, »für Ihre Projekte in Ghana.«

Da war ich wirklich sprachlos.

»Brauchen Sie eine Spendenbescheinigung?«, fragte ich ihn.

Doch er winkte ab.

»Nö«, meinte er, »ich vertraue Ihnen auch so.«

 

Manchmal ist es anstrengend, wenn man ständig all das wahrnimmt, was im Argen liegt. Einfach nicht in der Lage zu sein, manche Dinge auszublenden, keine Scheuklappen zu haben. Aber ich betrachte es als eine besondere Gabe, die mich zum Handeln verpflichtet. Wenn ich schon das ganze Elend wahrnehme, dann muss ich auch etwas tun. Und so kam es, dass ich irgendwann Leute traf, denen es genauso ging. Dass dies ausgerechnet in Westafrika im Land Ghana passierte, hätte ich mir vorher nicht träumen lassen.

Kapitel 2

Wie alles begann

Von meinen Großeltern lernte ich, mich durchzubeißen, und das Vertrauen in mich selbst, den Glauben, dass mir alles möglich ist, wenn ich es nur wirklich will. Auch mein Opi war immer schon einer, der anderen half, von klein auf kannte ich es nicht anders, als dass man sich um die kümmert, die es nötig haben. Außerdem vermittelten mir meine Großeltern auch die Freude am Reisen, denn die beiden waren wahre Globetrotter und hatten zu Hause eine Weltkarte mit einem Netz aus Linien, die markierten, wo sie schon überall gewesen waren. Von jeder Reise brachten sie Super-8-Filmaufnahmen mit, und mein Großvater legte seinen ganzen Ehrgeiz in die Aufbereitung dieser Filme, zu deren Präsentation er seinen umfangreichen Freundeskreis einlud.

Den Vorspann produzierte mein Opa eigenhändig im Hobbykeller, und da fielen auch mir oft Aufgaben zu. Einmal hatte er ein großes Buch präpariert, und das musste sich wie von Zauberhand öffnen. Dafür hatte er unsichtbare Fäden an der Seite befestigt, und ich musste daran ziehen, damit sich das Buch schön aufklappte. Auch hier entpuppte er sich als Perfektionist, und wenn das nicht genau so ging, wie er es haben wollte, dann konnte er ganz schön sauer werden. Und so mussten wir es noch mal machen und noch mal und noch mal – bis es seinen Vorstellungen entsprach. Für die Vorführung selbst bastelte ich sogar Eintrittskarten, und gemeinsam mit einem kleinen Freund, dem Sohn eines Kollegen meines Opis, saß ich begeistert auf dem Fußboden vor der ersten Reihe. Nach den ersten zwanzig Minuten des Vortrags schliefen wir allerdings mit schöner Regelmäßigkeit beide ein.

Meine Großeltern waren schon überall, und ich beneidete sie heiß darum. Auch ich wollte auf die Osterinseln, in die Südsee, nach Australien, Südamerika und Afrika, und auf jeden Fall wollte ich wie sie mit dem Flugzeug über den Mount Everest fliegen. Ich legte eine Liste an mit der Überschrift: »Was ich sehen muss, bevor ich sterbe.«

Diese Liste habe ich heute noch, und erst ein kleiner Teil von dem, was draufsteht, ist abgehakt. Zugegeben, sie ist ziemlich umfangreich und enthält Bemerkungen wie: »Mit dem weißen Hai tauchen«, was noch offen ist, oder: »Den Dalai-Lama treffen«, was ich bereits geschafft habe.

Ich sparte für meine erste Reise so lange, bis ich das Geld zusammenhatte, um nach New York zu fliegen, denn auf meiner Liste stand auch: »Die Freiheitsstatue besteigen.« Als Krankenschwester kann man Überstunden ansammeln, um nicht nur auf seinen spärlichen Urlaub angewiesen zu sein. Und so machte ich mit meinem ersten Freund zusammen den Tauchschein und flog auf die Malediven. Es gab so vieles auf der Welt, was ich sehen wollte, doch dann kam jener Sommer 2001, der mein Leben vollkommen verändern sollte.

 

Ich hatte die Anzeige in einer Zeitung gelesen. Kurz entschlossen, wie ich nun mal bin, rief ich bei der angegebenen Telefonnummer an. Was das bedeuten sollte: »Etwas pflanzen, etwas bauen, etwas baden in Afrika.« Und erfuhr, dass man als Volontär nach Ghana könne, um dort »ein bisschen zu helfen«. Dass ich Kinderkrankenschwester war, fanden sie bei der Organisation ganz toll. Also kaufte ich mir ein Flugticket, packte meinen Rucksack und zog los. Als meine Omi Näheres wissen wollte, zuckte ich nur die Achseln.

»Keine Ahnung«, sagte ich, »ich hab mein Zelt mit und meinen Schlafsack dabei. Alles andere wird sich finden.« Ich wollte einfach los, nicht so viel planen und denken.

Dabei war ich noch nie zuvor in Afrika gewesen, aber ich träumte schon lange davon, und irgendetwas dort zog mich nun magisch an. In meiner Ausrüstung befand sich neben meinem Schlafsack unter anderem eine topmoderne Regenjacke. Denn wenn ich etwas hasse auf dieser Welt, dann nass zu werden.

Es war im Jahr 2001. Als ich auf dem Flughafen in Accra ankam, der damals noch so klein wie ein Provinzbahnhof in Deutschland war, traf mich die feucht-tropische Hitze wie eine Keule. Kaum trat ich aus dem unterkühlten Flieger, kondensierte die Luft auf mir. Es war, als schlüge mir einer ein feuchtheißes Tuch ins Gesicht, und im Nu war ich komplett nass.

Es roch nach Meer und verbranntem Holz, nach feuchter Erde und Abgasen, und während ich wie die anderen Passagiere mit meinem Handgepäck zu Fuß über das Rollfeld Richtung Flughafengebäude ging, war das Erste, was ich wahrnahm, das riesige Schild über dem Eingang. AKWAABA stand dort, was, wie ich aus dem Reiseführer wusste, WILLKOMMEN heißt.

Um mich herum ertönte ein Sprachengewirr aus Englisch und unverständlichen Stammessprachen, heute weiß ich, dass es Twi, Ga und Ewe gewesen sein musste, damals waren es völlig fremde Laute für mich. Da waren Frauen in bunten Gewändern, manche trugen ihre Babys mit Tüchern auf den Rücken gebunden, was damals in Deutschland noch fast niemand machte. Männer begrüßten sich, indem sie sich die Hände reichten und dann die Mittelfinger gegeneinander schnippten – der typische ghanaische Handschlag, den ich heute selbst perfekt beherrsche.

Ich stand zunächst bei der Immigration an, wartete, bis ich meinen Stempel in den Pass gedrückt bekam, und beobachtete das Gewusel um mich her. Dann trat ich aus dem Flughafengebäude und stand in einem Meer aus Menschen. Trommler hatten sich zusammengefunden und begrüßten die Reisenden mit den Rhythmen Ghanas.

Dies ist also Afrika, dachte ich und merkte, wie mir das Herz in die Hosen sank. Was mach ich eigentlich hier, fragte ich mich kleinlaut, und als dann, ganz anders als vereinbart, keiner da war, um mich abzuholen, da dachte ich wirklich, Bettina, das hast du ja prima hinbekommen. Nachdem ich eine Weile gewartet hatte, Koffer und Rucksack fest an mich gepresst, bedrängten mich auch schon die ghanaischen Taxifahrer: »Missis, Taxi!«, »Missis, Hotel!«. Irgendwann dachte ich, dass alles besser war, als hier Wurzeln zu schlagen. Ich suchte mir einen Taxifahrer aus, der ausreichend vertrauenerweckend aussah, und achtete beim Einsteigen darauf, dass die Kotflügel gelb gestrichen waren, das hatte ich nämlich in einem Führer gelesen. Nachdem ich ein Taxischild auf dem Dach des uralten Opels entdeckte, der bei uns schon längst ausrangiert gewesen wäre, dort aber wahrscheinlich noch fünf Familien ernährte, stieg ich entschlossen ein. Und los ging es in die anbrechende afrikanische Nacht.

Von da an dauerte es vielleicht noch fünf Minuten, bis ich mich restlos in dieses Land verliebte. Dabei sprach eigentlich ziemlich viel dagegen. Wie gesagt, ich kann es nicht leiden, nass zu werden. Ich hasse Unpünktlichkeit, und unter normalen Umständen wäre ich auf die Leute stinksauer gewesen, die mich nicht abholen kamen wie versprochen, doch seltsamerweise war es mir hier völlig egal. Ich hatte nicht einmal eine genaue Adresse bei mir, weil ich ja davon ausgegangen war, abgeholt zu werden, so kannte ich nur das Stadtviertel, Mendskrom, und den Namen des Vereinshauses. Außerdem gibt es Stadtviertel in Accra, die gar keine Straßennamen haben. Der Taxifahrer hatte offenbar ebenfalls keine Ahnung, wo genau er mich hinbringen musste, doch auch er blieb ganz entspannt. Schon an meinem ersten Abend in Accra lernte ich: Hast du ein Problem, dann machen es die Ghanaer zu dem ihren. Später sollte ich das noch oft erleben. Sie geben keine Ruhe, bis sie dich dorthin gebracht haben, wo du hinmusst, bis du das zum Einkaufen gefunden hast, was du brauchst, bis sie dir zu dem verholfen haben, was du benötigst. Und das liebe ich aus vollem Herzen an den Menschen hier in Ghana. Die Menschen sind so freundlich und hilfsbereit, dass man es kaum beschreiben kann. Immer ein Lachen auf den Lippen. Eine Herzlichkeit, die ich so noch nie kennengelernt hatte.

Abb. 3: Marktfrauen in Accra verkaufen ihre Waren. Im Hintergrund stapelt sich der Müll

Als wir den Stadtteil erreichten, hielt mein Fahrer am Straßenrand an und beriet sich mit Passanten. Ob jemand von dem Haus dieser Organisation schon mal was gehört habe. Ich sah zu, wie beraten wurde, wie immer mehr Menschen die Köpfe zusammensteckten, in diese und jene Richtung wiesen. Wir fuhren ein Stück, dann hielt der Fahrer wieder an und besprach sich mit einem Kollegen, und so kamen wir meinem Ziel Stück für Stück näher. Ich weiß noch genau, wie wunderbar ich das fand, einfach so in diesem fremden Land, über das inzwischen die Dunkelheit hereingebrochen war, herumzufahren. Jeder Passant grüßte mich: »Obroni, how are you? Welcome to Ghana!« Das ist kein Klischee, das ist Ghana. Damals wusste ich noch nicht, dass Obroni »Weiße« heißt, aber mein Gefühl sagte mir damals schon, dass ich den Menschen hier vertrauen kann. Als wir schließlich in der Millionenstadt Accra jenes eine Haus tatsächlich fanden, das wir suchten, da wusste ich: Dies ist mein Land.

Ich war angekommen.

Abb. 4: Der Kaneshi-Markt im Herzen von Accra

 

Das Land, ja, von dem war ich vom ersten Augenblick an wie verzaubert. Doch die deutsche Organisation, an die ich da geraten war, die war nicht unbedingt mein Fall. Auch ich wurde christlich erzogen, aber meinetwegen muss nicht in jedem zweiten Satz der Name »Jesus« vorkommen. Und der eigene christliche Glaube ist für mich schon gar kein Argument, den Menschen vorzuschreiben, was sie zu glauben oder wie sie zu leben haben. Ein paar Tage lang blieb ich zum Akklimatisieren in Accra, dann brach ich auf in den Busch. Mein Einsatzort war das Dorf Apewu am Ufer des Bosomtwisees, viele Autostunden von Accra entfernt.

Abb. 5: Das Dorf Apewu am Bosomtwisee

Die Fahrt war wie ein Film, der vor meinen Augen ablief. Wie sehr ich sie genoss, meine erste Tour durch ein afrikanisches Land! Zuerst hieß es allerdings, der Hauptstadt mit ihren fast drei Millionen Einwohnern und den unvermeidlichen, nicht enden wollenden Staus zu entrinnen. Zwischen den Autos, die sich im Schneckentempo voranarbeiteten, versuchten junge Männer und Frauen ihre Waren anzubieten, die sie auf flachen Körben auf ihren Köpfen balancierten: in Plastiktüten verschweißtes, portioniertes Trinkwasser, Papiertaschentücher, Gebäck, Schokolade, Erdnüsse und bereits geschälte Orangen.

 

Heute halte ich immer nach denjenigen Ausschau, die statt eines Körbchens eine Kühlbox auf dem Kopf tragen, dann kaufe ich ihnen Speiseeis ab, meine Lieblingssorte ist Schokolade. Das Eis besteht zwar nur aus Wasser mit Schokoladengeschmack, aber bei der Hitze ist das auch besser so. Denn »Montezumas Rache« – der mitunter fast unvermeidliche Durchfall – kommt hier schneller und unerwünschter, als einem lieb ist. Am Straßenrand warteten offene »Läden« auf Kundschaft, vor allem Holzmöbel vom Stuhl bis zum Sarg wurden feilgeboten, aber auch Kühlschränke, Abdeckplanen fürs Auto, Kleider, Kochgeschirr, Obst und Gemüse und vieles mehr.

Es ist eine lange Fahrt von Accra nach Kumasi, der Hauptstadt der Aschantiregion, auch wenn es nur rund 250 Kilometer sind und Google Maps dreieinhalb Stunden für die Fahrt angibt. In Wirklichkeit dauert die Reise, je nach Straßenlage und Wetter, je nach Bauarbeiten und Staus mindestens doppelt so lange. Kumasi ist mit ihren dreieinhalb Millionen Einwohnern nicht nur die zweitgrößte Stadt des Landes, sondern auch berühmt für einen der größten Märkte Westafrikas. Von dieser pulsierenden Metropole aber ging es damals erst einmal hinein in das dunkle Grün in südöstlicher Richtung zum Bosomtwisee.

Dieser See ist etwas ganz Besonderes. Es gibt verschiedene Theorien zu seiner Entstehung. Die einen sagen, er sei vulkanischen Ursprungs. Die andere Theorie besagt, dass vor rund eineinhalb Millionen Jahren hier ein Meteorit einschlug und diesen fast kreisrunden, tiefen See schuf. So kommt es, dass man stundenlang über ziemlich ebenes Land fährt, und plötzlich eröffnet sich mitten in der Ebene ein riesiger Trichter. Gleich hinter dem Dorf Morontuo führt ein holpriger, gewundener Weg rund drei Kilometer steil nach unten. Ein paar hundert Meter oberhalb des Seeufers liegt am Abhang, den die Sternschnuppe, falls die Geschichte stimmt, bei ihrem Einschlag schuf, das Dorf Apewu.

Diesen steilen, von der Erosion zerklüfteten Pfad konnte man damals nur zu Fuß hinuntersteigen. Ich schulterte also in Morontuo am Kraterrand meinen Rucksack und machte mich auf den Weg. Immer wieder führte er mich an steilen Klüften vorüber, wo das Regenwasser, das in diesen Breiten mit tropischer Entschlossenheit vom Himmel stürzt, die Erde weggeschwemmt hatte. Es war ein mühseliger Weg, steil, unwegsam und schweißtreibend, und damals ahnte ich nicht, dass ich ihn in den nächsten Jahren noch unzählige Male hoch- und runterklettern würde. Doch wie zur Belohnung öffnete sich immer wieder der Blick auf den tiefblauen See. Ein wahres Paradies, dachte ich.

Abb. 6: Abendstimmung am Bosomtwisee

Ein Paradies mit ein paar Schönheitsfehlern, wie ich nur zu bald herausfinden sollte.

Die Menschen von Apewu empfingen mich auch gleich beim ersten Mal äußerst herzlich. Jeder war neugierig auf mich. Die Kinder kamen in Scharen und bildeten eine riesige Traube um mich. Hier und da spürte ich kleine Hände auf meinen Beinen und Finger, die an meinen blonden Härchen an den Armen zupften. Große braune Augen schauten mich verwundert an. Diese Traube von Kindern, die Emmanuel scherzhaft bis heute meinen »Fanclub« nennt, sollte mir von da an überallhin folgen.

Auf einem Gelände am Rand des Dorfes schlug ich mein Zelt auf. Ich richtete mich häuslich ein und versuchte, Ordnung in meine Ausrüstung zu bringen. Taschenlampe, Mückenspray, Klopapier, alles griffbereit.

Trotz meiner Müdigkeit nach der langen Reise und dem ungewohnten Fußweg schlief ich in jener ersten Nacht nur sehr unruhig, denn ständig raschelte und fiepte es auf der anderen Seite der dünnen Zeltwände, und ich sah mindestens zehn Mal nach, ob der Reißverschluss auch wirklich geschlossen war. Ich hatte furchtbare Angst, mit einer Schlange oder einer großen Spinne im Zelt aufzuwachen. Wenn der Wind die Blätter der Palmen gegeneinander schlägt, hört sich das an, als würde es regnen, und ich hatte große Sorge, von einem Sturzregen, wie es sie in den Tropen gibt, samt meinem Zelt davongeschwemmt zu werden.

Als ich gegen drei Uhr morgens endlich etwas eingedöst war, begann ein Hahn zu krähen, und zwar so durchdringend und ununterbrochen, dass an Schlaf wirklich nicht mehr zu denken war. Als ich früh am nächsten Morgen aus meinem Zelt kroch, war ich völlig gerädert. Im Scherz fragte ich die Menschen, deren Hütten meinem Zelt am nächsten standen, wem dieser Hahn denn gehöre, der mich so wach gehalten habe, und ob ich ihn nicht vielleicht kaufen und dann zu Hühnersuppe verarbeiten könne. Ich meinte das im Scherz, aber tatsächlich trat ein Mann auf mich zu und verkündete freudestrahlend, der Hahn gehöre ihm, und wir könnten ihn gerne essen! Oh, wie peinlich war es mir, als ich feststellte, dass die Menschen von Apewu meinen Witz vollkommen ernst nahmen. Schließlich bin ich Vegetarierin, und ein Tier zu töten, um es dann aufzuessen, wäre für mich vollkommen unmöglich. Ich musste meine ganze Überzeugungskraft aufwenden, um aus dieser Sache wieder herauszukommen, ohne dass es den Hahn Kopf und Kragen kostete.