Susanne Fischer
Der Aufstand der Kinder - Die Rückkehr der Feuerlandbande
FISCHER E-Books
Susanne Fischer, 1960 in Hamburg geboren, ist Autorin, Herausgeberin und Literaturwissenschaftlerin und hat als Journalistin und Hörspiellektorin gearbeitet. Seit 2001 ist sie Geschäftsführerin der Arno-Schmidt-Stiftung, Bargfeld. Sie schreibt Romane und Kolumnen, zum Beispiel für die »taz«. 2003 hat sie am Ingeborg-Bachmann-Bewerb in Klagenfurt teilgenommen. Susanne Fischer lebt mit ihrer Familie in einem kleinen Dorf bei Celle.
Bei FISCHER ist von ihr auch der Vorgänger zu diesem Roman lieferbar, ›Der Aufstand der Kinder‹.
Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage, auch zu E-Book-Ausgaben, gibt es bei www.fischerverlage.de
Erschienen bei FISCHER E-Books
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2014
Covergestaltung: bilekjaeger, Stuttgart,
unter Verwendung einer Illustration von Sabine Wilharm
Lektorat: Alexandra Rak
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403054-8
Die Sonne schien schräg auf die blaue Wohnungstür, die Lila schon beinahe vergessen hatte. Seit Monaten waren sie und ihre Mutter Marion nicht mehr in München gewesen. Marion kramte in ihrer Tasche nach dem Schlüssel, und Lila freute sich auf ihr Zuhause. In Feuerland hatte sie so viel erlebt, aber jetzt wollte sie in ihr Zimmer, zu ihrem Spielzeug und in die Badewanne.
Marion schloss auf, und Lila stürmte gleich in den kleinen Flur.
»Einbrecher!«, rief sie entsetzt.
Ihre Mutter riss sie an der Schulter zurück: »Vorsicht!«
Marion drängte Lila beiseite, aber die schlüpfte ihr unterm Arm durch und rannte durch die Zimmer. Alles war durcheinandergeworfen worden. Ihre Kleidung lag auf dem Fußboden herum, und Papiere und Bücher waren darübergestreut. Lilas Sandalen schwammen in der Küchenspüle.
»So eine Schweinerei!« Lilas Mutter schimpfte.
»Da, guck mal!«
Jemand hatte einen schwarzen Totenkopf an die Wand gemalt, von dem es rot herunterleckte. Das sah gruselig aus.
»Ich habe mich so auf zu Hause gefreut! Wir waren so lange weg! Und jetzt …« Lila schluckte. Sie wollte nicht heulen. Da wäre sie in Feuerland nicht weit gekommen, wenn sie immer gleich losgeplärrt hätte.
Marion atmete tief durch. Sie sah überall nach, ob etwas fehlte, aber alles, was Einbrecher mitnehmen, der Fernseher und das bisschen Schmuck, das sie besaß, war noch da.
Lila sah in die Zuckerdose. »Sogar dein geheimes Geld liegt noch hier! Die waren ja blöd!«
Da wurde Marion nachdenklich. Einbrecher, die nichts stehlen, sind nämlich noch unheimlicher als Einbrecher, die einem etwas wegnehmen. Und außerdem war das Türschloss heil, und alle Fenster waren geschlossen. Wie um Himmels willen waren die Einbrecher in die Wohnung gekommen?
»Wir müssen die Polizei rufen«, sagte Marion.
»Wirklich?«, fragte Lila. Die Polizei, das waren ja genau die Leute, vor denen Marion auf der Flucht gewesen war und die versucht hatten, Lila zu fangen. Es gab auch gute Polizisten im Land, aber Lila hatte in den vergangenen Monaten leider keine kennengelernt.
»Vielleicht hast du recht.« Marion zögerte. »Aber mich würde schon interessieren, wie sie hereingekommen sind. Und außerdem, der Totenkopf, was soll denn das?«
»Den haben sie bestimmt nur gemalt, weil sie sauer waren, dass sie kein Geld und so was gefunden haben.«
»Hm.« Marion schob ein paar Scherben mit dem Fuß zusammen und angelte einen kaputten Blumentopf von der Küchenbank, ehe sie sich hinsetzte. »Ich muss überlegen.«
»Wo ist eigentlich Sebastian?«, rief Lila. Sebastian war ein Plüschkrokodil und ihr Lieblingsstofftier. Und auch wenn sie eigentlich ein bisschen zu alt für Lieblingsstofftiere war, hatte sie Sebastian in den vergangenen Monaten schrecklich vermisst. Normalerweise saß er immer auf ihrem Bett neben dem Kopfkissen.
O je! Lilas ganzes Bett war mit Federn bedeckt. Das Kopfkissen war aufgeschlitzt und ihre Decke auch. Was waren denn das für Idioten? Wonach hatten die bloß gesucht? Oder wollten sie einfach nur Lilas Sachen kaputt machen? Lila wühlte in den Federn herum, aber Sebastian war nicht da, auch nicht unter dem Bett. Hoffentlich hatten sie ihn nicht auch zerschnitten!
Lila suchte und suchte, aber es lag so viel verstreut auf dem Boden herum. Regale waren umgestoßen worden. Am schlimmsten war die Küche dran. Vor der Speisekammertür versperrten ausgekippte Kisten mit leeren Flaschen und Altpapier den Weg, die Marion eigentlich unter der Küchenbank aufbewahrte, bis sie voll waren und es sich lohnte, die Sachen zum Container zu bringen. Lila versuchte, die Kisten beiseitezuräumen, aber das war richtig schwer. Eine der Flaschen hatte sich zwischen der Tür und dem Schrank verklemmt.
»Lila, was soll denn das! Ist hier noch nicht genug Durcheinander?«, fragte Marion ärgerlich, als ihr eine leere Ölflasche über die Füße rollte.
»Ich will Sebastian!« Endlich schaffte Lila es. Sie riss die verkeilte Flasche hervor und schob die Kiste beiseite. Die Tür klemmte, aber das hatte sie schon immer getan. Marion hatte mal gesagt, dass das so sei, damit Kinder nicht heimlich Marmelade naschen könnten.
Lila zog mit aller Kraft, bis die Tür nachgab. »Hier waren sie nicht«, rief Lila, »guck mal, Mama, jedenfalls haben wir was zu essen!«
Lila packte eine Wurstdose, Knäckebrot und ein paar Kekse auf den Tisch.
»Nur sind leider unsere Teller alle kaputt«, sagte Marion, die sich in den Scherben umsah.
Lila kroch ganz hinten in die Kammer. »Hier war doch so ein altes Geschirr von deiner Tante! Das nehmen wir, Mama.«
»Wirklich?« Marion hatte das schon ganz vergessen.
Lila zerrte den Karton hervor. Bestimmt würde ihre Mutter fröhlicher, wenn erst einmal ein paar heile Teller auf dem Tisch stünden. Sie kroch noch weiter in die Kammer.
»Wieso ist hier denn ein Katzenkorb?« Für einen Augenblick hatte sie Sebastian vergessen.
»Wir hatten mal eine Katze, bevor du auf der Welt warst. Ist der noch da? Ich dachte, den hätten wir längst weggeworfen.«
Lila wühlte weiter. Im Korb lagen nur alte Papiere herum.
Lila warf die Papiere auf den Küchentisch und lief ins Wohnzimmer. Irgendwo musste ihr Stofftier doch stecken. Sie stöberte zwischen den verstreuten Büchern und umgestürzten Vasen und Gläsern. Alle Schranktüren standen offen, eine war abgebrochen. Hinter dem Sofa fand sie Sebastian schließlich. Das Krokodil steckte kopfüber in einem weißen Blumenübertopf, so als habe es sich vor lauter Angst verstecken wollen. Lila zog es heraus und drückte es an sich. Es war schmutzig und roch nach Blumenerde, aber es war immerhin noch heil.
»Ich hab’ ihn!«, rief Lila und rannte in die Küche. »Mama, ich hab’ ihn!«
Aber Marion sah nicht einmal auf. Sie beugte sich über die Papiere.
»Was ist denn, Mama?«
»Wo hast du die gefunden?«
»Im Katzenkorb, ist doch egal. Sebastian ist noch da und ganz heil!«
Ihre Mutter antwortete nicht. Sie las und blätterte, und las wieder.
»Mama, was ist denn das für ein Zeug?« Lila nahm sich ein paar Kekse. Der Totenkopf grinste auf sie herunter. Sie sollten schnell aufräumen und saubermachen, damit es wieder ein Zuhause wurde, aber ihre Mutter rührte sich nicht von der Bank weg.
»Warte mal, Lila, gleich.«
Lila begann, die Scherben aufzusammeln. Sie fischte ihre Sandalen aus der Spüle. Sie kehrte den verstreuten Müll zusammen und tat ihn in die Kiste. Nach einer Ewigkeit sah Marion schließlich auf.
»Lila, es tut mir leid, aber wir müssen wieder weg. Das waren keine normalen Einbrecher, die haben einen Schlüssel, mit dem sie hier rein- und rauskönnen, wie sie wollen.«
Marion sprach aus, was Lila auch schon überlegt hatte. Aber sie hatte nicht gedacht, dass sie gleich wieder fortmussten. Am besten, sie stellten für den Anfang eine Kommode vor die Tür.
»Kann nicht erst mal der Schlüsseldienst oder wie das heißt ein neues Schloss mit neuen Schlüsseln bringen, so wie damals, als ich den Schlüssel abgebrochen hatte?«
Marion schüttelte den Kopf. »Ich glaube, dass es die Leute sind, die auch schon in Frankfurt hinter mir her waren, und die können Schlösser knacken. Und ich glaube, sie haben genau das gesucht.« Marion zeigte auf die Papiere, die vor ihr lagen.
»Was ist denn das?«
»Das ist von deinem Vater. Ich kann dir das jetzt nicht alles erklären, aber die Papiere sind gefährlich, wenn die falschen Leute sie finden. Wir müssen hier weg.«
»Aber wir sind doch gerade erst angekommen! Und wo sollen wir denn hin? Zu Tante Bella und ihren Katzen?«
Marion zeigte auf die Wand mit dem hässlichen Totenkopf: »Lila, die wollen uns Angst machen, die wollen, dass wir gehen, damit sie weitersuchen können. Wenn wir hierbleiben, sperren sie uns vielleicht ein oder schleppen uns weg. Ich glaube wirklich, das sind dieselben Leute, die mich schon einmal verfolgt haben.«
»Aber –«, sagte Lila. Im Fernsehen hatten sie doch gesagt, dass jetzt alles anders würde, dass in Feuerland neue Häuser gebaut würden und alle gemeinen Polizisten, die unbedingt Geheimwaffen haben wollten, nicht länger bei der Polizei arbeiten durften.
»Ich weiß«, sagte ihre Mutter. »Aber ich glaube nicht, dass alles besser wird. Dieser fürchterliche Polizist, dieser Schnarre, der ist inzwischen Polizeipräsident geworden. In Frankfurt zwar, das ist ja immerhin ein Stück weg von uns, aber trotzdem. Der hat bestimmt irgendwelche Freunde hier. Vielleicht sollten wir wirklich zu Bella fahren.« Bella lebte mit ihren Tieren auf einem einsamen Hof. Dort würde man sie nicht so schnell finden.
Lila überlegte. »Nein«, sagte sie plötzlich. »Das machen wir nicht. Wenn sie uns wegen Papa suchen, dann suchen wir Papa einfach selbst. Wir hauen hier ganz schnell wieder ab, da können sie uns nicht verfolgen.«
»Ja, aber –«, sagte Marion.
»Nichts aber«, sagte Lila, »zeig mir doch mal Papas Papiere.«
Lila tropfte der Schweiß aus den Haaren. Ihr Koffer, den sie keuchend über den Bahnhof schleppte, war schwer, aber Mamas wog noch mehr, und Mama japste nicht. Die Sonne brannte durch die Glasfenster im Dach der Bahnhofshalle in München.
Mama hatte das Auto vor dem Haus stehen lassen. Zwei Nächte hatten sie noch zu Hause geschlafen, immer mit einer schweren Kommode vor der Tür. Marion hatte gepackt und telefoniert, aber nie in der Wohnung. Bestimmt wurde das Telefon abgehört. Lila hatte gefragt und gefragt, bis Marion schließlich sagte:
»Liebe Lila, wir fahren mit dem Zug, und wenn wir endlich in diesem Zug sitzen, erkläre ich dir alles, was ich weiß. Und bis dahin habe ich sehr viel zu tun, also frage bitte nicht immer, sondern pack deine Sachen. Und dein Kuscheltier muss leider hierbleiben.«
»Aber warum können wir nicht mit dem Auto fahren? Dann haben wir doch viel mehr Platz für unsere Sachen!«
»Weil man uns an dem Auto viel zu leicht erkennen könnte. Sebastian wird schon nicht weglaufen.«
Nein, aber vielleicht klaute ihn inzwischen jemand oder schlitzte ihm den Bauch auf. Lila wollte ihn zu ihrer Freundin Chrissie bringen, aber Mama sagte, niemand dürfe wissen, dass sie wieder wegführen. Sie ging kaum vor die Tür, nur zum Telefonieren in das Café um die Ecke, und dann sah sich andauernd um, ob jemand ihr folgte.
Im Auto wäre es viel gemütlicher gewesen. Nun musste Lila ihr Gepäck über den staubigen Bahnhof zerren. Sie und ihre Mutter verschnauften kurz vor einem strahlend weißen ICE, der nach Hamburg fahren sollte. Dort gab es einen großen Hafen, wusste Lila.
Wehmütig dachte Lila an Snoop. Ob er schon in Amerika war? Ob er überhaupt ein Schiff gefunden hatte? Snoop war ihr allerliebster Freund in Feuerland gewesen. Wenn er sich nicht um sie gekümmert hätte, wäre sie verhungert. Aber Snoop wollte leider unbedingt nach Amerika. Ganz allein. Und Lila wollte bei ihrer Mutter bleiben, nachdem sie sie endlich wiedergefunden hatte. Deswegen hatten sie sich vor ein paar Wochen voneinander verabschiedet.
Marion zog sie an dem modernen, schnellen Zug vorbei zu einem anderen Gleis. Dort wartete eine stinkende Diesellok mit grauen Wagen. Zielstrebig lief Marion darauf zu. Als sie näher kamen, sah Lila, dass eine fette Schmutz- und Staubschicht an den Waggons klebte, darunter waren sie nachtblau und etwas rostig. Lila zögerte, aber ihre Mutter sagte nur »Nun komm schon«, während sie sich noch einmal kurz und furchtsam auf dem Bahnsteig umsah. Automatisch tat Lila es ihr nach, aber in der flirrenden Hitze war weit und breit niemand zu entdecken. Ihre Mutter zog sie zur Tür. Ehe sie die hohen Stufen hinaufkletterte, schaute Lila noch einmal auf die Anzeigetafel. Catanzaro stand dort. Das klang ja wie eine der Opernarien, die Marion manchmal hörte.
»Na, du bist ja ein feiges kleines Häschen geworden. Willst du denn nichts mehr erleben? Schon genug?«, fragte jemand höhnisch, ehe sie einsteigen konnte. Aber als Lila sich umsah, war da niemand. Es musste ihre zweite Stimme gewesen sein, die andere, freche Lila, die sie immer hörte, wenn es aufregend wurde. Seit sie ihre Mutter wiedergefunden hatte, war die Stimme still geblieben.
»Möchtest du schnell zurück nach Hause? Soll dir jemand einen Babybrei kochen?«, erkundigte sich die Stimme fürsorglich.
»Ach, halt die Klappe!«, antwortete Lila und stieg endlich ein.
Lila versuchte, es sich in ihrer Ecke gemütlich zu machen. Sie hatten das Abteil für sich, überhaupt waren nicht viele Menschen im Zug, der stotternd anfuhr, so als ob die Räder eingerostet wären. Der Zug hätte gut nach Feuerland gepasst, in die Vorstadtgebiete, wo die Armen in kaputten Häusern wohnten und Lila sich mit ihrer Bande versteckt hatte.
Ihre Mutter sah aus dem Fenster, sobald der Zug den Bahnhof verlassen hatte. Sie fuhren durch kaputte Vorstädte. Auch in München hatte es ein Feuerland gegeben, nur hatte Lila nichts davon gemerkt, als sie noch ihr gemütliches Kinderleben mit ihrer Mutter gehabt hatte. Einige Häuser wurden inzwischen renoviert, aber dann gab es wieder ganze Straßenzüge, die verödet waren. Es hatte sich noch nicht so viel geändert, seit Lila mit der Kinderbande in den Frankfurter Feuerlandgebieten unterwegs war, nur die Straßensperren waren fort. Aber schon beschwerten sich die Bewohner der Innenstädte über das Pack, das neuerdings an jeder Ecke zu sehen war und sogar bettelte. Es wurde bereits wieder nach mehr Polizei gerufen.
Lila seufzte.
»Was ist, meine kleine Lila?«
»Weiß nicht«, maulte die. Da nahm Marion ihre Tochter einfach in den Arm und streichelte sie.
»Snoop fehlt mir und die anderen. Cobra und Piranha und die Jungs. Wenn ich wenigstens wüsste, dass es ihnen gutgeht. Und Bella. Und das Gehirn.«
»Deiner Tante Bella geht es bestimmt gut zwischen ihren Hühnern und den Katzen auf ihrem Hof. Das kann doch gar nicht anders sein. Und das Gehirn –« Marion zögerte. So nannte sich der Mann, der den Kindern geholfen hatte. Er hatte für sie die Polizeicomputer ausspioniert. »Das Gehirn ist immerhin erwachsen«, sagte Marion schließlich. »Ich denke, er ist untergetaucht. Vielleicht hat er Freunde, die du gar nicht kennst und bei denen er bleiben kann. Was weißt du überhaupt von ihm?«
Lila zuckte die Achseln. Das Gehirn hatte sein Hauptquartier in Frankfurt im Hinterzimmer einer Schusterwerkstatt gehabt. Der Schuster war blind, und wenn man ihn nach seinem heimlichen Untermieter fragen würde, bekäme man sicher keine Antwort.
»Cobra war zuletzt sehr verschlossen.« Marion riss Lila aus ihren Gedanken. »Weißt du, was sie vorhatte?«
»Sie wollte ihre Eltern suchen, zusammen mit ihrer Schwester.« Lila seufzte. »Aber ich habe keine Ahnung, wo.« Die beiden Mädchen waren eines Tages einfach weg, ohne sich zu verabschieden. Ob sie eine Spur gefunden hatten? Und Knoten und Mütze und Chico – die waren bestimmt noch in Frankfurt. Und die Kinderheime? Ob sie da jetzt netter zu den Kindern waren?
»So.« Marion kramte in ihrem Rucksack und packte Obst und ein paar Brote aus.
»Mama, wir sind doch gerade erst losgefahren!«, protestierte Lila. »Und es ist viel zu heiß zum Essen!« Aber als sie aus dem Fenster sah, war München längst verschwunden.
»Du isst jetzt was.« Marion klang sehr bestimmt. »Und dann erzähle ich dir etwas über deinen Vater.«
Jetzt hatte Lila erst recht keinen Hunger mehr vor lauter Aufregung. Aber weil Marion gar nichts sagte, nahm sie eine Selleriestange und kaute darauf herum. Das faserige Gemüse wurde eher mehr im Mund als weniger, je länger man darauf kaute. Wenigstens sah es aus wie essen, was sie da tat, und das genügte ihrer Mutter schon. Marion schaute sie kaum an, und während sie sprach, spielte sie die ganze Zeit mit ihrem Armband.
»Als Erstes muss ich vielleicht sagen, dass ich heute anders über alles denke. Na ja, damals wusste ich einfach noch nichts über alle diese Dinge. Waffenfabriken, Verschwörungen, Feuerland … Wahrscheinlich war es damals auch noch nicht so schlimm. Also, dein Papa –«
Die Stimme ihrer Mutter zitterte, und sie räusperte sich.
»Also, Paul – kannst du dich überhaupt an ihn erinnern?«
Lila schüttelte den Kopf. Manchmal hatte sie im Traum so ein besonderes Gefühl, als wenn er bei ihr wäre. Das war alles, woran sie sich erinnern konnte, und selbst dieses Gefühl kam ihr am Tage nur noch blass vor.
»Paul und ich waren schon zwei Jahre zusammen, als du auf die Welt kamst. Kennengelernt haben wir uns bei der Arbeit.«
»Was arbeitet Papa denn?«, unterbrach Lila.
»Zum Geldverdienen im Büro. Aber er hatte noch einen anderen Beruf.«
Hatte sie’s doch gewusst. Ihr Vater war etwas Besonderes! Agent, Spion …
»Er hat ein bisschen herumgeschraubt«, sagte Marion zögernd.
Lila war enttäuscht. »Du meinst gebastelt oder so?«
»Na ja, nicht direkt. Er war eher Erfinder. Jetzt sei mal einen Augenblick still«, sagte sie, weil Lila schon wieder Luft holte, um zu fragen, was er denn erfunden habe, ob er es verkaufen konnte und ob er damit berühmt geworden sei.
»Ich habe nie wirklich verstanden, was er da gemacht hat. Es schien aber irgendwie gefährlich zu sein. Als du noch ein Baby warst, ging es los. Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass wir beobachtet werden, aber Paul meinte, da sei nichts und ich solle mir keine Sorgen machen. Ich wollte wissen, was er da eigentlich tut, aber er hat immer nur den Kopf geschüttelt. Schließlich hat er mir erklärt, dass er mir nichts erklären kann, weil es zu gefährlich ist. Da habe ich erst recht Angst bekommen. Wir hatten doch ein Baby!«
»Meinst du, er hat Bomben oder so was gebaut?«
Marion schüttelte den Kopf. »Nein, so war er nicht. Dein Papa ist friedlich, der hätte nie irgendjemandem was tun können.«
Lila war erleichtert, obwohl – andererseits, wenn er so eine Art bombenbauender Pirat gewesen wäre … ein Held …
»Wenn er Bomben gebastelt hätte, hätte ich mich sofort von ihm getrennt«, sagte Marion mit etwas schärferer Stimme. »So war es aber nicht!«
»So war es doch«, antwortete Lila leise, »du hast dich ja von ihm getrennt.«
Marion sagte nichts und sah aus dem Fenster. Lila wartete. Marion strich ihr über die Haare.
»Er hat sich von mir getrennt«, antwortete sie schließlich. »Jedenfalls dachte ich das damals. Ich habe geglaubt, dass er meine Nörgelei nicht mehr aushalten konnte und einfach abgehauen ist. War ich sauer!«
Sie schüttelte den Kopf über sich selbst.
»Jetzt sehe ich das anders. Vielleicht wurde er entführt oder musste einfach untertauchen, damit er nicht entführt wird. So wie ich vor ein paar Monaten.«
»Aber wieso hast du denn nie nach ihm gesucht?«
»Weil ich sauer war. Ich fand das unmöglich, dass er einfach so abgehauen ist, ohne sich zu melden. – Irgendwann war ich sogar auf der Polizei und wollte eine Vermisstenanzeige aufgeben, aber da hat man mich ausgelacht: ›Hatten Sie oft Streit, Frau Köster? Ihr Mann ist erwachsen. Er darf gehen, wohin er will; das muss er Ihnen nicht sagen.‹ Ich habe dann einfach versucht, nicht mehr an Paul zu denken. Ich hatte ja noch dich.« Marion lächelte ihre Tochter an. Lila nickte.
»Aber diese Papiere, die du gefunden hast – Lila, wenn das stimmt, was da steht, dann hat er etwas erfunden, ein System, das Waffen entschärft. Auf Knopfdruck. Alle Pistolen und Gewehre im Umkreis von hundert Metern funktionieren nicht mehr, einfach so.«
»Und das klappt wirklich?« Lila wollte gern glauben, dass ihr Vater ein toller Erfinder war. Aber wenn er so was Tolles erfunden hatte, wäre es dann nicht längst im Fernsehen gewesen?
»Keine Ahnung«, antwortete Marion. »Aber es muss ihm sehr wichtig gewesen sein, wenn er es so gut versteckt hat.«
»Und warum fahren wir jetzt nach Catanzaro oder wie das heißt? Glaubst du, dass er jetzt dort lebt?«
»Liebes, ich weiß nicht, wo er lebt. Aber bei den Papieren war eine Karte von Italien. Auf der Karte war ein Kreis bei Catanzaro. Und das ist unsere einzige Spur.«
»Gruß aus Catanzaro!«, rief Lila so laut, dass Marion zusammenzuckte, und schlug sich mit der Hand gegen die Stirn.
»Was?«
»Weißt du noch? Bei meinen Büchern im Regal lag doch mal so ’ne Schneekugel. Gruß aus Catanzaro steht auf einem weißen Band darin, und dann ist da noch so ’ne blöde Kirche drin. Die muss kaputtgegangen sein. Jedenfalls habe ich sie jetzt nicht gesehen.«
»Stimmt«, sagte Marion. »Daran habe ich gar nicht mehr gedacht.«
»Wo habe ich die Kugel überhaupt her? Warst du da mal? Mit Papa?«
»Seltsam. Ich war da ohne Papa. Da kannte ich ihn noch gar nicht. Nach der Schule wollte ich ein bisschen weg. Da bin ich durch Italien gefahren und habe eine Weile bei Catanzaro gelebt. Ich habe bei der Weinernte geholfen, um mir Geld zu verdienen, weißt du?«
»Und was will Papa da?«
»Das weiß ich auch nicht.« Marion seufzte. »Ich habe ihm davon erzählt, wie schön es da war, wie nett Franco und Marina waren – die Leute, bei denen ich gearbeitet habe. Wahrscheinlich musste er sich verstecken und hat gedacht –«
»Natürlich!« Lila rief vor Aufregung ganz laut. »Er musste sich verstecken, er durfte keine Nachricht hinterlassen. Nur eine für dich allein, Mama! Das ist die Landkarte gewesen, verstehst du? Oh, warum hast du sie nur damals nicht gefunden.«
Es war zum Verrücktwerden. Lila konnte sich nicht vorstellen, dass ihr Vater dort immer noch wartete. Schließlich war das viele Jahre her.
»Hast du denn die Kugel damals mitgebracht? Als du da gearbeitet hast?«
»Ich kann mich nicht daran erinnern. Das ist schon so lange her, Lila. Das muss ich ja wohl, oder?«
»Oder es war eine Nachricht von Papa. Die niemand finden sollte außer uns.«
Plötzlich erschrak Lila. »Aber wenn die Kugel nicht mehr da ist, dann haben die Einbrecher sie mitgenommen. Und die suchen jetzt bestimmt schon nach Papa. Und wir kommen zu spät!«
Marion schluckte. »Das dürfen wir nicht denken, Lila. Komm, mein Schatz, es wird eine lange Fahrt bis nach Süditalien. Du musst dich ausruhen. Lass uns weitersehen, wenn wir angekommen sind.«
Lila kuschelte sich an ihre Mama. Nach einer Weile schlief sie ein. Sie träumte von Snoop, wie er ganz allein ein Schiff nach Amerika ruderte. Das Schiff war groß, aber Snoop war ganz klein. Er ruderte mit einem Suppenlöffel! Sie wollte ihm helfen, aber sie kam nicht vom Fleck.
Als Lila die Augen öffnete, wusste sie erst nicht, wo sie war. Ja, sie erschrak sogar ein bisschen, denn sie sah direkt in ein runzliges Gesicht. »Ah, che bella ragazza!«, sagte das Gesicht. Sie musste wohl ziemlich dumm gucken, denn der alte Mann ihr gegenüber lachte jetzt so, dass sein ganzer Kopf wackelte. Dabei öffnete er den Mund, in dem viele Zähne fehlten. Lila griff nach dem Arm ihrer Mutter, aber der Platz neben ihr war leer. Sie zog sich ein Stück in ihre Ecke zurück.
»Buon giorno!«, sagte der alte Mann freundlich.
Lila nickte vorsichtig. Sie angelte mit den Füßen nach ihren Schuhen, die ihr die Mutter wohl zum Schlafen ausgezogen hatte. Sie stieß an etwas Weiches und quietschte vor Schreck.
»Il cane!« Der Mann lachte schon wieder. Als Lila die Achseln zuckte, konzentrierte er sich und sagte langsam: »Der Hund.«
»Ah ja, der Hund«, antwortete Lila. Was für ein Hund bloß? Aber tatsächlich, auf ihren Schuhen lag ein Hund. Er sah ein bisschen aus wie Killer 13, der Polizeihund, der sie damals nicht gebissen hatte, als sie aus dem Polizeipräsidium geflohen war. Später war Killer berühmt geworden, als sanftmütiger Polizeihund, der im Altenheim als Streichelhund wohnen sollte. Lila hätte ihn gerne bei sich gehabt, aber solange sie und ihre Mutter nicht wussten, wo und wie sie leben würden, ging das natürlich nicht.
Dieser Hund war kleiner, sein Fell kurz und sandfarben.
»Beißt er?«, fragte Lila.
»Das kommt darauf an«, erwiderte der Mann.
»Worauf kommt es an?«
»Ob du ein Schinken bist oder nicht.« Diesmal sah der Mann todernst aus. »Bist du ein deutscher Schinken? Dann nimm dich in Acht.«
Lila fragte sich, wo ihre Mutter blieb. Sie musste doch bald wiederkommen, sie konnte ja höchstens auf der Toilette sein. Da musste Lila auch dringend hin, aber sie wusste nicht recht, wie sie über den Hund wegsteigen sollte. Als sie es versuchte, knurrte er sie an. Sie zog ihr Bein lieber auf den Sitz.
Der Mann lachte. »Du bist kein Schinken, du bist ein Hase. Ein Angsthase, so heißt es doch bei euch?«
»Habe ich doch auch schon gesagt, du kleines, feiges Häschen«, säuselte Lilas zweite Stimme. »Zeit, sich vor Angst in die Hosen zu machen, na los!«
»Mit Hunden habe ich Glück«, murmelte Lila. Sie griff nun einfach nach dem Knurrer und streichelte ihm über den Kopf. Er bellte einmal, das klang irgendwie verblüfft, und legte dann seine Schnauze auf Lilas Bein.
»Und mit Menschen nicht?«, fragte der alte Mann, der offenbar sehr gute Ohren hatte.
»Nicht immer«, antwortete Lila, und sah ihn nicht an dabei.
»Wenn du mit Menschen kein Glück hast«, sagte der alte Mann, der auf einmal ganz gut Deutsch sprechen konnte, »dann würde ich dir raten, in diesem Zug vorsichtig zu sein. Hier ist ein Mann, der immer den Gang auf- und abspaziert.«
»Ja und?«, fragte Lila mürrisch. Wollte sich der alte Mann nur wichtig machen, oder stand es schon auf ihrer Stirn, dass sie und ihre Mutter vielleicht verfolgt wurden? Bloß gut, dass Marion nicht im Abteil war. Sie wäre bestimmt sofort aus dem Zug gesprungen.
»Er telefoniert andauernd und fragt nach Verstärkung. Hast du irgendetwas ausgefressen?«
Lila schluckte.
»Na ja, es ist mir egal. Mein Hund mag dich. Wo ist deine Mutter?«
»Auf der Toilette.« Aber das glaubte sie selbst nicht.
Der alte Mann sagte nichts und sah sie nur prüfend an. »Ich kann euch nicht helfen«, sagte er schließlich. »Aber vielleicht solltet ihr lieber aussteigen. Als Nächstes kommt eine kleine Station. Da ist am Mittwoch immer Markt, viele Leute. Vielleicht könnt ihr ganz unauffällig verschwinden.«
Ja, vielleicht. Aber erst mal musste Marion wieder her.
Lila legte den Finger auf den Mund, schob vorsichtig die Abteiltür auf, glitt mit den Füßen auf den Boden, ohne den Hund zu treten, und spähte hinaus. Links sah sie niemanden, rechts einen Rücken. Ein Handy am Ohr. Der Rücken sah ungemütlich aus. Er bemühte sich, leise zu sprechen, aber Lila hörte etwas wie »Verstärkung«. Das konnte doch nicht wahr sein! Vielleicht suchte der nach jemand anderem? Als sie noch einmal nach links sah, winkte dort ihre Mutter aus einer Tür. Sie winkte so, als wolle sie Lila verscheuchen, und die begriff, dass sie schleunigst in ihr Abteil zurückkehren sollte. Aber aus dem Augenwinkel nahm sie noch wahr, wie der Rücken sich umdrehte und nun ein hässliches Gesicht zeigte. Blitzschnell verschwand sie im Abteil, zog die Tür zu und sah den alten Mann flehend an.
Er drückte sie nach unten, unter seinen Sitz. Gerade rechtzeitig verschwand sie, ehe die Abteiltür aufgerissen wurde und der Mann vom Gang »Hab ich dich!« rief. Dann hörte Lila einen Schwall italienischer Schimpfworte.
Der alte Mann, der Lila beschützte, schien nicht einmal Luft holen zu müssen, er wurde einfach immer lauter. Das stachelte den Hund an, der nun hysterisch bellte, und beiden gemeinsam gelang es anscheinend, den Verfolger aus dem Abteil zu drängen. Lilas Retter zog die Vorhänge zu und ließ sich wieder auf die Bank fallen. Der Hund keuchte vor Aufregung.
»Kann ich wieder raus?«, flüsterte Lila.
»No! Zu gefährlich!«
»Aber ich kann doch nicht hier unten bleiben?«
»No! Zu gefährlich! Der kommt bestimmt zurück.«
Der Zug bremste. Hoffentlich wartete an der Station nicht schon die Verstärkung. Lila wurde elend zumute, aber sie blieb folgsam in ihrem unbequemen Versteck. Schließlich stand der Zug, der Mann erhob sich und sah aus dem Fenster.
»Markttag. Das wäre … wenn jetzt deine Mutter …«, und in diesem Augenblick klopfte jemand heftig gegen die Fensterscheibe.
»Ah … Frau …«, sagte der Mann und schob die Scheibe herunter, vor der Lilas Mutter stand. Sie hatte ein riesiges Kopftuch um, unter dem sie sich versteckte.
»Schnell, Lila, du musst aus dem Fenster klettern.«
»Aber unsere Sachen …«, sagte Lila, doch ehe sie noch mehr sagen konnte, zog der Mann sie schon zum Fenster und faltete seine Hände zu einer Räuberleiter.
»Schnell!«, rief ihre Mutter, und Lila stieg auf die Hände des Mannes, der erstaunlich kräftig war und sie beinahe aus dem Fenster katapultierte.
Es waren sehr viele Menschen auf dem Bahnhof, mit Tüten und Körben und Kartons. Der Zug fuhr schon wieder an, als der alte Mann noch zwei ihrer Taschen aus dem Fenster warf. »Enzo! Geht zu Enzo! Bestellt einen Gruß von Gaspare!«, rief er noch, und »Ciao, bella!«
In der offenen Zugtür stand ihr Verfolger, der fein aufgepasst hatte, dass sie nicht an ihm vorbeikonnten. Lila hatte Lust, ihm die Zunge herauszustrecken, aber Marion nahm sie beiseite. »Der merkt es schnell genug, dass wir weg sind, und dann suchen sie uns! Wir können jeden Vorsprung brauchen. O Lila, was bin ich doch blöd!«
»Bist du nicht«, antwortete Lila.
»Doch!« Marion schüttelte den Kopf. »Der Mann verfolgt uns schon seit München. Als ich zur Toilette ging, habe ich ihn belauscht. Die haben nur darauf gewartet, dass wir aus München wegfahren! Deswegen haben sie unsere Wohnung so verwüstet. In München haben sie sich nicht getraut, aber im Ausland kriegt es keiner mit, haben sie gedacht. Ich Schaf! Oh, ich Riesenschaf!«
»Warum hat er uns nicht verhaftet?«
»Weil er alleine Angst vor uns hatte.« Marion musste jetzt doch ein bisschen lächeln, und Lila war irgendwie stolz.
»Und wer ist Enzo?«, fragte Lila, schon wieder etwas fröhlicher.
»Ich habe keine Ahnung, aber wir werden es herausfinden.« Lilas Mutter sah sich entschlossen um. »Lass uns erst einmal aus dem Bahnhof hinaus.«
Immerhin war es warm, wenn es auch allmählich dunkelte. Lila war noch nie in Italien gewesen, und die Wärme gefiel ihr; und dass alles anders aussah als zu Hause, das gefiel ihr auch. Sie hockte auf den beiden Taschen auf dem Bahnhofsplatz in Marcellina und wartete. Marion war losgegangen, um sich nach dem geheimnisvollen Enzo zu erkundigen.
Es waren nicht viele Marktstände um sie herum; die meisten verkauften Gemüse und Obst. Es gab aber auch Fleisch, ganze tote Hühner, Plastikeimer und Pullover.
Lila sah ein paar dünne Katzen, die sich um etwas stritten, von dem Lila lieber nicht wissen wollte, was es war. Männer saßen auf einer Bank an der Kirche und rauchten. Frauen trugen ihre Einkäufe nach Hause. Vor der Bar hatten sich junge Leute an Tischen versammelt, die Wein tranken und Nüsse und Oliven naschten. Sie redeten und lachten. Ein Mädchen neckte den dicken Wirt, als der sich in die Tür stellte, um zu sehen, was auf dem Marktplatz so los war. Sie rief ihm laut etwas zu, was Lila natürlich nicht verstand. Der Wirt rief etwas zurück, alle lachten. Das Mädchen lachte auch, stand auf und ging. Über die Schulter zurück rief sie: »Ciao, Enzo!«
Der Wirt lächelte und rief: »Ciao, Angelica!«
Lila konnte es nicht glauben: Marion war bestimmt seit einer halben Stunde unterwegs, um diesen Enzo zu suchen, und jetzt stand er dick und gemütlich im Eingang seiner hellerleuchteten Bar. Sie würde ihn beobachten, bis Marion zurückkam.
Ein junger Mann auf einem Motorroller fuhr knatternd vor die Bar und ließ den Motor noch einmal aufheulen, ehe er ihn abstellte. Lila fand, dass er nicht so freundlich aussah, aber vielleicht lag das nur an seinen dicken dunklen Brauen, unter denen man seine Augen kaum erkennen konnte. Die jungen Leute schienen ihn nicht zu kennen, jedenfalls grüßten sie ihn nicht.
»Ciao, Enzo!«, rief er. Das klang ein bisschen herrisch.
Der Wirt runzelte kurz die Stirn, als müsse er darüber nachdenken, wer ihn da grüßte. Dann sagte er: »Ciao, Enzo!«
Auch das noch. Eben war Lila noch stolz gewesen, dass sie den Mann so schnell gefunden hatte, und jetzt gab es schon zwei davon. Was, wenn alle Männer in dem Dorf Enzo hießen? Vielleicht hatte Marion auch schon einen gefunden? Oder mehrere?
Der neue Enzo schob sich am Wirt vorbei in die Bar. Während Lila noch überlegte, ob sie hinterherschleichen sollte, kam Marion um die Ecke, die sich immer noch unter dem albernen Kopftuch mit den riesigen Blumen darauf verbarg.
Außerdem trug sie ein paar dünne Plastiktüten, die sich ausbeulten. Lila lief das Wasser im Munde zusammen, denn sie ahnte schon, dass Früchte und Brot die Tüten so prall füllten.
»Ich habe Enzo gefunden!«, rief Lila, gerade als ihre Mutter »Ich habe Enzo gefunden!« sagte.
»Du auch?«, sagten sie dann beide zugleich.
Ein Jammer, dass der Mann im Zug keinen Nachnamen genannt hatte. Marion hatte zufällig gehört, wie die Verkäuferin in einem Laden einen Mann Enzo genannt hatte. Sie war ihm unauffällig gefolgt, deshalb hatte es so lange gedauert. Marions Enzo wohnte außerhalb des Dorfes in einem Weinberg.
»Und dein Enzo?«, fragte Marion.
»Ich habe sogar zwei«, seufzte Lila. »Den Wirt von der Bar da drüben und einen seiner Gäste. Mir wäre es lieber, es wäre der Wirt, der andere sieht nicht so nett aus.«
»Vielleicht müssen wir auch einfach allein weiterkommen.«
»Mama!«, sagte Lila streng, »vielleicht müssen wir das, aber erst mal probieren wir es mit den Enzos. Ich glaube, es ist der Wirt.«
Marion überlegte. »Wahrscheinlich hast du recht«, sagte sie dann zu ihrer Tochter. »Wenn jemand sagt: Geht zu Enzo!, dann muss er einen Enzo meinen, der leicht zu finden ist.« Und schon packte sie die beiden Taschen und ging entschlossen auf die Bar zu.
Lila zögerte noch einen Augenblick. »Achtung, Achtung, du verpasst gerade das Enzo-Ballett! Bleib nicht länger vor der Tür! Du Angsthäsin!« Das war natürlich niemand anders als Lilas zweite Stimme.
»Kannst du nicht mal was Nettes sagen?«, murmelte sie, aber dann ging sie doch in die Bar.
»Ciao, Enzo!«, rief ihre Mutter. Der Wirt starrte sie verblüfft an.
»Und einen schönen Gruß von Gaspare!«, setzte Marion hinzu.
Die Verblüffung in Enzo Gesicht wich einem breiten Lächeln. »Ah, ciao!«, rief er, öffnete seine Arme, hob Marion hoch, küsste sie auf beide Wangen und stellte sie schließlich unter einem Wortschwall wieder hin. Jetzt guckte Marion verblüfft.
»Non parlo italiano«, sagte sie – das sagt man, wenn man nicht Italienisch sprechen kann.
Enzo konnte es nicht fassen. Er redete einfach lauter, dann musste es doch klappen. Italienisch konnte doch jedes kleine Kind hier verstehen. Da stellte sich eine junge Frau mit blondem Pferdeschwanz, die ein blaues Fußballtrikot trug, zu Enzo und Marion.
»Ich kann Deutsch. Ich kann übersetzen. Bitte sehr. Ich bin Maria.« Sie legte Enzo die Hand auf den Arm, um seinen Redefluss zu bremsen.
Marion sah Lila an, und Lila nickte. Maria sah einfach zu nett aus, um ihr nicht zu vertrauen.
»Gaspare hat uns hergeschickt. Wir mussten aus dem Zug aussteigen. Jemand – jemand, der uns nicht finden darf, hat darin nach uns gesucht. Ach so, ich bin Marion, und das ist meine Tochter Lila. Wir sind aus München, und wollen nach Catanzaro. Gaspare hat uns im Zug geholfen –«
»Moment, Moment«, die Frau unterbrach Marion lachend, »das wird jetzt zu viel.« Und dann sprach sie eine Weile lang Italienisch mit Enzo, der erst verdutzt guckte und dann auch eine Menge sagte.
»Er sagt, es tue ihm leid, er habe dich verwechselt. Gaspare ist sein Cousin, und der hat wieder eine Cousine, die Enzo noch gar nicht kennt, und er dachte, Gaspare schickt sie vorbei und – na ja. Es ist geplant, dass sie – na, ist ja egal. Du bist das ja nicht. Enzo würde euch gern helfen und fragt, was er für euch tun kann.«
Das fragte sich Lila auch. Für den Anfang spendierte er Lila Orangenbrause und Marion Espresso.
»Wir müssen uns wahrscheinlich schnell verstecken, weil unser Verfolger vielleicht bemerkt hat, wo wir ausgestiegen sind. Und außerdem müssen wir nach Catanzaro. Möglichst unauffällig«, erklärte Marion. Maria übersetzte, und Enzo antwortete wieder eine ganze Menge. Zwischendurch widersprach Maria. Enzo kratzte sich am Kopf und überlegte. Dann redete er von neuem. Als er endlich eine Pause machte, übersetzte Maria wieder.
»Also, Enzo wollte euch gleich hier verstecken, aber ich halte das für keine gute Idee. Die zentrale Bar im Ort – da wird doch jeder zuerst nachfragen. Außerdem ist Enzos Wohnung über der Bar eher klein, und den ganzen Tag drinnen bleiben – das wäre nicht schön. Deswegen haben wir uns etwas anderes überlegt. Einer meiner Onkel wohnt draußen im Weinberg, ein bisschen abgelegen. Er und seine Frau sind sehr nett, dort könnt ihr bleiben, bis wir wissen, wie ihr nach Catanzaro kommt. Er heißt auch Enzo und seine Frau Domenica.«
Marion nickte – wahrscheinlich war das der Mann, dem sie gefolgt war.
Enzo schenkte jetzt Marion, Maria und sich selbst Grappa ein und öffnete für Lila eine neue Dose Orangenlimonade. Dann stieß er mit Marion und Maria an und lächelte. Dann redete er wieder. Maria lachte erst, dann sagte sie »No! Enzo, no!«, aber er sprach immer weiter. Schließlich sah sie beinahe ärgerlich aus. »Va bene«, antwortete sie schließlich, und legte Marion die Hand auf den Arm, während Enzo sich hinter eine andere Ecke des Tresens zurückzog und verstohlen zu ihnen hinübersah.
»Also Gaspares Cousine, die eigentlich kommen sollte – die bestimmt noch kommt, also –« Maria machte eine Pause.
»Ja?«, fragte Marion vorsichtig.
»Es ist so, dass Enzo sie heiraten soll, aber er hat Angst, dass sie hässlich ist. Oder nicht nett. Deshalb fragt er, ob nicht lieber du ihn heiraten willst.«