Elmar Schenkel
Fahrt ins Geheimnis
Joseph Conrad. Eine Biographie
FISCHER E-Books
Elmar Schenkel, geboren 1953, ist Professor für englische Literatur an der Universität Leipzig. Er ist freier Mitarbeiter bei der FAZ und der ZEIT und war Mitherausgeber der Literaturzeitschrift nachtcafé. Neben Büchern über J.C. Powys, J.R.R. Tolkien und H.G. Wells hat er Erzählungen, Gedichte und Reisebücher veröffentlicht. Für seine literarischen Arbeiten erhielt er den Förderpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung und den Hermann-Hesse-Förderpreis.
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Covergestaltung: buxdesign, München
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe
Erschienen bei FISCHER E-Books
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2014
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-569002-4
Ich kenne keinen Autor, dessen Werke und dessen Leben so oft und von so vielen verschiedenen Menschen neu geschrieben, umgeschrieben, ausgemalt und weitergedichtet wurden. Warum? Joseph Conrad ist ein Rätsel, das immer neue Antworten verlangt. Die vorliegenden biographischen Annäherungen sind Versuche, die Themen Conrads zu umkreisen: die See, die Sprache, das Schreiben. Vielleicht geht es nur um ein Thema, den Sprung nämlich, den Jim von der Patna macht, den er nicht gemacht haben will und für den er ein ganzes Leben lang Rechtfertigungen sucht. Der Sprung, der ihn in einen Archipel führte, ein zweites Leben. Die Geschichten schwingen um ein offenes Zentrum, einen leeren Ort, der im Lesen das Bedürfnis nach einer Ausfüllung verlangt. Ob Welle oder Partikel: was als Licht aus der Erzählung strömt, ist nicht vorauszusagen. Conrad macht den Leser zum Kollaborateur im doppelten Sinn.
Annäherungen und Umkreisungen sind die Bewegungsmuster des vorliegenden Buches, nicht so sehr das lineare Erzählen von der Geburt bis zum Tod. Der Pfeil des Linearen wird manchmal unsichtbar, um andere Blicke zu ermöglichen, zum Beispiel den Rückblick oder den Seitenblick. Das entspricht eher der Methode Conrads, seinen nachgeschobenen Erklärungen, seinen Wendungen in die Vergangenheit wie seinen zeitlichen Sprüngen überhaupt. Wer sich der zeitlichen Linie versichern will, möge in die Chronik am Ende schauen. Zugrunde liegt der Gedanke, daß Biographie nur eine Vorstellung ist, wenn auch nicht unbedingt eine Fiktion. Sie ist eine von vielen Möglichkeiten, ein Leben anzuordnen und zu verstehen. Wenn wir über unser eigenes oder das Leben anderer nachdenken, tun wir dies selten in chronologischer Reihenfolge, so wie man etwa ein Fotoalbum von Anfang bis Ende durchblättern würde. Vielmehr vergleichen und springen wir von hinten nach vorn, verfolgen eine Frage zu ihrem Ursprung oder suchen nach Beziehungen und Mustern. Biographie, so verstanden, ist eine Form des Essays, ein Versuch eben und manchmal ein Gespräch.
In dieser Form liegt ein Unterschied zu den vorhandenen Biographien über Joseph Conrad. Ein weiterer besteht darin, daß die kontinentalen Verbindungen Conrads eine größere Rolle spielen. Ich halte Conrad für einen Vorläufer des neuen Europa, zugleich auch für den ersten Autor, der die Natur der Globalisierung erfaßte – vom Kolonialismus bis zum Terrorismus. Als ich im Juni 2006 auf einer polnischen Konferenz über Conrad in Lublin war, traf ich eine Reihe bedeutender britischer und amerikanischer Conrad-Forscher, denen zum ersten Mal klarwurde, daß Conrad ein großes polnisches und europäisches Erbe verkörperte und nicht nur der in angloamerikanischen Universitäten kanonisierte Engländer ist. Es ist also an der Zeit, stärker auf Conrads polnischen und französischen Hintergrund hinzuweisen; als deutscher Leser will man auch mehr über Conrad und Deutschland erfahren.
Die Tatsache, daß in Conrads meistgelesenen Werken Frauen zumeist unterbelichtet oder abwesend sind, ließ Leser wie Biographen oft glauben, Frauen spielten für Conrad kaum eine Rolle. Das gilt aber weder für sein Werk noch für sein Leben. Man denke nur an Spiel des Zufalls, Der Geheimagent, Der Goldene Pfeil oder »Ein Lächeln des Glücks«. Die Frauen in seinem Leben werden von vielen Biographen entweder als Randfiguren betrachtet oder wie seine Frau Jessie abqualifiziert. Vielleicht helfen die Porträts im vorliegenden Buch zu einer Neubewertung des Verhältnisses, das Conrad zu Frauen hatte und diese zu ihm.
Zu dem Werk eines Autors gehört nicht nur das, was er selbst geschrieben hat, sondern auch alles, was ihm als Echo, Reaktion, Nachahmung oder Ablehnung aus der Um- und Nachwelt entgegentritt und folgt. Kein Werk besteht nur aus sich selbst, sondern nimmt viele der kulturellen Geräusche im Sinne von Resonanz in sich auf, und nur so verstehen wir es erst. Daher verfolgen einige Kapitel auch die Auswirkungen bestimmter Bücher oder zeigen das Weiterleben Conrads an unerwarteten Orten. Zum Schluß sei betont, daß dies kein Buch von Werkinterpretationen ist, sondern sich den Werken Conrads immer unter biographischem Vorzeichen nähert. Für umfassende Studien zu den Romanen und Erzählungen sei auf die ungebremst wachsende Sekundärliteratur verwiesen.
Vielleicht ist es unnötig hinzuzufügen: Biographien sind Brücken, von denen man auf das fließende Wasser hinabschaut. Sie sind nicht zu verwechseln mit der Realität eines Lebens oder der geheimnisvollen Wirklichkeit der Imagination. Um sich dieser zu nähern, hilft nur das Lesen der Werke. Eines Tages schrieb Joseph Roth, der ja nicht weit entfernt von Conrads Heimat geboren wurde, an seinen Onkel: »Lieber Onkel, ich weiß, daß Sie keine Bücher lesen. Trotzdem gebe ich Ihnen einige. Ein Mann hat sie geschrieben, namens Joseph Conrad. Er war ein Pole von Geburt. Er wurde im tiefsten Kontinent geboren, nämlich in Wolhynien … und seine Muttersprache war die polnische, die zu den kontinentalsten Sprachen der Welt gehört. Aber er ging mit 16 Jahren nach Marseille, bestieg ein Schiff, wurde ein Matrose und fuhr durch die Meere und wurde einer der größten Meister der ozeanischen Sprachen: der englischen. Und dies sind seine Bücher. Sie sind bewegt wie das Meer und ruhig wie das Meer und tief wie das Meer … Lesen Sie den Ozean!«
Nicht zuletzt hat jeder Biograph Dank zu sagen. Dankbar bin ich den vielen fleißigen Conrad-Forschern, von denen ich unendlich profitiert habe. Im Anhang verweise ich auf einige grundlegende Nachschlagewerke und Monographien. Die lebenden Conrad-Forscher, die ich auf manchen Konferenzen kennenlernte, waren allesamt hilfreich und interessiert an meinem Projekt, ob Gene Moore, Anne Luyat, Wieslaw Krajka, Stephen Brodsky, Keith Carabine oder viele andere. Christian Trepte half, bei den polnischen Kapiteln die schlimmsten Irrtümer zu vermeiden, Jacqueline Peltier versorgte mich mit Nachrichten aus der Bretagne. Mario Curreli bot mir in Pisa mit der dortigen Conradsammlung viel Unterstützung. Meinen Studentinnen und Studenten bin ich dankbar für manche Diskussion und Hausarbeit in Conrad-Seminaren an der Leipziger Universität, insbesondere Frank Förster für seine mannigfache Unterstützung und seine fleißige Rezeptionssammlung, Birgit Kuch für Hilfe bei ersten Begehungen des polnischen Territoriums, meinen wissenschaftlichen Hilfskräften Britta Awe und Sascha Gruschwitz. Zu danken habe ich der Fondazione Bogliasco bei Genua und der Compagnia di San Paolo Stiftung, die es mir erlaubten, das Buch mit einem Stipendium als »Compagnia di San Paolo-Bogliasco Fellow per la Letteratura« an der herrlichen Küste Liguriens fertigzustellen. Vor allem aber jener Frau, die sich immer wieder meine Berichte aus der Schreibwerkstatt anhören mußte und dennoch aufmunternd sowie lesend zur Seite stand – Ulrike, der ich dieses Buch widme.
Er hat im Sinn, sich ganz der Erforschung der Handels-
verhältnisse auf dem Archipel der Sunda-Inseln
zu widmen, deren Schönheit und Reichtum er mit
der größten Begeisterung beschreibt.
Tadeusz Bobrowski in einem Brief
Weit von Europa, und vielleicht in einem gleichen Abstand zu allen anderen Kontinenten, liegt Borneo. Im 19. Jahrhundert jedoch rückt dieses schillernde Inselreich in unsere Geschichte. Die Verlegung von Unterseekabeln für die Telegraphie und überhaupt die Verkabelung der Welt im Zeichen von Nachricht und Information machte die Beschaffung besonderer Materialien notwendig. Man fand sie in der Milch, die aus den Bäumen Borneos floß. Die Eingeborenen nannten sie Guttapercha, Gummibaum. Europa und Amerika brauchten Gummi für Zähne, Knöpfe, Säbelgriffe und Golfbälle, vor allem aber für Abdichtungen aller Art. Am Ende des 19. Jahrhunderts waren ganze Baumarten auf Borneo ausgerottet.
Borneo wurde von den Portugiesen für die westliche Welt entdeckt. 1521 landeten die Gefährten Magellans, der zuvor auf den Philippinen im Kampf mit Eingeborenen gefallen war, an der Küste des heutigen Brunei. Man handelte mit Schildkröteneiern, transportierte Edelhölzer, Orchideen, Diamanten und Gold. Am wichtigsten waren für die Europäer die Gewürze, und das wichtigste unter den Gewürzen war der Pfeffer. Das Land, wo der Pfeffer wächst, hatte damals noch eine ganz andere Bedeutung; es war eine himmlische Versprechung. Dem Eldorado der westlichen Hemisphäre kann man geradezu ein Pfefferland in der östlichen Hemisphäre zuordnen. Das Verlangen nach Pfeffer, heißt es im 22. Kapitel von Joseph Conrads Lord Jim, brannte »heftig wie Liebesglut in der Brust holländischer und englischer Abenteurer. … Kein Land, in dem der Pfeffer wuchs, in das sie nicht gegangen wären.« Diese Liebesglut aber machte die Inseln verwundbar. Gleichzeitig blieben sie politisch unübersichtlich, beherrscht von den verschiedensten Kolonialmächten und einheimischen Fraktionen, verwirrend und hinterhältig wie der Dschungel und die Flüsse in ihm. In seiner Traumvision hatte auch der preußische Kronprinz schon erkannt, daß Borneo sich vor den Europäern und Chinesen versteckte. Eine Luftspiegelung, dieses Inselreich im hinterindischen Osten, zugleich verzerrtes Abbild jener Reiche, in denen Europa im Ausklang der napoleonischen Zeit träumte. Denn das nach-napoleonische Europa, das einen ersten Anlauf auf Einigung verworfen hat, wird verwirrend sein wie ein Archipel.
Etwas Imaginäres ist an Inseln. Viele sind im Laufe der Jahrhunderte auf den Karten so lange verschoben worden, bis sie verschwanden: die Insel des heiligen Brandan, die Insel Buss, die sichelförmige Insel Mayda, die sich mal bei Cape Cod, mal bei den Bermudas aufhielt, Swacy’s Island, die sich auf sowjetischen Karten befindet, Podesta, die von dem italienischen Kapitän Pinocchio entdeckt und nie wieder gesehen ward: All diese Inseln sind Teile eines Mobiles, eines imaginären Reiches, auf das die Menschheit ihre Sehnsüchte, Hoffnungen, Ängste und Strategien projiziert, Teile einer imaginären Geographie, die unter der realen liegt und diese mitbestimmt. Inseln und Archipele sind daher auch Landschaften für Ausgestoßene und Vertriebene, wie James Hamilton-Paterson in seinen Seestücken schreibt. Sie kommen dem Provisorium entgegen, in dem der Exilierte sich aufhält, sie verhelfen zu Flucht und Versteck, es fehlt ihnen die Überwachung durch eine Zentralmacht. Nationale Zuordnungen sind schwierig, Korsika ist italienisch und französisch, korsisch ohnehin, die Kanalinseln sind englisch und französisch, man pflegt Zweisprachigkeit, liegt zwischen den politischen und nationalen Gezeiten. Der Horizont mit seinen Schiffen ist eine Bühne der Beweglichkeit, das Meer, die schwankenden Silhouetten, die vielfältigen Winde und das strahlende Licht sorgen dafür, daß hier Grenzen ganz anderer Art gezogen sind als auf dem Lande und daß hier eine Autonomie herrscht, von der in den trüben Städten nicht einmal geträumt werden kann: Schmuggelei, Seeräuberei, Brauchtümer, Anarchien und Despotien, Verschwörungen und Rebellionen, Tyrannei und Freiheit zugleich. Inseln dienten von jeher dazu, Zukunft in Form von idealen Staatswesen zu bündeln, auch deshalb sind sie Träger von Träumen. Überall, wo etwas Neues entsteht oder experimentiert wird, muß eine Insel in der Gegenwart entstehen, mag sie räumlich oder zeitlich sein. Ein Gebiet muß sich absetzen, wie die Schauspieler einen Kreis um sich ziehen, um als Spieler erkannt zu werden. Die Insel ist der Ort des Spiels, des Traums, der Zukunft, sie ist Utopie, Laboratorium, Experiment. Daher aber ist sie auch der Realität entfremdet. Zukunft wird um den Preis der Entfremdung, des Verlustes an Gegenwart erkauft. Deshalb kann sie auch ganz plötzlich zum Gefängnis werden, zu einem Ort der Verdammten und Gescheiterten. Das ist Conrads Welt: der Archipel als Labyrinth von Lebensläufen, von undurchsichtigen Biographien, von Linien der Schuld und des Schattens, des Versteckten und Verdorbenen, zwischendurch aufgehellt von heroischen Blitzlichtern – so von Tom Lingard, dem Rajah Laut, dem weißen Herrn der fremden Meere. Auf den Inseln zwischen Borneo, Sumatra und Thailand läßt Conrad seine Figuren hindämmern oder unergründlichen Schicksalen nachgehen, an der Liebe zerbrechen, Korruptionen ausleben und Verbrechen planen: ein Almayer, der sich nach Europa zurückträumt, ein Lord Jim, der es nach seinem Scheitern noch einmal versucht, der Schwede Heyst, dem der Sprung über seinen Schatten nicht gelingt, Schomberg, der Schlechtigkeit verbreitet wie eine Krankheit, Lena, das einsame Mädchen aus dem Damenorchester, Freya von den sieben Inseln, zermalmt zwischen den Patriarchen, Lingard selbst zerrissen zwischen Ehre und Gefühl. Zugleich ist diese Inselwelt mit ihren Lagunen und Riffen, den Flüssen und Dschungeln eine kindliche Welt. Sie eignet sich für Versteckspiel und Abenteuer wie keine andere, sie wird für Conrad zu einem idealen Ausdruck der Komplexität des Gefühlslebens und seiner Widerstände.
Borneo und das Gebiet, das heute Teile von Indonesien, Malaysia und Thailand bildet, ist zentraler Bezugspunkt seines Werkes, gut zwölf Romane und Erzählungen hat er hier angesiedelt. Dabei verbrachte er kaum mehr als einen Monat in Borneo. Als zweiter Steuermann des kleinen Dampfers Vidar unternahm er zwischen August 1887 und Januar 1888 vier Fahrten an der Ostküste. Das ist schon alles, sehr wenig, wenn man es vergleicht mit dem literarischen Rang, den er dieser Inselwelt beimessen sollte. »Ich bin Borneo leidenschaftlich zugetan«, schrieb er seiner Verwandten Marguerite Poradowska, als er Der Verdammte der Inseln, seinen zweiten Roman, begann. Aber es entstand keine Dokumentation, sondern Conrad fing vielmehr jene schwebende Existenz zwischen Halluzination und Realität ein: »Schließlich«, schrieb er an den englischen Verlagslektor W.H. Chesson, »haben Fluß und Menschen nichts Wahres an sich – im vulgären Sinn – außer ihren Namen. Jede Art von Literaturkritik, die eine reale Beschreibung von Orten und Ereignissen suchte, wäre eine Katastrophe für jenes Partikel Universum, das niemand und nichts anderes in der Welt ist als ich selbst.«
Doch Borneo scheint nicht nur Träume mobilisieren zu können, gelegentlich ermöglicht es auch deren Verwirklichung. 1839 kam der englische Abenteurer James Brooke (1803–1868) nach Sarawak, wo er half, eine Rebellion zu unterdrücken. Dafür wurde er kurz darauf mit dem Titel Erster Rajah von Sarawak geadelt. Es gelang ihm durch geschickte Politik und Einflußnahme, die untereinander verfeindeten Gruppen von islamischen Malaien und einheimischen Dayaks zu versöhnen oder zumindest in Schach zu halten sowie Piraterie und Sklaverei zu unterbinden. Conrad kannte seine Tagebücher und nutzte sie für lokales Kolorit in Almayers Wahn, Der Verdammte der Inseln, Die Rettung und Lord Jim. Er war glücklich, als er 1887 im Hafen von Singapur das einstige Schiff des Rajahs, die Rainbow, passierte. Persönlich kennengelernt hat er ihn nie, Brooke gehörte vielmehr zu den Idolen seiner Jugend. Hier in der Ferne, in der Unübersichtlichkeit, schien es einem Europäer gelungen zu sein, seine zivilisatorische Mission zu erfüllen – ohne dabei korrumpiert zu werden wie Brookes afrikanisches Gegenbild Kurtz in Herz der Finsternis. Ein anderer hatte Brooke kennengelernt und ihn in einem Werk porträtiert, das eines von Conrads Lieblingsbüchern wurde: A.R. Wallace. Sein naturgeschichtlicher Klassiker The Malay Archipelago: The Land of the Orang-Utan and the Bird of Paradise ist zugleich Wissenschaft und Reisebericht. Er widmete das Buch Charles Darwin, mit dem er bekanntlich die Entdeckung der Evolutionsgesetze teilt: überleben durch Anpassung. Zeitgleich mit Darwin hatte er seine Beobachtungen im Malaiischen Archipel gemacht und ähnliche Schlußfolgerungen gezogen. Wallace vermachte seine 20000 Schmetterlinge und Käfer, seine 3000 Vogelhäute sowie Muscheln und Pflanzen dem Britischen Museum. Auf den Aru-Inseln im Süden von Neu-Guinea gelang es ihm, den Paradiesvogel zu fangen, den kaum ein Europäer bislang gesehen hatte. Am 4. Dezember 1857, einen Tag nach Joseph Conrads Geburt, befindet er sich in Ambon, vier Wochen später in Ternate. Hier wird er ein berühmtes Papier verfassen, in dem er, etwas eher noch als Darwin, seine Evolutionstheorie skizziert.
Von den fernen Inseln her kommt die vielleicht einflußreichste Deutung der biologischen und, in Übertragung, auch menschlichen Geschichte. Darwin hatte bekanntlich auf den Galápagos-Inseln seine wichtigsten Beobachtungen gemacht, die in nuce – in den Schnäbeln der Finken – die künftige Theorie vorwegnahmen. Es scheint, daß Inseln in ihrer Anlage als plurale Welten Geschichte unendlich beschleunigen können und die Gegensätze zwischen alt und jung, zwischen archetypisch und aktuell, die historische und psychologische Ungleichzeitigkeit in einem ganz anderen Maß zeigen können, als dies auf einem kontinuierlichen Landstrich der Fall ist. Inseln versprechen Zukunft, aber sie locken auch zurück in die Vergangenheit. Durch diese Spannung versetzen sie Forscher wie Darwin in die Lage, zugleich rückwärts zu denken und vorauszusehen. Die Insel, schreibt Hamilton-Paterson, wiederholt eine Phantasie menschlicher Anfänge, eine Ursprungsgeschichte des Ich, zugleich aber, so müßte man hinzufügen, die Ursprungsgeschichten der Evolution. Sie sind, folgt man ihm weiter, sexuell aufgeladene Orte ebenso wie exterritoriale Ländereien, die außerhalb des Gesetzes existieren. Ihre Grenzen sind fließend. Conrad ist wie Axel Heyst, sein Protagonist in Sieg, von einem magischen Zirkel verzaubert, »mit einem Radius von achthundert Meilen, gezogen um einen bestimmten Punkt in Nord-Borneo«.
Solche Verzauberung ist uns eigentlich nur geläufig als Erfahrung von Landschaften, in denen wir geboren wurden oder aufwuchsen. Conrad scheint in der Ferne geboren zu sein, aufgewachsen in einer Fremde, die geographisch zu den Antipoden zählt, zur Welt der Gegenfüßler. Die Welt, in die Conrad hineinwächst, jenes nach dem Wiener Kongreß erstarrte Europa, beginnt Züge des Imaginären zu tragen. Projektionen und Hoffnungen, Wünsche, Träume ziehen und zerren an der politischen Decke, manchmal nehmen sie die Gestalt einer Insel an. Der preußische Kronprinz, der später als König Friedrich Wilhelm IV. den Thron bestieg, träumt sich 1814, nach dem Sieg über Napoleon, in ein Königreich hinein, fern von aller Welt und luftig wie der Sternenhimmel in Schinkels Dekoration zur Zauberflöte, und nennt es Borneo. Victor Hugo bemerkt, Indien sei zu Deutschland geworden, Balzac heiratet eine polnische Gräfin in der tiefsten Ukraine, und während der kleine Nietzsche, der sich später gerne als Abkömmling eines polnischen Adelsgeschlechtes sehen sollte, Klavierspielen lernt, wird in der tiefsten ukrainischen Provinz unter dem Namen Józef Teodor Konrad Korzeniowski ein Mensch geboren, der sich einmal Joseph Conrad nennen wird. Conrads Europa ist geprägt von verschwimmenden Grenzen und flottierenden Inseln und insbesondere von einem Polen, das es nicht mehr gibt und das doch unter der Oberfläche weiterlebt, inkognito, unter einem Pseudonym: ein Archipel, in dem sich die Zukunft viele Namen gibt.
Im Juli 1914 machte sich Joseph Conrad mit seiner Familie auf in ein Land, das es nicht gab, wenn wir den damaligen Geschichtsbüchern und Politikern glauben wollen: Polen – ein Land, schrieb er, das auf der Landkarte nicht existiert, aber in der Wirklichkeit. Er hatte seine Heimat seit über zwanzig Jahren nicht mehr gesehen, Krakau schon seit über vierzig Jahren nicht, und im Mai war eine Einladung an ihn ergangen, einige Zeit in einem Landhaus in der Nähe von Krakau, der alten jagellonischen Stadt, zu verbringen. Seiner englischen Frau und seinen Söhnen hatte er schon lange etwas von seiner Heimat zeigen wollen – alles Polnische war für sie fern und fremd. Diese Reise wird zu einer Fahrt durch Raum und Zeit, sie wird den bekannten englisch-polnischen Autor mit einer Vergangenheit konfrontieren, die mit einem Mal in akute Gegenwart umschlägt: ein Moment, der einem seiner Romane entstammen könnte.
In den Jahren zuvor hatten sich die Verbindungen Conrads zu Polen wieder verdichtet. Im Frühjahr 1914 traf er sich des öfteren mit Józef Retinger, der ein polnisches Büro in London leitete und ihm Kontakte zu anderen Polen verschaffte. Retinger vermittelte Conrad auch das einzige Interview, das er auf polnisch für eine polnische Zeitschrift (Tygodnik Ilustrowany) geben sollte. Darin versuchte er, sein polnisches Wesen zu ergründen und dessen Verwurzelung in den Werken der Nationaldichter Mickiewicz und Slowacki. Zwei Dinge, sagt er, erfüllen ihn mit Stolz, »daß ich, als Pole, ein Kapitänspatent der britischen Handelsmarine besitze und daß ich nicht ganz schlecht auf Englisch schreiben kann.« Er hat also seine beiden großen Ziele erreicht, wie sie mehr oder weniger unbewußt in der Kindheit angelegt waren: englischer Seemann und Autor zu werden. Vielleicht ist jetzt der richtige Augenblick, der Vergangenheit ins Auge zu sehen? Conrad geht diesem Augenblick mit gemischten Gefühlen entgegen: einerseits aufgeregt, verstört, alten Gespenstern und Träumen zu begegnen, Überlebenden und Toten, andererseits aber in Vorfreude auf Begegnungen und gemeinsame Erinnerungen. Jedenfalls lädt ihn Retingers Familie nach Krakau und Umgebung ein, weitere Kontakte gibt es nach Zakopane, dem Kurort in Südpolen. Dort leitet eine Kusine eine Pension, in der so manche polnische Berühmtheit Quartier genommen hat, unter anderem der künftige erste Staatspräsident Pilsudski.
Nun packt man also in dem südenglischen Dorf die Koffer und macht sich auf eine Reise über die Nordsee quer durch Deutschland in das österreichisch regierte Krakau. Die Abfahrt findet am 25. Juli statt. An diesem Tag weist Österreich-Ungarn den Kompromißvorschlag Serbiens zurück und hält sein Ultimatum weiter aufrecht. Der Mord an Erzherzog Ferdinand in Sarajewo am 28. Juni hatte diplomatische Unruhe über die Welt gebracht, aber an Krieg wollte noch niemand recht glauben. Was ist ein Erzherzog überhaupt, kann es überhaupt etwas Schattenhafteres und Obskureres geben als solch einen Erzherzog, fragte sich Conrad und sah in Gedanken eine Schar von schattenhaften Erzherzögen, aus deren Mitte bald schon ein neuer heraustreten würde. Vielleicht würde es eine begrenzte Auseinandersetzung geben auf dem Balkan oder Serbien würde bestraft werden, aber die Großmächte würden sich schon zurückhalten.
Liverpool Street Station ist der Bahnhof, von dem die Züge Richtung Nordsee – nach Ipswich, Harwich oder Lowestoft – fahren. 36 Jahre zuvor hatte Conrad auf diesem Bahnhof erstmals London betreten. Die Reise nach Krakau führt in Kreise von Erinnerungen, die selbst wieder kreisförmig angeordnet sind. Denn im Jahre 1878 hatte er aus einem fast abergläubischen Gefühl heraus darauf verzichtet, eine Droschke zu nehmen, die ihn in London an sein Ziel bringen würde, als dürfe man in wichtigen Momenten des Lebens eben keine Wagen mieten. Er sollte einmal um den Globus, nach Australien, segeln müssen, um das erste Mal eine Londoner Droschke besteigen zu können. Zwischen der ersten Ankunft in Liverpool Street und der jetzigen Abfahrt lagen große Veränderungen in seinem Leben, und es kommt ihm vor wie der Abschluß eines Zyklus von 36 Jahren.
Nun geht es von Harwich nach Hamburg über die Nordsee, und das Meer führt ihn zurück in die Zeit, als er erstmals englischen Boden betrat und auf englischen Handelsschiffen arbeitete. Zwischen Lowestoft und Newcastle an der ostenglischen Küste schnappte er von den Seeleuten das erste Englisch auf, in dem er es später zu so großer Meisterschaft bringen sollte. Die Nordsee ist sozusagen sein Klassenzimmer gewesen, für das Handwerk wie für die Sprache, wie er ein Jahr später in seinem Reisebericht schreibt (»Poland Revisited«, 1915).
Aber wenn die Nordsee heftig und finster wird, will ihm scheinen, daß sie nicht zufällig »German Ocean« genannt wird. Deutschland – für dieses Land hatte Conrad zeit seines Lebens wenig übrig. Es war für ihn die Macht, die in ihrer preußischen Form von der Teilung Polens profitiert hatte, ein autokratischer und starrer Staat, eingebildet und wenig kultiviert. An Bord beobachtet er einen Deutschen mit seinen zwei Söhnen, die in einer englischen Privatschule lernten. Was bringt einen arroganten Teutonen wie diesen reichen Deutschen dazu, seine Söhne nicht im »Gelobten Land von Stahl, Chemie und Effizienz« zur Schule zu schicken, sondern in einem dekadenten Land wie Großbritannien? Deutschland, schreibt er 1915, ist derjenige Teil des festen Bodens unseres Planeten, von dem ich am wenigsten weiß. Dazu kommt ein absoluter Mangel an Neugier und Interesse; am liebsten wäre ihm, an der englischen Küste einzuschlafen und hinter Schlesien wieder aufzuwachen. Schlimm auch, daß der englische Kapitän deutschfreundlich ist, aber er ist eine einfache Seele und Conrad weiß, daß der deutsche Geist eine hypnotische Wirkung auf halbgebackene und etwas dämmrige Geister hat. Bei Borkum der erste deutsche Leuchtturm, überhaupt viel Licht auf der Strecke, nachts, von all den Dampfern und Tankern, das ist für Conrad eine völlig neue Welt, die nichts mehr gemein hat mit den Seglern aus seiner Zeit. Immerhin ist er seit gut vierzehn Jahren nicht mehr aktiv zur See gewesen. Die Nordsee glitzert wie eine Einkaufsstraße, Helgoland schickt sein mächtiges Licht in die Nacht, aus der Elbe kommt das Lotsenboot, und auch die Mündung ist mit Lichtern besetzt. Aus dem Blickwinkel des 1915 wütenden Krieges, vor dessen Hintergrund er diese Erinnerungen verfaßte, erscheint ihm der technische Fortschritt als entscheidender Schritt in Richtung Krieg und Zerstörung. Die Menschheit werde zunehmend demoralisiert durch die Herrschaft des Mechanischen. Dann deutscher Boden, der ihn völlig kaltläßt: keine Sympathien hier zu finden, keine Großzügigkeit, statt dessen unendlicher Provinzialismus, Neid und Eitelkeit! Immerhin, an diesem 27. Juli geht die Familie den Hamburger Hafen und Hagenbecks Zoo besichtigen. Mit dem Zug fährt man weiter nach Berlin, wo sie die Nacht verbringen. Um wenige Stunden müssen sich in dieser Stadt zwei große Autoren des Jahrhunderts verpaßt haben. Der andere war Franz Kafka, der am 26. Juli nach einer kurzen Ostseereise über Berlin nach Prag fuhr. Vorausgegangen war die Auflösung seiner Verlobung mit Felice Bauer im Hotel »Askanischer Hof«. Eine Beschreibung dieser polnisch-englischen Familie auf dem Bahnhof Friedrichstraße, angefertigt von der Hand Franz Kafkas, liegt nicht vor, aber wir können sie uns ausmalen. Meines Wissens hat Kafka Joseph Conrad nicht gelesen, aber einen Josef K. hat er sehr wohl auf seine Reise in das Herz der Finsternis geschickt. (Peter Hoeg läßt in seiner Erzählung »Reise in ein dunkles Herz« Conrad als Joseph K. auftreten.)
Es ist nun der 28. Juli und ein Krieg zwischen Österreich-Ungarn und Serbien bricht aus. An diesem Abend kommen die Conrads in Krakau an. Zwei Tage lang geht Conrad mit seinem älteren Sohn Borys durch die Straßen der alten polnischen Königsstadt. Hier hatte er entscheidende Jahre seiner Kindheit und Jugend verbracht. Sie besuchen die berühmte Jagellonische Bibliothek, und hier zeigt ein Archivar dem englischen Autor Mappen mit Manuskripten und Briefen ganz besonderer Art. Es handelt sich um einen großen Teil der Schriften seines Vaters: Apollo Korzeniowski. Es muß ein bewegender Moment gewesen sein. Der Bibliothekar, der, wie Conrad selbst und wie ein großer polnischer Dichter des 19. Jahrhunderts, den Namen Józef Korzeniowski trägt, zeigt dem Besucher ein Konvolut von Briefen des Vaters an einen Freund: »Darin werden Sie oft erwähnt, obwohl Sie erst vier Jahre alt waren. Ihr Vater muß sehr viel Interesse an seinem Sohn gehabt haben.« Mit seinem Sohn Borys geht er zum Rakowice-Friedhof, und dort, am Grab Apollos, sieht Borys, zum ersten und einzigen Mal in seinem Leben, seinen Vater niederknien und beten.
Am zweiten Abend trifft Conrad im Hotel einen alten Freund, Konstanty Buszczyn’ski, den Sohn seines ersten Hüters und Vormunds Stefan Buszczyn´ski. Konstanty, einst ein brillanter Altphilologe, ist nun zu einem Erfinder geworden: Er züchtet mit großem Erfolg Rote-Beete-Samen. Er lädt die Conrads für den 31. Juli auf sein Landgut ein, einige Kilometer außerhalb von Krakau. Am Morgen des 31. jedoch liest man in den Zeitungen, daß das Deutsche Reich dem zaristischen Rußland ein Ultimatum gestellt hat. Noch an diesem Tag beginnt eine allgemeine Mobilmachung: Unruhe auf den Straßen, Aufläufe, Versammlungen, Reden, Registrierung von Rekruten und Beschlagnahme von Pferden und Wagen.
Die polnischen Erwartungen zu diesem bevorstehenden Krieg gehen hin und her. Unter der Führung von Pilsudski formiert sich eine polnische Legion, die für ein unabhängiges Polen auf österreichischem Boden kämpfen will. Überhaupt hofft man, daß der Konflikt zwischen den Großmächten, auf die die polnischen Teilungen zurückgehen, die polnische Nation wieder hervorbringen werde, vorausgesetzt, der Krieg weite sich nicht aus. Conrad, der aus dem mächtigen England kommt, wird befragt, wie wohl dieses Land zu einem Krieg stehen würde. In einem Augenblick der Inspiration antwortet er: »Wenn England in den Krieg geht, dann wird es ihn bis zum Ende kämpfen – gleich wer irgendwelche Friedensvorschläge nach sechs Monaten auf Kosten von Recht und Gerechtigkeit machen wird. Darauf könnt ihr rechnen.« Und zwar werde England notfalls auch alleine kämpfen, aber es werde wohl nicht alleine bleiben. Im September 1914 schrieb Conrad ein politisches Memorandum nieder, in dem er sich zur Zukunft Polens Gedanken macht. Zentral ist die Forderung nach einer Anerkennung Polens durch alle Beteiligten am Krieg und einem notwendigen Waffenstillstand. Insbesondere liegt ihm daran, eine gute Beziehung zu Österreich aufzubauen, denn mit Österreich hatte das besetzte Polen im Vergleich zu den von Preußen und Russen besetzten Teilen eindeutig die besseren Erfahrungen gemacht. England solle also Österreichs Bestrebungen gegenüber den polnischen Territorien unterstützen, um damit ein Gleichgewicht gegenüber Preußen/Deutschland und Rußland herzustellen. England solle sich zudem von Rußland fernhalten, denn erstens werde Rußland besiegt werden und zweitens sei es wahrscheinlich, daß Preußen und Rußland in der näheren Zukunft vereinigt würden. Das Memorandum gibt sicherlich einige Argumente wieder, die in den Gesprächen Conrads mit seinen polnischen Landsleuten eine Rolle spielten.
Aus dem Besuch der Saatgutfarm in Górka Narodowa wird also nichts, vielmehr müssen die Conrads jetzt sehen, daß sie so schnell wie möglich aus dem Land kommen. Krakau liegt zu dieser Zeit nur wenige Kilometer von der russischen Grenze entfernt auf österreichischem Boden, in einem gefährlichen Grenzgebiet also. Statt dessen nimmt Conrad seine Familie, »den unglücklichen Stamm«, wie er an Galsworthy schreibt, mit nach Zakopane in den Karpaten, etwa 100 Kilometer von Krakau entfernt. In dem bekannten Erholungsort bleiben sie bis zum 7. Oktober bei Verwandten, den Zagórskies. Die Tochter Aniela Zagórska, Conrads polnische Übersetzerin, versorgt ihn mit Literatur. Conrad liest viel, unter anderem den großen Autor Boleslaw Prus. In diesen Tagen greift die Schwester von Marie Curie Conrad öffentlich an, er habe sein Mutterland im Stich gelassen, indem er nach England zog – ein alter Vorwurf. Jessie Conrad hat zum ersten Mal das Gefühl, ihren Mann von seinem polnischen Hintergrund her besser zu verstehen. Mit Hilfe des amerikanischen Botschafters in Wien gelingt schließlich im Oktober die Rückreise nach England über Wien und Genua.
Für Conrad jedenfalls war der emotionale Höhepunkt in Krakau erreicht, den er auf entspanntere Weise in Zakopane verarbeiten konnte. Man möchte sich nicht ausmalen, was Conrad in diesen Tagen und Wochen durch den Kopf ging. Da war auf der einen Seite die Bedrohung für sich und die Familie, in einen neuen Krieg hineinzugeraten, auf der anderen strömten die Erinnerungen wie alte Bekannte auf ihn zu, und er erlebte noch einmal am eigenen Leib die Falle, die Polen für seine Eltern und Verwandten immer wieder gewesen war – zerrieben zwischen den Großmächten und immer auf Gedeih und Verderb einem geschichtlich-politischen Druck ausgeliefert. Aber diesmal gelang ihm wieder die Flucht, und er ließ ein Polen zurück, das sich Hoffnungen auf eine Zukunft machen konnte.
Ein solches Polen hatte es immer gegeben, doch war die reale Unterdrückung zu brutal gewesen. Er hatte sie in seiner Kindheit am eigenen Leib und an der eigenen Seele erlebt, als Leidensgenosse seiner Eltern, als überlebendes Waisenkind, das keine feste Bleibe hatte und auf wohltätige Verwandte angewiesen war. Er wurde in ein zerfetztes und imaginäres Polen hineingeboren und stammte von Eltern ab, die eine revolutionäre Vision hatten: die Wiederherstellung des verlorenen Landes gekoppelt mit einer sozialen Reform, zu der eine Landreform und die Abschaffung der Leibeigenschaft gehörten. Dadurch waren sie dem zaristischen Staat in doppelter Hinsicht gefährlich. Welche Eltern eines Autors waren auf derartige Weise in die Geschichte ihres Landes verwickelt, so daß das Private sich überhaupt nicht mehr vom Öffentlichen trennen ließ? Allerdings hat Polen viele ähnliche Schicksale hervorgebracht.
Auf einer Konferenz über Conrad im Juli 2005 stellte eine ukrainische Referentin die Frage zur Diskussion, wo Conrad denn eigentlich geboren sei. Wenn man die Lexika konsultiere, so sei dort meist die Rede von Polen, von der polnischen Ukraine oder sogar Rußland. Für sie sei die Sache jedoch klar, es müsse heißen: Ukraine. Doch ganz so einfach ist es nicht. Heute, aber erst seit der Auflösung der Sowjetunion, gibt es einen Staat namens Ukraine. Zuvor war sie Teil des russischen Imperiums und unterstand dem Zaren, auch wenn es eine sprachliche und kulturelle Ukraine schon gab. Das Territorium, in dem Berdychiv liegt, gehört zum östlichen Wolhynien, das bis zur zweiten Teilung Polens durch die Mächte Rußland, Preußen und Österreich Teil von Polen und Litauen war. Die Bevölkerung war jedoch in der Mehrheit ukrainisch, die Polen bildeten die herrschende Oberschicht. Immerhin war es eine aufgeklärte Oberschicht, denn schon seit Jahrhunderten gab es in der polnischen Aristokratie eine Tradition der Toleranz. Die herrschende szlachta, eine Oberschicht, die nicht deckungsgleich mit unserem Adel ist, prägte die Kultur und Politik des Landes. Es gibt einige Dinge über Polen, die man als Mitteleuropäer, gar Deutscher zur Kenntnis nehmen sollte. Polen war über Jahrhunderte der größte und mächtigste Staat in Europa und neben der Schweiz auch der liberalste. Er ist zugleich der östlichste Staat Europas mit lateinischer Schrift. Die polnische Kultur hat immer wieder die Nähe zu Frankreich gesucht, und in mancher Hinsicht waren Ideale der Französischen Revolution und des Parlamentarismus Errungenschaften in Polen, bevor sie andere Staaten Europas erreichten. Es ist kein Zufall, daß der Begriff inteligencja zunächst, nämlich um 1820, in Polen entstanden ist, bevor er über Rußland den Weg in westliche Sprachen fand. Wenn also von polnischen Nationalisten im 19. Jahrhundert die Rede ist, so dürfen wir nicht die Werte vergessen, die sie mit ihrem Land verbanden und die nicht – oder zumindest nicht allein – mit Machterhalt zu tun hatten: Toleranz, Aufklärung, Beendigung der Leibeigenschaft, Bildung, Ansätze zu demokratischem Denken und Handeln. Sie verbanden sich mit Werten, die ihren aristokratischen Ursprung nicht verleugnen konnten: Ritterlichkeit, Treue, Tapferkeit.
Drei Teilungen mußte Polen erleiden: 1772, 1793 und 1795, dann war es endgültig von der Landkarte verschwunden. Aber nicht aus den Herzen, den Traditionen und Gedanken; aus der Gegenwart vielleicht, doch aus der Zukunft niemals. In den Zeiten der Teilung wurde die Kultur, insbesondere die Literatur, zu einer zweiten, unsichtbaren Heimat der Polen. Literarische Figuren, Heldengedichte und Tragödien, wie sie von den Dichtern Mickiewicz oder Slowacki erschaffen wurden, demonstrierten, wie sehr ein Land als politische Möglichkeit von der Imagination abhängt und eine politische Idee ohne diese zum Tode verurteilt ist. Man sollte hinzufügen, daß die Polen in den von Rußland und Preußen besetzten Gebieten besonders litten. Im preußischen Teil Polens versuchte man nach Unruhen in den 1840er Jahren, eine Germanisierung der Polen durchzusetzen. Jenem preußischen König, nach dem Nietzsches Vater seinen Sohn benannte, Friedrich Wilhelm IV., gelang es nicht, aus den Polen gute Preußen zu machen. Im Gegenteil, der Widerstand wurde durch solche Versuche erst angefacht, wenn auch weniger stark als in den russisch besetzten Gebieten. Im österreichisch besetzten Teil wurde zumindest dem polnischen Adel eine größere Freiheit gewährt.
Der Ort, an dem Conrad als Kind polnischer Eltern am 3. Dezember 1857 geboren wurde, liegt also in der heutigen Ukraine, westlich von Kiew. Er heißt ukrainisch Berdychiv, auf polnisch Berdyczów. Grob gesagt gab es Mitte des 19. Jahrhunderts drei politische Richtungen unter den Polen der besetzten Gebiete. Auf der einen Seite standen die revolutionären Kämpfer, die sogenannten ›Roten‹, die nicht nur Polen, sondern auch die Leibeigenen befreien wollten. Diese republikanische Gruppe, zu der Conrads Vater Apollo Korzeniowski gehörte, tendierte zum bewaffneten Kampf. Apollo hatte in St. Petersburg orientalische Sprachen, Recht und Literatur studiert. Mit der Niederlage im Krimkrieg war die Macht des Zaren geschwächt, und es kam zu Unruhen in der bäuerlichen Bevölkerung der Ukraine. Die Aufständischen wurden 1855 trotz des passiven Widerstands brutal niedergeschlagen. Der polnische Adlige Korzeniowski mußte dies mit ansehen, und sein Herz war auf seiten der Ukrainer. Die zweite Gruppe im politischen Spektrum waren die Opponenten der Revolutionäre, die ›Weißen‹, die das alte polnische Königreich mit den traditionellen Sozialstrukturen und Hierarchien wieder errichten wollten und dabei auf ausländische Unterstützung, vor allem aus Frankreich und Großbritannien hofften. Die dritte Gruppe schließlich waren die Befürworter eines Kompromisses. Sie wollten ihre polnische Identität innerhalb der Grenzen Rußlands pflegen und hielten nichts von antirussischer Propaganda und Gewalt. Zu dieser Gruppe gehörte Conrads Onkel mütterlicherseits Tadeusz Bobrowski. In den Familien von Conrads Eltern Ewa (geb. Bobrowska, 1832–1865) und Apollo Korzeniowski (1820–1869) stießen die antagonistischen Parteiungen der Weißen und Roten aufeinander. Die vorherrschende Stimmung bei den Bobrowskis war eine neutrale Einstellung zur Politik, wie Tadeusz in seinen Briefen und Memoiren immer wieder herausstellte, um sich und seinen Familienzweig von den Korzeniowskis abzugrenzen. Apollo war dieser Unterschied bekannt, er widmete seinem künftigen Schwager ein Gedicht, in dem es heißt: »Dein Steuer ist Vernunft,/Dein Segel Willenskraft.« Es gab allerdings auch Ausnahmen auf der Bobrowski-Seite, etwa den Bruder Stefan, der ein prominenter Roter war.
Der Vater Apollo Korzeniowksi im Jahr 1862
Die Mutter Ewa Korzeniowksa im Jahr 1862
Die Bobrowskis waren insgesamt gegen die Heirat Ewas mit Apollo. Apollo gehörte zur szlachta ebenso wie Ewa, beide entstammten Gutsbesitzerfamilien. Seine Bemühungen um die schöne und intelligente Ewa fruchteten erst nach dem Tod des alten Bobrowski. Am 4. Mai 1856 heirateten sie in Oratów, dem Gut von Ewas Großvater. Apollo pachtete einen Hof, war aber nicht besonders erfolgreich in der Bewirtschaftung. Es fehlte ihm das wirkliche Interesse; das hegte er vielmehr für Politik und Literatur, und zwar mit Leidenschaft. Schließlich wurde den beiden am 3. Dezember 1857 im Hospital von Berdychiv ein Kind geboren. Das Krankenhaus ist heute verschwunden, aber das angrenzende Kino und die Apotheke sind noch zu sehen. Genau an der Stelle, wo Joseph Conrad geboren wurde, steht heute ein aufstrebender Lenin in rotem Stein. Ewa und Apollo tauften ihren Sohn auf den Namen Józef Teodor Konrad Korzeniowski mit dem Wappen der Nałęcz. Namen sind in den Werken von Conrad mindestens genauso wichtig wie in seinem Leben. Seine Vornamen enthalten eine Information, die sein Leben bestimmen sollte. Den Namen Józef gab man ihm, um an den Großvater mütterlicherseits zu erinnern, und damit verbunden waren eine anti-romantische, aufgeklärt-konservative Haltung, Neutralität und Nüchternheit. Der Name Teodor wurde vom Großvater väterlicherseits übernommen, und Teodor stand für Patriotismus und ehrenvollen Dienst in der polnischen Armee, Tapferkeit und Leidenschaft. Der dritte Name, Konrad, hatte für alle gebildeten Polen Signalwirkung. Er war dem Werk des Nationaldichters Adam Mickiewicz entnommen, und zwar der Versdichtung Konrad Wallenrod (1828) sowie dem Versdrama Dziady (Die Totenfeier, 1822/23). In Konrad Wallenrod geht es um die Befreiung der Polen vom Deutschen Ritterorden, wobei der Verrat eine wichtige Rolle spielt. Im Zentrum von Dziady steht ein träumerischer Junge, der sein Leben und auch seinen Namen ändert, als die nationale Pflicht ihn ruft. Es ist, als beträten wir schon vor der Geburt des Autors seine Welt, von ferne her atmet man hier die Atmosphäre Conradscher Romane. Auch die Namen sollten prägen, erinnern, Mut geben, anspornen, gewissermaßen als historische Mantras. Der für Conrad später so wichtige Onkel Tadeusz hieß mit vollem Namen Tadeusz Wilhelm Jerzy Bobrowski, weil sein Vater zur Zeit der Geburt eine Biographie von George Washington las. So ist der erste Vorname Hinweis auf den polnischen Nationalhelden Tadeusz Kos´ciuszko, der im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg auf seiten der Amerikaner kämpfte, Wilhelm erinnert an Wilhelm Tell, und Jerzy verdankt sich George Washington selbst. Conrads Name sollte in den fremden Umgebungen seiner Zukunft noch mancherlei Transformation und Verballhornung erleben, bis er sich für das einfache Joseph Conrad entschied. Im Tod holte ihn die Verballhornung wieder ein, denn bis heute steht auf seinem Grabstein eine Mischung aus seinem englischen und polnischen Namen einschließlich eines Schreibfehlers: Joseph Teador Conrad Korzeniowski.
Als Conrad getauft wurde, widmete ihm sein Vater ein Gedicht:
»Meinem Sohn, der im 85. Jahr der Moskowitischen Unterdrückung geboren wurde, ein Lied zum Tag seiner Taufe.« Nach sechs Strophen, in denen er dem Sohn Mut zuspricht und die Heiligkeit der Taufe preist, heißt es in den beiden letzten:
Söhnchen, erzähle dir
Daß du ohne Land bist, ohne Liebe,
Ohne Nation, ohne Volk,
Solange Polen – deine Mutter tot liegt in ihrem Grab.
Denn deine einzige Mutter ist tot – und doch
Ist sie dein Glaube, deine Märtyrerpalme.
Schlaf, mein Söhnchen, schlaf!
Söhnlein ohne …
Ohne sie …
Ohne sie …
Und keine Erlösung ohne sie!
Die Zeit wird kommen, die Tage werden vergehn,
Dieser Gedanke wird deinen Mut stärken,
Ihr und dir Unsterblichkeit geben.
Schlaf, mein Söhnchen, schlaf!
Apollo versucht Mut zu machen, aber das dem Söhnchen zugesteckte Bild, von einer Mutter geboren zu sein, die tot in ihrem Grab liegt, verlangt einen lebenslangen Kampf gegen das eigene Fatum. Unsere Vorstellung von Apollo ist stark geprägt von der wichtigsten Quelle, die wir über die frühen Jahre Conrads haben. Es sind die Briefe und Memoiren seines späteren Vormunds Tadeusz Bobrowski, der aus seiner Kritik und fehlenden Sympathie für seinen Schwager keinen Hehl machte. Es gibt jedoch Hinweise, die Korrekturen an diesem negativen Bild ermöglichen. Nach Tadeusz war Apollo ein gescheiterter Mann, ein hoffnungsloser Romantiker wie sein Vater Teodor und sein Bruder Hilary – »Utopisten«, Goldsucher und politische Spinner. Wie diesen Verwandten, schreibt Bobrowski, gelang es Apollo nicht, auf dem Boden der Realität zu bleiben, er konnte sein Gut Derebczynka nicht führen, verschuldete sich und verbrauchte dazu noch die Mitgift seiner Frau. Vielleicht schwingt hier ein Schuldvorwurf mit, nämlich, den Tod der geliebten Schwester Ewa durch seine politischen Irrtümer mitverursacht zu haben. Ewa jedoch war politisch genauso leidenschaftlich beseelt wie ihr Mann. Nach dem Scheitern in der Landwirtschaft zog die Familie nach Zhytomyr (poln. ZŻytomierz), dem kulturellen Mittelpunkt der Provinz, etwa hundert Kilometer westlich von Kiew. Hier war Apollo mit Tadeusz zur selben Schule gegangen, in einem Gebäude, das der Gräfin Ewa Han´ska gehörte. Hier gab es auch ein Theater, das Apollos Stücke brachte. Korzeniowski wollte sich nun ganz der Literatur und Politik widmen, denn als Schriftsteller hatte er sich erste Meriten erworben. Er hatte zwei allgemein gelobte satirische Komödien geschrieben (von denen noch heute eine gelegentlich gespielt wird) und einige patriotische und revolutionäre Gedichte verfaßt, mit denen er sich Gewicht bei seinen ›roten‹ Freunden verschaffte. Außerdem übersetzte er französische Literatur, vor allem Victor Hugo.
Bald aber geht Apollo nach Warschau, denn er weiß, daß sich hier etwas anbahnt. Er kauft eine Zeitschrift auf, die er umwandelt zu einem polnischen Ebenbild der bewunderten Pariser Revue des Deux Mondes, und er bewegt sich in revolutionären Kreisen. Währenddessen wohnt Ewa mit dem kleinen Konradek bei Verwandten in Nowofastów oder bei ihrer Mutter in Terechova bei Berdychiv. Der Kleine ist beliebt bei den Leuten, schreibt sie in Briefen, die auf heimlichen Wegen zu Apollo gelangen, jeder liebt ihn. Wie alle anderen will er schwarze Kleidung anlegen aus Trauer über das Vaterland. In den Kirchen wird immer wieder eine nationale Hymne angestimmt, das ist sehr gefährlich. Ständig werden Mitbürger verhört oder verhaftet und deportiert, ins südrussische Tambow oder nach Sibirien. Der kleine Konradek, schreibt sie weiter, geht mit in die Kirche, und wenn es ihm zu langweilig wird, geht er hinaus, um mit den Armen zu sprechen, die um die Kirche herum lagern und betteln. Ich will mit den Armen reden, sagt er dann, weil ich die sehr gern hab. Konradek selbst legt seinen ersten uns bekannten Brief bei, den er wohl unter Anleitung der Mutter oder Großmutter geschrieben hat. Er ist auf den 23. Mai 1861 datiert: