Und wenn wir wieder tanzen

Cover

Let me sing forever more

You are all I long for

All I worship and adore

In other words, please be true

In other words, I love you

 

Bart Howard
«Fly Me to the Moon (In Other Words)»

Hamburg, Atlantic Hotel
Freitag, 16. Februar 1962

Eigentlich war es ganz einfach. Man konnte das Putzen als Kampf begreifen und jedem schmierigen Fleck und klebrigen Zahncremerest mit einer Inbrunst entgegentreten, als gelte es, die ganze Welt zu vernichten. Oder man konnte dabei tanzen.

Genau das tat Marie, während sie die Zimmer des Atlantic Hotels reinigte. Damit zog sie nicht selten den Spott der Kolleginnen auf sich, die mutmaßten, sie probe wohl für die Westside Story. Marie machte sich nichts vor: Sie war Zimmermädchen, und für eine Karriere als Kinostar fehlte ihr jegliches Talent. Aber war es nicht viel schöner, den Wedel aus Straußenfedern im selben Rhythmus wie die Hüften zu schwingen? Im Viervierteltakt staubsaugte es sich leichter, auch wenn sie eher wie ein Entenküken aussah als wie die Schauspielerin Natalie Wood. Doch das kümmerte sie nicht. Vor sich hin singend, ließ sie den dunklen Pferdeschwanz schwingen, während sie fettige Fingerabdrücke von den Fensterscheiben entfernte, drehte beim Bettenmachen die Fußspitzen ein und folgte mit den Knien.

Zu gern hätte Marie zu späterer Stunde einen Blick in den Ballsaal geworfen, wenn die Tanzschüler zeigten, wofür ihre Eltern ein halbes Vermögen ausgegeben hatten. Doch dies war ihr letztes Zimmer für heute. Erst weit nach Mitternacht war der Gast aus der 312 angereist, hatte ihr die Hausdame mitgeteilt und explizit um eine Reinigung am späten Nachmittag gebeten. So sang und tanzte Marie sich, nachdem sie stoßgelüftet hatte, vom Bad in den hohen, luftigen Raum zurück, wo Regen gegen die Fensterscheiben prasselte.

«Come on, everybody», sang sie dabei leise, «clap your hands!» Ihr Englisch klang weitaus holpriger als bei Chubby Checker. Sei es drum, es hörte sie ja niemand. «We’re going to do the twist, and it goes like this.» Und dann lauter, welches Lied würde sich schließlich schlechter dafür eignen, geflüstert zu werden? «Let’s twist again, like we did last summer. Yeah, let’s twist again, like we did last year. UUuh, do you …»

Sie stoppte, als sie unter dem Bett etwas Glänzendes

«Do you remember when», begann sie wieder zu singen und griff, um einen Weg zum Rollwagen zu sparen, auch gleich den Papierkorb, «things were really hummin’, yeaaaaah let’s twist again, twistin’ time is …» Das Stanniolpapier hatte sie schon in den Müllsack geworfen, der halb geöffnet an dem Putzwagen hing, nun hatte sie den Inhalt des Papierkorbs nachschütten wollen, doch dabei

Gab es nicht dieses Sprichwort, die Augen seien die Seele der Menschen? Da war Marie gänzlich anderer Ansicht! Die Leute gaukelten einem doch Gott weiß etwas vor, während sie einen freundlich ansahen. In ihren Papierkörben aber, da fand sich, was sie wirklich ausmachte. Nahm man nur die weltgewandte, wunderschöne Frau von Boyen, die alle Zimmermädchen ehrfürchtig staunen und den Kofferjungen die Augen aus ihren Höhlen kullern ließ. Gestern hatte es ordentlich geklirrt, als Marie in Frau von Boyens Suite den Müll in die Tüte gekippt hatte. Sie hatte zwei leere Flaschen entdeckt, probeweise an einer geschnuppert und denselben Duft eingeatmet, den auch ihr selbstgebrannter Mirabellenschnaps verströmte.

Tatsächlich, hatte sie gesehen, war der Inhalt in den großen braunen Glasflaschen ziemlich hochprozentig. Ihr Etikett wies sie als Frauengold aus, für das Marie im Kino einmal eine Werbung gesehen hatte. Angeblich schenkte die Flüssigkeit Freude und Kraft und schaffte neuen Lebensmut. Nun, das ließ doch Rückschlüsse auf Frau von Boyens Seelenleben zu und nicht etwa ein Blick in ihre hellblauen Augen mit dem betörend dunklen Wimpernkranz.

Im Falle des Gastes aus der 312 stand etwas Interessantes auf dem zusammengeknüllten Blatt Papier. Eine Zahl nämlich, genau in der Mitte mit der Maschine darauf getippt. 89.

Marie schüttelte den Kopf und warf einen Blick in den dunklen Müllsack, in dem sie noch mehr zerknülltes Papier entdeckte. Sie entfaltete ein weiteres. 88. Und das nächste? 85. Nun wurde es wirklich sonderbar.

Ein melodisches Ping ertönte und kündigte die Ankunft eines Gastes auf der dritten Etage an. Marie beschloss, für heute ausreichend neugierig gewesen zu sein, und stopfte sämtliche Papiere zurück in den Müllsack. Sie warf einen letzten Blick hinter sich: das Bett ohne auch nur die Idee einer Falte gemacht, der Boden zu hundert Prozent flusen -und stanniolpapierfrei. Gegen die glasklaren Fensterscheiben pladderte der Regen; weiter unten schäumte zornig das Wasser der Außenalster. Die Schränke waren geschlossen, das Licht gelöscht, der Papierkorb an seinen angestammten Platz neben dem Sekretär zurückgekehrt, auf dem der Schokoladenliebhaber einen Koffer mit einer Remington-Reiseschreibmaschine verwahrte.

Zimmer 312 war picobello sauber, da gab es nichts zu beanstanden. Nicht einmal Fräulein Körber, die Hausdame, würde etwas zum Herummäkeln finden können. Zufrieden schob Marie den Rollwagen in den Gang und schloss die Tür hinter sich. Nach dem Ping des Fahrstuhles war niemand vorbeigekommen, was nicht weiter verwunderlich war – der Flur des Atlantic Hotels verlief,

Leise vor sich hin singend, steuerte Marie den mit Putzmitteln, einer Rolle Müllsäcke, Staubwedel und Staubsauger beladenen Wagen den Flur hinab. Von dem kaum hörbaren Quietschen der Räder abgesehen, war es hier so still, dass sie sich wie im Bauch eines Wals vorkäme, wäre da nicht der Wind, der vor den Fenstern am Ende des Ganges tobte und die bunten Bleiglasfenster klappern und knarren ließ. Bei dem unseligen Wetter wirkte der Gedanke, in wenigen Minuten in ihrem für diese Temperaturen viel zu dünnen Trenchcoat (der allerdings fliederfarben war. Wer könnte einem fliederfarbenen Trenchcoat widerstehen?) auf die Straße zu müssen, wenig verlockend. Auf der anderen Seite würde sie es sich zu Hause herbstlich-gemütlich machen – auch wenn gar kein Herbst war, sondern Februar, auch bekannt als scheußlichster Monat des Jahres –, im Ofen das Feuer entzünden, sich eine Tasse Tee brauen und vielleicht, in einem Anfall von Übermut, ein Schlückchen Schnaps trinken.

Sie brannte am Dienstag doch sowieso neuen. Da konnte sie sich heute auch einmal etwas gönnen.

Beinahe hatte sie die in der Wand versteckte Tür erreicht, in der auf wundersame Weise Zimmermädchen, Kofferjungen und Rollwagen verschwanden, als sie ein lautes Hicksen hörte. Oder hatte sie es sich nur eingebildet? Sie verlangsamte ihr Tempo, blickte den langen Gang

Hicks.

Schon wieder. Und dann ein lang gezogenes Ächzen.

Marie ließ den Wagen ausrollen, parkte ihn an der Seite und warf einen Blick um die Ecke. Zunächst sah sie nichts Außergewöhnliches, bloß eine Reihe dunkler Holztüren, die allesamt geschlossen waren. Doch bewegte sich ganz hinten nicht etwas?

Ein neuerliches Hicksen, dann gab, wer auch immer dort auf dem Marmorfußboden hockte, einen Rülpser von sich.

Als Marie näher kam, fiel ihr Blick auf volles blondes Haar, das im Nacken zu einem Dutt gebunden war. Die Dame, die es sich auf den kalten Steinplatten bequem gemacht hatte, war unzweifelhaft Frau von Boyen. Sie trug ein schwarz-weißes Kostüm, bei dem Marie auf Chanel tippte, schwarze Lackstiefeletten und hatte sich, das sah sie, als Frau von Boyen den Kopf hob, die Augen mit Kajalstift schwarz umrandet. Da sie verschwitzt wirkte und womöglich sogar geweint hatte, befand sich die schwarze Farbe nunmehr fast überall – sie zog sich in verkrusteten Linien die Wange hinab.

«Kann ich Ihnen helfen, Frau von Boyen?»

Die Dame starrte sie an, als sehe sie ein Gespenst.

«Ich bin Marie, Ihr Zimmermädchen.»

Frau von Boyen, die heute nicht ganz so wunderschön aussah wie sonst, verzog das Gesicht und begann kläglich zu schluchzen. Dabei murmelte sie etwas, das Marie beim besten Willen nicht verstand.

Als Frau von Boyen noch lauter zu weinen begann, wurde Marie in eine Wolke aus Parfum und Alkoholdünsten gehüllt. Behutsam legte sie der Dame die Hand auf den Arm.

«Kommen Sie. Ich helfe Ihnen.»

Es dauerte ein bisschen, bis Frau von Boyen nickte, und noch etwas länger, bis sie sich aufrappelte. Sie schwankte gefährlich. Marie nahm ihre Hand, legte den Arm um ihre Taille und manövrierte sie Schritt für Schritt bis zur Suite 310. Aus dem Nachbarzimmer war lautes Klappern zu hören, dann eine Männerstimme, die verärgert etwas rief. Offenbar war der bonbonverrückte Gast auf sein Zimmer zurückgekehrt, doch Marie hatte genug damit zu tun, sich um Frau von Boyen zu kümmern.

«Wissen Sie, wo Ihr Schlüssel ist?»

Natürlich hatte auch Marie einen Schlüssel, wie sonst sollte sie wohl in den Suiten sauber machen? Doch ihr war strikt untersagt, ihn nach der Reinigung noch zu benutzen.

Wortlos vor sich hin schluchzend, deutete Frau von Boyen auf die an ihrem Ellbogen baumelnde Handtasche. «Da drin», lallte sie und hielt ihr die cognacfarbene Handtasche vor die Nase, in deren Goldverschluss in kleinen Buchstaben Hermès eingraviert war. «Nun machen Sie schon auf.»

Nein, sie nahm doch lieber ihren eigenen. Mit einem freundlichen Lächeln schob Marie Frau von Boyens

«Bitte, Frau von Boyen. Es ist offen.»

«Aber ich will nicht. Ich will nicht allein sein!»

Immerhin klangen ihre Worte nun etwas verständlicher. Mitleidig sah Marie sie an. So schön, so reich und doch so unglücklich, wie es schien. Vielleicht aber hatte sie nur zu viel Frauengold intus, manche Menschen weinten ja, wenn sie zu viel tranken, statt wie die meisten anderen vorübergehend in Glückseligkeit zu verfallen.

«Kann ich jemanden benachrichtigen? Soll ich Ihren Mann anrufen lassen?»

«Den Schuft?», sagte Frau von Boyen und schüttelte so heftig den Kopf, dass sie das Gleichgewicht verlor und gegen die Wand sank.

«Hoppla!» Marie gelang es, sie aufzufangen, bevor sie zu Boden ging. «Ich bringe Sie hinein.»

Gesagt, aber noch längst nicht getan. Unter Frau von Boyens Gewicht schwankend, touchierte Marie mit der Stirn den Türrahmen, was sicher eine ganz schöne Beule zur Folge haben würde.

«Nie wieder in meinem Leben will ich mit dem reden!», fuhr Frau von Boyen unter Tränen fort. «Niemals wieder! Sie wissen doch, wie die Männer sind, oder? Gaukeln einem Liebe vor, und dann …» Die Tränen schossen ihr nur so aus den Augen. «Meine besten Jahre habe ich ihm geschenkt. Und ich werde sie nicht wiederbekommen. Ich war Modell, ich bin in einem Kaufhaus schaugelaufen. Ich war die Schönste von allen Mädchen. Die Welt hätte mir offengestanden. Paris! New York! Rio! Und nun …»

Frau von Boyen ließ sich nach vorn fallen und landete mit dem Gesicht voran an Maries Schulter. Unsicher, was sie tun sollte, tätschelte Marie ihr den Arm.

«Können Sie mich festhalten?», flüsterte Frau von Boyen in Maries Bluse hinein.

«Natürlich.» Auch wenn es ihr seltsam erschien. Zimmermädchen zu sein, wirkte sich nicht gerade auf die Konversationsfähigkeiten aus. Sie war ja stets allein und sang, statt zu reden. Die einzigen Probleme, vor die ihre Arbeit sie stellte, waren klebrige Flecken und hin und wieder einmal ein nackter Mann im Schrank, der aus Furcht, dem Ehemann seiner Geliebten entgegenzublicken, nach einem Kleiderbügel griff.

Einen Gast hatte sie bislang nie trösten müssen.

«Sie können sicher immer noch schaulaufen», sagte sie nach einer Weile.

«Ich bin siebenunddreißig Jahre alt. Uralt.» Frau von Boyen, die zumindest zu weinen aufgehört hatte, schüttelte den Kopf. «Wie alt sind Sie?»

«Siebenundzwanzig.»

«Verheiratet?»

Marie schüttelte den Kopf.

«Aber einen Verlobten haben Sie.»

«Nein.»

Marie und die Männer, nun … Die Kurzfassung lautete: Es passte einfach nicht, mit keinem der Herren, die ihr bislang über den Weg gelaufen waren. Die Langfassung

Sie wurde sich bewusst, dass Frau von Boyen sie mit trübem Blick anstarrte. «Wie machen Sie das?»

Verwirrt hob Marie die Schultern. «Was meinen Sie?»

«Wie leben Sie, wenn Sie nicht verheiratet sind? Sie müssen doch … Haben Sie ein eigenes Bankkonto? Wer hat Ihre Wohnung angemietet, Sie selbst

Marie unterdrückte ein Lächeln. «Meinen Lohn erhalte ich in bar, und das Sparkonto hat mein Adoptivvater für mich eingerichtet, als ich noch nicht volljährig war. Aber das Haus, in dem ich lebe, habe ich selbst gekauft.»

«Ein ganzes Haus», echote Frau von Boyen erstaunt. «Da müssen Sie aber gut verdienen als Zimmermädchen.»

Nun lächelte Marie doch. «Es befindet sich in einem Schrebergarten. Eigentlich ist es eher eine Hütte, die sich vor dem Wind wegduckt. Und die Pacht für das Grundstück kostet kein Vermögen, glücklicherweise.»

«Wie hübsch», sagte Frau von Boyen, deren Interesse an Maries Leben nun erschöpft schien. Sehnsüchtig blickte sie zu ihrem Koffer. Ob sich darin noch ein paar Flaschen Frauengold befanden oder ein mit Wodka gefüllter

«Ich lasse Sie nun allein.»

«Mhm», murmelte Frau von Boyen und ließ sich ohne einen weiteren Blick rücklings aufs Bett fallen.

 

«Fräulein Hansen, kommen Sie bitte zu mir.»

Marie, die gerade aus dem Personallift in den schummrig beleuchteten Flur im Untergeschoss des Grandhotels getreten war, erstarrte.

Zu Fräulein Körber zitiert zu werden, war nie ein gutes Zeichen. Nervös blickte sie an sich hinab und stellte erschrocken fest, dass sie eine Menge verschmierten Kajal auf der Bluse spazieren führte. Doch deswegen würde Frau Körber sie ja kaum sprechen wollen, schließlich hatte die Hausdame zwar durchaus einen siebten Sinn für Schlampereien der Zimmermädchen und schoss immer genau dann um die Ecke, wenn sich eine Kollegin im Hauseingang neben dem Personaltrakt eine heimliche Zigarette anzündete, doch sie hatte Marie ja seit deren überraschendem Besuch in Suite 310 nicht zu Gesicht bekommen.

«Fräulein Hansen?», schallte die erstaunlich dunkle Stimme der nicht besonders hochgewachsenen Hausdame durch den Flur.

«Ich komme!», rief Marie und setzte sich eilig in Bewegung. Während das Atlantic Hotel in den oberen Etagen ebenso behaglich wie elegant war, war der Personaltrakt ausschließlich dem Praktischen verpflichtet. Der Boden

Beim Anblick von Fräulein Körbers Bienenkorbfrisur wunderte Marie sich, dass ihre Vorgesetzte nie nach Haarspray duftete. Wie bekam sie ihre Unmengen an aschblondem Haar dazu, senkrecht in die Höhe zu stehen? Marie sähe bestenfalls so aus, wenn sie kopfüber an einer Schaukel hinge.

Ohne ein weiteres Wort trippelte Fräulein Körber den Gang entlang. Hier unten roch es nach Waschmittel, und die Luft troff nur so von Feuchtigkeit. Ein paar Türen weiter befand sich der Wäschetrakt, wo gespült und geplättet wurde. Das dumpfe Dröhnen der Maschinen glaubte Marie manchmal bis ins ferne Wilhelmsburg zu hören, wo sie lebte.

Mit leicht versteiften Schultern, weil sie sich fragte, was die Hausdame von ihr wollte, folgte Marie ihr bis in deren Büro.

«Fräulein Hansen», sagte Fräulein Körber, kaum hatte Marie die Tür hinter sich geschlossen. «Mir wurde eine Beschwerde über Sie angetragen.»

In dem winzigen fensterlosen Raum fühlte sich Marie augenblicklich schuldig. Vielleicht lag es an dem grellen Licht der Neonröhre, vielleicht aber auch an dem Umstand, dass sie Fräulein Körber nun dicht gegenüberstand. Gerade so passte zwischen sie ein schmaler Schreibtisch, das einzige Möbelstück in dem Raum.

«Ich muss wohl nicht erst betonen, wie ungern ich diesen Umstand zur Kenntnis nehme.»

Sie wäre allerdings dumm, diese Frage laut auszusprechen. War anderswo Angriff die beste Verteidigung, so hieß es im Grandhotel: Wer schweigt, stirbt zuletzt.

So nickte sie nur und guckte angemessen nachdenklich wie auch vorsorglich entschuldigend.

«Haben Sie dazu etwas zu sagen?»

Wenn sie wüsste, wie der Vorwurf lautete, wäre es erheblich leichter, dazu Stellung zu beziehen. Aber auch das sprach sie nicht aus. Stattdessen knickste sie und lächelte, oh, wie sie lächelte, denn das war das Wichtigste. Aber ja nicht zu fröhlich, andernfalls würde ihr Arroganz unterstellt werden. Allzu deutlich zur Schau gestellte Demut wiederum behagte Fräulein Körber ebenso wenig. Es hieß also, den äußerst schwierigen Mittelweg zu finden.

«Sie enttäuschen mich», sagte Fräulein Körber kalt.

«Ich habe Frau von Boyen nur deswegen in ihr Zimmer begleitet, weil ich sie nicht betrunken auf dem Flur zurücklassen wollte», platzte Marie heraus. Höfliches Schweigen hin oder her, dass sie etwas Falsches getan hatte, war nicht einzusehen. Sie hatte doch nur geholfen.

Fräulein Körber blinzelte irritiert. Sie griff nach einem Brillenetui auf dem Schreibtisch und setzte sich ein Schildplattgestell auf die Nase, das Maries Einschätzung nach nur Fensterglas enthielt.

«Sie haben Frau von Boyen in ihrem Zimmer aufgesucht?»

Perplex stockte Marie. Das aber müsste ihre

«Sie enttäuschen mich, Fräulein Hansen, sogar weit mehr, als ich es für möglich gehalten hatte. Sie suchen einen Gast in seinem Zimmer auf?»

«Es war eine, ähm, Dame.» Die Erklärung nützte jedoch nichts, das sah sie Fräulein Körber an der aufwärts gebogenen Nasenspitze an. «Und nein, ich habe sie nur dorthin gebracht. Frau von Boyen war betrunken.»

Von einem zum nächsten Augenblick wirkte Fräulein Körber fuchsteufelswild. «Wir verlieren kein schlechtes Wort über unsere Gäste!»

«Es ist ja auch eine Tatsache, keine Beleidigung.»

«Fräulein Hansen!», donnerte die Hausdame, und ihre Frisur geriet gefährlich ins Wanken.

Marie wünschte, sie könnte sich darüber amüsieren, denn eigentlich war es lustig. Tatsächlich aber wurden ihr die Knie weich. Widerworte wurden im Atlantic nicht geduldet, nicht von Fräulein Körber jedenfalls. Bisher hatte Marie nie Anlass zu einem derartigen Gespräch geliefert – sie wusste also nicht, was nun auf sie zukam.

«Um Frau von Boyen kümmere ich mich später. Aber nun zu dem Grund für die Beschwerde. Sie haben in Zimmer 312 etwas durcheinandergebracht.»

«Durcheinanderge…» Marie konnte es nicht fassen. Sie? Rasch ging sie gedanklich die Räume und Suiten durch, die heute auf ihrer Liste gestanden hatten. 312 … Aber natürlich, das Zimmer neben Frau von Boyens Suite. Das war doch der Schokoladenliebhaber gewesen.

«Ich habe dort nichts durcheinandergebracht», sagte

«Keine Widerrede. Dann hätte sich der Gast ja wohl kaum über Sie beschwert. Ihr Arbeitsethos, Fräulein Hansen», sagte Fräulein Körber, als habe sie ihr nicht zugehört, «lässt arg zu wünschen übrig. Glauben Sie, ich wäre hier …», mit dem Kinn deutete sie halbkreisförmig durch den Raum und auf den mahagonifurnierten Schreibtisch, «… wenn ich mir nicht zu jedem Zeitpunkt zum Ziel gesetzt hätte, vortreffliche Arbeit abzuliefern?» Wenn sie zornig war, rollte sie das R. Jetzt schien sie exorbitant zornig zu sein. «Es gilt zu jeder Stunde, in jedem Augenblick, Perfektion anzubieten. Dieses Haus gehört nicht umsonst zu den besten der Welt. Unser Anspruch ist Vollkommenheit, nicht mehr, doch gewiss auch nicht weniger.»

«Aber was soll ich in dem Zimmer getan haben?»

«Der Herr aus der 312 war sehr unglücklich darüber, dass Sie seine Unterlagen durcheinandergebracht haben.»

Marie blinzelte verwirrt. Auf dem Sekretär hatte eine Reiseschreibmaschine gestanden, die sie nicht angerührt hatte. Bloß den Staubwedel hatte sie hinübereilen lassen, das war alles. Und an Unterlagen konnte sie sich überhaupt nicht erinnern. Nur an Bonbonpapier unter dem Bett und wirre Zettel mit Zahlen im Papierkorb. Der Herr schien ja zweifelsohne ein reichlich eigenartiger Zeitgenosse zu sein, aber wie kam er dazu, sich über Marie zu beschweren?

Mit einem Mal kam Marie das Büro noch kleiner und beengter vor. Sie glaubte, Fräulein Körbers Seife zu riechen. Damit, schoss ihr überflüssigerweise durch den Kopf, richtete sie sich das Haar: Seifenlauge, das hatten vor zehn Jahren doch die Ärmeren unter den Rockabillys immer benutzt, um ihre Tollen zu frisieren.

«Ich versichere Ihnen, ich habe nichts in Unordnung gebracht.»

«Der Gast sagt etwas anderes.»

Und der Gast, vervollständigte Marie in Gedanken, hat immer recht. Selbst wenn er nackt im Schrank steht – was immerhin bei dem Herrn aus der 312 nicht der Fall gewesen war.

Wieso dachte sie an so etwas Albernes? Sie arbeitete zu lange hier, um sich des Ernstes der Situation nicht gewahr zu sein. Unzählige Frauen hatte sie in den drei Jahren kommen und gehen sehen. Manche waren wegen angeblicher Liebschaften mit den Gästen vor die Tür gesetzt worden, eine hatte den Verlust ihrer Stelle einem schwellenden Bauch zu verdanken, bei den meisten aber gab es überhaupt keine Erklärung. Bloß Fräulein Körbers harten Blick hinter Fensterglasbrillengläsern.

«Es tut mir sehr leid, sollte ich meine Arbeit in diesem Fall nicht zur Zufriedenheit des Herrn geleistet haben. Ich versichere Ihnen, dass das nicht meine Absicht war.» Alles in ihr knirschte widerwillig. Sie wollte nicht buckeln, doch was blieb ihr anderes übrig? Ihr Sparkonto barg ganze zwanzig Pfennige, hinzu kam ein äußerst

Streng sah Fräulein Körber sie über das Schildplattgestell hinweg an. Sie hatte graue Haut, sogar gräuliche Lippen, und niemand wusste, wie alt sie eigentlich war. Doch das war auch nicht wichtig. Es schien, als sei sie schon immer hier gewesen und würde es bis zum Ende aller Zeiten sein.

«Eine Woche», sagte Fräulein Körber leise.

Marie schluckte.

«Ohne Bezahlung, aber das versteht sich ja von selbst. Seien Sie pünktlich, wenn Sie kommenden Samstag wieder zum Dienst erscheinen. Ich denke, auch das versteht sich von selbst. Guten Tag.»

Blinzelnd starrte Marie sie an. Eine Woche, hämmerte ihr durch den Kopf. Eine Woche ohne Lohn. Dabei musste sie die Pacht bezahlen und dringend das Dach reparieren, das dem seit einer Woche andauernden Sturm kaum noch etwas entgegenzusetzen hatte.

 

Der Schleichweg vom Bahnhof Wilhelmsburg am Deich entlang zu der Kleingartensiedlung Zur alten Landesgrenze gestaltete sich schon an normalen Tagen schwierig, heute jedoch kam Marie nur mit Mühe voran. Ihre Absätze versanken im Matsch, während auf der anderen Deichseite das Wasser mit einer Lautstärke gegen die Umrandung des Spreehafens klatschte, die sie unwillkürlich die Schultern hochziehen ließ. Ihr fliederfarbener Trenchcoat schlackerte, der kalte Regen hatte sich durch den Stoff

Ihre Zähne klapperten, der Schirm entwickelte ein Eigenleben und schoss mal nach rechts, dann nach links, verharrte aber nie auch nur eine Minute über ihrem Kopf.

Neben den Utensilien, die sie für eine Dachreparatur benötigte, hatte sie mit einem neuen Rock geliebäugelt, den sie im Kepa-Kaufhaus entdeckt hatte. Obwohl die Kleidung dort nicht teuer war, überstieg der glockig fallende Stück aus mauvefarbenem Leinen bei Weitem ihre finanziellen Möglichkeiten. Ihre Nachbarin Rosalind hatte schon mit einem Haufen Schnittmustern gewedelt, doch sie sahen erstens viel zu kompliziert für Maries bescheidene Fähigkeiten aus, zweitens wirken sie so altbacken, als stammten sie von 1915. Marie wollte einen modernen Rock, der sanft schwingend bis kurz unterhalb der Knie fiel, und kein Ungetüm aus Stoff, unter dem man eine Isetta parken konnte. Ein neuer Schirm wäre zudem nicht übel in Anbetracht der Tatsache, dass ihrer gerade aus ihrer Hand geflogen war und auf Nimmerwiedersehen in der Dunkelheit verschwand.

Finster sah sie ihm nach. Was sollte sie eine ganze Woche lang tun, wenn sie nicht arbeitete?

Als sie die ersten schaukelnden Lichter der notdürftig zusammengenagelten Hütten erblickte, drang eine heisere, vom Sturm verzerrte, aber wohlbekannte Stimme an ihr Ohr.

«Na moin, moin, wer eilt denn da durch Nacht und Wind?»

«Was machst du denn zu dieser Uhrzeit noch draußen?», fragte Marie und schob eine klatschnasse Strähne unter ihr durchfeuchtetes Kopftuch zurück. Die Tropfen perlten von ihren Wimpern ab, und ausnahmsweise war es mal von Vorteil, sich keine Wimperntusche leisten zu können und auch keinen Kajal, denn sonst sähe sie sicher aus wie Frau von Boyen.

«Heidewitzka», brüllte Peer zurück, statt ihr zu antworten, und grinste. «Das is ma ’n Wetterchen, ne? Will noch schnell zu Kurt, n Lütt un Lütt besorgen. Bei dem Schietwedder braucht man was, das einen wärmt, findste nich? Und da wir doch erst Dienstach den Schnaps brennen», er zuckte mit den Schultern, und sein wettergegerbtes Gesicht, das nur aus Falten zu bestehen schien, glänzte vom herabströmenden Regen, «muss ich mir eben anders behelfen, nech? Was ’n los mit dir, min Deern? Büschen betrübt siehste aus.»

Marie hatte keine große Lust, von ihrem Tag zu erzählen. So wie alle anderen Nachbarn war auch Peer der Ansicht, dass sie viel mehr könnte, als Betten zu machen und Bäder zu reinigen. Doch das sagte sich so leicht.

«Wir können auch morgen schon loslegen», rief sie stattdessen, um den Wind zu übertönen, der noch einmal an Stärke zugenommen hatte. «Ich habe unverhofft früher freibekommen.»

«Na, was, das ja man fein! Dann gehen wir schon morgen ans Werk, ich bin dabei, Marieken! Aber nu sach ma, was is los?»

Sie schüttelte den Kopf. «Nichts. Ich bin nur müde.»

«Ja, Mensch, kein Wunder, wenn de dich den ganzen lieben langen Tach abrackerst, für ’n Appel und ’n Ei. Wieso suchst du dir denn nich ’n netten Mann?»

Nicht auch noch das, dachte Marie, nicht Peers berüchtigte Verkupplungsversuche, bei denen sie sich regelmäßig mit steinalten Herren konfrontiert sah, die sich kaum ohne Krückstock fortbewegten.

«So einen wie mich, nech?» Er grinste und zwinkerte ihr zu. Niemals würde Peer tatsächlich mit ihr zu flirten versuchen, es war bloß seine Art, sie aufzumuntern. Sie mochte den krummbeinigen Kauz. Er war die gute Seele der Siedlung, dessen alkoholumnebelter Blick immer gerade noch ausreichend klar war, um Trauer oder Verzagtheit zu erkennen und alles dafür zu tun, um sie zu vertreiben.

«Soll ich dir ’n Lütt un Lütt mitbringen? Und dann erzählste dem ollen Onkel Peer, wo dich der Schuh drückt?»

Grinsend schüttelte sie den Kopf. Das Lieblingsgetränk der Hafenarbeiter bestand aus auf zwei Gläser verteiltem Bier und Schnaps, die mit nur einer Hand balanciert werden mussten und exakt gleichzeitig auf die Zunge zu fließen hatten. Man konnte kaum einmal Luft holen und war schon betrunken, und das war für heute Abend nicht ihr erklärtes Ziel.

Sie zuckte mit den Schultern. «Vielleicht nächsten Freitag.»

«Jau, dann nächsten Freitach. Mach’s gut und lass dich aufm Weg nich fressen.»

Lächelnd sah sie die gedrungene Gestalt im Friesennerz in Richtung Hafenkiosk wanken. Als sie sich wieder den Lichtern zuwandte, fühlte sie sich fröhlicher. Sie würde eben das Beste aus der Situation machen. Und wenn sie schon nichts schneidern konnte, weil ihr neben dem Talent eben auch der Stoff fehlte, dann konnte sie ja, nun … zeichnen. Ja, sie könnte zeichnen üben, darin war sie zeit ihres Lebens schlecht gewesen. Und ihre Hütte aufräumen. Außerdem … Ach was, ihr würde schon etwas einfallen.

Entschlossen, sich von Fräulein Körber und dem Gast aus der 312 nicht die Laune verderben zu lassen, stapfte sie auf die Kleingartensiedlung zu. Nach dem Tod ihrer Mutter war Marie im Alten Land bei Adoptiveltern aufgewachsen, doch nirgendwo auf der Welt fühlte sie sich so geborgen wie in der Alten Landesgrenze, die seit sechs Jahren ihr Zuhause war. Im Frühling verstreuten ihre Nachbarn und sie gemeinsam Samen in der Erde, sie buddelten Kartoffeln ein, deren Grün auf dem Deich wie Unkraut wucherte, und veranstalteten Feste. Es gab Erntetage, Schnapsbrenntage, Festtage, von denen man

Durch die Fensterläden der umstehenden Häuser drang funzeliges Licht nach draußen. Die Hütten sahen aus, als würden sie sich am liebsten in den schlammigen umliegenden Wiesen verkriechen. Lautstark pfeifend umtoste sie der Sturm und zog und zerrte an allem, was nicht niet- und nagelfest war. Immer wieder bis zu den Knöcheln im Matsch versinkend, stiefelte Marie an Mechthilds braun gestrichener Hütte vorbei – der ersten Adresse am Deich, wie seine Bewohnerin gern sagte. Unter den Böen hinweg duckten sich Peers und Tomtoms Häuser, die fast ausschließlich aus Wellblech bestanden. Eiskalt war es darin im Winter und zum Sterben heiß in den Sommern. Wie die beiden das aushielten, war Marie schleierhaft. Nun, von Peer wusste sie ja, wie er für Wärme sorgte, mit Schnaps nämlich, wie aber für Abkühlung?

Den schmalen, krummen Pfad säumten weitere einstöckige Bauten, ein paar Beerensträucher, deren Zweige nackt und kalt im Wind schwankten, und drei riesige Buchen, deren Eckern ein sättigendes, wenn auch nicht

Marie stieß einen kleinen Seufzer aus, als ihr angesichts der unebenen Sauerkrautplatten einfiel, dass sie dringend die Außenwände streichen musste. Bei ihrem Einzug war sie einundzwanzig Jahre alt gewesen und gerade Hals über Kopf aus dem Haus ihrer Adoptiveltern geflüchtet, das ihr einengend und düster erschienen war. Dagegen hatte die Schrebergartenhütte regelrecht possierlich ausgesehen mit den lindgrünen Wänden und den weiß lackierten Fensterrahmen. Jetzt hingegen wirkten sie bloß grau und holzwurmzerfressen, das Grün verblichen, das Dach löchrig, und nein, weiter wollte sie nicht darüber nachdenken, dass sie zwar nun eine Woche Zeit hatte, um etwas zu tun, aber kein Geld, um Farbe oder neues Wellblech zu kaufen.

Nicht die Laune verderben lassen!

Marie drehte den Knauf, trat einmal fest gegen die bei feuchtem Wind klemmende Tür und öffnete sie Stück für Stück, wobei die Scharniere verärgert quietschten. Das kleine niedrige Zimmer, in das sie trat, war eiskalt und düster. Durch die Wände verflog die Wärme schneller, als man bis zehn zählen konnte. Aber sie würde einfach so viel Holz in den Kanonenofen stopfen, wie hineinpasste, und sich dann mit einer Tasse Tee in ihren Lieblingssessel kuscheln. Und bis es richtig warm war, würde sie ein bisschen tanzen.

Das kostete schließlich nichts!

«Autsch!»

«Dein Fensterladen is kaputt», bemerkte Tomtom trocken, dessen länglicher Kopf unter einer Pickelhaube aus Pappe verschwand, die Regen und Wind ziemlich übel zugerichtet hatten. Er war es jedoch nicht, gegen den Marie gelaufen war, sondern gegen einen Bären. Genauer gesagt einen Menschen im Bärenkostüm, dessen Fell aus Stroh bestand und aus diesem Grund das glatte Gegenteil von kuschlig weich war.

«Ich weiß», gab sie zurück und musterte neugierig die dritte Gestalt im Bunde, deren Gesicht und Haare unter schwarzem Ruß kaum erkennbar waren. «Wieso seht ihr so aus, wie ihr ausseht? Es ist doch noch gar nicht Fasching.»

«Wir illustren Herrschaften haben uns zum Ziel

«Das stimmt wohl.» Mit schräg gelegtem Kopf blickte sie den Bären an, dessen Strohkostüm für dieses Wetter nun gar nicht gemacht war. Jeder einzelne Strohhalm bog sich im Wind, und wenn er Pech hatte, würde eine weitere Böe ihn unweigerlich zu Boden fegen. «Wer bist du denn?»

«Karl», erklang es dumpf unter dem Bärenschädel hervor.

«Pass nur gut auf, dass dein Kopf den Abend überlebt», sagte Marie. «Ich habe daran mitgebastelt und mache es kein zweites Mal.»

«Jau, jau, ich passe auf», lautete die dumpfe Antwort.

Das Kostüm war ein Geschenk an Rosalind gewesen, die ihre schlesische Heimat, gerade wenn der Winter nicht weichen wollte, sehr vermisste. Die alte Dame hatte ihnen einst von dem Brauch erzählt, der auf Polnisch Wodzenie niedźwiedzia hieß und auf Deutsch «Bären führen».

«Damit kommt der Frühling, ihr werdet schon sehen.»

Marie bezweifelte, dass der Frühling auf die drei Gestalten hören würde, die jetzt lautstark zu singen begannen. Nun erkannte sie auch, wer im dritten Kostüm steckte, das den Tod verkörperte, Kristin nämlich, die mit zwei Kindern und einem Ehemann in der direkten Nachbarschaft Peers und Tomtoms lebte.

«Du weißt, warum wir hier sind?», fragte Tomtom mit tiefer Stimme.

«Weil ihr so verrückt seid, dass ihr glaubt, den Sturm vertreiben zu können?»

«Nee. Um Schnaps zu trinken.»

Auf der anderen Seite wunderte es sie natürlich nicht. Ihr Schnaps war der beste, das zum einen, zum Zweiten hatte sie immer welchen im Haus.

«Dann nichts wie rein mit euch.»

Schon standen die drei Gestalten im Haus, ließen sich mit zufriedenen Gesichtern – die jedenfalls, die man erkennen konnte – einschenken und tranken, was Karl wegen seines Bärenkopfes nicht ganz leichtfiel.

Eine halbe Flasche Kartoffelschnaps später griff Tomtom nach Maries Arm und begann sie durch den kleinen Raum zu wirbeln, obwohl außer ihm niemand die Musik hörte, zu deren Takt er auf den Boden stampfte.

Der Bär sah ihnen still zu und fragte nach einer Weile: «Was gibt es jetzt?»

«Ihr könnt die Flasche austrinken», schlug Marie außer Atem vor.

«Och, noch ’n büschen Abwechslung wär aber auch nett.»

«Die müsst ihr euch teilen.»

Nachdem Tomtom seinen Teil in die Kehle gekippt hatte, stieß er ein markerschütterndes «Hossa» aus, umfasste Marie erneut und tanzte im Polkaschritt mit ihr zur Tür und wieder zurück, kreiste einmal um den Küchentisch und ließ sie anschließend keuchend los.

Und damit waren sie verschwunden.

Sie schloss die Augen und begann leise zu summen. Im Ballsaal des Atlantic wurde jetzt getanzt. Die eleganten jungen Damen mit ihren Frisuren, an deren Vervollkommnung sie den ganzen Tag gesessen hatten – über dem Ohr in eine riesige Welle gedreht und der Rest des Haares über die andere Kopfhälfte gebürstet, sodass die Damen aussahen, als eigneten sie sich zum Kugelstoßen –; die jungen Herren in geschniegelten Anzügen und

Der Barchef klagte andauernd über solche Gäste. Da Marie jedoch fast ausschließlich am Tage arbeitete, erlebte sie derartige Ausfälle kaum. Ihr war allerdings schon öfter zu Ohren gekommen, dass sich die feinen Herrschaften zuweilen auch nicht besser benahmen als die vergnügungswütige Jugend auf der Reeperbahn …

Ohne sich die Mühe zu machen, sich auszuziehen, ließ sich Marie auf die Matratze plumpsen und schlief augenblicklich ein.

Als sie erwachte, war ihr eiskalt, und die Finsternis kam ihr seltsam bedrohlich vor. Sie hatte sich in ihrem kleinen Häuschen nie gefürchtet. Bis auf Rosalind schloss hier

Zornig setzte sie sich auf. Dieser Blödmann! Nun konnte sie bestimmt nicht mehr schlafen. Sie schwang die Beine über die Bettkante und erinnerte sich, dass sie ja gar nicht ihr Nachthemd trug, doch bevor sie sich dazu entschließen konnte, sich jetzt noch umzuziehen, atmete sie erschrocken ein und stieß einen Schrei aus.

Doch da war noch etwas. Es roch komisch. Muffelig. Aber auch salzig. Sie beugte sich vor, um mit den Fingerspitzen über den Boden zu fahren.

Wo waren die verflixten Streichhölzer? Beim Ofen nicht und auch nicht auf dem Fensterbrett oder dem Tisch. Marie tastete sich zum Fenster vor und versuchte, draußen etwas zu erspähen. Zappenduster der Himmel. Kein Mondlicht, kein Stern am Firmament. Das Einzige, was sie schemenhaft erkennen konnte, war ihr Garten, den sie Pampadusa getauft hatte. Nichts wuchs darin bis auf eine kampferprobte Brombeerranke – der Apfelbaum nicht und nicht einmal Pilze oder Moos, was sonst sogar an den unwirtlichsten Stellen spross.

Sie schrie auf. Die Kälte verschlug ihr den Atem. Ungläubig blickte sie nach unten. Eisig war das Wasser, das nun ins Innere des Hauses strömte und den Geruch von

Ihre Füße versanken im Matsch, während sie zu Herberts Käfig watete. Täuschte sie sich, oder stieg das Wasser stetig an? Vor Angst klopfte ihr das Herz bis zum Hals.

«Komm, na komm», sagte sie bibbernd. Sie griff ins Innere, packte das Tier, das ein erschrockenes Gackern ausstieß, und presste es an sich. Blinzelnd sah sie sich um. Abgesehen vom Sturm herrschte eine gespenstische Ruhe. Schliefen alle? Wie spät mochte es sein?

«Ruhig, ruhig», murmelte sie, sie hörte jedoch selbst, dass ihre Stimme alles andere als beruhigend klang.

Das Huhn hörte nicht auf sie. Es zappelte, versuchte,

Das Huhn hörte sie nicht. Erschüttert starrte sie in die schwarzen Fluten. Der Wind rüttelte und zog an ihr, schob sie mal hier-, mal dorthin. Und das Wasser, es stieg und stieg und reichte ihr jetzt schon bis über die Knöchel.

Vermutlich kam das Wasser von der Deichseite. Was hieß, dass es zunächst Peers Haus erreicht hatte, dann Tomtoms. Sollte sie erst dorthin? Doch was war mit Rosalind? Die Dame war über siebzig und hörte schlecht.

«Aufwachen, Rosalind, wach auf!»

«Rosalind!»

«Ja?», glaubte sie nach unendlich lang erscheinender Zeit endlich eine ängstliche Stimme aus dem Innern zu hören.

Inständig hoffte sie, dass die alte Dame nicht wieder einschlief.

Sie presste das Ohr gegen die Tür, konnte jedoch nicht ausmachen, ob sich im Haus jemand bewegte. Marie begann mit den Fäusten dagegen zu trommeln und rief, bis ihre Stimme wegkippte.

«Aufstehen, alle aufstehen!»

«Die Flut, Kristin, los, steht auf!»

Kaum hörbar erklangen von irgendwoher Rufe. Dann Sirenen, die stetig näher kamen.

Das Krachen klang, als wenn sich ein gefangener Riese mit einem wilden Schrei befreite. Gerade noch rechtzeitig wandte Marie den Blick, um Unmengen von Zweigen auf sich zukommen zu sehen. Mit letzter Kraft hechtete sie zur Seite. Als sie sich wieder aufrichtete, sah sie, dass das Haus fort war, vor dem sie gestanden hatte. Peers Wände, Peers Dach, eingestürzt und zermalmt unter der Buche, die ihnen im Sommer Schatten gespendet und deren Eckern sie in harten Wintern zu Mehl gemahlen hatten.

Aus den Augenwinkeln nahm sie eine Bewegung wahr. Zwei Erwachsene mit einem Kind hasteten an ihr vorüber, so gut es die Wassermengen zuließen. Mittlerweile versanken sie bis über die Knie in den Fluten.

Doch wer über den Kanal wollte, musste am Deich entlang. Marie winkte, es kostete sie enorme Kraft. Ihre Stimme war kaum zu hören, als sie rief: «Nicht da lang, bleibt weg vom Deich!»

Wo war sie? Ihr Bein stieß gegen etwas, doch ihr fehlte die Kraft, den Schmerz zu spüren. Ein Schatten flog auf sie zu, dem sie im letzten Augenblick ausweichen konnte. Ein … Schornstein?

Plötzlich fühlte sie nichts mehr.