Cover

Andreas Franz

Das Todeskreuz

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Andreas Franz

Andreas Franz wurde 1954 in Quedlinburg geboren. Er hat als Übersetzer für Englisch und Französisch gearbeitet und war jahrelang als Schlagzeuger tätig. Seine große Leidenschaft war aber von jeher das Schreiben. Und das zu Recht, wie u. a. sein Erfolgsroman »Jung, blond, tot« bezeugt. Seine Maxime: »Die Leser fesseln und trotzdem (vielleicht) zum Nachdenken anregen (aber nie den Zeigefinger erheben!).« Andreas Franz ist verheiratet und hat fünf Kinder.

Impressum

Originalausgabe Mai 2007
Copyright © 2007 by Knaur Taschenbuch.
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –
nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Dr. Gisela Menza
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: Getty Images / flyfloor

ISBN 978-3-426-55973-4

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Für meine Schwestern

Andrea und Dori

Sonntag, 23. April 2006      

Julia Durant hatte trotz Bereitschaftsdienst ein ruhiges, wenn auch nicht geruhsames Wochenende hinter sich. Sie hatte geputzt, nachdem am Dienstag ihre neuen Möbel eingetroffen waren, die sie nach dem Desaster mit dem »Mann ihrer Träume«, der ihr die große Liebe vorgegaukelt, ihr aber nur die Welt in Form materieller Güter zu Füßen gelegt hatte, ausgesucht und schließlich gekauft hatte. Sie konnte auf einmal das ganze Zeug nicht mehr sehen, die Couch, den Tisch, den Teppichboden, die Gardinen, selbst das Schlafzimmer und das Bad hatten ihr nicht mehr gefallen. Seit gut zwölf Jahren lebte sie in dieser herrlich geschnittenen Altbauwohnung in Sachsenhausen, und genauso alt war der überwiegende Teil der Einrichtung. Julia hatte sich im Laufe der Jahre einiges zusammengespart und am ersten Advent spontan beschlossen, einen Teil davon für die neue Einrichtung auszugeben, nicht ohne vorher die Wände und Decken neu streichen und den Fußboden mit Wildkirschlaminat auslegen zu lassen. Das Einzige, was sie behielt, war die Essgruppe, die sie vor vier Jahren bei einem Schreiner in Hattersheim-Okriftel in Auftrag gegeben hatte. Und obwohl sie nur sehr selten kochte, hatte sie auch eine neue Küchenzeile ausgesucht, die am vergangenen Freitag aufgebaut worden war. Fast zwanzigtausend Euro hatte sie der ganze Spaß gekostet, einschließlich des LCD-Fernsehers, der wie ein Bild an der Wand hing, und der Hi-Fi-Anlage, die direkt darunter ihren Platz gefunden hatte.

Alles strahlte in neuem Glanz, helle Pastellfarben dominierten, weil sie das Blau und Grau nicht mehr ertrug. Gestern und heute hatte sie die Fenster geputzt und den Boden gewischt und gewienert, die Schränke mit einer speziellen Politur behandelt und den Teppich zweimal gesaugt.

Nun, nachdem der größte Teil geschafft war (nur eine Maschine Wäsche musste noch gewaschen werden), stand sie mitten im Wohnzimmer und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen, und ein zufriedenes Lächeln umspielte ihre Lippen. Kein großes Doppelbett mehr im Schlafzimmer, nur noch ein Futonbett, in dem zwar notfalls auch noch eine zweite Person Platz finden würde, aber sie hatte nicht vor, in der nächsten Zeit jemand andern, schon gar keinen Mann, in ihr Bett zu lassen. Wenn sie einen brauchte, dann würde sie es machen wie etliche Male zuvor. Sie würde sich etwas Schickes anziehen, zu ihrer Bar in der Innenstadt fahren und mit jemandem, der ihr gefiel, in einem Hotelzimmer verschwinden, ein paar Stunden mit ihm dort verbringen und so anonym, wie sie ihn kennengelernt hatte, auch wieder verlassen. Keine Namen, keine Adressen. Das Letzte, was sie wollte, war, noch einmal eine Beziehung einzugehen und wieder enttäuscht zu werden. Sie war Single, und sie würde es bleiben, auch das war ein Entschluss, den sie gefasst hatte. Für Kinder war es ohnehin zu spät, und sich für einen Mann zu verbiegen, dazu war sie nicht bereit. Konzessionen schon, aber auch dies genügte den Männern, mit denen sie es in der Vergangenheit zu tun hatte, offenbar nicht. Sie hatte es oft genug versucht und war jedes Mal kläglich gescheitert. Ab sofort würde sie ihr Leben nur noch genießen, auch wenn es immer wieder diese Momente gab, in denen sie sich unendlich einsam fühlte, in denen sie glaubte etwas ganz Wesentliches verpasst zu haben und ihr die Decke auf den Kopf zu fallen schien. Dann machte sie entweder einen langen Spaziergang oder ging ins Fitness-Studio oder telefonierte mit ihrem Vater – oder stürzte sich wie wild in Arbeit.

Doch im Augenblick fühlte sie sich nur wohl, konnte sich kaum sattsehen an all dem Neuen, und sie bereute nicht eine Sekunde, so viel Geld auf einmal ausgegeben zu haben. Als sie im Vorfeld mit ihrem Vater über ihren Entschluss der Veränderung gesprochen hatte, hatte er ihr nur zugeraten und gesagt, sie solle bloß kein schlechtes Gewissen haben. Und er hatte wie so oft recht, ihr Konto war nicht überzogen, selbst auf ihrem Sparbuch waren noch immer über zwanzigtausend Euro, und außerdem hatte sie einen Beruf, in dem sie unkündbar war, ein Privileg, das sie in der heutigen Zeit als einen Segen empfand.

Aber die Wohnung war nicht alles, was sie verändert hatte. Sie war am Freitag zum zweiten Mal in diesem Jahr beim Friseur gewesen, um sich helle Strähnchen in das dunkelbraune Haar ziehen zu lassen, und hin und wieder erschien sie im Rock und einer Bluse oder einem weichen Pulli zum Dienst (wobei sie mit einem gewissen Vergnügen und Stolz registrierte, wie viele Kollegen sich die Köpfe nach ihr verdrehten, obwohl sie bereits zweiundvierzig war), auch wenn sie weiterhin die meiste Zeit Jeans und Tennisschuhe oder Sneakers trug, weil diese Kleidung bei der Ermittlungsarbeit einfach bequemer war. Nur waren es nicht mehr ausschließlich Bluejeans, sondern auch schwarze oder beigefarbene, sogar eine dunkelgrüne war darunter, denn sie hatte auch ihren Kleiderschrank ausgemistet und sich in den vergangenen Monaten allmählich komplett neu eingekleidet; lediglich ein paar wenige Sachen hatte sie behalten, Dinge, von denen sie sich nicht trennen wollte oder konnte.

Sie gönnte sich zudem den Luxus, einmal im Monat eine Kosmetikerin aufzusuchen, und war sie in den letzten Jahren faul gewesen, was ihre körperliche Fitness betraf, so hatte sie sich im Januar in einem Fitness-Studio speziell für Frauen angemeldet und besuchte es, sooft es ihre Zeit erlaubte, und das war in der Regel dreimal in der Woche.

Es tat ihr einfach gut, sie hatte die Veränderung gewollt und durchgezogen. Nur die Haare hatte sie sich nicht abschneiden lassen wie so viele Frauen, nachdem sie Enttäuschungen mit ihren Partnern erlebt hatten. Ihre Frisur war noch immer die gleiche, nur eben mit ein paar Strähnchen versehen.

Nach ihrem letzten Fall, der ihr – und nicht nur ihr – enorm an die Nieren gegangen war, musste sie den Vorschriften gemäß in einigen Sitzungen mit einer Polizeipsychologin über das Geschehene sprechen, wobei diese ihr immer wieder einzureden versuchte, dass sie bestimmt schwer traumatisiert sei. Doch Julia fühlte sich weder traumatisiert noch in irgendeiner anderen Weise schlecht, sie war nicht depressiv oder melancholisch und hatte nach der fünften Sitzung genug von dem sinnlosen Gequatsche und brach die sogenannte Therapie ab, nicht ohne vorher jedoch die Zustimmung von Berger eingeholt zu haben. Sie hatte überlegt, eine Kur zu beantragen, um einmal aus Frankfurt herauszukommen und sich verwöhnen zu lassen, aber dieser Gedanke war zu flüchtig, als dass sie ihn zu Ende gedacht hätte. Eine Kur, womöglich mit alten Leuten, die nichts anderes zu tun hatten, als über ihre Wehwehchen zu klagen, das war nichts für sie. Doch vielleicht hatte sie auch nur das Klischee einer Kur vor Augen, denn sie hatte noch nie eine Kurklinik oder ein Kurhotel von innen gesehen. Trotzdem, sie würde es nicht machen, eventuell in zehn oder fünfzehn Jahren. Es war die Wohnung und vor allem ihr Leben, das eine Kur brauchte, und dafür musste sie sich nicht allen möglichen ärztlichen Behandlungen unterziehen und sich einem geregelten Tagesablauf unterwerfen.

Ihre Kollegen waren erstaunt über die Verwandlung, aber keiner von ihnen hatte bisher eine abwertende oder gar abfällige Bemerkung darüber gemacht. Im Gegenteil, alle schienen begeistert von der neuen Julia Durant zu sein, obwohl diese Verwandlung nur äußerlich war. Innerlich hatte sie sich kaum verändert. Sie hatte über einiges nachgedacht, angefangen Tagebuch zu schreiben, und sie hatte sich gefragt, warum sie solches Pech mit Männern hatte. Antworten hatte sie jedoch keine gefunden. Und sie hatte sich zu Silvester vorgenommen, ihren Zigarettenkonsum allmählich zu reduzieren, auch in Stresssituationen nicht gleich zur Zigarette zu greifen, was ihr bislang erstaunlich gut gelungen war. Die letzte Schachtel hatte sie sich vor vier Tagen gekauft, und noch immer befanden sich drei Zigaretten darin. Und sie war sicher, in den nächsten Tagen oder Wochen ganz ohne Nikotin auszukommen. Sie war stolz, diesen Vorsatz so gut umgesetzt zu haben, und sie hatte nicht vor, noch einmal in das alte Verhaltensmuster zu verfallen. War das vergangene Jahr zum Ausklang ziemlich schlecht verlaufen, so hatte das neue mit dem genauen Gegenteil begonnen. Und sie hatte sich noch etwas vorgenommen. Sie würde nie wieder den Fehler begehen und auf Gedeih und Verderb einen Mann suchen, sondern die Dinge nur noch auf sich zukommen lassen. In einem langen Gespräch an Weihnachten mit ihrem Vater in ihrem Heimatort bei München hatte sie zum ersten Mal begriffen, dass es ihr nichts brachte, mit dem Kopf durch die Wand zu wollen. Sie war nicht der Typ dafür, denn auch bei ihren Ermittlungen ließ sie sich sehr oft von ihrer Intuition leiten. Nur im Privatleben hatte sie diese Intuition meist unterdrückt, diese innere Stimme, die ihr gleich zu Beginn sagte, was gut und was schlecht für sie war. Sollte sie eines Tages doch noch den Richtigen finden, dann würde sie ihn auch erkennen.

Sie war fast fertig mit der Arbeit und beschloss, den Pflanzen auf dem Fensterbrett noch ein bisschen Wasser zu geben und sich danach ein Bad einlaufen zu lassen. Anschließend würde sie etwas Leckeres essen, ein oder zwei Bier trinken und die Nachrichten und den Tatort schauen. Sie nahm die Kanne in die Hand und war bereits am Wasserhahn, um sie zu füllen, als das Telefon klingelte.

»Ja?«

»Fritsche, KDD. Sorry für die Störung, aber wir haben eine Tote in Berkersheim.«

»Hm. Wie …«

»Komm her und mach dir selbst ein Bild. Wir haben alles so gelassen, wie es vorgefunden wurde. Ist kein schöner Anblick, das kann ich dir gleich sagen.«

»Gib mir mal die Adresse, ich bin in spätestens einer halben Stunde da.« Sie schrieb mit und fragte dann: »Ist schon jemand anders benachrichtigt worden? Spurensicherung, Arzt und so weiter?«

»Nein, ich dachte, du würdest dir das vielleicht erst mal anschauen und …«

»Okay. Wer hat in der Rechtsmedizin Bereitschaft?«

»Dr. Sievers.«

»Verständige sie bitte. Und die Spusi soll sich auch schon mal bereithalten. Bis gleich.«

Sie legte den Hörer auf, stellte die Blumenkanne wieder zurück und rief Hellmer an. Nadine war am Apparat. Ihre Stimme klang nicht gut, wie so oft in den letzten Monaten. Traurig, resigniert, und Julia Durant kannte den Grund dafür, aber sie konnte ihr nicht helfen. Mit ihr reden schon, allerdings hatte es in der letzten Zeit kaum eine Gelegenheit gegeben, sich auszutauschen. Nadine war zu oft mit Marie-Therese unterwegs. Im Februar und März war sie ganze sieben Wochen in einer Spezialklinik in den USA gewesen und mit der Hoffnung zurückgekehrt, dass der Kleinen doch geholfen werden könnte. Es würde mehrere hunderttausend Dollar kosten, vielleicht sogar mehr als eine Million, einiger Operationen und sehr vieler Therapien bedürfen, um dem blinden, tauben und stummen Mädchen mit Hilfe modernster Medizintechnologien wenigstens einen Teil ihres Augenlichts, ihres Gehörs und damit auch ihrer Sprache zu geben. Das hatte Nadine ihr erzählt, und es war einer der wenigen Momente, in denen ihr Gesicht wieder jenen lebensbejahenden Ausdruck hatte, den Julia von ihr gewohnt war und um den sie sie beneidete – strahlende Augen, ein Lächeln um ihren schönen Mund. Sie hatten zwei Stunden zusammengesessen, aber sich in dieser Zeit fast ausschließlich über Marie-Therese unterhalten. Dabei hätte Julia gerne auch über Frank mit ihr gesprochen, doch sie hatte gespürt, dass Nadine dazu nicht bereit war. Noch nicht. Ihre ganze Konzentration galt Marie-Therese und auch Stephanie, und je mehr ihr Mann sich von der Familie entfernte, desto stärker opferte sich Nadine für die Kinder auf. Frank und Nadine lebten noch in einem Haus, aber wenn es so weiterging, würde einer von beiden über kurz oder lang an der Situation zerbrechen. Und wie sie Frank und Nadine kannte, würde es Frank sein, der in absehbarer Zeit in einen tiefen Abgrund stürzen würde. Er war ein eher labiler Mensch, einer, der seine Ordnung brauchte, dem das Chaos, in dem er sich befand, zunehmend über den Kopf wuchs, der es aber nicht fertigbrachte, seine alte Ordnung wiederherzustellen. Manchmal wünschte sie sich, sie wäre irgendwo allein mit ihm und er hätte keine Chance, ihr zu entkommen, bis sie ihm klargemacht und er begriffen hatte, wo sein Zuhause war. Aber natürlich würde dieser Moment nie eintreten, weshalb sie diese Gedanken auch immer schnell wieder verwarf. Er war alt genug, um über sein Leben selbst zu bestimmen.

Frank Hellmer war nicht mit in die Staaten geflogen, obwohl Berger es ihm nicht nur angeboten, sondern geradezu ans Herz gelegt hatte, er könne Urlaub nehmen, bezahlten oder unbezahlten (was er sich leicht hätte leisten können), doch nur Julia Durant kannte den wahren Grund, warum er in Frankfurt geblieben war. Sie verstand ihn nicht und würde es nie tun, war Nadine doch nicht nur eine äußerst attraktive und schöne Frau, sondern auch eine, die immer zu ihm gehalten hatte, die als junge, aber schwerreiche Witwe einen vergleichsweise armen Polizisten geheiratet hatte, der jeden Monat zwei Drittel seines Gehalts an seine Ex und die drei gemeinsamen Kinder überweisen musste. Für Julia waren sie lange Zeit das Traumpaar schlechthin gewesen. Nadine liebte Frank aus tiefstem Herzen, und auch bei ihm hatte sie all die Jahre hinweg geglaubt, es wäre ebenso. Und dann kam Marie-Therese und mit ihr eine Veränderung, die das Leben der Hellmers aus den Fugen geraten ließ. Nadines ganze Aufmerksamkeit richtete sich nur noch auf die Kleine, und Frank fühlte sich seitdem offenbar aus Nadines Leben ausgeschlossen. Zumindest hatte er dies Julia gegenüber so angedeutet, doch für sie klang es nur wie eine laue Rechtfertigung für sein Verhalten. Viola Richter – zugegeben eine Frau, die die meisten Männerherzen nicht nur höherschlagen ließ, die nicht nur vom Äußeren mehr hergab als die meisten Frauen, sondern auch intelligent war, und doch, so fand Julia Durant, einem Vergleich mit Nadine nicht standhielt. Viola Richter und Frank Hellmer passten einfach nicht zusammen, was er jedoch nicht zu merken schien oder es nicht wollte. Aber seit er die Affäre begonnen hatte, war er nicht mehr der Frank Hellmer, den sie kennengelernt und mit dem sie über so viele Jahre hinweg gerne zusammengearbeitet hatte. Er war verschlossener geworden, oft ungerecht in seinen Beurteilungen und noch viel öfter mit seinen Gedanken nicht bei der Arbeit. Ob und inwieweit Nadine von dieser Affäre wusste, entzog sich Julias Kenntnis, aber sie hoffte noch immer inständig, dass dieser Spuk bald ein Ende hatte. Wenn nicht, würde sie in absehbarer Zeit ein sehr ernsthaftes Gespräch mit ihm führen und ihm deutlich zu verstehen geben, dass sie unter diesen Umständen nicht länger mit ihm zusammenarbeiten könne. Außerdem hatte er, wie sie schon befürchtete, wieder angefangen zu trinken, ein Zeichen für das schlechte Gewissen, das ihn plagte. Er war hin und her gerissen zwischen diesen zwei Frauen, zwischen zwei Welten, und er war überfordert, denn er war unfähig, eine klare Entscheidung zu treffen. Julia war der festen Überzeugung, dass Viola Richter nur mit ihm spielte, dass sie seine Schwachstelle erkannt hatte und ihre eigene unbefriedigende Ehe mit dem überaus erfolgreichen und angesehenen Psychiater und Therapeuten Prof. Alfred Richter durch ihn kompensierte. Für Julia war es eine rein sexuelle Beziehung, nicht mehr und nicht weniger, denn wäre es anders, hätte Hellmer nicht wieder zur Flasche gegriffen.

Ich werde Nadine einladen, mich zu besuchen, dachte Durant, während sie darauf wartete, dass Hellmer ans Telefon kam, ich muss ihr schließlich meine neue Wohnung zeigen.

»Was gibt’s?«, fragte er mürrisch.

»Wir haben eine Tote in Berkersheim. Wann kannst du dort sein?«

»Halbe Stunde«, antwortete er nach kurzem Überlegen, ließ sich die Adresse geben und legte auf. Kein Tschüs oder Ciao wie noch vor einigen Monaten. Sie waren zwar noch Kollegen, mehr aber auch nicht, was allein an Hellmer lag, der sich immer mehr in sein Schneckenhaus zurückzog. Sie hatte versucht ihm zu helfen, sie hatte etliche Male versucht mit ihm zu reden, aber er ließ nicht einmal sie mehr an sich heran. Dennoch hegte sie die Hoffnung, er würde eines Tages aufwachen und erkennen, welch gravierenden Fehler er begangen hatte und immer noch beging, denn sie mochte Hellmer, auch wenn er im Moment unausstehlich war.

Julia zog sich eine khakifarbene Jeans und ein flauschiges Oberteil an. Der Tag war sonnig gewesen, aber es wehte ein kühler Ostwind, und für die kommende Nacht hatte der Wetterbericht Tiefsttemperaturen zwischen fünf und null Grad vorhergesagt. Nach einem langen und erbärmlich kalten Winter ließ der Frühling auf sich warten. Es hatte viel geregnet in den letzten Tagen und Wochen, und man konnte nur darauf hoffen, dass bald eine wärmere Zeit anbrach. Ein letzter Blick durchs Wohnzimmer, ein Lächeln, dann nahm sie ihre Tasche und schloss hinter sich ab. Die Stufen knarrten auf dem Weg nach unten. Sie überquerte die Straße und setzte sich in ihren Corsa. Der Wind hatte noch etwas aufgefrischt, und ihr war kalt. Sie startete den Motor und stellte die Heizung auf die höchste Stufe. Nach knapp fünf Minuten wurde es im Wageninnern warm. Sie hatte keine Lust auf eine CD, sondern stellte FFH an. Peter Illmann präsentierte Oldies, momentan lief »Kids in America« von Kim Wilde aus den Achtzigern. Erinnerungen an ihre erste große Liebe kamen in Julia Durant hoch, einen Jungen aus der Dreizehn, eine Liebe, die so schnell endete, wie sie begonnen hatte. Julia war siebzehn und er fast zwanzig. Zwei Jahre später hatte sie ihr Abi in der Tasche, bewarb sich für die Polizeischule und wurde angenommen. Tausend Gedanken auf einmal schossen ihr durch den Kopf, auch solche, die mit ihrem geschiedenen Mann zu tun hatten. Sie wollte Kinder, er trieb sich lieber in fremden Betten rum. Und nun war sie in Frankfurt, und ihr Leben hatte einen Verlauf genommen, den sie sich so nie vorgestellt hatte. Der Moderator gab nach dem Song noch einen Kommentar zu Kim Wilde ab, ein paar Sätze über ihre Laufbahn und dass sie vorhabe, ein neues Album zu produzieren.

Die Straßen waren wie üblich am Sonntagabend relativ leer, so dass sie bereits nach zwanzig Minuten an der angegebenen Adresse eintraf. Am Bürgersteig parkten zwei Streifenwagen und ein Alfa Romeo. Es war ein großes villenähnliches Haus im Norden von Frankfurt, weiß mit einem glänzenden dunkelblauen Dach, der Vorgarten gepflegt, vom Tor zum Eingang waren es etwa zehn Meter. Sie wies sich aus und wurde durchgelassen. Fritsche, ein großgewachsener, sehr schlanker, fast asketisch wirkender etwa vierzigjähriger Mann mit Dreitagebart und einer Nickelbrille auf der langen, schmalen Nase, kam an die Tür und reichte Durant die Hand. Sie kannten sich schon seit Jahren und lächelten sich an, auch wenn es bei ihm stets etwas verkniffen aussah. Er war einer der führenden Köpfe beim Kriminaldauerdienst, geschieden, drei Töchter, die jüngste gerade einmal drei Jahre alt. Die Ehe war, wie Durant erfahren hatte, an Fritsches Arbeit kaputtgegangen. Seine Frau hatte irgendwann die Nase voll von den ewigen Überstunden, dem Alleinsein, dem Warten und der Angst, ihr Mann könnte eines Tages nicht mehr zurückkehren. So hatte sie den für sie befreienden Schritt getan und sich von ihm getrennt. Aber Fritsche war nur einer unter vielen Kollegen, denen es so erging. Und wenn Hellmer nicht aufpasste, würde er sich in der Reihe der im Privatleben gescheiterten Polizisten wiederfinden.

»Sie liegt im ersten Stock, im Schlafzimmer. Ich hoffe, du hast einen guten Magen«, sagte er mit sonorer Stimme.

»So schlimm?«

»Na ja, für Zartbesaitete nicht gerade das ideale Unterhaltungsprogramm«, bemerkte er trocken.

»Ich bin einiges gewohnt«, entgegnete sie lapidar und musste unwillkürlich an den erst kürzlich abgeschlossenen Fall denken, wo der Mörder seine Opfer auf geradezu bestialische Weise abgeschlachtet hatte. Seitdem gab es nichts mehr, was sie erschüttern konnte.

Sie zog sich die obligatorischen Handschuhe und die blauen Plastikgamaschen an, betrat mit Fritsche das Schlafzimmer, in dem es unangenehm roch, nach einsetzender Verwesung, und Durant wusste, was Fritsche gemeint hatte, als er fragte, ob sie einen guten Magen habe. Die Rollläden waren heruntergelassen, die Vorhänge zugezogen, ein Kronleuchter mit vielen verspielten Details spendete helles Licht. Es war ein etwa dreißig Quadratmeter großer Raum, das Bett war überdimensional groß, wie eine Spielwiese für ausgefallene Spielchen, dicker fast weißer Teppichboden schluckte jeden Schritt, ein mindestens vier Meter breiter und etwa zweieinhalb Meter hoher weißer Schrank mit feinen Intarsien in den Spiegeln und an den Umrandungen war die zweite Auffälligkeit, die dritte ein Glastisch mit zwei champagnerfarbenen Ledersesseln daneben. Auf dem Tisch standen zwei Champagnergläser, eine Flasche Dom Perignon in einem eigens dafür vorgesehenen Kübel, das Eis darin war längst geschmolzen. Im Aschenbecher waren ein paar ausgedrückte Zigarettenkippen, auf den beiden Nachtschränkchen Fotos, unter anderem von vermutlich der Frau auf dem Bett und zwei weiteren Personen. An der Wand links von der Tür hing ein überdimensionaler Plasmafernseher, der ein halbes Vermögen gekostet haben musste, und darunter befand sich in einem offenbar eigens dafür angefertigten Regal eine hochwertige Hi-Fi-Anlage. Erst jetzt bemerkte Durant auch die auf dem von ihr aus gesehen rechten Nachtschränkchen liegenden Fernbedienungen für die Geräte.

Die Tote lag genau in der Mitte des Betts auf dem Bauch. Sie war bis auf ein Paar halterlose blaue Strümpfe nackt, die Beine eng aneinandergelegt, die Arme jedoch ausgestreckt im rechten Winkel zum Körper. Sie hatte fast schwarze, glatte und schulterlange Haare, ihr Gesicht war nicht zu erkennen. Die Fingernägel waren in dezentem Rot lackiert, die Haut unnatürlich weiß, aber durch die vermutlich längere Lagerung marmoriert und von roten und bläulichen Stellen übersät. Das Auffälligste jedoch war das überdimensionale Kreuz, das in ihren Rücken vom unteren Nacken bis zum Steißbein geritzt worden war. Das Blut aus der Wunde war längst geronnen und verkrustet. Was Durant jedoch stutzig machte, war, dass das Kreuz nach unten zeigte, wie es in der Regel von Okkultisten, die sich mit schwarzer Magie befassten, oder Satanisten benutzt wurde.

»Wer hat sie gefunden?«, fragte Durant, die die Tote aufmerksam betrachtete.

»Ihre Tochter. Sie ist unten und heult sich die Augen aus, halt das Typische. Das Einzige, was ich von ihr erfahren habe, ist, dass sie gestern und heute mehrfach versucht hat ihre Mutter telefonisch zu erreichen, und als das nicht geklappt hat, ist sie schließlich hergefahren. Du kannst dir vorstellen, was das für ein Schock war, die eigene Mutter so zu sehen. Dazu noch dieser üble Geruch.«

»Hat sie sonst noch was gesagt?«

Fritsche schüttelte den Kopf. »Nee, die ist völlig durch den Wind. Vielleicht kommst du an sie ran.«

»Ist jemand bei ihr?«

»Sandra Kohler, meine Kollegin, kümmert sich um sie.«

»Und es wurde wirklich nichts verändert?«, fragte Durant, ohne auf das Gesagte einzugehen.

»Von uns nicht. Und ich glaube kaum, dass die Tochter sie angefasst hat.«

»Wer außer dir und der Tochter war noch hier drin?«

»Nur Sandra und die beiden Beamten, die als Erste hier waren, nachdem der Anruf in der Zentrale eingegangen ist.«

»Okay. Dr. Sievers und die Spurensicherung sind informiert?«

»Ja.« Und nach kurzem Schweigen: »Was hältst du davon?«

»Schwer zu sagen«, murmelte Durant, trat näher an das Bett heran und beugte sich weiter nach vorn.

»Ein Ritualmord?«, fragte Fritsche, der hinter Durant stand und auf sie hinabsah.

Durant zuckte mit den Schultern und meinte: »Möglich, das Kreuz und auch die Aufbahrung könnten dafür sprechen. Ich meine, das schaut aus, als wäre sie selbst gekreuzigt worden, symbolisch natürlich. Trotzdem ist das nur eine von vielen Theorien, und festlegen werde ich mich in einem so frühen Stadium ganz bestimmt nicht.« Sie sah Fritsche an und fuhr fort: »Würdest du mich bitte für einen Moment allein lassen, aber wenn Hellmer kommt, schick ihn bitte sofort rein.«

»Bin schon da«, sagte er in einem Ton, den Durant aus den vergangenen Monaten nur zu gut kannte – zu aufgekratzt und beschwingt, um echt zu sein, was wohl daran lag, dass er wieder getrunken hatte. Er trat ein, nickte Fritsche zu, der die Tür hinter sich zuzog. »Sauber«, bemerkte Hellmer nach einem Blick auf die Leiche.

»Was meinst du mit ›sauber‹?«

»Na ja, das alles hier. Wann kommen die andern?«

»Wieso, hast du noch was Dringendes vor?«, fragte Durant ironisch, die zurzeit mit ihrem Kollegen nicht viel anzufangen wusste. Da war eine Barriere zwischen ihnen, fast eine Mauer, die nur Hellmer einreißen konnte. Sie hatte ihr Möglichstes versucht, aber er hatte sich immer weiter abgeschottet. Dabei machte es sie traurig, Hellmer so zu erleben, und gleichzeitig war sie auch wütend auf ihn und seine Unfähigkeit, sich von den Fesseln, die ihn umgaben, zu befreien. Und diese Fesseln hatten nur einen Namen – Viola Richter.

»Nee«, antwortete Hellmer und kam näher. Er hatte eine Alkoholfahne, die er mit reichlich Eau de Toilette zu übertünchen versuchte, was natürlich nichts brachte, auch wenn er, wie sie inzwischen wusste, nur Wodka trank.

Durant sah ihn nicht an, als sie sagte: »Hast du in Parfum gebadet?«

»Nee, nur’n Spritzer. Wieso, gefällt’s dir nicht?«

»Nicht besonders. Was ist deine Meinung?«

»Keine Ahnung. Sieht aus, als hätte da jemand ein seltsames religiöses Verständnis. Wie lange ist sie schon tot?«

»Woher soll ich das wissen? Bin ich Rechtsmedizinerin?«, erwiderte Durant unwirsch, obgleich sie ahnte, dass Corinna Sittler schon mindestens einen, wenn nicht gar zwei Tage tot war. »Außerdem hat das, wenn du genau hinschaust, mit Religion recht wenig zu tun, es sei denn, du bezeichnest Satanismus als solche.«

»Satanismus ist auch ’ne Religion. Und außerdem, was ist los mit dir? Ist dir ’ne Laus über die Leber gelaufen?«

»Frank, tu mir einen Gefallen und lass uns einfach unsere Arbeit machen. Okay? Also, was ist deine Meinung?«

»Die Dame wurde umgebracht, und ihr wurde ein seitenverkehrtes Kreuz in den Rücken geritzt. Was soll ich schon groß davon halten? Da hat jemand seiner Phantasie freien Lauf gelassen«, antwortete er emotionslos, als würde ihn das alles nicht berühren.

»Sie wurde aufgebahrt. Ich glaube nicht an einen religiösen Fanatiker oder Spinner. Ich würde sie ja gerne umdrehen, aber wir müssen warten, bis die Fotos im Kasten sind.«

Sie hatte es kaum ausgesprochen, als die Tür aufging und Andrea Sievers hereinkam. Sie hatte ihren Koffer in der Hand, in dem sich alle Utensilien befanden, die sie für die erste vorläufige Leichenschau benötigte, ehe sie in der Rechtsmedizin die Obduktion vornehmen würde.

»Hi, ihr beiden. Wie geht’s?«, fragte sie gutgelaunt wie meist und stellte den Koffer neben der Tür ab. Sie trug eine hellblaue Jeans, einen Sweater und ebenfalls Handschuhe und blaue Plastikgamaschen über den Schuhen.

»Geht so«, antwortete Durant, während Hellmer nichts sagte, sondern sich im Zimmer umsah.

»Wie heißt die Werteste?«, fragte Sievers und warf einen langen Blick auf die Tote.

»Corinna Sittler, Anwältin. Von irgendwoher kommt mir der Name bekannt vor, ich kann nur nicht sagen, woher. Ich meine den Namen schon mal gehört zu haben.«

»Ich nicht«, sagte Sievers, drückte ein paarmal auf den toten Körper, nickte und runzelte die Stirn. »Es ist doch erstaunlich, was sich die Leute so alles einfallen lassen, wenn sie jemanden ins Jenseits befördern. Das ist kein normaler Mord, das war geplant.«

»Und was bringt dich zu dieser Vermutung?«

»Ganz einfach, der Mörder hat sich Zeit gelassen. Ich meine, das sieht ein Blinder mit Krückstock, dass das alles inszeniert ist oder war. Ich tippe auf einen Ritualmord. Vielleicht hat sie sich in Kreisen bewegt, die nicht zimperlich sind, wenn jemand aus der Reihe tanzt.«

»Willst du bei uns anfangen?« Durant sah Sievers vielsagend von der Seite an.

»Nein, danke, ich liebe meinen Job. Ist ja auch nur ’ne Vermutung.«

»Kannst du schon was sagen?«, fragte Durant.

»Geduld, Geduld. Komm, gehen wir raus und lassen den Fotografen ran«, meinte sie, als sie die Männer und Frauen von der Spurensicherung kommen hörte, ergriff ihren Koffer und verließ mit Durant und Hellmer das Zimmer. Sie warteten im Flur, während sie unten die Stimmen von zwei Frauen vernahmen.

»Wer ist die junge Frau da unten?«, fragte Sievers, die sich an die Wand lehnte.

»Die Tochter.«

»Hast du schon mit ihr gesprochen?«

»Mach ich gleich. Ich will erst das hier hinter mich bringen und dein erstes Urteil hören.«

Hellmer hatte sich nach unten begeben, stand vor dem Haus, rauchte eine Zigarette und unterhielt sich mit Fritsche.

»Was ist eigentlich mit Frank los? Der ist in letzter Zeit ziemlich seltsam geworden«, sagte Andrea Sievers leise, so dass keiner der andern es mitbekommen konnte. »Versteh mich nicht falsch, aber irgendwas stimmt mit ihm doch nicht.«

Durant zuckte mit den Schultern und schwindelte: »Keine Ahnung. Frag ihn selbst.«

Sievers runzelte die Stirn. »Habt ihr Stress?«

»Bitte, nicht jetzt. Wenn du Lust hast, kannst du ja mal zu mir kommen, dann kannst du gleich meine neue Bude kennenlernen und wir können ungestört ratschen. Oder wir gehen was essen.«

»Du bist umgezogen?«

»Quatsch, nur neu eingerichtet. Ich hab den ganzen alten Mist rausgeschmissen.«

»Wow, klingt nach Neuanfang. Hat das was mit deinem Verflossenen zu tun?«

»Schon möglich. Wie läuft’s denn zwischen dir und meinem Offenbacher Kollegen?«, fragte Durant grinsend.

Es entstand eine winzige, aber bedeutungsvolle Pause, bevor Andrea antwortete: »Geht so.«

»Hör ich da einen Unterton?«

»Julia, wir haben beide unsere Probleme, und deshalb mein Vorschlag: Ich nehme dein Angebot an und komm zu dir. Dann können wir quatschen, bis uns nichts mehr einfällt.«

»Das würde Wochen dauern. Wann?«

»Sag du.«

»Freitag? So um sieben?«

»Okay, ich hab’s gespeichert. Wenn nichts dazwischenkommt«, fügte Sievers schmunzelnd hinzu.

»Es kommt was dazwischen«, murmelte Durant kaum hörbar und betrachtete ihre Hände.

»Warum so pessimistisch?«

Sie zuckte mit den Schultern und antwortete: »Das ist so Gesetz bei mir. Immer wenn ich mir was vornehme, passiert irgendwas. Aber wir halten den Termin trotzdem fest.«

»He, so kenn ich dich gar nicht. Was ist los?«, fragte Sievers und legte eine Hand auf Durants Schulter.

»Nichts weiter. Ich hab’s vielleicht einfach nur über, dauernd mit solchem Dreck konfrontiert zu werden«, sagte sie und deutete mit dem Kopf auf die Tür, hinter der der Fotograf alles auf Film und Band festhielt.

»Es ist dein Job, genau wie es meiner ist, diese Leute auf meinen Tisch zu kriegen. Ich hab mich dran gewöhnt, und ich bin ein paar Jährchen jünger als du.«

»Schon gut. Ich hatte mir nur den Abend ein klein wenig anders vorgestellt«, sagte Durant und schaute auf die Uhr. »Der Tatort fängt gerade an, ich wollte vorher ein Bad nehmen, was essen und früh schlafen gehen. Wird wohl nichts draus, ich meine, das mit dem früh schlafen gehen.«

»Sieh’s gelassen, ich muss mir auch den Abend, vielleicht sogar die Nacht um die Ohren schlagen. Wir sind eben keine Buchhalter«, fügte Sievers lapidar hinzu. »Es sei denn, du gönnst mir noch ein bisschen Ruhe und gibst mir Zeit, die Dame morgen zu untersuchen.«

Durant verzog den Mund. »Ich hätte ganz gerne schnellstmöglich gewusst, wie sie gestorben ist. Muss ja nicht gleich …«

»Schon verstanden. Aber mach dich drauf gefasst, dass ich dich mitten in der Nacht anrufe und dir das Ergebnis mitteile«, erwiderte Sievers grinsend.

»Okay. Hast du sonst irgendwas zu tun gehabt?«

»Jetzt am Wochenende?«

»Hm.«

»Zum Glück nicht. Aber noch lieber wär’s mir gewesen, ich hätte erst morgen früh wieder in die Gruft steigen müssen. Gehen wir’s an«, sagte Sievers und deutete mit dem Kopf zur Tür, die gerade geöffnet wurde. Der Fotograf hatte seine Tasche umgehängt und kam auf Durant und Sievers zu.

»Ihr könnt rein. Die Fotos liegen in einer Stunde auf deinem Schreibtisch«, sagte er zu Durant.

»Danke …«

»Augenblick«, mischte sich Sievers ein. »Hast du sie von allen Seiten fotografiert?«

»Nein, nur das Standardprogramm, den Rest macht ihr doch sowieso selbst.«

»Wir brauchen auch noch Fotos, nachdem wir sie umgedreht haben.«

»Ihr kriegt das schon hin«, entgegnete er augenzwinkernd, wandte sich um und wollte bereits nach unten gehen, als Sievers ihn zurückhielt.

»Bitte noch ein paar Fotos, du bist in fünf Minuten entlassen.«

»Zu Befehl.«

Andrea Sievers ging voran, Durant und der Fotograf folgten ihr.

»Du willst doch bei uns anfangen«, meinte Durant trocken.

»Quatsch«, winkte Sievers ab, »aber irgendwas in meinem Bauch sagt mir, dass sie auch Verletzungen vorne, möglicherweise auch im Gesicht hat.«

»Das werden wir gleich sehen.«

Sie betraten das Zimmer und schlossen die Tür hinter sich. Hellmer war noch immer im Erdgeschoss. Durant vermutete, dass er sich entweder mit Fritsche oder der Tochter der Ermordeten unterhielt. Schweigend beobachtete sie Andrea, wie sie die Tote begutachtete. Kaum eine Minute war vergangen, als Andrea sagte: »Sie ist seit etwa zwei Tagen tot. Die Leichenflecken sind nicht mehr wegdrückbar, die Totenstarre beginnt sich allmählich zu lösen. Ich schätze, sie wurde am Freitagabend umgebracht. Dafür spricht auch der doch etwas unangenehme Geruch. Hilfst du mir, sie umzudrehen? Aber vorsichtig.«

Corinna Sittlers Augen starrten an die Decke, der Mund war ein wenig geöffnet. Im Gesicht, im Brust- und Bauchbereich befanden sich mehrere Hämatome, eines davon so groß wie eine Männerhand.

»Wie ich vermutet hatte«, bemerkte Andrea Sievers lakonisch. »Da hat jemand ein paarmal ordentlich zugeschlagen. Jetzt kannst du die Fotos machen«, sagte sie zum Fotografen.

Als er fertig war, meinte er: »Bin ich entlassen?«

»Sicher.«

»Das heißt, es war ein langer und schmerzhafter Tod«, sagte Durant kopfschüttelnd. »Wer macht so was und warum?«

»Keine Ahnung. Aber ob die Schläge allein die Todesursache waren, wage ich zu bezweifeln.« Andrea Sievers holte aus ihrem Koffer ein Thermometer, mit dem sie zunächst die Raum- und anschließend die Körpertemperatur maß.

»Was meinst du damit?«

»Ich hab schon etliche Tote auf den Tisch gekriegt, die voller Hämatome waren, aber die Todesursache waren fast nie die Schläge, die sie abbekommen haben. Entweder wurden sie erschossen, erstochen, erwürgt, erdrosselt …« Sie drehte den Kopf von Corinna Sittler und fuhr fort: »Keine Gewalteinwirkung mit einem stumpfen Gegenstand, auch kein Genickbruch. Und es sieht auch nicht so aus, als hätte sie sich gewehrt.« Sie zuckte mit den Schultern. »Na ja, vielleicht ist sie an inneren Verletzungen gestorben, an inneren Blutungen, möglicherweise im Bauchraum, aber das erscheint mir nach der ersten Leichenschau eher unwahrscheinlich. Es ist ziemlich warm hier drin, zweiundzwanzig Grad, und ihre Temperatur beträgt immerhin noch knapp dreiundzwanzig Grad.«

»Hat die was in ihrem Mund?«, sagte Durant mit gerunzelter Stirn und beugte sich ein wenig weiter nach vorn. »Kannst du mal gucken? Ich glaub, da ist was drin.«

Andrea nickte wortlos, nahm eine Pinzette – die Kieferstarre hatte sich bereits gelöst –, drückte den Unterkiefer hinunter und zog ein sauber gefaltetes Stück Papier heraus. Sie sah Durant an und sagte: »Soll ich oder willst du?«

»Mach du.«

Andrea faltete das Papier auseinander, schüttelte kaum merklich den Kopf und reichte es gleich darauf Durant. Sie las und murmelte: »Confiteor – Mea Culpa. Kannst du mir das mal übersetzen?«

»Wieso? Kein Latein gehabt?«, fragte Andrea mit regungsloser Miene.

»Schon, ist aber ’ne Ewigkeit her. Mea Culpa, meine Schuld, das ist ein gängiger Begriff. Aber Confiteor?«

»Confiteor heißt ›Ich bekenne‹. Hat eine christliche Bedeutung, aber frag mich um Himmels willen nicht nach Details, ich hab seit Ewigkeiten keine Kirche betreten. Auf dem Zettel steht aber wortwörtlich ›Ich bekenne – meine Schuld‹. Ich frag mich nur, warum das mit Bindestrich geschrieben wurde. Na ja, mehr kann ich dir dazu leider nicht sagen. Aber wenn wir die Aufbahrung und das seitenverkehrte Kreuz auf dem Rücken hinzunehmen, muss es einen christlichen oder zumindest religiösen Bezug haben, wobei sie allem Anschein nach aber ein böses Mädchen gewesen war. Fragt sich nur, was dieses böse Mädchen getan hat, wofür es sich mehr unfreiwillig bekennt, und was seine Schuld ist. Aber darüber muss ich mir ja zum Glück nicht den Kopf zerbrechen, das überlass ich deinen kleinen grauen Zellen.«

»Na sauber! Wer vollzieht ein solches Ritual und warum?« Durant sah Andrea Sievers fragend an.

»Kein Kommentar. Lass mich meine Arbeit zu Ende bringen, und dann ab mit ihr in die heiligen Hallen der Ruhe und des Friedens.«

»Okay. Aber die Sittler hat Besuch gehabt, und es muss jemand gewesen sein, den sie kannte …«

»Na ja, ich würde nicht jeden in mein Schlafzimmer lassen«, meinte Sievers ernst, »es sei denn, es ist jemand, den ich kenne oder von dem ich möchte, dass er in mein Schlafgemach kommt. Und sie scheint sich mit jemandem verabredet zu haben. Dafür sprechen die Gläser, die Flasche Champagner und ihre Aufmachung. Es sollte wohl ein höchst erotischer Abend werden. Auch ist es eher ungewöhnlich, dass sich jemand in ihrem Alter im Intimbereich komplett rasiert. Ob sie wenigstens vorher noch ein bisschen Spaß hatte, werde ich dir mitteilen.«

Durant betrachtete die beiden Gläser mit zusammengekniffenen Augen und sagte: »An einem ist Lippenstift, und aus dem andern wurde, wenn ich das richtig sehe, nicht getrunken. Oder es wurde ausgewaschen und wieder hingestellt.«

Hellmer kam mit einem Mal herein und blieb vor dem Bett stehen. »Wieso hat mir keiner gesagt, dass wir weitermachen?«, fragte er vorwurfsvoll, eine Hand in der Hosentasche.

»Wir dachten, du hättest mitbekommen, wie unser Fotomensch das Haus verlassen hat«, erwiderte Durant nur.

»Hab ich nicht, weil ich mich mit der Tochter der Verblichenen unterhalten habe. Zumindest hab ich’s versucht.«

»Ohne mich?«

»Ohne dich.«

»Und was heißt, du hast es versucht?«

Hellmer winkte ab. »Die ist nur am Flennen. Du kannst ja gleich mal dein Glück versuchen.«

»Vielleicht mag sie dein Eau de Toilette nicht«, bemerkte Durant ironisch.

Ohne darauf einzugehen, fragte Hellmer: »Und was gibt’s hier Neues?«

»Sie ist seit etwa zwei Tagen tot, die Todesursache«, sagte Andrea Sievers und schüttelte den Kopf, »die kann ich noch nicht bestimmen. Wie immer sie auch umgekommen ist, das werden wir wohl erst bei der Obduktion feststellen.«

»Was bleibt denn noch? Gift?«, fragte Durant.

»Vielleicht«, hielt sich Andrea Sievers bedeckt. »Es gibt etliche Möglichkeiten, jemanden ins Jenseits zu befördern, ohne dass es äußere Spuren hinterlässt. Vielleicht hat ihr jemand was ins Glas getan.« Sie untersuchte die Tote mehrere Minuten lang, bis sie den Kopf schüttelte und sagte: »Ich kann auf den ersten Blick auch keine Einstiche erkennen.« Doch nach einer kurzen Pause: »Moment, hier haben wir was. Eine winzig kleine Punktion, kaum sichtbar. Hier, sieh selbst«, sagte sie zu Durant und deutete auf eine kleine Stelle in der Leistengegend. »Das werd ich mir mal genauer anschauen. Ich gehe ganz stark davon aus, dass ihr etwas injiziert wurde.«

»Also doch Gift?«

»Es muss nicht immer gleich Gift sein, eine Überdosis Insulin würde es auch schon tun. Was glaubst du, wie viele Morde mit Insulin oder Digitalis oder Strophanthin begangen werden? Viel mehr, als du denkst.«

»Und der Arzt stellt den Totenschein aus und vermerkt eine natürliche Todesursache. Richtig?«

»Korrekt. Das ist eine ganz perfide Methode. Einfaches Beispiel Digitalis. Herzkranke nehmen es unter anderem bei Rhythmusstörungen, aber stark überdosiert wirkt es absolut tödlich. In der Regel kommt der Hausarzt, weiß von den Herzbeschwerden, und wieder das alte Spiel. Jährlich sterben bei uns Tausende von Menschen durch Fremdeinwirkung, ohne dass die Polizei was davon weiß.« Sievers holte tief Luft. »Okay, dann ab mit ihr, ich schau nach, ob ich was finde, und geb dir Bescheid. Sollten wider Erwarten innere Blutungen die Todesursache sein, ist der Fall klar.«

»Nee, ist er nicht. Der ist so was von unklar.«

»Ciao, ich mach mich auf die Socken, alles andere ist euer Problem«, sagte Andrea Sievers und winkte Durant und Hellmer zu. Sie nahm ihren Koffer und ging nach draußen, Durant folgte ihr.

»He, mach dir nicht zu viel Stress, es reicht, wenn ich das Ergebnis morgen im Lauf des Tages hab.«

»Lass mich mal machen, der Abend ist sowieso gelaufen. Aufschneiden kann ich sie eh erst, wenn Bock, Morbs oder einer der andern dabei ist. Du kennst ja das Procedere. Ich entnehm ihr nur ein bisschen Blut und untersuch’s auf Fremdstoffe. Und du solltest dir am besten auch nicht die ganze Nacht um die Ohren schlagen, du hast die nächsten Tage bestimmt noch eine Menge zu tun. Ich bin dann mal weg.«

Durant sah ihr nach. Hellmer stand plötzlich wie ein Geist neben ihr und wollte sich eine Zigarette anzünden, doch Durant riss sie ihm aus der Hand.

»Nicht hier, okay?!«, fuhr sie ihn an. »Wenn du eine qualmen willst, musst du wohl oder übel rausgehen. Im Prinzip sind wir sowieso fertig, ich möchte mich jetzt mit der Tochter unterhalten.«

»Schon gut, schon gut«, wiegelte er ab. »Brauchst du mich noch?«

»Kannst nach Hause fahren, wir treffen uns morgen früh wie gewohnt im Büro.«

»Na denn, schönen Abend noch«, sagte er und verabschiedete sich.

»Dito.«

Sie warf noch einen Blick ins Badezimmer, einem ebenfalls großen Raum mit einer halb in den Boden eingelassenen ovalen Wanne, die genügend Platz für vier Personen bot und auch eine Whirlpoolfunktion hatte, einem gleichfarbigen Bidet, einer Toilette und einem Doppelwaschbecken, über dem ein riesiger beleuchteter Spiegel angebracht war. Auf einer Extraablage befanden sich unzählige Parfumflakons, die in perfekter Ordnung nebeneinander standen. Selbst ein Fernseher sowie ein Sessel und ein kleiner Tisch am Fenster fehlten nicht. Alles war in hellen, doch unterschiedlichen Farbtönen gehalten, ein Bad, das zum Verweilen, Entspannen und Ausruhen einlud. Doch die Frau auf dem Bett würde nie mehr Gelegenheit haben, dieses exklusive Bad zu betreten.

Durant ließ die Tür offen und begab sich nach unten. Im Wohnzimmer, das an Luxus den anderen Zimmern in nichts nachstand, saß die Tochter der Toten auf der hellbraunen Ledercouch. Sie hatte ein Glas Rotwein vor sich stehen, die Flasche daneben war fast leer. Durant nahm in dem Sessel neben der jungen Frau Platz, die die Kommissarin aus verweinten Augen ansah. Sandra Kohler vom KDD erhob sich auf ein kaum merkliches Zeichen von Durant hin, verließ den Raum und machte die Tür hinter sich zu.

»Frau Sittler, ich bin Hauptkommissarin Julia Durant und werde diesen Fall bearbeiten. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um dieses Verbrechen aufzuklären. Dazu benötige ich aber Ihre Hilfe. Sind Sie in der Lage, mir ein paar Fragen zu beantworten?«

Sie sah Durant stumm an und nickte. Sie hatte ein hübsches, ebenmäßiges Gesicht mit langen dunklen Haaren, nicht ganz so dunkel wie die ihrer Mutter, ungewöhnlich blauen Augen, die einen starken Kontrast zu den Haaren bildeten. Ihre Haut hatte einen natürlichen Braunton, die Lippen waren voll und rot, ohne dass mit Lippenstift nachgeholfen wurde oder werden musste. Eine junge Frau, die keinen Ring am Finger trug und offenbar solo war.

»Würden Sie mir bitte Ihren Vornamen verraten?«

»Leslie-Joan, aber alle nennen mich nur Les«, antwortete sie kaum hörbar.

»Das ist ein schöner Name, vor allem ungewöhnlich.«

»Mein Vater ist Amerikaner, aber ich kenne ihn gar nicht. Meine Mutter war neunzehn, als ich geboren wurde, und er war ein Soldat, mehr weiß ich nicht.«

»Verstehe. Ich weiß, es ist schrecklich, einen Angehörigen auf eine solche Weise zu verlieren, aber Sie würden mir sehr helfen, wenn Sie …«

»Ich bin so gegen sechs hergekommen«, sagte Leslie leise, »doch das hab ich schon Ihrem Kollegen erzählt.«

»Herrn Fritsche oder Herrn Hellmer?«

»Fritsche.«

»Und weiter?«

»Ich habe seit gestern versucht meine Mutter zu erreichen, aber sie hat nicht abgenommen. Das war völlig ungewöhnlich für sie, denn wir haben jeden Tag miteinander telefoniert, auch wenn die Gespräche meist nur ein paar Minuten dauerten und alles andere als tiefschürfend waren. Das Telefon war außer dem Internet ihre einzige Verbindung zur Außenwelt.«

Julia Durant stutzte, zog die Stirn in Falten und fragte: »Was meinen Sie damit? Wieso waren das Telefon und das Internet die einzige Verbindung zur Außenwelt? Hat Ihre Mutter das Haus nicht verlassen?«

Leslie schüttelte den Kopf und lächelte zum ersten Mal an diesem Abend, ein Lächeln, das so schnell wieder verschwand, wie es aufgetaucht war. Sie nahm das Glas, trank einen Schluck und sah Durant mit leerem Blick an.

»Nein, sie hat seit etwa zehn Jahren nur hier im Haus gelebt. Agoraphobie, falls Ihnen das etwas sagt.«

»Sicher, Angst vor großen Plätzen oder überhaupt sich im Freien aufzuhalten.«

Copykill