Claus Fussek / Gottlob Schober

ES IST GENUG!

Auch alte Menschen haben Rechte
Deutschlands bekannteste Pflegekritiker
klagen an

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Claus Fussek / Gottlob Schober

Claus Fussek, Jahrgang 1953, ist Diplom-Sozialpädagoge und seit 1978 für den ambulanten Beratungs-und Pflegedienst »Vereinigung Integrations-Förderung e.V.« tätig. Für sein Engagement gegen Missstände in der Pflege wurde ihm 2008 das Bundesverdienstkreuz verliehen.

Gottlob Schober, Jahrgang 1966, gehört seit 2001 zum Redaktionsteam von »Report Mainz«, wo er seit 2018 Chef vom Dienst ist. Zusammen mit Claus Fussek schrieb er den »Spiegel«-Bestseller »Im Netz der Pflegemafia«.

Impressum

Erweiterte eBook Ausgabe März 2019

Droemer eBook

© 2013 Knaur Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit

Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: © FinePic/shutterstock.com

Illustrationen: Thomas Plaßmann, Essen

ISBN 978-3-426-42204-5

Hinweise des Verlags

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.


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Wir freuen uns auf Sie!

Endnoten

zitiert nach: www.careslam.org

zitiert nach: www.careslam.org

Die Not wächst – doch es ändert sich nichts!

Vorwort zur Neuausgabe

In Deutschland herrscht Pflegenotstand. Seit Jahrzehnten. Schon am 25. Juni 1987 sagte der damalige Vorsitzende des Deutschen Berufsverbands Altenpflege (DBVA), Günter Langkau: »Es ist würdelos, jemanden in seinem Kot liegen zu lassen, weil die Zeit zur Pflege fehlt.« Langkau war mutig, weil er eine unbequeme Wahrheit aussprach. Doch nichts passierte.

Als im September 2017 der Krankenpflegeauszubildende ­Alexander Jorde in der ARD-»Wahlarena« beklagte, dass die Würde von Menschen in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen »tausendfach verletzt« werde und es »Menschen gibt, die stundenlang in ihren Ausscheidungen liegen«, war das Erstaunen von Kanzlerin Angela Merkel groß. Es wirkte, als hätten die Probleme in der Altenpflege nicht die oberste Priorität für sie.

Immerhin besuchte sie dann im Juli 2018 auch ein Pflegeheim in Paderborn. Dort roch es nicht nach Kot und Urin, sondern nur nach frisch gebackenem Streuselkuchen und Kaffee. Wenn man Medienberichten glaubt, war das Heim auf Hochglanz poliert, geschmückt mit blauen Tischdecken und weißen Rosen. Was für eine Botschaft! Was für eine absurde Strategie. Kann die Pflegebranche von der Politik erwarten, dass sie die wirklichen Probleme in der Pflege angeht, wenn Angela Merkel bei ihrem Besuch eine im Großen und Ganzen heile Welt vorgegaukelt wird? Es ist genug! Seit über 30 Jahren liegen alte, pflegebedürftige, hilflose, besonders schutzbedürftige, sterbende Menschen »in ihren Ausscheidungen«, weil Pflegekräfte angeblich keine Zeit haben, sie zur Toilette zu führen. Sie werden festgebunden, weil sie sturzgefährdet sind. Sie werden mit Psychopharmaka ruhiggestellt, weil niemand die Zeit hat, sich um sie zu kümmern. All diese Menschenrechtsverletzungen finden in zertifizierten, qualitätsgeprüften Pflegeheimen und Krankenhäusern statt!

Und all das hat Angela Merkel bei ihrem Besuch in Paderborn nicht beklagt. Vielmehr ging es vornehmlich um die Situation der Pflegekräfte. Die Bundeskanzlerin will den Beruf ­attraktiver gestalten. Wichtig seien dabei Gehalt, Ausbildung, aber auch Arbeitszeiten. Forderungen, gegen die niemand in Politik und Gesellschaft argumentiert. Niemand ist gegen eine bessere Bezahlung von Pflegekräften, niemand ist gegen die Verbesserung von Rahmen- und Arbeitsbedingungen in der Pflege. Hier gibt es keine Gegner. Trotzdem ist eine Umsetzung der Regierungspläne offensichtlich kaum möglich.

Es ist genug! Die Pflegepolitik tritt seit Jahrzehnten auf der Stelle. Können Sie sich noch an die Pflegereformen von Ulla Schmidt, Philipp Rösler, Daniel Bahr und Hermann Gröhe er­innern? Jede einzelne Reform jedes Ministers wurde als Durchbruch gefeiert, die Situation der Menschen hat sich nicht wirklich verändert. Auch Jens Spahn macht auf uns den Eindruck, als wolle er in die Fußstapfen seiner Vorgänger treten. Er suggeriert zwar großes Interesse für das Wohl hilfebedürftiger Menschen, wenn man sich seine Pläne aber genauer anschaut, kommen Zweifel, ob sie realisierbar sind. Pflegepolitiker unterscheiden sich nur dem Namen nach und sind seit Jahrzehnten austauschbar. Es ist fünf nach zwölf. Die Lösung der Probleme ist nicht in Sicht. Die Pflegelobbyisten sind mächtig. Pflegebedürftige Menschen haben kaum etwas zu melden.

Es ist genug! Seit mehr als 30 Jahren sprechen wir in Deutschland von Pflegenotstand und stehen bei der Lösung der Pro­bleme immer noch am Anfang. Pflegekräfte fehlen zu Tausenden. Es gibt noch immer keinen bundeseinheitlichen Personalschlüssel. Die Politik will zwar jetzt 13000 neue Pflegestellen schaffen. Doch das wirkt absurd. Stellen Sie sich vor, es wäre Hochwasser. Die Rettungskräfte fordern 80000 Sandsäcke, damit die Innenstadt nicht absäuft. Die Politik zeigt sich verständnisvoll und sichert 8000 Sandsäcke zu. Die Katastrophe ist, wie in der Pflege, unvermeidbar.

Es ist genug! Hilflose Menschen dürfen nicht ihrem traurigen, trostlosen Schicksal überlassen werden. Vieles in der Pflege ist verhandelbar – Menschenrechte sind es nicht.

Die Pflegebranche zeigt sich seit Jahrzehnten resistent gegenüber längst fälligen Veränderungen. Es ist gefährlich, wenn Heim­betreiber mit schlechter Pflege viel Geld verdienen können. So kann sich an der Situation alter und pflegebedürftiger Menschen wenig ändern. Wir müssen uns endlich eingestehen, dass das gesamte Pflegesystem kurz vor dem Kollaps steht und auf den Prüfstand muss. Der Personalmangel ist überall spürbar. Viele der guten Pflegekräfte verlassen den Beruf, und wir holen uns Ersatz aus aller Herren Länder. Wie lange wollen wir noch über die schlechten Arbeitsbedingungen reden? Seit Jahrzehnten heißt es aus der Pflege: »Wir sind am Ende, die Pflege steht unmittelbar vor dem Kollaps.« An den Missständen in der Pflege hat sich in den vergangenen Jahrzehnten leider nichts ­geändert, auch nicht durch die vielen milliardenschweren Pflegereformen.

Warum dokumentieren Pflegekräfte nicht endlich ehrlich und selbstbewusst nur noch das, was sie tatsächlich leisten können? Warum solidarisieren sich die Pflegekräfte nicht unterei­nander und verbünden sich mit den ihnen anvertrauten, schutzbedürftigen Menschen und ihren Angehörigen? Dieses Bündnis wäre dann mächtiger als alle Piloten und Lokomotivführer in diesem Land zusammen!

Doch das kann noch dauern. In einem typischen, ehrlichen, emotionalen Brief schildert eine resignierte Altenpflegerin, die seit über 20 Jahren berufstätig ist, ihre Erfahrungen (aus Angst vor ihrem Arbeitgeber nur anonym):

»Ich beende mein Schweigen – ich lüge nicht mehr! Ich prostituiere mich nicht mehr für meinen Arbeitgeber. Ich rede nichts mehr schön. Ich sage, wie es ist, auch den Kontrollorganen. Ich rebelliere und bin unbequem. Jeder, der Unrecht an den uns anvertrauten, wehrlosen Bewohnern zu verantworten hat, kann und muss sich wehren. Kaum einer der pflegebedürftigen Menschen kann sich gegen ihm zugefügtes Unrecht wehren. Viele haben Angst vor uns – ich kann den Menschen inzwischen nicht mehr in die Augen schauen! Ich schäme mich!«

Auch auf der Internetseite careslam.org äußern sich Menschen genau in diesem Sinne. CareSlam bietet eine Plattform für Menschen, die eng mit der Pflege verbunden sind und die über Missstände, Personalmangel und die Zwänge der zunehmenden Ökonomisierung in der Pflege sprechen möchten.

»Wir können nicht von Politikern erwarten, dass sie irgendetwas in der Pflege ändern, wenn wir selbst nicht einfach mal aufstehen, den Mund aufmachen. Es ist ganz in Ordnung, dass man sagt, Pflege muss aufstehen, Pflege muss laut sein. Aber nicht nur laut sein, sondern einfach mal sagen: ›Nein! Das mache ich nicht!‹«

Claudia Hanke[1]

»Werdet laut. Sprecht es aus. Schreit es raus. Und flüstert, wo es den Flüsterton braucht.«

Prof. Dr. Michael Bossle[2]

Laut sein. Unrecht an alten und pflegebedürftigen Menschen öffentlich machen. Noch sind mutige Pflegekräfte in der Minderheit. Sie gelten oftmals als Nestbeschmutzer. Auch die zitierte Pflegerin leidet unter den Konsequenzen ihres Mutes:

»Ich bin jetzt bei meinen Vorgesetzten nicht mehr anerkannt, ich habe nicht mehr meine Ruhe, ich werde beobachtet und kontrolliert, ich bin unbequem. Das ist alles sehr anstrengend für mich!«

Solange Hilferufe von engagierten Pflegekräften nicht ernst genommen und sie für ihre Kritik bestraft werden, wird sich an der Situation in der Pflege wenig ändern.

Leiter von gut geführten Einrichtungen nehmen jede Beschwerde ernst und gehen ihr intensiv nach. In schlecht geführten Häusern ist das Gegenteil der Fall. Hier gelten kritische Pflegekräfte und Angehörige oftmals als Querulanten. Wir haben Fälle recherchiert, wo Pflegeeinrichtungen sogar Hausverbote ausgesprochen haben. Engagierte und mo­tivierte Pflegekräfte müssen sich mit kritischen Angehörigen solidarisieren. Würden in allen Häusern Personen, die in der Pflege Verantwortung tragen, ihrer Verantwortung nachkommen, dann könnte es diese Missstände in dem Ausmaß nicht geben.

»Wir müssen offensiv und kompromisslos dafür eintreten, dass ethische Gesichtspunkte und die verfassungsrechtlich garantierte Menschenwürde in den Mittelpunkt von Pflegepolitik und Pflegealltag gestellt werden.«

(Pflegeethik Initiative e.V.; www.pflegeethik-initiative.de)

Der Fisch stinkt vom Kopf, das war schon immer so. In gut ­geführten Häusern gibt es Fort- und Weiterbildung für alle Mitarbeiter. Da sind Supervision, psychologische Begleitung und Seelsorge Standard. Es arbeiten dort auch Sozialpädagogen, Hospizmitarbeiter, Psychologen und therapeutisch geschultes Per­sonal. Es sind viele Menschen da, die sich kümmern. In diesen Häusern gibt es ein Frühwarnsystem, ein Bündnis aller Berufsgruppen und Menschen, die für Pflegebedürftige Verantwortung übernehmen. Die Heimaufsicht ist überflüssig, weil sie 365 Tage im Haus ist. Schlechte Pflege, Missstände, Skandale werden dort schnell aufgedeckt oder sogar präventiv verhindert.

Warum schämt sich niemand? Warum fehlt eine gesellschaftliche Empörung? Warum gibt es kein Mitgefühl, keinen Aufschrei, kein Bedauern? Warum werden diese grausamen, beschämenden Formen der Demütigung, Erniedrigung, die »tausendfache Verletzung der Menschenwürde« weder von Kirchen und Menschenrechtsgruppen thematisiert?

Es ist genug! Wir brauchen eine »MeToo«-Diskussion auch in der Pflege. Seit vielen Jahren berichten mutige, ehrliche verzweifelte Pflegekräfte und Angehörige über Machtmissbrauch, Diskriminierung, Demütigungen, Erniedrigung, Gewalt und den würdelosen Umgang mit alten und pflegebedürftigen Menschen in Pflegeeinrichtungen.

Warum gibt es keinen öffentlichen, gesellschaftlichen Aufschrei, vergleichbar mit der »MeToo«-Debatte? Warum wird geschwiegen, geleugnet und relativiert? Haben wir uns an die schlimmen Zustände in der Pflege längst gewöhnt? Selbst in der Missbrauchsdiskussion haben führende Vertreter der katholischen Kirche sich klar und eindeutig positioniert und ein grundsätzliches Versagen der Kirche eingeräumt: »Wir haben zu lange weggeschaut, um der Institution willen«, sagte Kardinal Marx. Er schäme sich für die Verbrechen und »das Wegschauen von vielen, die nicht wahrhaben wollten, was geschehen ist, und die sich nicht um die Opfer gesorgt haben. Das gilt auch für mich. Wir haben den Opfern nicht zugehört!«

Und am Ende des Lebens? Auch hier muss sich vieles ändern. Nur wer menschenwürdig gepflegt wird, kann auch menschenwürdig sterben. Dazu gehören empathische und ausgebildete Pflegekräfte, aber auch Hospiz- und Palliativmedizin. Eng mit diesem Thema verbunden ist die Diskussion um Sterbehilfe. Nicht durch die Hand, sondern an der Hand eines anderen sterben – das ist unsere persönliche Überzeugung. Immer mehr pflegebedürftige Menschen erzählen uns, dass sie den Eindruck haben, »der Gesellschaft zur Last zu fallen«. Wenn wir es in gemeinsamer Verantwortung in dieser reichen Gesellschaft nicht sehr bald schaffen, dass wir allen pflegebedürftigen, sterbenden Menschen garantieren, dass sie im letzten Lebensabschnitt palliativ, schmerzfrei versorgt werden können, dann dürfen wir diese verzweifelten Menschen auch nicht am Sterben hindern. Wir werden uns dann offen und ehrlich mit den Möglichkeiten der aktiven Sterbehilfe beschäftigen müssen, weil dann niemand mehr da ist, der uns pflegt! Es wäre eine Bankrotterklärung für unsere Gesellschaft. Aber es wäre wenigstens ehrlich!

Deshalb fordern wir: Ein Pflegeheim ohne Hospiz- und Palliativkultur, ohne palliative ärztliche und pflegerische Versorgung kann und darf es nicht mehr geben. Über die Finanzierung ­dieser Leistungen kann nicht ernsthaft verhandelt werden! Auf einer Palliativstation, in einem Hospiz werden nur wenige Menschen nach aktiver Sterbehilfe verlangen!

Wo elementare Grundrechte und Menschenwürde infrage gestellt werden, wo es um die tägliche medizinische und pflegerische Versorgung von alten, kranken, behinderten und pflegebedürftigen Menschen, um menschenwürdige Arbeitsbedingungen geht, müssen geschäftliche Interessen ihre Grenzen haben!

Wir brauchen dringend ein Ende der Allianz des Schweigens und Wegschauens! Jetzt brauchen wir einen Aufstand der Anständigen! Bei diesem Thema darf es keine Gegner geben! Früher oder später geht es uns doch alle an! Das Thema »Pflege« ist längst zur Schicksalsfrage der Nation geworden – nun muss endlich gehandelt werden!

 

Claus Fussek

Gottlob Schober

Einführung