Vincent Klink

Sitting Küchenbull

Gepfefferte Erinnerungen eines Kochs

 

Sitting Küchenbull

 

I’m gonna sing: hey Zwiebelring,

auch du, my little chicken wing,

swing her zu mir, zu Mutter.

I wanna shout out Sauerkraut,

yeah, shout it loud and shout it proud:

Ich spare nicht mit Butter.

 

Cry me a river Spiegelei

auf einem Berg Kartoffelbrei

I do it mit Spinat.

Yes, I will croon the Freilandhuhn,

vom white wine ist es schon ganz duhn

und innendrin sehr zart.

 

Mein Lieblingsduft heißt Rotweinhauch

I’ll never need no Waschbrettbauch,

ich stemme keine Hantel.

Ich steh am Eigenherd und brat’,

I’m gonna fart the Zwiebeltarte

im coolen Schinkenmantel.

 

Hoch in der Gunst steht Bratendunst.

Was ist die wichtigere Kunst,

das Kochen oder’s Singen?

Dies ist mein erstes Menschenright:

I’m gonna fight for Essenszeit! - - -

Man mag den Nachtisch bringen.

 

Wiglaf Droste

Vorspiel

Neunzehnhundertneunundvierzig, in der Tat ein Spitzenjahrgang, und meine Geburt war auch ein Donnerschlag. Kaum war Mama auf den Beinen, wurden alle Freunde eingeladen, und eine Bowle sollte den neuen Erdenbürger angemessen feiern. Wein wurde mit Sprudel vermischt, und Zitronenscheiben dazugeworfen. Die erste Weinbuddel war okay, die anderen beiden Flaschen sahen genauso aus, aber sie enthielten Birnenschnaps. Wie mir berichtet wurde, geriet die Feier sehr temperamentvoll. Die Insassen des Narrenschiffs waren alle dermaßen blau, dass man das Baby vergaß. Ich lag mit vollen Windeln einsam in meinem Kinderzimmer und erbrütete mir den ersten Psychoschaden.

Landluft

Es roch nach Kuhstall. Überall lag der Geruch der Tiere in der Luft, eigentlich begleitete er meine ganze Jugend. Papa, von Beruf Tierarzt, roch auch so. Er war ein Riese und stolz darauf, wie ein Römer auszusehen: große Nase, festes Kinn, langer schmaler Riesenschädel. Und immer trug er kurze weiße Hemden. Nicht damit man seine Muskeln bewundern konnte, nein, seine Oberarme mussten frei sein, denn so richtig zu Hause waren sie tief im Unterleib der Kühe, denen er an den Eierstöcken herumspielte. «Künstliche Besamung ist prima, aber die Kuh muss trotzdem Lust verspüren!» Deshalb lehnte er Gummihandschuhe ab: «Mit dene Dinger han i koi Gfühl!» Seine Geburtenzahlen waren beim Oberveterinäramt legendär.

Papa war nicht rund und weich, sondern dick und fest. Für den abgemagerten Sohn geradezu ein Gigant. Immer wieder dachte ich, vor ihm hätte sogar Obelix Angst gekriegt. Wer schafft es schon, an einem neuen Mercedes Diesel den Schaltknüppel abzureißen? Ein andermal fehlte inmitten eines hektischen Verkehrsmanövers unversehens ein Stück des Lenkrads. Seine schwäbischen Bauern mochten das Ungestüme und auch seine direkte und praktische Art. So war der Tierarzt sogar bei den Bäuerinnen Hahn im Korb, denn nach den Schweinen und Kühen verarztete er sie gleich mit, half mit Salben gegen aufgerissene Hände und hatte selbst gegen schlimmere Malaisen immer ein Mittelchen parat.

Seine Schule des Lebens war der Krieg gewesen, betonte er immer wieder. Wenn er vom Krieg und seinen Bravourstückchen erzählte, konnte ich gar nicht begreifen, wie man den hatte verlieren können. «Da war sicher Beschiss im Spiel», dachte ich, besonders nach der Lektüre der Landser-Heftchen, die ich damals sehr liebte. Von heute aus gesehen schilderten sie bestenfalls romanhaften Soldatenscheiß, wenn nicht gar Lug und Trug. Manchmal erging ich mich lauthals über die von mir verehrten Panzerfahrer und sonstige Recken, und Papa hatte dem nichts zu entgegnen. Ich ahnte bereits, dass er sich nichts mehr wünschte, als dass ich mich auch einmal zu so einem hünenhaften Helden auswachsen würde.

Es war noch früh am Morgen. Ich war sieben Jahre alt, hatte Ferien und befand mich wie so häufig mit Papa auf Tournee. Er liebte es, einen Beifahrer an seiner Seite zu haben. Für mich war die Fahrt auf die Bauernhöfe immer ein kleines Abenteuer. Schon an der Hofauffahrt wurde das Starktonhorn, das ursprünglich von einem Sattelschlepper stammte, nachhaltig betätigt. Es machte infernalischen Lärm und sollte die Bauern vom Feld oder aus entlegenen Winkeln des Gehöfts herbeizitieren. Sofort war die Bäuerin zur Stelle. Der Veterinär schrie nach Seife – Wasser – Handtuch, und die Frau flitzte los, denn die künstliche Besamung war eine schnelle Verrichtung.

Aus einem Tiefkühlbehälter zog Papa ein Samenröhrchen und befestigte es am Ende eines langen Metallstabs. Dieses nahm er schützend in seine Faust und cremte sie, wie auch den ganzen rechten Arm, mit Vaseline ein. Dann versenkte er sie langsam, fast zärtlich mitsamt dem Stab ins Hinterteil der Kuh. Oft sagte er: «Weischt, eigentlich wird die Kuh um etwas Schönes betrogen, deshalb versuch ich, dem Tier so viel Spaß wie möglich zu geben, denn eindeutig, sie nimmt dann viel besser auf.»

Papa steckte bis zur Achsel in dem Vieh, der Metallstab reichte ihm fast bis an die Schulter. Er drehte den Arm, als wolle er tief im Inneren eine Schraube eindrehen. Diese Bewegung diente dazu, durch den Muttermund in die Gebärmutter zu gelangen. War das Ende des Stabs mit der Samenpatrone dort richtig platziert, zog er den Arm heraus, ließ den Stab jedoch drin. Nun drückte er fest auf dessen herausragendes Ende, wodurch in der Kuh die Samenpatrone aufplatzte – eine künstliche Ejakulation. Der Stab wurde nach dieser Verrichtung schnell aus dem Hinterteil der Kuh gezogen, und die Waschungen des Tierarztes begannen.

Dann kam der gemütliche Teil. Die Bäuerin ging voraus zur Küche und Vater mit wehendem weißem Arztkittel zügig hinterher. Die Nähe einer Küche beschleunigte stets seinen Puls. Im Haus angelangt, ließ er sich auf einen Stuhl krachen, und ich nahm mir ebenfalls einen. Die Lehne wurde von einem geschnitzten Steg zusammengehalten, auf dem als abgeschabtes Relief eine Sonne zu erkennen war. Alles wirkte etwas verschrammt, auch der ganze mit Ölfarbe gestrichene Raum, den in Augenhöhe ein Band dunkelgrüner Ziermalerei säumte. Hier war schon lange nicht mehr gestrichen worden, dafür aber exzessiv geschrubbt, sodass es weder an der Ecke zum Flur noch an Stuhl und Tisch mehr scharfe Kanten gab.

Papa war der Mittelpunkt des Geschehens. Sein beträchtlicher Ranzen stand vor wie ein Bergrücken, er hätte darauf bequem das Glas Most abstellen können, das die Bäuerin ihm reichte. «Net irgendein Moscht», erklärte sie. Papa hielt das ehemalige Senfglas gegen das Licht. Es war randvoll, kleine Bläschen stiegen auf. «Bieramoscht, der isch no ganz frisch ond bizzelt no!» Sie schrie fast, aber das war ich schon gewohnt. Die Bauern schrien andauernd. Es mochte davon kommen, dass sie zwar meist alles andere als reich waren, aber ein freies Leben ohne Nachbarn führten. Auf den Gehöften musste man sich oft um Ecken herum unterhalten, gegen das Kuhgebrüll ankämpfen oder auf weiten Wiesen und Feldern die Verbindung zueinander aufrechterhalten.

Viel zu hektisch setzte sich Papa das Glas an den Mund, und ein Schwall Most schwappte auf den Tisch. Mit dem Ärmel des Kittels wischte er die Lache auf und polierte, gedankenverloren hin und her rubbelnd, die Eichenplatte. Dann nippte er an der klaren Flüssigkeit, denn bei Birnenmost ist Vorsicht geboten, man kann sich Verätzungen zuziehen. Papa zog keine Grimasse wie so oft, war unversehens wieder voll da, und spreizte den Ellenbogen ab, als wolle er das Behältnis mit einem Militärgruß beehren. So war es aber nicht, er brachte sich lediglich in eine günstige Einschüttposition und sog den Most in sich hinein wie ein Verdurstender. Das leere Glas stellte er mit Wucht auf den Tisch zurück.

Die Bäuerin kannte den Veterinär allzu gut und schenkte mit dem Krug schon wieder hurtig nach. Mich hatte sie jetzt offensichtlich auch bemerkt, auf dem Weg zum Spülstein renkte sie den Kopf und rief über die Schulter: «Du magsch sicher einen Quittensaft.» Sie ging hinaus in den Flur und kam mit einer Weinflasche zurück, die mit einer roten Gummikappe verschlossen war. Sie zerrte daran, ohne den Verschluss abzukriegen. «Gib her», knurrte der Arzt. Er riss und zog, sein Gesicht lief rot an, und unter seinem starken Schnaufen zerbröselte die Gummikappe. «Sag mal, » ächzte er die Überreste an, «sag mal, isch ja ein steinaltes Cuvee, hat die Quitten noch der Hauptmann von Kapharnaum geerntet?»

Die Bäuerin guckte zu ihm herüber und dachte sicher: «Von was schwätzt der eigentlich?» Sie gab etwas Saft in ein weiteres Senfglas, drehte den Wasserhahn auf und verdünnte mit Wasser. Mir schmeckte das Gemisch, wenn auch nicht so gut wie Sinalco, diese neu erfundene Orangenlimonade, die bei Ausflügen manchmal spendiert wurde. Vielleicht war die Limo aber nur deshalb so toll, weil ich sie mit meinem älteren Bruder teilen musste. Werner war stärker und nahm sich immer mehr, als ihm zustand. Egal, jetzt war ich solo, und Quittensaft gab’s genügend. Die Bäuerin wagte nicht, sich zu dem Most trinkenden Koloss zu setzen. Sie schaute ihn an wie ein Blindenhund das Herrchen, während der mit seiner großen Nase tief im Glas steckte. Seine roten Backen hatten zu glühen begonnen, und sein Grübchen am Kinn teilte das Gesicht bedeutungsvoll.

Nun saßen wir entspannt auf unseren Stühlen. Der künstliche Besamer schob seinen Hut «auf Durst», wie er das nannte, also in den Nacken, und streckte der Bäuerin wieder sein Glas hin. Papa trug einen komischen Trachtenhut, den er nicht zu Unrecht Speckdeckel nannte. Auf Tournee zu den Bauern nahm er ihn nie ab, denn von den feuchten Balkendecken der Kuh- und Schweineställe segelte so allerhand herab.

Die Bäuerin war viel jünger als mein Vater und hatte ein langes Gesicht. Ihre Haare waren hochgesteckt, Strähnen ragten aus diesem Gewölle, als wolle es gerade explodieren. Auf mich wirkte sie so richtig energiegeladen: «Mit der möchte ich auch keinen Streit haben», dachte ich. Inzwischen hatte sie Blut- und Leberwürste auf ein Holzbrett gelegt, schenkte das Glas wieder voll und nahm einen riesigen Brotlaib in den Arm. Mit der linken Hand klemmte sie ihn unter den beträchtlichen Busen, mit der rechten säbelte sie in hohem Bogen hindurch. Oh. Es sah aus, als wolle sie sich ins Herz stechen. Die Brotscheibe war an der Rinde ungefähr einen Zentimeter dick, am anderen Ende lief sie flach aus. Mit einem Klack fiel sie auf den Tisch. Das Messer ruckte wieder in die Nähe des Herzens, und die gefährliche Übung wurde mit beiläufiger Behändigkeit wiederholt. Dann beugte sich die Frau über das Waschbecken und klopfte sich die Krümel von der gepunkteten Kittelschürze. Diese war sicher schon tausendmal gewaschen und oft geflickt worden, aber sauber und vom mehligen Blau eines fahlen Morgenhimmels.

Die Wurst roch verführerisch nach Majoran und ein klein wenig nach Verwesung, ein Hautgout, den man von Kutteln kennt oder dem Innenleben einer Sau. Dazu kamen das Aroma des Stalls von nebenan und eine gewisse Würze von Scheuerpulver. Die Bäuerin selbst wirkte wie mit frischer Luft abgerieben und so hell geschrubbt wie die Eichenbretter des Küchentischs. Vater schaute sich eine Blutwurstscheibe genau an. «Die Fettbröcklein habt ihr präzis geschnitten. Gut gewürzt, Kompliment. Am Piment habt ihr nicht gespart.» Die Bäuerin hantierte in der Küche, stellte einen großen Topf mit Wasser aufs Feuer. «Ja, die Gewürze, die mahlen wir in einer alten Kaffeemühle.» Sie deutete in Richtung eines Küchenregals. So eine Mühle hatten wir auch, «Zassenhaus» stand darauf, das weiß ich heute noch.

Der Vater wurde unruhig: «Fertig mit Vesper, Bub, wir müssen weiter.» Die Bäuerin hatte gerade einen großen Brocken Rindfleisch in der Hand, den sie im fast kochenden Wasser versenkte. «Siedfleisch will der Mann, wenn er vom Feld zurück isch!», und ohne Atem zu holen, schaute sie meinen Vater an: «Wie viel?» – «Gibsch mir einen Zehner und vier Würste.»

 

Während der Nachhausefahrt auf Schwäbisch Gmünd zu, wo wir als alteingesessene Familie sozusagen zu den Upper-Class-Aborigines gehörten, predigte Papa, wie er das von Opa gelernt hatte. Der war nämlich Lehrer. Von früh bis spät hatte ich meinen Altvordern geduldig zuzuhören, was mir schwer auf die Nerven ging. Die Stentorstimme von Papa Alfred drang sogar in meinen abgeschalteten Kopf und sickerte ins Unterbewusstsein. Deshalb kann ich immer noch genau nacherzählen, was ich des Tierarztes Siedfleisch-Vorlesung nennen möchte.

«Wenn es um gekochtes Fleisch geht, muss man sich zweierlei merken: Will man gute Brühe oder gutes Fleisch? Kocht man nur Knochen aus, dann möglichst die Brustkernknochen vom Rind, diese enthalten am meisten Geschmack, oft mehr als das Fleisch. Werden also die Knochen ausgekocht, werfen wir sie in kaltes Wasser, und mit dem Erwärmen der Flüssigkeit werden alle Inhaltsstoffe aus den Gebeinen gesogen. Beim Siedfleisch will man genau das nicht, dort soll die Kraft im Fleisch bleiben. Deshalb das Wasser zum Sieden bringen und erst dann das Fleisch dazu. Die Hitze des Wassers lässt das Eiweiß des äußeren Fleischs sofort gerinnen, und das dämmt das Austreten von Fleischsaft ein. Die Hitze dringt immer weiter vor, und alle Säfte des Fleischs, die ja großteils aus Eiweiß bestehen, verdichten sich, gerinnen und halten so den Fleischbrocken saftig. Wir geben nur wenig Salz ins Kochwasser, denn die Garzeit beträgt sicherlich an die zwei Stunden. Wasser verdunstet dabei, und es wird sowieso alles salziger. Nicht alles Eiweiß bleibt im Fleisch, es tritt auch aus und steigt als Schaum auf. Wenn davon nichts untersprudelt, wir also die Brühe nur sanft am Köcheln halten, uns die Flüssigkeit entgegenlächelt, dann können wir den Schaum mit einem Löffel abheben, und die Brühe bleibt klar. Unter einer Stunde läuft bei Siedfleisch eh nichts!

He! Hörst du mir überhaupt zu? Verdammt, da quassle ich mir die Seele aus dem Leib, und der Spitz schläft ein. Vinzle, soll ich dir was sage? Du kannsch’s dir raussuche: Dumm auf d’ Welt komme, nix dazug’lernt und d’ Hälfte vergessa! So läuft’s bei dir!»

Ich verharrte still, denn diese Beurteilung meiner Geisteskräfte hatte ich schon tausendmal gehört. Die Lamentos des Alten verursachten bei mir keinen Minderwertigkeitskomplex mehr. Ich wusste, Papa war ein fleischgewordener Vulkanausbruch, er entlud sich mit Wucht, und wenig später war er wieder ausgeglichen, und nichts erinnerte mehr daran. Die langsam verglühende und ewig warme Lava des Nachtragens und der Aufrechnung, die gab es bei ihm nicht. Wenn er mir eine reinhaute, konnte es sein, dass er nach fünf Minuten zornrot fragte, warum ich beleidigt sei. Sagte ich dann: «Ehhh, ich kriege eine Backpfeife und jede Menge Geschrei an den Schädel und soll auch noch applaudieren?», grunzte er nur: «Verdammt Büble, man wird ja noch gutgemeinte Hinweise geben dürfen.»

Zu Siedfleisch wusste er einiges zu berichten: «Die Österreicher, die haben’s richtig drauf. Die hält man gemeinhin für blöd, aber bei allen diffamierten Volksstämmen, den Ostfriesen, Sachsen, den dummen Hessen und bei den oft gehänselten Schwaben ist es gleich: allesamt topfit. Die Hochdeutschsprechenden sind nur neidisch. Egal wie, die Österreicher sind genial, na ja, nicht alle, Deppen gibt’s überall, aber was das Essen angeht, da sind sie konkurrenzlos. Die haben sicher dreißig bis vierzig Varianten von Siedfleisch. Weißt Bub, die sind faul, und nur wer faul ist, lässt sich etwas Fortschrittliches einfallen. Siedfeisch verspritzt die Küche nicht, keine Fettdünste, es dümpelt ohne Lärm und Aufsicht vor sich hin, gibt gutes Fleisch und prima Brühe. Kalt kann man es essen, wie Aufschnitt, warm oder halbwarm, sogar als Vorspeise oder als Fleischsalat.»

Ich dachte mir, dann sei Mama also auch faul, denn Siedfleisch gab es mindestens einmal in der Woche. Es war immer am Samstagmittag an der Reihe, denn der Sonntag war ohne Flädlesuppe oder Markklößchensuppe kaum denkbar. Überhaupt, kamen die kürzeren und kälteren Nächte, wurden die Tage mit immer mehr Suppe befeuert: Grünkernsuppe, Brennsuppe, die nur mit braungeröstetem Schweineschmalz gemacht wurde, oder Riebelessuppe, das waren kleine Fitzel aus Nudelteig, in Bouillon gekocht. Für alles brauchte man Fleischbrühe als Grundlage. Ohne gekochtes Fleisch kam man nicht durch die Woche und schon gar nicht durch das Jahr.

Vom Segen der Vertriebenen

Anfang der fünfziger Jahre beschränkte sich unser Wissen über exotisches Essen auf die Erzählungen meines Vaters, der weit gereist war. Er hatte kein Reisebüro beanspruchen müssen, um Abenteuer zu erleben. Sein größtes Erlebnis war die Zeit der Feldzüge im Namen des Führers. Er war in Finnland, später in Norwegen bei einer österreichischen Gebirgsjägereinheit stationiert gewesen. Der gelang es, selbst im totalen Krieg bis auf einige Partisanen keine Feinde zu finden. Dafür war die Truppe sensationell verfressen. Die Österreicher waren mitten im totalen Krieg eine Insel des Pazifismus.

Papa als Militärveterinär unterstanden einige tausend Pferde, obwohl er sein Studium noch gar nicht beendet hatte. Die vielen Panzer, mit denen damals in den Wochenschauen geprotzt wurde, schufen ein ziemlich falsches Bild. Im Grunde war man gegen Russland nicht viel besser ausgerüstet als einst Napoleon: Pferde, Mulis und Esel zogen die Kanonen. Papas Kompanie musste die Tiere aufpäppeln, um sie in Richtung Leningrad wieder in den Einsatz zu schicken. Die dicksten Viecher aber, die Österreicher sind ja nicht blöd, wurden der Feldküche überstellt und einer edleren Bestimmung zugeführt (es gibt nichts Besseres als fettes Eselsfleisch). Die Aufsicht über die Köche oblag ebenfalls Papa. Er war damals schon ein fanatischer Hobbykoch und blieb es sein Leben lang. Seine Geschichten waren eine endlose Perlenkette traumhafter Schlemmereien: Pferdefilet in Hennessy-Cognac-Soße, Eselsgulasch, Fohlenkotelett und Würste in der Art von Salami wurden fabriziert.

In Norwegen lagen riesige Nachschublager, mit denen man später über das Nordkap die Wehrmacht versorgen wollte, um Russland vom Polarkreis aus fertigzumachen. Das sollte alles gründlich schiefgehen, was den österreichischen Militärs damals schon klar war. Im Lager meines Vaters gab es so viel belgischen Schinken in Dosen, dass man damit hätte Barrikaden bauen können, französischen Cognac, ja selbst Champagner in rauen Mengen. Während des Rückzugs, der Krieg war so gut wie beendet, bestand ein Lagerverwalter auf der Dienstvorschrift und weigerte sich, Speck oder Schinken rauszurücken. «Den Deppen haben wir kurzerhand erschossen!», sagte Vater lapidar. Später erfuhr ich zu meiner Erleichterung, dass nicht er der Täter gewesen war. Im Übrigen erinnerten seine Erzählungen schwer an diejenigen des Barons Münchhausen. Bruder Werner und ich waren natürlich fasziniert.

Von solchen Exzessen abgesehen, waren die Kriegsjahre eine Zeit des Mangels und prägten die Generation meines Vaters fürs Leben. Deshalb wurde bei uns zu Hause die erste Wochenhälfte lang der Sonntagsschmaus immer wieder aufgewärmt. Wenn alles zum wiederholten Male rezykliert worden war, schlug die Stunde von Papas berühmtem Krautsbraten: Hackfleisch, oft aus Mikroskopierproben vom Schlachthof oder aus altem Braten zusammenkomponiert, wurde mit Gemüseresten zwangsvereinigt – das Gericht erübrigte eine Biotonne.

Alle Altlasten bekamen eine kräftige Ladung Pfeffer, Paprika und oft Majoran verabreicht. Es musste halt so viel Gewürz dran, dass niemand das Alter der Bestandteile schmeckte. Sauerkraut war neben den Gewürzen am besten geeignet, um das hartnäckige Müffeln zu vertreiben. Krautsbraten hätte ein Schmakofatz sein können, hätte man darauf verzichtet, das Gemenge auch noch mit dem übriggebliebenen Sonntagskäsekuchen, vertrockneten Wurstzipfeln und womöglich Käserinden zu erniedrigen. Vater schmunzelte selbst darüber und warb manchmal lauthals für seine «gesammten Werke».

Klein-Vincent war nicht besonders verschleckt, das konnte man sich damals gar nicht leisten. Doch wenn es ums Essen ging, lebte er schon immer nach der Devise: «So gut wie möglich!» Dazu musste man sich erst einmal Überblick verschaffen. Nach der Schule erkundigte er sich also, was es bei Muttern zu essen gab. Dabei ließ er es aber nicht bewenden: Auch die Nachbarn wurden ausspioniert. In meinem Elternhaus wohnten sogenannte Flüchtlinge, die aus Schlesien vertrieben worden waren. Hatte vor dem Krieg pro Stockwerk eine Familie residiert, hausten dort nun zwei und manchmal drei Mietparteien. Alle vertrugen sich, und unterm gemeinsamen Dach herrschte eine lebendige, lustige Stimmung. Neue Gerüche zogen durch die Flure. Papa sagte immer: «Wären die nicht gekommen, wir schwäbischen Inzüchtler wären vollends verblödet.» Er mochte die Flüchtlinge, denn sie hatten gute Rezepte im Gepäck, waren pfiffig, und vor allem brachten sie uns den Knoblauch, der im Schwäbischen bis dahin verpönt gewesen war.

Frau Dressler im dritten Stock befand sich oft in Hochform. Die schon ziemlich alte Frau, aschgrau gekleidet und die hängenden Backen immer von einem Kopftuch zusammengehalten, stammte, glaube ich, aus der Breslauer Gegend. Sie kochte eine hinreißende Pilzsuppe, und zwar das ganze Jahr über, denn sie konservierte ihre Beute aus dem Wald in Marmeladengläsern. Dazu drückte sie rohe, gehackte Pilze Schicht um Schicht, immer mit viel Salz und etwas gehackter Petersilie, fest in die Gläser und verschloss sie dicht mit einem Deckel. Suppe wurde daraus, indem sie heißes Wasser auf den Herd stellte, etwas Salzpilze beigab – und fertig. Im Schwabenland hatten Pilze bei fast allen Familien als giftig gegolten.

So kam durch die Kriegsfolgen wirklich neues Küchendenken zu uns, wie später die Reisewelle die Eintönigkeit der deutschen Hausmannskost gewaltig aufmischte. Die regional geprägten Küchen der Vertriebenen hatten eine gewisse Exotik und brachten die ersten Importrezepte nach Westdeutschland. Beispielsweise «Schlesisches Himmelreich»: geräucherter Schweinebauch mit Backobst, außerdem war noch Zitronenschale drin. Es duftete nach Zimt und wurde wegen des Schweinebauchs nur im Winter gekocht. Dazu gab es Kließla, also schlesische Kartoffelklöße. Apfelstreuselkuchen lernte meine Mutter von einer Frau Wontka im dritten Stock, die auch von irgendwoher jenseits des Eisernen Vorhangs stammte.

Im Gegensatz zur fast großbürgerlichen Familie des Stadtoberveterinärs hatten unsere Mitbewohner so gut wie keine Habe. Trotzdem waren sie nicht arm, und den Lohn ihrer täglichen Arbeit steckten sie hauptsächlich in gutes Essen. Ihre Küche war für damalige Verhältnisse zwar nicht üppig, aber ideenreich. Die meisten Schwaben mochten davon freilich nicht profitieren. Bis heute gilt die Melodie: «Was der Schwabe nicht kennt, das frisst er nicht!» Die aus dem Osten Zugewanderten waren zuerst einmal Fremde, Eindringlinge, alles in allem suspekt, wenn sie nicht gar neidvoll beäugt wurden, weil sie staatliche Unterstützung bekamen.

Mit Scham erinnere ich mich an meinen Freund Karle. Er wohnte mit seinen Eltern im Haus gegenüber. Dort hatte ich die Wonnen von Gulasch (Suppe) und Perkölt (was wir üblicherweise Gulasch nennen) erschmeckt. Die Eltern waren nämlich Banater Schwaben, stammten aus der Gegend von Szegedin. Hmm, Szegedin! Karles Mama kochte das mit Sauerkraut vermengte Gulasch, für mich heute noch die schönste Verheiratung von Gemüse und Fleischeskraft.

Auf dem Schulhof wurde Karle von jungen Schwabenbengeln gefragt, ob er Kümmel möge. In kulinarischen Dingen waren die Flüchtlinge den Nachkriegsschwaben wie gesagt haushoch überlegen. Und so antwortete Karle unbekümmert, Kümmel sei sein Lieblingsgewürz. Sofort fielen saudumme Bemerkungen wie: «Bist du jetzt Ungarnflüchtling oder ein Kümmeltürke?» Ich war zu feige, um ihm beizustehen. Dabei war Kümmel in unserem eigenen Haushalt ein ständiger Begleiter zu Kohlgemüse, Schweinebraten und erst recht zum Backsteinkäse, wie man bei uns den Romadurkäse nennt.