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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, März 2019

Copyright © 2019 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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Lektorat Uwe Naumann

Umschlaggestaltung Anzinger und Rasp, München

Umschlagabbildung Edgar Degas, Die Orchestermusiker (1872), Heritage Images/Fine Art Images/akg-images

Karte Peter Palm, Berlin

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ISBN Printausgabe 978-3-498-03035-3 (1. Auflage 2019)

ISBN E-Book 978-3-644-00106-0

www.rowohlt.de

 

Hinweis: Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

ISBN 978-3-644-00106-0

Honoré de Balzac, Le Père Goriot

Ein junger Mann aus der Provinz

1821–1830

Rue St. Jacques, ein paar Treppen hoch. Balzac und Berlioz gehen in die Oper. Paris stinkt. Charles X. hört Rossini und wird verjagt. Eine Liebe wird zur «Symphonie fantastique».

«Da, das ist für dich», ruft er, das Schulterblatt seines Objekts in der Hand. Die Kommilitonen lachen, als der zierliche, kaum achtzehn Jahre alte Kerl mit den ungebändigten Haaren die scapula, den flachen Knochen, vor die Pfoten der dicken Ratte schleudert, die neben einem der Gewölbepfeiler hockt und hungrig auf das Gemetzel im Anatomiesaal starrt. Spatzenschwärme schwirren aus und ein durch die großen Fenster, geöffnet trotz der Winterkälte, weil sonst der Gestank nicht zu ertragen wäre. «Jouissez du destin propice … Erfreut euch an des Schicksals Güte», singt Berlioz nun mit seinem schönen Bariton und macht sich beiläufig daran, den Schädel aufzusägen. «Bleib doch bei der Sache!», schreit ihn Alphonse an, sein zwei Jahre älterer Cousin, «wir schaffen ja nichts! In drei Tagen wird unser Objekt verwest sein, es kostet achtzehn Francs! Wir müssen doch vernünftig sein!» Aber er will nicht vernünftig sein, er kann nicht. In blutigem Schlamm stehend, im befleckten Leinenkittel, sieht er die Bühne vor sich. «Oh Gottheit, die nach Blute dürstet!» Er singt mit Inbrunst die Hymne an die Rache

Bis in die letzten Oktobertage des Jahres 1821 ist Louis Hector Berlioz ein junger Mann in der Provinz gewesen, in La Côte-Saint-André, einem Städtchen von 3500 Einwohnern, zwischen Lyon und Grenoble und sanften Anhöhen gelegen, von denen aus man bei klarem Wetter im Nordosten den Mont Blanc erkennen kann. Zu den Landbesitzern und Honoratioren zählt sein Vater, der Arzt Louis Berlioz; man bewohnt ein stattliches Haus, man erntet Wein, man blickt stolz auf die Vorfahren. Er ist streng, dieser Vater, mit seinen 47 Jahren, fleißig, stolz, pflichtbewusst. Er hat Hector selbst unterrichtet, den Erstgeborenen, der ihm im Beruf folgen soll. Dann ist da die Mutter, Marie-Antoinette-Josephine, gerade 37 Jahre alt geworden, mit dem einjährigen Jüngsten auf dem Arm, Prosper. Und zwei Schwestern hat Hector, Anne Marguerite, Nanci genannt, fünfzehn, und Adèle, sieben Jahre alt, geboren in dem Jahr, als eine andere Schwester mit sieben Jahren starb. Ein weiterer Sohn wurde

Seine Begabung ist spät zum Vorschein gekommen, zuerst gefiel sie dem Vater. Mit elf, zwölf Jahren findet Hector in einer Schublade ein Flageolett, eine französische Blockflöte, und versucht sich daran. Dr. Berlioz lehrt ihn die Griffe, nach zwei Tagen beherrscht der Sohn das Volkslied «Marlborough s’en va t’en guerre». Nun lernt er das Notenlesen, er bekommt auch die Querflöte des Vaters und die Flötenschule von Devienne, aus der schon der junge Louis Berlioz lernte. Ein Jahr später, im Frühjahr 1817, wird ein Orchestermusiker aus Lyon in das Städtchen verpflichtet. Er soll zwölf Schüler unterrichten und die heruntergekommene Kapelle der Nationalgarde auf Vordermann bringen – mit rund 20 Bläsern und Trommlern das größte Ensemble, das der Junge bis auf weiteres erlebt, vom katholischen Kirchenchor abgesehen. Ab und zu trifft sich der Musiklehrer mit Dilettanten zum Streichquartett, man spielt Pleyel. Die «große Literatur» beschränkt sich auf ein paar Arien aus Glucks «Orphée», mit Gitarrenbegleitung, die Hector im Regal des Vaters findet. Für den genügt so viel Musik, sie ziert den Gebildeten, und ihre Großen sind wie alle anderen sicher aufgehoben in den 18 Bänden der «Biographie universelle ancienne et moderne» des Joseph Michaud, zu deren Subskribenten der Doktor zählt. Kann er ahnen, dass Hector den Artikel über Gluck liest wie einen Ruf in die Welt?

Seine enorme Phantasie spürt in der Musik eine Freiheit, die der Blick auf nahe und ferne Berge nicht gewährt, er spürt seine Begabung wie eine Naturgewalt, einen Liebesschmerz, er folgt ihr in großen Schritten. Mit fünfzehn komponiert er ein Pot-pourri für Flöte, Horn, vier Streicher, eine Besetzung, die er im Städtchen zusammenbekommt. Man lobt das Ergebnis, und da sendet er schon einen Brief an Ignaz Pleyel, den

Von La Côte-Saint-André bis zur Poststation La Frette sind es drei Kilometer, und von dort brauchen sie ganze acht Stunden für die 50 Kilometer bis Lyon, gleichsam auf Napoléons Spuren. In La Frette standen vor gut sechs Jahren die Leute aus der Dauphiné Spalier für den alten, neuen Helden, über die Alpen zurückgekehrt aus Elba, auf dem Weg nach Paris, bereit für Waterloo … Nach dem Desaster dieser Schlacht folgte noch im selben Jahr die zweite Verbannung, und auf der Insel St. Helena im Südatlantik ist der legendäre Mann im Mai dieses Jahres gestorben, mit 51 Jahren. Eine seltsame Ermattung liegt nun auf der Welt, nicht nur in Frankreich. Abwarten zwischen Epochen, ein Grau und eine Windstille wie in diesen kalten Herbsttagen. «Eine jener schwer zu bestimmenden Übergangszeiten, in denen es Müdigkeit gibt, dumpfen Lärm, Gemurmel, Schläfrigkeit und Unruhe, und die nichts anderes bedeuten, als dass eine große Nation eine Pause auf ihrem Weg macht», wie Victor Hugo über die Restauration schreibt. Überall in Europa streben Politiker

Die Diligence ab Lyon wird mit ihren zwölf Passagieren vier Tage und Nächte für die 500 Kilometer nach Paris brauchen. Berlioz hat nichts über diese Fahrt notiert, doch lässt sich mit ihr vieles verbinden, was man von Ort und Zeit weiß, was ihn selbst bewegt auf dieser ersten großen Reise von vielen, die folgen werden bis zu jenem fernen Jahr 1867, als Berlioz dieselbe Strecke in nur noch elf Stunden zurücklegt. Bis dahin werden wir erleben, wie Paris nicht nur zu seiner Schicksalsstadt wird. Wir werden in Revolutionen und Großbaustellen geraten, in Ruinen, Paläste und Absteigen, Musikern begegnen, die sich durchschlagen oder triumphieren, während eine ungeheure Beschleunigung der Technik in der stets wachsenden Stadt ihren Anfang nimmt. Den jungen Rossini werden wir zum Essen begleiten und den alten zum Fotografen, mit Flaubert werden wir Pauline Viardot in ihrer letzten Rolle bewundern und mit Balzac die erste Oper besuchen, die Berlioz sah. Liszt wird vor der Cholera in nächtliche Improvisationen fliehen, Wagner sich in Paris finden und es der Stadt nie verzeihen, Chopin nicht als einziger eine große Liebe gewinnen und verlieren, am Klavier

Sie fahren noch gar nicht lange an der Saône entlang nach Norden, da ruft kurz vor Neuville l’Archêveque ein Geschäftsmann: «Hier war es!» Und er berichtet, wie hier vor einem Jahr die Pferde scheu geworden seien und den Wagen in den Fluss gerissen hätten: «Drei Passagiere sind ertrunken, neun wurden gerettet!» Ein anderer wartet mit der nächsten Schreckensgeschichte auf, auch nicht lange her: Da sei die Diligence von Marseille nach Lyon überfallen worden, neun Räuber hätten alle Reisenden genötigt, sich platt auf den Boden zu legen, und seien im Gepäck prompt fündig geworden: vier Stangen Gold, 20000 Francs! «Pah! Davon können Sie in Paris keine vier Jahre lang leben», brummt einer mit Kennermiene, und Hector denkt besorgt an die 530 Francs, die ihm sein Vater mitgegeben hat für die ersten Monate. Er schaut in seiner Tasche nach. Der Umschlag ist noch da, und Notenpapier, leeres … Pleyel wollte nicht einmal die Noten des Sextetts sehen, aber immerhin kam eine Antwort, eine klare Absage. Hector hat die Noten bis vor wenigen Tagen aufgehoben, auch die eines Quintetts und einer Romanze, für Stimme und Gitarre. Dann hat er alles verbrannt. Und sich doch alles gemerkt.

Er summt, während er hinausschaut: «Drum lass ich nun für alle Zeit / Mein schönes Land, mein süßes Lieb …» «Was ist das, ein Liebeslied?», fragt Alphonse neben ihm spöttisch.

Zweimal täglich eine Pause von 45 Minuten, alle paar Stunden ein Wechsel der sechs Pferde, die die schwere Kutsche mit zwölf Personen und ihrem Gepäck ziehen, nachts unruhiger Schlaf über rumpelnden Rädern. Die Gespräche sind seltener geworden, die Cousins blättern vor Langweile in ihren Lehrbüchern. Der Mann mit der Kennermiene hat längst alles erzählt, was ihm zu Paris einfällt. Ah, die königliche Oper! Die sei abgerissen worden, hat er dem entsetzten Hector am zweiten Reisetag mitgeteilt, im vorigen Jahr schon, das wisse er nicht? Nach dem Attentat! Auf den Duc de Berry, den Neffen des Königs, sei beim Verlassen der Oper ein Sattler zugetreten und habe ihm den Dolch in die rechte Seite gestoßen. Der Bourbone sei noch am Tatort gestorben, der König habe den Bau daraufhin niederreißen lassen. «Aber, junger Mann, es gibt ja noch die Opéra-Comique, das Théâtre-Italien, das Odéon, und vor allem: Sie glauben doch nicht, dass man in Paris ein Theater niederreißt, ohne ein neues zu bauen? Eigens für Sie!» Er lacht, ihm ist nicht entgangen, dass diese angehenden Medizinstudenten sich mehr über Musik als über Anatomie unterhalten. Vor kurzem erst, im August, ist ein weit größeres Haus für die Académie Royale de Musique eröffnet worden, mit beinahe 2000 Plätzen anstelle

Ein letzter Pferdewechsel, man vertritt sich im Morgengrauen die Beine und fröstelt. «Paris», sagt der Postillon knapp und mürrisch und deutet vage nach Norden, als sei da schon etwas zu erkennen. Hector sieht nur flaches, leicht gewelltes Land im Nebel, grau und schwarz schraffiert, die Berge sind längst gewichen. Als nach weiterer Fahrt rechts der Seine zwischen Hügeln die Stadt erscheint, ist sie fast so übersichtlich wie auf einem Kupferstich. Sie wuchert noch nicht, wie das dreimal so große London, mit Vororten, Baracken, Fabriken ins Umland hinein. Brachliegendes Land, verlassene weite Flächen, halb besiedelt zwischen Steinbrüchen und Friedhöfen, reichen bis an die Stadtmauer, die als Zollgrenze dient, gut drei Meter hoch, rund um ein Areal von nicht einmal 40 Quadratkilometern. Im Nordwesten endet die Stadt mit einer Bauruine, dem unter Napoléon begonnenen Triumphbogen, der derzeit Arc d’Angoulême heißt, im Norden erhebt sich Montmartre mit der Telegraphenstation als separater Ort, vor den südlichen und östlichen Mauern befinden sich auf Anhöhen die Friedhöfe Montparnasse und Père La Chaise, wie es noch geschrieben wird.

Als sich die Diligence auf der Rue de Charenton am nördlichen Seineufer der Stadt nähert, sieht Hector, nach links hinausschauend, die hohe Kuppel des Panthéon. «Pont d’Austerlitz», endlich meldet sich der Mann mit der Kennermiene wieder zu Wort und weist auf eine Brücke, deren Bögen aus Eisen gefügt sind. Ein anderer hat einen Stadtplan entfaltet und widerspricht: Bei ihm heiße die Brücke «Pont du Jardin-du-Roi». «Jaja, so

Als man die Place de la Bastille erreicht, stößt Alphonse seinen Cousin an: «Ein Elefant!» Tatsächlich steht am südöstlichen Rand des Platzes still und starr ein gewaltiges Rüsseltier mit einem hausähnlichen Turm auf dem Rücken. Eine Erinnerung an Napoléon, aus Gips und Holz: Der Kaiser wollte den Elefanten als triumphales Monument aus der Bronze erbeuteter Kanonen gießen lassen, von einem Bassin umgeben, doch als er stürzte, stand da erst dieses Modell, fünfzehn Meter hoch, und dabei blieb es. Es wird noch sehr lange dort bleiben, exotisches Inbild des Verfalls, schon jetzt etwas fleckig und von einem Zaun umgeben. Rund 750000 Menschen leben in Paris, die um diese Zeit alle schon auf den Beinen zu sein scheinen. Es schwindelt Hector Berlioz, als er das Gewimmel in den Straßen wahrnimmt, die Höhe der Gebäude, den Lärm, das Rasseln der Wagen und Geklapper der Hufe, sofern eine Straße gepflastert ist, den Rauch von Zehntausenden Feuern, aus Holz oder Steinkohle entflammt. Von der Bastille geht es nach Norden, schließlich zur Messagerie Royale, dem Knotenpunkt aller Kutschenlinien im Zentrum. Von hier ein Cabriolet zur Rue St. Jacques, quer durch die Stadt nach Süden, über die Île de la Cité, diese Straße ist eine der Hauptschlagadern seit römischer Zeit.

In der Nr. 104 werden die beiden jungen Männer von Monsieur Drouault erwartet, dem Vermieter ihrer möblierten Bleibe, die man durch einen nach Katzenurin duftenden Hinterhof ein

Nur wenige Minuten muss Berlioz von der Rue St. Jacques bis zu den Kolonnaden der École de médecine gehen, in Richtung Odéon. Schon dabei erhält er die erste Lektion: Paris ist dreckig, besonders im nassen November. Viele Straßen sind nicht gepflastert, Bürgersteige gibt es kaum, den Kehricht befördern die Leute auf die Straße. Manche Gossen kann man kaum überqueren, so hoch stehen Matsch und Dreck. Feine Damen schnallen sich Holzsohlen unter ihre Schuhe, sogenannte socques articulés, um sie halbwegs sauber zu halten. Unachtsame Fußgänger werden von vorbeifahrenden Kutschen von oben bis unten bespritzt. Was neu gebaut wird von öffentlicher Hand, sind Kirchen, Paläste, Theater, luxuriöse Einkaufsgalerien, Straßen und Plätze. Doch bis 1830 wird Paris erst fünfzehn Kilometer Bürgersteige haben, unter denen halb so viele Abwasserkanäle den Dreck der wachsenden Stadt kaum fassen können. Es stinkt an der Seine, in die sich 21 Röhren ergießen. Deren größte, unter der Bastille entlangführend, ist immer wieder verstopft, mitunter steigt der Kloakensud in den Straßen empor und flutet Höfe und Keller,

Für Ärmere wird der Wohnraum knapp. Sie ziehen in billige Bauten, wie sie am Rand der gewaltigen Senkgrube im Norden der Stadt hochgezogen werden oder der Grube im Faubourg Saint-Antoine im Osten, beide ständig überfüllt und bestialisch stinkend. Dagegen bewegt man sich an der École de médecine auf der Höhe der Zeit, das neu erfundene Stethoskop in der Hand. Paris gilt als medizinisches Zentrum der Welt, und der später berühmt gewordene Thomas Hodgkin aus England immatrikuliert sich zugleich mit Berlioz. In den steilen Rängen des Hörsaals schreibt der Arztsohn mit, was der junge Jean-Zuléma Amussat vorträgt, der sich mit der minimalinvasiven Entfernung von Nierensteinen befasst und den Neuling durch seine Leidenschaft beeindruckt; er hält ihn für einen «Künstler auf dem Gebiet der Anatomie».

Auch 2017 schwingen die Kolonnaden sich noch immer in leichtem Bogen entlang der Rue de l’École de Médecine, nun als Teil der Université René Descartes, um die herum überwiegend Studenten unterwegs sind, wie schon vor zweihundert Jahren. Die Atmosphäre der Stadt ist eine andere hier, wo die Straßen ein Gefälle bekommen, nicht steil, aber doch die Anhöhe merken lassend, auf der schon das Lutetia römischer Zeit nach Süden hinaufwuchs. Hier sind andere Menschen unterwegs, nicht die Angestellten, Geschäftsleute, Manager des zweiten Arrondissements nördlich der Seine, aus dem ich an diesem Märztag komme, zwischen denen Touristen und Obdachlose sich bewegen wie in einer Dimension, von der das Geld keine Notiz nimmt, während es einen Präsidentschaftskandidaten, der das Geld zu sehr liebt, kurz vor der Wahl stürzen lässt. Hier, im Universitätsviertel, ist es bei denselben lauen Märztemperaturen wärmer, lichter und heiterer als bei den Investoren rund um

An der École Polytechnique, unfern dem Sezierkeller am Jardin du Roi, hört Berlioz Vorlesungen bei Louis-Jacques Thénard, dem 54-jährigen Erfinder des Kobaltblau und Entdecker des Wasserstoffperoxid, einem der größten Chemiker der Zeit, Freund von Joseph-Louis Gay-Lussac, zu dessen physikalischen Vorlesungen der Student im nächsten Jahr geht. Gay-Lussac ist schon 1804 mit einem Wasserstoffballon in vier Kilometer Höhe aufgestiegen, um von dort aus das Erdmagnetfeld zu untersuchen. Berlioz ist beeindruckt von seinem Kurs über experimentelle Elektrizität – vermutlich knüpft der Physiker dort an die große Entdeckung seines Kollegen André-Marie Ampère an, der 1820 in Paris das Magnetfeld stromdurchflossener Leiter

So ist der Student aus der französischen Provinz im wahrsten Sinne geblendet, als er zum ersten Mal in die Oper geht. Vor kurzem erst, im August 1821, ist das neue Opernhaus an der Rue Le Peletier eröffnet worden mit knapp 2000 Plätzen. Ein besonders helles Licht erfüllt die Korridore und wird vom gewaltigen Kronleuchter über ausgedehntem Parkett verströmt: Gaslicht, nach Londoner Vorbild. Acht Jahre, ehe die erste Pariser Straße so beleuchtet wird, verstärkt es die Pracht des neuen Hauses. Logen, von schlanken Säulen gestützt und von sanften Bögen gekrönt, in der Mitte die Loge des Königs, wie in allen Theatern mit blauem Samt ausgeschlagen. Wer in diesen Logen sitzt, wer sie abonniert hat, das interessiert Berlioz so wenig, wie sich die Vornehmen für einen Studenten interessieren, der an seiner Kleidung sofort als Provinzler zu erkennen ist. Vermutlich hat er sich nach Kräften fein gemacht. Vielleicht stellt er fest, dass seine Nankinghosen aus der Mode sind, die mit den Absätzen seiner geliebten grünen Stiefel zusammenstoßen – während hier alle Männer Hosen mit Steg tragen, strahlend weiß oder aus Phantasiestoffen gefertigt –, dass seine Weste zu kurz ist und die weiße Krawatte, deren Enden seine Schwester Nanci bestickt hat, ganz unmöglich. Doch für so etwas hat er ein weniger scharfes Auge als ein anderer junger Mann, der schon einige Jahre länger in Paris lebt und uns genauestens überliefert, wozu man in die Oper geht. Die Musik spielt kaum eine Rolle auf den Seiten der «Verlorenen Illusionen», auf denen Lucien Chardon anno 1821 erstmals die Oper besucht und, genau wie Hector Berlioz, die «Danaiden» des Antonio Salieri erlebt – sofern er mal zur Bühne schaut.

Lucien ist ein alter ego seines Autors Honoré de Balzac. Möglich also, dass Balzac, im Jahre 1821 noch ein

Ein paar Jahre später, im November 1821, in den «Verlorenen Illusionen», bewegt sich Eugène schon in glänzender Gesellschaft, in der Oper. Und dorthin verschlägt es auch Lucien Chardon, neu in der Stadt, junger Kavalier einer Dame aus der Provinz. Sie befinden sich in der Loge ihrer Cousine, einer

Während des zweiten Akts werden dann die Geprüften in einer weiteren Loge durchgehechelt: «Es schien dort ein lebhaftes Gespräch im Gange zu sein, in dem es sich um Madame de Bargeton und Lucien handelte. Der junge Rastignac war offenbar der amüsante Plauderer dieser Loge, er rief das typische Pariser Lachen hervor, das sich jeden Tag einen neuen Gegenstand sucht und es eilig hat, jedes Thema sofort zu erschöpfen und etwas Altes und Abgetanes daraus zu machen.» Und das alles, während auf der Bühne König Danaus ein Bündel Dolche auspackt und seinen fünfzig Töchtern befiehlt, nach der anstehenden Massenhochzeit ihre Männer in den Ehebetten zu ermorden – was 49 von ihnen im vierten Akt auch tun werden. «Lucien war glücklich über die Ablenkung durch die Vorgänge auf der Bühne», schreibt Balzac lapidar.

So kommt es, dass ein paar Tage später zwischen Ratten und Spatzen, Skalpellen und Sägen, Studenten und «Objekten» einschlägige Themen aus den blutigen «Danaiden» im Seziergewölbe an der Rue de la Pitié zu hören sind. Dabei steht Berlioz die Begegnung mit einem Idol seiner Jugend erst noch bevor, mit der Musik jenes Christoph Willibald Gluck, auf dessen Spuren Salieris Oper ebenso komponiert ist wie die «Stratonice» des Étienne Méhul, die er auch hört. Am 26. November ist es so weit: Glucks «Iphigenie auf Tauris» wird gespielt, radikalstes Werk des Reformers, seit dessen Pariser Uraufführung mehr als vierzig Jahre vergangen sind. Wieder sitzt der Student im Parkett, gespannt, welche Szenerie der prachtvoll bemalte Vorhang mit den Goldfransen diesmal freigeben wird. «In der Ferne», schreibt er darüber an Nanci, «sieht man eine weite Ebene (Oh! Die Illusion ist perfekt!) und in noch weiterer Entfernung das Meer. Ein Sturm kündigt sich im Orchester an, dunkle Wolken

Berlioz weiß nicht, dass die Blitze, die ihn so beeindrucken, sich einem rasch entflammbaren Pulver aus Bärlappsporen verdanken – dieses Lycopodium, nicht synthetisierbar, wird bis heute auf Bühnen eingesetzt. Aber wenn er es wüsste, würde es den Eindruck so wenig mindern, wie unser Wissen um die digitale Matrix die Saurier und Raumschiffe unattraktiv werden lässt, die sich durch Blockbuster und Onlinegames bewegen. «Die Kunst der Inszenierung», schreibt Louis-Désiré Véron, Intendant ab 1831, «besteht darin, das Auge des Zuschauers zu täuschen, reale Objekte zu simulieren, mit Geschicklichkeit und Talent.» Die Dimensionen, die diese Kunst im Kino

Eine so drastische Partitur wie die von Gluck verbindet sich unmittelbar mit einer Bühne, die die symmetrisch gestaffelten Kulissen «à l’italienne» zugunsten der «illusion naturelle» hinter sich lässt. Die Tonsprache der Affekte muss ohnehin keinem erklärt werden; Musiker wie Hörer sind damit aufgewachsen, gerade deshalb lässt sich mit bedeutsamen Abweichungen von ihren Regeln effektvoll spielen wie in den unruhigen Streicherfiguren zur Arie des Orest – sie vor allem begeistert Berlioz. Wir können diese Musik mit zwei Klicks oder einem Griff ins altmodische CD-Regal erreichen, aber gerade darum ist uns die Wirkung kaum nachvollziehbar, die sie auf diesen hochsensiblen Mann aus der Provinz hat, der angewiesen ist auf die Aufführung, auf diese unwiederholbaren drei Stunden. Der zudem nicht, wie Balzacs abgebrühte und so verblüffend modern wirkende Schickeria, das reiche Angebot der Stadt für selbstverständlich hält oder gar, wie sie, daran dächte, das Haus während eines Aktes

1822 heißt das Institut «École Royale de Musique et de Déclamation», und jeder, ob Student oder Lehrer oder einfach nur interessiert, kann sich die Schätze der Notenbibliothek aushändigen lassen, externe Besucher von 10 bis 15 Uhr, und sie am großen runden Tisch in der Mitte studieren. Und kopieren. Wann immer es die Vorlesungen an der Universität erlauben, begibt sich Hector nun vom Süden der Seine in den Norden, zum Conservatoire in der Rue Bergère. Er beginnt, Glucks Musik abzuschreiben, insgesamt 120 große Partiturseiten wird er füllen mit dem Besten aus «Iphigénie en Tauride» und «Iphigénie en Aulide». Eines Morgens stoppt ihn mitten im Hof ein Diener: Er habe umzukehren und durch den Eingang in der Rue du Faubourg Poissonnière zu kommen. Wie das? Anweisung des neuen Direktors. Weibliche Studenten haben durch den Eingang in der Rue Bergère einzutreten, männliche: Poissonnière. Berlioz hat diesen Direktor schon gesehen, einen so berühmten wie vergrämten Mann Anfang 60.

Luigi Cherubinis große Zeit als Opernkomponist ist vorbei, er hat es sich eingerichtet als Superintendent der Chapelle Royale, und für die frommen Bourbonen schreibt er fast nur noch Sakralmusik. Aber er ist ein effizienter Chef auf seinem zusätzlichen neuen Posten, er räumt auf. Denn als revolutionäres Erbe ist das Konservatorium in der Restauration heruntergekommen – Cherubinis Vorgänger sah sich wegen des knappen Budgets sogar veranlasst, das Gebäude mit alten Cembali zu heizen. Alle Studenten müssen sich im Juni 1822 einem Examen unterziehen, danach wird ihre Zahl von 473 auf 317 reduziert. Ein Drittel der Studenten sind Frauen. Das ist ein für diese Zeit

Eine Viertelstunde später, der junge Mann ist schon in Glucks Noten versunken, betritt der Chef den Lesesaal, «mit meinem Denunzianten im Schlepptau», wie sich Berlioz an Cherubini erinnert, «das Gesicht noch leichenhafter, den Schopf noch gesträubter, die Augen noch böser und der Gang noch ruckartiger als gewöhnlich.» Die beiden umrunden den Tisch, mustern die Leser, die sich über ihr Material beugen, dann zeigt der Diener auf den Delinquenten. «Das ist er!» «A-a-a’a, Sie sind das», ruft der Alte wütend. «Sie sind das, der nimmt den Eingang, de-de-de-den ik verboten ’abe!» «Monsieur, ich wusste nichts von Ihrem Verbot, das nächste Mal werde ich mich daran halten.» «Näkste Mal, näkste Mal! Was kommen Sie ’ier-ä maken?» «Sie sehen doch, Monsieur, ich studiere die Partituren von Gluck.» «Und wa-wa-wa-was wo-wo-wollen Sie mit Partituren von-ä Gluck? Und wer ’at Sie erlaubt kommen i-i-i-in die Bibliothek?» «Monsieur … ich brauche niemandes Erlaubnis, um sie hier anzusehen. Von zehn bis drei Uhr steht die Bibliothek jedermann offen, und ich habe das Recht, davon Gebrauch zu machen.» «Da-da-das Rekt-ä?» «Jawohl, Monsieur.» «Ik! Ik-ä verbiete, dass Sie kommen wieder!» «Ich werde trotzdem wiederkommen.» «’alt ihn, ’a-a-a-alt ihn fest, Hottin, da-da-damit ik ihn einssperren lasse!» Daraufhin beginnt eine wilde Jagd rund um den Tisch, Hocker und Pulte fallen um, Hector entkommt.

Es ist nicht fair, wie Berlioz in seinen Memoiren den Chef des Conservatoire inszeniert, denn vier Jahre nach der Jagd durch die Bibliothek wird er als Student aufgenommen, obwohl Cherubini dafür Regeln brechen muss, die er selbst etabliert hat. Starrsinnig mag er sein und hart wie Stahl, wie sich einige an

Er schreibt seinem Vater ein flammendes Bekenntnis zur musikalischen Berufung. Der Arzt ist entsetzt. Sein geliebter Erstgeborener, seine große Hoffnung, der Spross einer in Jahrhunderten etablierten Familie, den er sich im Ruhm der Medizin nachfolgen sieht, will sich als brotloser Musiker ruinieren, er, der nicht einmal Klavier spielen kann! Und von der Oper schwärmt er, was neben dem agnostischen Dr. Berlioz noch mehr seine zutiefst katholische Frau erschreckt, die im Theater nur Sünde sieht. Es beginnen Jahre der gegenseitigen Vorhaltungen, des verzweifelten Zuredens, der Flüche und Drohungen, der verweigerten und dann wieder gewährten finanziellen Unterstützung. Zunächst einmal aber gelobt Hector, beim sommerlichen Aufenthalt im Heimatstädtchen, der Medizin treu zu bleiben. Und es ist ja nicht so, dass der Dr. Berlioz, von dem in Paris schon 1810 eine medizinische Abhandlung gedruckt wurde, nicht auch seine hauptstädtischen Verbindungen hätte. Von väterlicher Güte und Strenge beseelt, schreibt er dem Chevalier Broussais, dem eminenten Chirurgen, mit dem er seit jungen Jahren korrespondiert, und siedelt den Sohn um in das Haus des berühmten Kollegen. Der wird ein Auge haben auf den angefochtenen Sprössling, zudem hat er einen Sohn, der, Hector ein Jahr voraus, Medizin studiert und zum Vorbild taugen kann. Es wird kein großer Umzug im Oktober 1822: Broussais wohnt

Als ich dort ankomme, 197 Jahre später auf Spurensuche, holt vor der Tür gerade ein Mann den Schlüssel aus der Tasche. Das trifft sich gut, denn längst ist in Paris die Zeit vorbei, da man noch aufs Geratewohl den Klingelknopf neben einem der Namen auf dem Türschild drücken konnte, um in ein Haus zu kommen. Die Angst vor Kriminalität hat Namen und Klingeln verschwinden lassen, man findet nur noch Eingabetasten für den aktuellen Zahlencode, den der Besucher, angemeldet, zuvor per Handy vom Besuchten erfährt. Aber dieser Mann hier ist ohne Sorge. Als ich ihn frage, ob das hier die Nr. 71 sei, von deren schönem Innenhof ich gelesen hätte, winkt er mich hinein. Ja, der Innenhof sei von historischem Wert und gehe auf älteste Zeiten zurück. «Der Komponist Hector Berlioz hat hier gewohnt», sage ich, «es war eine seiner ersten …» Das französische Wort fehlt mir. «Logements!», sagt er freundlich. «Wirklich? Das wusste ich nicht. Es gibt keine Plakette am Haus!» Nein, Berlioz wird gut versteckt in Paris. Auch ins Panthéon hat er es nicht geschafft – aber dort liegt ohnehin kein einziger Musikantenknochen.

Halb so schlimm, wenn selbst dieser Mann, Ende vierzig, eher Arbeiter als Akademiker, in abgewetzter Regenjacke unter gegerbtem Gesicht, sofort etwas mit dem Namen Berlioz anzufangen weiß. Er freut sich und erlaubt mir, in Ruhe den Hof anzusehen, während er über eine uralte, schmale Treppe ins Haus hochsteigt. Ich kenne sie von einer Zeichnung, die wohl noch den Zustand zu Berlioz’ Studienzeit zeigt: Gleich links hinter dem düsteren Durchgang führt die Treppe neben der Hauswand ins Innere hoch. Mittlerweile ist sie vergittert und abschließbar. Dabei wohnen hier keine Reichen. Man sieht es an den Briefkästen. Die Fenster zur Rue St. Jacques hin sind sanierungsbedürftig

Noch ist die Restauration an der Macht, acht Jahre bleiben ihr. Doch wie nervös die Mächtigen sind, das wird deutlich, als Hector Berlioz pflichtschuldig und mit weiteren 500 Francs versehen sein zweites Jahr als Medizinstudent antreten soll. Seit Februar des Jahres 1822 hat es Unruhen gegeben im Universitätsviertel. Studenten, vor allem Mediziner und Juristen, haben gegen den wachsenden Einfluss der Kirche auf das Bildungssystem protestiert, die Polizei schritt ein, es gab Verletzte. Im Spätsommer verschärft sich das. Täglich versammelt sich vor dem Justizpalast auf der nahen Île de la Cité eine empörte Menge, denn dort wird vier jungen Offizieren des Königs der Prozess gemacht – sie sollen als Mitglieder der revolutionären Carbonari den Sturz Louis’ XVIII. geplant haben. Den Studenten sind sie besonders nahe – gehören sie doch zum 45. Regiment, aus dem Quartier Latin komplett nach La Rochelle versetzt, da seine Infanteristen den Ruf «Vive le Roi» verweigerten.

Alle vier Männer werden am 21. September auf der Place de

Nach der Hinrichtung der liberalen Offiziere wird die