Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, März 2019
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Lektorat Uwe Naumann
Umschlaggestaltung Anzinger und Rasp, München
Umschlagabbildung Edgar Degas, Die Orchestermusiker (1872), Heritage Images/Fine Art Images/akg-images
Karte Peter Palm, Berlin
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ISBN Printausgabe 978-3-498-03035-3 (1. Auflage 2019)
ISBN E-Book 978-3-644-00106-0
www.rowohlt.de
Hinweis: Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
ISBN 978-3-644-00106-0
Aber Paris ist wirklich ein Ozean.
Honoré de Balzac, Le Père Goriot
1821–1830
Rue St. Jacques, ein paar Treppen hoch. Balzac und Berlioz gehen in die Oper. Paris stinkt. Charles X. hört Rossini und wird verjagt. Eine Liebe wird zur «Symphonie fantastique».
«Da, das ist für dich», ruft er, das Schulterblatt seines Objekts in der Hand. Die Kommilitonen lachen, als der zierliche, kaum achtzehn Jahre alte Kerl mit den ungebändigten Haaren die scapula, den flachen Knochen, vor die Pfoten der dicken Ratte schleudert, die neben einem der Gewölbepfeiler hockt und hungrig auf das Gemetzel im Anatomiesaal starrt. Spatzenschwärme schwirren aus und ein durch die großen Fenster, geöffnet trotz der Winterkälte, weil sonst der Gestank nicht zu ertragen wäre. «Jouissez du destin propice … Erfreut euch an des Schicksals Güte», singt Berlioz nun mit seinem schönen Bariton und macht sich beiläufig daran, den Schädel aufzusägen. «Bleib doch bei der Sache!», schreit ihn Alphonse an, sein zwei Jahre älterer Cousin, «wir schaffen ja nichts! In drei Tagen wird unser Objekt verwest sein, es kostet achtzehn Francs! Wir müssen doch vernünftig sein!» Aber er will nicht vernünftig sein, er kann nicht. In blutigem Schlamm stehend, im befleckten Leinenkittel, sieht er die Bühne vor sich. «Oh Gottheit, die nach Blute dürstet!» Er singt mit Inbrunst die Hymne an die Rache aus der wunderbaren Oper, die er vor wenigen Tagen hörte, der ersten Oper seines Lebens. Die «Danaiden» des Antonio Salieri, ein schon dreißig Jahre altes Meisterwerk. Welch unfassbarer Glanz, welcher Rausch der Schönheit in diesem neuen Opernhaus! Das hat ihn gestärkt. Er will durchhalten, für seinen Vater, der ihn Medizin studieren lässt, und für die Musik. Er hat sich zurückgewagt in dieses Menschenschlachthaus westlich des Jardin du Roi, aus dem er beim ersten Besuch entsetzt durch das offene Fenster floh. Am Boden benagen Ratten die Reste der Unglücklichen, an denen man hier die Anatomie studiert, mit dem aufgeklappten Lehrbuch von Xavier Bichat daneben, der «Anatomie générale» von 1802, nach 20 Jahren noch ein Standardwerk. Ist das zu ertragen, wenn man außerdem Partituren von Salieri und Gluck studiert und für dreieinhalb Francs im Opernparkett sitzt? Mitten in dieser Stadt Paris, in deren Mauern sich 750000 Menschen drängen und täglich mehr?
Bis in die letzten Oktobertage des Jahres 1821 ist Louis Hector Berlioz ein junger Mann in der Provinz gewesen, in La Côte-Saint-André, einem Städtchen von 3500 Einwohnern, zwischen Lyon und Grenoble und sanften Anhöhen gelegen, von denen aus man bei klarem Wetter im Nordosten den Mont Blanc erkennen kann. Zu den Landbesitzern und Honoratioren zählt sein Vater, der Arzt Louis Berlioz; man bewohnt ein stattliches Haus, man erntet Wein, man blickt stolz auf die Vorfahren. Er ist streng, dieser Vater, mit seinen 47 Jahren, fleißig, stolz, pflichtbewusst. Er hat Hector selbst unterrichtet, den Erstgeborenen, der ihm im Beruf folgen soll. Dann ist da die Mutter, Marie-Antoinette-Josephine, gerade 37 Jahre alt geworden, mit dem einjährigen Jüngsten auf dem Arm, Prosper. Und zwei Schwestern hat Hector, Anne Marguerite, Nanci genannt, fünfzehn, und Adèle, sieben Jahre alt, geboren in dem Jahr, als eine andere Schwester mit sieben Jahren starb. Ein weiterer Sohn wurde nur drei Jahre alt. Hector, «der Widerstehende», ist der Hoffnungsträger.
Seine Begabung ist spät zum Vorschein gekommen, zuerst gefiel sie dem Vater. Mit elf, zwölf Jahren findet Hector in einer Schublade ein Flageolett, eine französische Blockflöte, und versucht sich daran. Dr. Berlioz lehrt ihn die Griffe, nach zwei Tagen beherrscht der Sohn das Volkslied «Marlborough s’en va t’en guerre». Nun lernt er das Notenlesen, er bekommt auch die Querflöte des Vaters und die Flötenschule von Devienne, aus der schon der junge Louis Berlioz lernte. Ein Jahr später, im Frühjahr 1817, wird ein Orchestermusiker aus Lyon in das Städtchen verpflichtet. Er soll zwölf Schüler unterrichten und die heruntergekommene Kapelle der Nationalgarde auf Vordermann bringen – mit rund 20 Bläsern und Trommlern das größte Ensemble, das der Junge bis auf weiteres erlebt, vom katholischen Kirchenchor abgesehen. Ab und zu trifft sich der Musiklehrer mit Dilettanten zum Streichquartett, man spielt Pleyel. Die «große Literatur» beschränkt sich auf ein paar Arien aus Glucks «Orphée», mit Gitarrenbegleitung, die Hector im Regal des Vaters findet. Für den genügt so viel Musik, sie ziert den Gebildeten, und ihre Großen sind wie alle anderen sicher aufgehoben in den 18 Bänden der «Biographie universelle ancienne et moderne» des Joseph Michaud, zu deren Subskribenten der Doktor zählt. Kann er ahnen, dass Hector den Artikel über Gluck liest wie einen Ruf in die Welt?
Seine enorme Phantasie spürt in der Musik eine Freiheit, die der Blick auf nahe und ferne Berge nicht gewährt, er spürt seine Begabung wie eine Naturgewalt, einen Liebesschmerz, er folgt ihr in großen Schritten. Mit fünfzehn komponiert er ein Pot-pourri für Flöte, Horn, vier Streicher, eine Besetzung, die er im Städtchen zusammenbekommt. Man lobt das Ergebnis, und da sendet er schon einen Brief an Ignaz Pleyel, den Komponisten, Klavierfabrikanten, Musikverleger in Paris: «Ich möchte Sie bitten, auf Ihre Rechnung ein Pot-pourri concertant zu drucken, aus ausgewählten Stücken komponiert … Bitte lassen Sie mich wissen, wieviele Exemplare Sie mir zur Verfügung stellen können …» Von dem Brief weiß sein Vater nichts. Vom Eifer des Sohns so beunruhigt wie gerührt, gewährt er zusätzlich Gitarrenunterricht (ein Klavier gibt es im Städtchen nicht) und versucht, ihn mit sanfter Erpressung zur Medizin zu bringen: «Wenn du mir versprechen willst, dich ernsthaft mit der Knochenlehre zu beschäftigen, werde ich dir in Lyon eine wunderbare Flöte mit all den neuartigen Klappen besorgen.» Das tut er tatsächlich, das Instrument aus Ebenholz mit acht Silberklappen ist im Haushaltsbuch verzeichnet. Und tatsächlich willigt Hector ein. Ende Oktober 1821 begeben er und sein Cousin Alphonse Robert sich auf die Reise zum Medizinstudium in Paris.
Von La Côte-Saint-André bis zur Poststation La Frette sind es drei Kilometer, und von dort brauchen sie ganze acht Stunden für die 50 Kilometer bis Lyon, gleichsam auf Napoléons Spuren. In La Frette standen vor gut sechs Jahren die Leute aus der Dauphiné Spalier für den alten, neuen Helden, über die Alpen zurückgekehrt aus Elba, auf dem Weg nach Paris, bereit für Waterloo … Nach dem Desaster dieser Schlacht folgte noch im selben Jahr die zweite Verbannung, und auf der Insel St. Helena im Südatlantik ist der legendäre Mann im Mai dieses Jahres gestorben, mit 51 Jahren. Eine seltsame Ermattung liegt nun auf der Welt, nicht nur in Frankreich. Abwarten zwischen Epochen, ein Grau und eine Windstille wie in diesen kalten Herbsttagen. «Eine jener schwer zu bestimmenden Übergangszeiten, in denen es Müdigkeit gibt, dumpfen Lärm, Gemurmel, Schläfrigkeit und Unruhe, und die nichts anderes bedeuten, als dass eine große Nation eine Pause auf ihrem Weg macht», wie Victor Hugo über die Restauration schreibt. Überall in Europa streben Politiker Verhältnisse wie vor der Französischen Revolution an, und in der Mitte des Netzes zupft als klügste aller Spinnen Fürst Metternich an den Fäden. Seit Napoléons finalem Sturz herrscht wieder ein Bourbone über Frankreich, Louis XVIII., überzeugt vom Gottesgnadentum. Mit blutiger Rache an den Gefolgsleuten Napoléons, darunter besten Kräften, hat dieser König seine Regentschaft begonnen, sich dann auf eine liberale Phase eingelassen und sie Anfang 1820 beendet. Ein Gesetz zur Verhaftung von Verdächtigen wird erlassen, die Pressefreiheit eingeschränkt, vermögenden Wahlberechtigten eine Doppelstimme übertragen, die katholische Kirche gestärkt. Das Panthéon, seit 1790 Beinhaus und Ruhmeshalle für Frankreichs größte Geister, wird religiösen Zwecken zugeführt.
Die Diligence ab Lyon wird mit ihren zwölf Passagieren vier Tage und Nächte für die 500 Kilometer nach Paris brauchen. Berlioz hat nichts über diese Fahrt notiert, doch lässt sich mit ihr vieles verbinden, was man von Ort und Zeit weiß, was ihn selbst bewegt auf dieser ersten großen Reise von vielen, die folgen werden bis zu jenem fernen Jahr 1867, als Berlioz dieselbe Strecke in nur noch elf Stunden zurücklegt. Bis dahin werden wir erleben, wie Paris nicht nur zu seiner Schicksalsstadt wird. Wir werden in Revolutionen und Großbaustellen geraten, in Ruinen, Paläste und Absteigen, Musikern begegnen, die sich durchschlagen oder triumphieren, während eine ungeheure Beschleunigung der Technik in der stets wachsenden Stadt ihren Anfang nimmt. Den jungen Rossini werden wir zum Essen begleiten und den alten zum Fotografen, mit Flaubert werden wir Pauline Viardot in ihrer letzten Rolle bewundern und mit Balzac die erste Oper besuchen, die Berlioz sah. Liszt wird vor der Cholera in nächtliche Improvisationen fliehen, Wagner sich in Paris finden und es der Stadt nie verzeihen, Chopin nicht als einziger eine große Liebe gewinnen und verlieren, am Klavier nur scheinbar fern von der Welt. Meyerbeer wird vollendet den riesigen Seismographen mitten in der Hauptstadt Europas beherrschen, die Grand Opéra, deren Besuch für die Mehrheit der Pariser nicht zu bezahlen ist. Alles gerät hinein in die Musik dieses 19. Jahrhunderts, die unser Hören nicht von ungefähr bis heute prägt. Und Offenbach wird all seine Kollegen auf einem Nebengleis überholen, neben dem ein letzter französischer Kaiser das erste Fax verschickt. Berlioz fährt hinein in den Vormittag unserer Moderne.
Sie fahren noch gar nicht lange an der Saône entlang nach Norden, da ruft kurz vor Neuville l’Archêveque ein Geschäftsmann: «Hier war es!» Und er berichtet, wie hier vor einem Jahr die Pferde scheu geworden seien und den Wagen in den Fluss gerissen hätten: «Drei Passagiere sind ertrunken, neun wurden gerettet!» Ein anderer wartet mit der nächsten Schreckensgeschichte auf, auch nicht lange her: Da sei die Diligence von Marseille nach Lyon überfallen worden, neun Räuber hätten alle Reisenden genötigt, sich platt auf den Boden zu legen, und seien im Gepäck prompt fündig geworden: vier Stangen Gold, 20000 Francs! «Pah! Davon können Sie in Paris keine vier Jahre lang leben», brummt einer mit Kennermiene, und Hector denkt besorgt an die 530 Francs, die ihm sein Vater mitgegeben hat für die ersten Monate. Er schaut in seiner Tasche nach. Der Umschlag ist noch da, und Notenpapier, leeres … Pleyel wollte nicht einmal die Noten des Sextetts sehen, aber immerhin kam eine Antwort, eine klare Absage. Hector hat die Noten bis vor wenigen Tagen aufgehoben, auch die eines Quintetts und einer Romanze, für Stimme und Gitarre. Dann hat er alles verbrannt. Und sich doch alles gemerkt.
Er summt, während er hinausschaut: «Drum lass ich nun für alle Zeit / Mein schönes Land, mein süßes Lieb …» «Was ist das, ein Liebeslied?», fragt Alphonse neben ihm spöttisch. «Ein Klagegesang», sagt Hector nur und sieht Estelle vor sich, Estelle, die sieben Jahre Ältere, Estelle, die er als Zwölfjähriger in der Sommerfrische von Meylan kennenlernte, um sich für immer zu verlieben, sie, die von der Höhe ihrer Schönheit mild spöttisch auf ihn herabschaute, aber doch gern den kleinen Bewunderer in ihrer Nähe hatte, der Qualen litt, wenn sein lebenslustiger Onkel Felix mit der Neunzehnjährigen tanzte … oh, ihre rosa Schnürstiefel! Ihre Augen, lächelnd und kampfbereit! Bei Hector dringt immer alles tief, und nichts wird vergessen. Die ganze Welt wird später hören, wie der Schmerz so früher Liebe klingt.
Zweimal täglich eine Pause von 45 Minuten, alle paar Stunden ein Wechsel der sechs Pferde, die die schwere Kutsche mit zwölf Personen und ihrem Gepäck ziehen, nachts unruhiger Schlaf über rumpelnden Rädern. Die Gespräche sind seltener geworden, die Cousins blättern vor Langweile in ihren Lehrbüchern. Der Mann mit der Kennermiene hat längst alles erzählt, was ihm zu Paris einfällt. Ah, die königliche Oper! Die sei abgerissen worden, hat er dem entsetzten Hector am zweiten Reisetag mitgeteilt, im vorigen Jahr schon, das wisse er nicht? Nach dem Attentat! Auf den Duc de Berry, den Neffen des Königs, sei beim Verlassen der Oper ein Sattler zugetreten und habe ihm den Dolch in die rechte Seite gestoßen. Der Bourbone sei noch am Tatort gestorben, der König habe den Bau daraufhin niederreißen lassen. «Aber, junger Mann, es gibt ja noch die Opéra-Comique, das Théâtre-Italien, das Odéon, und vor allem: Sie glauben doch nicht, dass man in Paris ein Theater niederreißt, ohne ein neues zu bauen? Eigens für Sie!» Er lacht, ihm ist nicht entgangen, dass diese angehenden Medizinstudenten sich mehr über Musik als über Anatomie unterhalten. Vor kurzem erst, im August, ist ein weit größeres Haus für die Académie Royale de Musique eröffnet worden, mit beinahe 2000 Plätzen anstelle von 1300. Der wahre Grund für den Abriss des älteren Theaters dürfte die Gefahr eines Theaterbrandes gewesen sein, der in der schmalen Rue de Richelieu auch gleich die königliche Bibliothek bedroht hätte. Ernstere Folgen hatte das Attentat am 14. Februar 1820 für die Politik, denn Louis XVIII. nutzte es als Vorwand, seine liberale Phase zu beenden.
Ein letzter Pferdewechsel, man vertritt sich im Morgengrauen die Beine und fröstelt. «Paris», sagt der Postillon knapp und mürrisch und deutet vage nach Norden, als sei da schon etwas zu erkennen. Hector sieht nur flaches, leicht gewelltes Land im Nebel, grau und schwarz schraffiert, die Berge sind längst gewichen. Als nach weiterer Fahrt rechts der Seine zwischen Hügeln die Stadt erscheint, ist sie fast so übersichtlich wie auf einem Kupferstich. Sie wuchert noch nicht, wie das dreimal so große London, mit Vororten, Baracken, Fabriken ins Umland hinein. Brachliegendes Land, verlassene weite Flächen, halb besiedelt zwischen Steinbrüchen und Friedhöfen, reichen bis an die Stadtmauer, die als Zollgrenze dient, gut drei Meter hoch, rund um ein Areal von nicht einmal 40 Quadratkilometern. Im Nordwesten endet die Stadt mit einer Bauruine, dem unter Napoléon begonnenen Triumphbogen, der derzeit Arc d’Angoulême heißt, im Norden erhebt sich Montmartre mit der Telegraphenstation als separater Ort, vor den südlichen und östlichen Mauern befinden sich auf Anhöhen die Friedhöfe Montparnasse und Père La Chaise, wie es noch geschrieben wird.
Als sich die Diligence auf der Rue de Charenton am nördlichen Seineufer der Stadt nähert, sieht Hector, nach links hinausschauend, die hohe Kuppel des Panthéon. «Pont d’Austerlitz», endlich meldet sich der Mann mit der Kennermiene wieder zu Wort und weist auf eine Brücke, deren Bögen aus Eisen gefügt sind. Ein anderer hat einen Stadtplan entfaltet und widerspricht: Bei ihm heiße die Brücke «Pont du Jardin-du-Roi». «Jaja, so heißt sie seit ein paar Jahren. Der König will nicht an Napoléon erinnert werden!» Er beugt sich vor und raunt Hector zu: «Behalten Sie’s für sich, junger Mann, aber Sie werden es erleben, dass wir ihn wieder feiern!» Sie passieren die Barrière de Charenton, und selbst jetzt noch, innerhalb der Mauern, sieht Berlioz Wiesen und Äcker zwischen vereinzelten Bauten. Doch bald stehen die Häuser dicht an dicht und immer höher, aus ihrer Mitte ragen düster die Viereckstürme von Notre-Dame.
Als man die Place de la Bastille erreicht, stößt Alphonse seinen Cousin an: «Ein Elefant!» Tatsächlich steht am südöstlichen Rand des Platzes still und starr ein gewaltiges Rüsseltier mit einem hausähnlichen Turm auf dem Rücken. Eine Erinnerung an Napoléon, aus Gips und Holz: Der Kaiser wollte den Elefanten als triumphales Monument aus der Bronze erbeuteter Kanonen gießen lassen, von einem Bassin umgeben, doch als er stürzte, stand da erst dieses Modell, fünfzehn Meter hoch, und dabei blieb es. Es wird noch sehr lange dort bleiben, exotisches Inbild des Verfalls, schon jetzt etwas fleckig und von einem Zaun umgeben. Rund 750000 Menschen leben in Paris, die um diese Zeit alle schon auf den Beinen zu sein scheinen. Es schwindelt Hector Berlioz, als er das Gewimmel in den Straßen wahrnimmt, die Höhe der Gebäude, den Lärm, das Rasseln der Wagen und Geklapper der Hufe, sofern eine Straße gepflastert ist, den Rauch von Zehntausenden Feuern, aus Holz oder Steinkohle entflammt. Von der Bastille geht es nach Norden, schließlich zur Messagerie Royale, dem Knotenpunkt aller Kutschenlinien im Zentrum. Von hier ein Cabriolet zur Rue St. Jacques, quer durch die Stadt nach Süden, über die Île de la Cité, diese Straße ist eine der Hauptschlagadern seit römischer Zeit.
In der Nr. 104 werden die beiden jungen Männer von Monsieur Drouault erwartet, dem Vermieter ihrer möblierten Bleibe, die man durch einen nach Katzenurin duftenden Hinterhof ein paar Treppen hoch erreicht. Aus dem Fenster sich beugend, kann Berlioz unverhofft die Landschaft über der Stadt entdecken – eine Ebene von braunen, grauen und roten Dächern aus Schiefern oder Ziegeln, von gelben oder grünen Moosflecken besetzt, während in den Dachrinnen eine kümmerliche Vegetation verdorrt. Das ist die Savanne von Paris, wie Balzac sie in diesen Jahren erlebt, auch er in einem billigen Zimmer: «Dach an Dach zu einer Ebene geformt, unter der sich Abgründe voller Menschen verbergen.» Aus Hinterhöfen hört man Hühner gackern und Schweine grunzen. Abends sieht man helle Lichtstreifen aus schlecht geschlossenen Fensterläden, und manchmal dringt von unten blasser Schein von den Reflektoren der Öllaternen gelblich durch den Nebel und lässt die Wellenlinien der dichtgedrängten Dächer über den Straßen ahnen.
Nur wenige Minuten muss Berlioz von der Rue St. Jacques bis zu den Kolonnaden der École de médecine gehen, in Richtung Odéon. Schon dabei erhält er die erste Lektion: Paris ist dreckig, besonders im nassen November. Viele Straßen sind nicht gepflastert, Bürgersteige gibt es kaum, den Kehricht befördern die Leute auf die Straße. Manche Gossen kann man kaum überqueren, so hoch stehen Matsch und Dreck. Feine Damen schnallen sich Holzsohlen unter ihre Schuhe, sogenannte socques articulés, um sie halbwegs sauber zu halten. Unachtsame Fußgänger werden von vorbeifahrenden Kutschen von oben bis unten bespritzt. Was neu gebaut wird von öffentlicher Hand, sind Kirchen, Paläste, Theater, luxuriöse Einkaufsgalerien, Straßen und Plätze. Doch bis 1830 wird Paris erst fünfzehn Kilometer Bürgersteige haben, unter denen halb so viele Abwasserkanäle den Dreck der wachsenden Stadt kaum fassen können. Es stinkt an der Seine, in die sich 21 Röhren ergießen. Deren größte, unter der Bastille entlangführend, ist immer wieder verstopft, mitunter steigt der Kloakensud in den Straßen empor und flutet Höfe und Keller, häufig ersticken Arbeiter, die den gefürchteten Égout Amelot säubern sollen.
Für Ärmere wird der Wohnraum knapp. Sie ziehen in billige Bauten, wie sie am Rand der gewaltigen Senkgrube im Norden der Stadt hochgezogen werden oder der Grube im Faubourg Saint-Antoine im Osten, beide ständig überfüllt und bestialisch stinkend. Dagegen bewegt man sich an der École de médecine auf der Höhe der Zeit, das neu erfundene Stethoskop in der Hand. Paris gilt als medizinisches Zentrum der Welt, und der später berühmt gewordene Thomas Hodgkin aus England immatrikuliert sich zugleich mit Berlioz. In den steilen Rängen des Hörsaals schreibt der Arztsohn mit, was der junge Jean-Zuléma Amussat vorträgt, der sich mit der minimalinvasiven Entfernung von Nierensteinen befasst und den Neuling durch seine Leidenschaft beeindruckt; er hält ihn für einen «Künstler auf dem Gebiet der Anatomie».
Auch 2017 schwingen die Kolonnaden sich noch immer in leichtem Bogen entlang der Rue de l’École de Médecine, nun als Teil der Université René Descartes, um die herum überwiegend Studenten unterwegs sind, wie schon vor zweihundert Jahren. Die Atmosphäre der Stadt ist eine andere hier, wo die Straßen ein Gefälle bekommen, nicht steil, aber doch die Anhöhe merken lassend, auf der schon das Lutetia römischer Zeit nach Süden hinaufwuchs. Hier sind andere Menschen unterwegs, nicht die Angestellten, Geschäftsleute, Manager des zweiten Arrondissements nördlich der Seine, aus dem ich an diesem Märztag komme, zwischen denen Touristen und Obdachlose sich bewegen wie in einer Dimension, von der das Geld keine Notiz nimmt, während es einen Präsidentschaftskandidaten, der das Geld zu sehr liebt, kurz vor der Wahl stürzen lässt. Hier, im Universitätsviertel, ist es bei denselben lauen Märztemperaturen wärmer, lichter und heiterer als bei den Investoren rund um den Louvre, man spürt zwischen den Studenten eine andere Zukunft als die «alternativlose», die so viele lähmt. Auf dem Weg zur Rue St. Jacques, an der Sorbonne, am fein in Bronze lächelnden Michel de Montaigne vorbei, gehe ich über die Straße mit Berlioz’ erster Adresse zuerst hinweg, ohne sie zu bemerken, und lande am Panthéon. Dieser Koloss ist auf weitem Platz umgeben von jungen Männern und mindestens ebenso vielen Frauen, die auf dafür eigens installierten dicken Bohlen oder einfach auf dem Pflaster sitzend pausieren zwischen Vorlesungen, aus Papiertüten ihre Snacks holen und aus den Jacken ihre Smartphones. Ein paar Meter hinunter nach Westen, den fernen Eiffelturm im Blick, bin ich dann doch auf der Rue St. Jacques. Ich verstehe, was es bedeuten kann, voller Hoffnungen von hier aus, von dieser Anhöhe, auf Paris hinabzublicken, über den Dächern am Seineufer die Türme von Notre-Dame zu sehen: Es lässt die Zuversicht steigen, sie erobern zu können, diese Stadt, mit der Mittagssonne im Rücken. Berlioz’ erste Adresse, das Haus Nr. 104, existiert nicht mehr, auf diesem Teil der Straße wurden Gebäude der Pariser Universität errichtet. Also ein Stückchen hinab, zur Nr. 71.
An der École Polytechnique, unfern dem Sezierkeller am Jardin du Roi, hört Berlioz Vorlesungen bei Louis-Jacques Thénard, dem 54-jährigen Erfinder des Kobaltblau und Entdecker des Wasserstoffperoxid, einem der größten Chemiker der Zeit, Freund von Joseph-Louis Gay-Lussac, zu dessen physikalischen Vorlesungen der Student im nächsten Jahr geht. Gay-Lussac ist schon 1804 mit einem Wasserstoffballon in vier Kilometer Höhe aufgestiegen, um von dort aus das Erdmagnetfeld zu untersuchen. Berlioz ist beeindruckt von seinem Kurs über experimentelle Elektrizität – vermutlich knüpft der Physiker dort an die große Entdeckung seines Kollegen André-Marie Ampère an, der 1820 in Paris das Magnetfeld stromdurchflossener Leiter nachweisen konnte. Die Zeit beschleunigter Fortschritte in Wissenschaft und Technik hat begonnen.
So ist der Student aus der französischen Provinz im wahrsten Sinne geblendet, als er zum ersten Mal in die Oper geht. Vor kurzem erst, im August 1821, ist das neue Opernhaus an der Rue Le Peletier eröffnet worden mit knapp 2000 Plätzen. Ein besonders helles Licht erfüllt die Korridore und wird vom gewaltigen Kronleuchter über ausgedehntem Parkett verströmt: Gaslicht, nach Londoner Vorbild. Acht Jahre, ehe die erste Pariser Straße so beleuchtet wird, verstärkt es die Pracht des neuen Hauses. Logen, von schlanken Säulen gestützt und von sanften Bögen gekrönt, in der Mitte die Loge des Königs, wie in allen Theatern mit blauem Samt ausgeschlagen. Wer in diesen Logen sitzt, wer sie abonniert hat, das interessiert Berlioz so wenig, wie sich die Vornehmen für einen Studenten interessieren, der an seiner Kleidung sofort als Provinzler zu erkennen ist. Vermutlich hat er sich nach Kräften fein gemacht. Vielleicht stellt er fest, dass seine Nankinghosen aus der Mode sind, die mit den Absätzen seiner geliebten grünen Stiefel zusammenstoßen – während hier alle Männer Hosen mit Steg tragen, strahlend weiß oder aus Phantasiestoffen gefertigt –, dass seine Weste zu kurz ist und die weiße Krawatte, deren Enden seine Schwester Nanci bestickt hat, ganz unmöglich. Doch für so etwas hat er ein weniger scharfes Auge als ein anderer junger Mann, der schon einige Jahre länger in Paris lebt und uns genauestens überliefert, wozu man in die Oper geht. Die Musik spielt kaum eine Rolle auf den Seiten der «Verlorenen Illusionen», auf denen Lucien Chardon anno 1821 erstmals die Oper besucht und, genau wie Hector Berlioz, die «Danaiden» des Antonio Salieri erlebt – sofern er mal zur Bühne schaut.
Lucien ist ein alter ego seines Autors Honoré de Balzac. Möglich also, dass Balzac, im Jahre 1821 noch ein unbekannter 22-jähriger Kolportageromancier, dieselbe Vorstellung am 14. November besucht wie Hector Berlioz. Beide sitzen hier zwischen Leuten, die über mindestens das Zwanzig- bis Dreißigfache jener gut 500 Francs im Jahr verfügen, die das durchschnittliche Jahreseinkommen in Paris darstellen und damit den Betrag, mit dem Balzacs Romanfigur Père Goriot im nackten Elend lebt – im selben ärmlichen Quartier Latin, in dem Berlioz logiert. Eine sitzengelassene Frau wie Fantine in Hugos «Misérables» arbeitet siebzehn Stunden am Tag für neun Sous, das sind 45 Centimes – der sichere Weg in die Prostitution. Die reichsten 0,5 Prozent jener Erben, Männer und Frauen, die es auf 10000 bis 50000 Francs im Jahr bringen, können unbeschwert und in Würde leben – rund 3500 Pariser, zu denen Balzac gehören möchte ebenso wie die jungen Aufsteiger seiner Romane «Père Goriot», der 1819 spielt, und «Illusions perdues», der drei Jahre später ansetzt. Im ersten dieser beiden Romane heißt der arme Jüngling aus der Provinz Eugène de Rastignac. «Wenn Sie dreißig sind», erklärt ihm Vautrin, ein Zyniker, der die Welt kennt, «werden Sie Richter mit zwölfhundert Francs im Jahr, falls Sie die Robe noch nicht auf den Kehricht geworfen haben. Und mit vierzig heiraten Sie irgendeine Müllerstochter mit 6000 Francs Rente. Besten Dank! Oder Sie genießen Protektion, dann sind Sie mit dreißig Staatsanwalt, verdienen 5000 Francs und kriegen die Tochter eines Bürgermeisters.» Mit anderen Worten, wirklichen Wohlstand werde er nie mit Arbeit, sondern nur durch die Rente erlangen, die ein Kapital von einer Million Francs abwirft.
Ein paar Jahre später, im November 1821, in den «Verlorenen Illusionen», bewegt sich Eugène schon in glänzender Gesellschaft, in der Oper. Und dorthin verschlägt es auch Lucien Chardon, neu in der Stadt, junger Kavalier einer Dame aus der Provinz. Sie befinden sich in der Loge ihrer Cousine, einer Marquise, die den beiden nicht nur zwischen den Akten die Welt in den bestens beleuchteten Logen erklärt. «Dort sind Monsieur de Rastignac und Madame de Nucingen. Sie ist die Frau eines Heereslieferanten, eines Bankiers, eines Spekulanten, eines Trödlers en gros, der sich der vornehmen Welt von Paris mit Hilfe seines Vermögens aufgedrängt hat; es heißt, er mache sich wenig Skrupel über die Mittel, es zu vergrößern; er gibt sich größte Mühe, seine Treue für die Bourbonen zu beweisen; er hat schon versucht, bei mir Zutritt zu erlangen. Seine Frau hat sich jedenfalls gedacht, wenn sie die Loge der Madame de Langeais nähme, bekäme sie auch deren Anmut, Geist und Erfolg! Immer die alte Fabel vom hässlichen Vogel, der sich mit Pfauenfedern schmückt!» Nach dem ersten Akt bequemen sich vier Herren der Gesellschaft zur Marquise und begutachten die herausgeputzten Provinzler in ihrer Loge. «Marsay nahm seine Lorgnette, als er den Ankömmling anschaute, obwohl er nur zwei Schritte von ihm entfernt war … er prüfte sie wie zwei absonderliche Tiere und lächelte.»
Während des zweiten Akts werden dann die Geprüften in einer weiteren Loge durchgehechelt: «Es schien dort ein lebhaftes Gespräch im Gange zu sein, in dem es sich um Madame de Bargeton und Lucien handelte. Der junge Rastignac war offenbar der amüsante Plauderer dieser Loge, er rief das typische Pariser Lachen hervor, das sich jeden Tag einen neuen Gegenstand sucht und es eilig hat, jedes Thema sofort zu erschöpfen und etwas Altes und Abgetanes daraus zu machen.» Und das alles, während auf der Bühne König Danaus ein Bündel Dolche auspackt und seinen fünfzig Töchtern befiehlt, nach der anstehenden Massenhochzeit ihre Männer in den Ehebetten zu ermorden – was 49 von ihnen im vierten Akt auch tun werden. «Lucien war glücklich über die Ablenkung durch die Vorgänge auf der Bühne», schreibt Balzac lapidar.
Berlioz lauscht in dieser Vorstellung einem exzellenten Orchester, dem grandios schroffen Bariton Louis Dérivis als Danaus, der berühmten Sopranistin Caroline Branchu als dessen widerspenstiger Tochter Hypermnestra, dem Chor der Danaiden, die über rasenden Streichern und Blechbläsern dem Blutrausch entgegentaumeln. «Stell dir vor», schreibt er vier Wochen später seiner Schwester Nanci, «ein Orchester von achtzig Musikern, die mit solcher Präzision spielen, dass du denken könntest, es wäre ein einziges Instrument.» Es ist das erste Orchester, das er in seinem Leben hört, aber sein Eindruck trügt ihn nicht. Die verwöhnten Autoren des englischen Reiseführers «A new picture of Paris» vermerken: «Musik und Tanz sowie die Mechanik und Abläufe der Szenerie können nicht überboten werden. Sie übertreffen die Erwartungen jedes Fremden, ganz gleich, was er schon darüber gehört haben mag … Das Orchester wird von keinem Theater in Europa übertroffen.»
So kommt es, dass ein paar Tage später zwischen Ratten und Spatzen, Skalpellen und Sägen, Studenten und «Objekten» einschlägige Themen aus den blutigen «Danaiden» im Seziergewölbe an der Rue de la Pitié zu hören sind. Dabei steht Berlioz die Begegnung mit einem Idol seiner Jugend erst noch bevor, mit der Musik jenes Christoph Willibald Gluck, auf dessen Spuren Salieris Oper ebenso komponiert ist wie die «Stratonice» des Étienne Méhul, die er auch hört. Am 26. November ist es so weit: Glucks «Iphigenie auf Tauris» wird gespielt, radikalstes Werk des Reformers, seit dessen Pariser Uraufführung mehr als vierzig Jahre vergangen sind. Wieder sitzt der Student im Parkett, gespannt, welche Szenerie der prachtvoll bemalte Vorhang mit den Goldfransen diesmal freigeben wird. «In der Ferne», schreibt er darüber an Nanci, «sieht man eine weite Ebene (Oh! Die Illusion ist perfekt!) und in noch weiterer Entfernung das Meer. Ein Sturm kündigt sich im Orchester an, dunkle Wolken senken sich langsam herab und bedecken die ganze Ebene, die Bühne wird nur vom zitternden Licht der Blitze erhellt, die die Wolken durchzucken, das aber mit einer Wirklichkeit und Perfektion, die man gesehen haben muss, um es zu glauben. Für einen Moment Stille, kein Schauspieler ist zu sehen, das Orchester murmelt leise, es ist, als könne man den Wind hören (du weißt, wenn man im Winter allein ist und den Nordwind flüstern hört). Genau so ist das; dann wächst unmerklich die Spannung, der Sturm bricht aus, und man sieht Orest und Pylades ankommen, in Ketten, geführt von den Barbaren von Tauris, die diesen furchtbaren Chor singen: ‹Blut wird gebraucht, um unsere Verbrechen zu sühnen.› Man hält das nicht aus … Und es ist seine Schwester, es ist Iphigenie, Priesterin der Diana, die ihn schlachten soll. Das ist entsetzlich, siehst du; ich könnte dir niemals wahrhaftig beschreiben, welches Gefühl des Grauens man erlebt, wenn Orest zu Boden sinkt und sagt: ‹Friede kehrt in mein Herz zurück.› Er schläft ein, und man sieht den Schatten seiner Mutter, die er getötet hat, um ihn herum schleichen, mit mehreren Geistern, die in ihren Händen zwei höllische Fackeln halten. Und das Orchester! All das war auch im Orchester. Wenn du hören würdest, wie er alle diese Situationen malt …»
Berlioz weiß nicht, dass die Blitze, die ihn so beeindrucken, sich einem rasch entflammbaren Pulver aus Bärlappsporen verdanken – dieses Lycopodium, nicht synthetisierbar, wird bis heute auf Bühnen eingesetzt. Aber wenn er es wüsste, würde es den Eindruck so wenig mindern, wie unser Wissen um die digitale Matrix die Saurier und Raumschiffe unattraktiv werden lässt, die sich durch Blockbuster und Onlinegames bewegen. «Die Kunst der Inszenierung», schreibt Louis-Désiré Véron, Intendant ab 1831, «besteht darin, das Auge des Zuschauers zu täuschen, reale Objekte zu simulieren, mit Geschicklichkeit und Talent.» Die Dimensionen, die diese Kunst im Kino und im digitalen Design erreicht hat, machen es schwer zu begreifen, was Berlioz erlebte: Was die Oper, zumal die Pariser, zu bieten hat, ist noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, bis zum elektrischen Licht im «Propheten», der absolute Gipfel der Illusionskunst, der bewegten und tönenden Bilder, ehe ihr Realismus, wie der der Malerei, neben der Fotografie durchscheinend wird. Und Berlioz ist schon zu einem Zeitpunkt beeindruckt, als der Umbau der Szenen noch ganz desillusionierend bei geöffnetem Vorhang stattfindet und die spektakulärste Novität noch in Arbeit ist: Gaslicht auf der Bühne! Den Rekordbetrag von 188260 Francs gibt die Intendanz für das Bühnenbild von «Aladin, ou La Lampe merveilleuse» aus, in dem man am 6. Februar 1822 sogar erstmals eine leuchtende Sonne ihre Bahn ziehen sieht. Realisiert hat das ein Bühnenbildner, der der Welt noch ganz andere Innovationen bescheren wird, der 34-jährige Louis-Jacques-Mandé Daguerre.
Eine so drastische Partitur wie die von Gluck verbindet sich unmittelbar mit einer Bühne, die die symmetrisch gestaffelten Kulissen «à l’italienne» zugunsten der «illusion naturelle» hinter sich lässt. Die Tonsprache der Affekte muss ohnehin keinem erklärt werden; Musiker wie Hörer sind damit aufgewachsen, gerade deshalb lässt sich mit bedeutsamen Abweichungen von ihren Regeln effektvoll spielen wie in den unruhigen Streicherfiguren zur Arie des Orest – sie vor allem begeistert Berlioz. Wir können diese Musik mit zwei Klicks oder einem Griff ins altmodische CD-Regal erreichen, aber gerade darum ist uns die Wirkung kaum nachvollziehbar, die sie auf diesen hochsensiblen Mann aus der Provinz hat, der angewiesen ist auf die Aufführung, auf diese unwiederholbaren drei Stunden. Der zudem nicht, wie Balzacs abgebrühte und so verblüffend modern wirkende Schickeria, das reiche Angebot der Stadt für selbstverständlich hält oder gar, wie sie, daran dächte, das Haus während eines Aktes zu verlassen – was im Parkett auch weniger leicht fällt als auf einem Logenplatz für sechs bis zehn Francs. Ihm bleibt nach der Aufführung nur ein Weg zur Musik – die Partitur. Und er findet sie ein paar Straßen östlich der Oper im Conservatoire.
1822 heißt das Institut «École Royale de Musique et de Déclamation», und jeder, ob Student oder Lehrer oder einfach nur interessiert, kann sich die Schätze der Notenbibliothek aushändigen lassen, externe Besucher von 10 bis 15 Uhr, und sie am großen runden Tisch in der Mitte studieren. Und kopieren. Wann immer es die Vorlesungen an der Universität erlauben, begibt sich Hector nun vom Süden der Seine in den Norden, zum Conservatoire in der Rue Bergère. Er beginnt, Glucks Musik abzuschreiben, insgesamt 120 große Partiturseiten wird er füllen mit dem Besten aus «Iphigénie en Tauride» und «Iphigénie en Aulide». Eines Morgens stoppt ihn mitten im Hof ein Diener: Er habe umzukehren und durch den Eingang in der Rue du Faubourg Poissonnière zu kommen. Wie das? Anweisung des neuen Direktors. Weibliche Studenten haben durch den Eingang in der Rue Bergère einzutreten, männliche: Poissonnière. Berlioz hat diesen Direktor schon gesehen, einen so berühmten wie vergrämten Mann Anfang 60.
Luigi Cherubinis große Zeit als Opernkomponist ist vorbei, er hat es sich eingerichtet als Superintendent der Chapelle Royale, und für die frommen Bourbonen schreibt er fast nur noch Sakralmusik. Aber er ist ein effizienter Chef auf seinem zusätzlichen neuen Posten, er räumt auf. Denn als revolutionäres Erbe ist das Konservatorium in der Restauration heruntergekommen – Cherubinis Vorgänger sah sich wegen des knappen Budgets sogar veranlasst, das Gebäude mit alten Cembali zu heizen. Alle Studenten müssen sich im Juni 1822 einem Examen unterziehen, danach wird ihre Zahl von 473 auf 317 reduziert. Ein Drittel der Studenten sind Frauen. Das ist ein für diese Zeit außergewöhnlich hoher Anteil, mit steigender Tendenz sogar, der dem konservativen Alten Sorge bereitet. Eben darum richtet er getrennte Eingänge ein. Hector marschiert am empörten Diener vorbei in die Bibliothek.
Eine Viertelstunde später, der junge Mann ist schon in Glucks Noten versunken, betritt der Chef den Lesesaal, «mit meinem Denunzianten im Schlepptau», wie sich Berlioz an Cherubini erinnert, «das Gesicht noch leichenhafter, den Schopf noch gesträubter, die Augen noch böser und der Gang noch ruckartiger als gewöhnlich.» Die beiden umrunden den Tisch, mustern die Leser, die sich über ihr Material beugen, dann zeigt der Diener auf den Delinquenten. «Das ist er!» «A-a-a’a, Sie sind das», ruft der Alte wütend. «Sie sind das, der nimmt den Eingang, de-de-de-den ik verboten ’abe!» «Monsieur, ich wusste nichts von Ihrem Verbot, das nächste Mal werde ich mich daran halten.» «Näkste Mal, näkste Mal! Was kommen Sie ’ier-ä maken?» «Sie sehen doch, Monsieur, ich studiere die Partituren von Gluck.» «Und wa-wa-wa-was wo-wo-wollen Sie mit Partituren von-ä Gluck? Und wer ’at Sie erlaubt kommen i-i-i-in die Bibliothek?» «Monsieur … ich brauche niemandes Erlaubnis, um sie hier anzusehen. Von zehn bis drei Uhr steht die Bibliothek jedermann offen, und ich habe das Recht, davon Gebrauch zu machen.» «Da-da-das Rekt-ä?» «Jawohl, Monsieur.» «Ik! Ik-ä verbiete, dass Sie kommen wieder!» «Ich werde trotzdem wiederkommen.» «’alt ihn, ’a-a-a-alt ihn fest, Hottin, da-da-damit ik ihn einssperren lasse!» Daraufhin beginnt eine wilde Jagd rund um den Tisch, Hocker und Pulte fallen um, Hector entkommt.
Es ist nicht fair, wie Berlioz in seinen Memoiren den Chef des Conservatoire inszeniert, denn vier Jahre nach der Jagd durch die Bibliothek wird er als Student aufgenommen, obwohl Cherubini dafür Regeln brechen muss, die er selbst etabliert hat. Starrsinnig mag er sein und hart wie Stahl, wie sich einige an ihn erinnern, und als Pedant sondergleichen stapft er mit dem Kontrollregister unter dem Arm durch die Korridore. Aber er hat einen untrüglichen Sinn für Begabung, und ohne das Entgegenkommen dieses Mannes hätte Berlioz in Paris schlicht und einfach nicht studieren dürfen. Man muss die Jagdszene in der Bibliothek dennoch nicht für phantasiert halten, den trotzigen Jüngling eingeschlossen. Wer die Energie hat, derartig auf sich gestellt seinem Lebenstraum zu folgen, geht keinen Umweg durch die Rue Poissionere.
Er schreibt seinem Vater ein flammendes Bekenntnis zur musikalischen Berufung. Der Arzt ist entsetzt. Sein geliebter Erstgeborener, seine große Hoffnung, der Spross einer in Jahrhunderten etablierten Familie, den er sich im Ruhm der Medizin nachfolgen sieht, will sich als brotloser Musiker ruinieren, er, der nicht einmal Klavier spielen kann! Und von der Oper schwärmt er, was neben dem agnostischen Dr. Berlioz noch mehr seine zutiefst katholische Frau erschreckt, die im Theater nur Sünde sieht. Es beginnen Jahre der gegenseitigen Vorhaltungen, des verzweifelten Zuredens, der Flüche und Drohungen, der verweigerten und dann wieder gewährten finanziellen Unterstützung. Zunächst einmal aber gelobt Hector, beim sommerlichen Aufenthalt im Heimatstädtchen, der Medizin treu zu bleiben. Und es ist ja nicht so, dass der Dr. Berlioz, von dem in Paris schon 1810 eine medizinische Abhandlung gedruckt wurde, nicht auch seine hauptstädtischen Verbindungen hätte. Von väterlicher Güte und Strenge beseelt, schreibt er dem Chevalier Broussais, dem eminenten Chirurgen, mit dem er seit jungen Jahren korrespondiert, und siedelt den Sohn um in das Haus des berühmten Kollegen. Der wird ein Auge haben auf den angefochtenen Sprössling, zudem hat er einen Sohn, der, Hector ein Jahr voraus, Medizin studiert und zum Vorbild taugen kann. Es wird kein großer Umzug im Oktober 1822: Broussais wohnt in der Rue St. Jacques Nr. 71, nur ein paar Schritte hinab von der alten Adresse, auf der Ostseite.
Als ich dort ankomme, 197 Jahre später auf Spurensuche, holt vor der Tür gerade ein Mann den Schlüssel aus der Tasche. Das trifft sich gut, denn längst ist in Paris die Zeit vorbei, da man noch aufs Geratewohl den Klingelknopf neben einem der Namen auf dem Türschild drücken konnte, um in ein Haus zu kommen. Die Angst vor Kriminalität hat Namen und Klingeln verschwinden lassen, man findet nur noch Eingabetasten für den aktuellen Zahlencode, den der Besucher, angemeldet, zuvor per Handy vom Besuchten erfährt. Aber dieser Mann hier ist ohne Sorge. Als ich ihn frage, ob das hier die Nr. 71 sei, von deren schönem Innenhof ich gelesen hätte, winkt er mich hinein. Ja, der Innenhof sei von historischem Wert und gehe auf älteste Zeiten zurück. «Der Komponist Hector Berlioz hat hier gewohnt», sage ich, «es war eine seiner ersten …» Das französische Wort fehlt mir. «Logements!», sagt er freundlich. «Wirklich? Das wusste ich nicht. Es gibt keine Plakette am Haus!» Nein, Berlioz wird gut versteckt in Paris. Auch ins Panthéon hat er es nicht geschafft – aber dort liegt ohnehin kein einziger Musikantenknochen.
Halb so schlimm, wenn selbst dieser Mann, Ende vierzig, eher Arbeiter als Akademiker, in abgewetzter Regenjacke unter gegerbtem Gesicht, sofort etwas mit dem Namen Berlioz anzufangen weiß. Er freut sich und erlaubt mir, in Ruhe den Hof anzusehen, während er über eine uralte, schmale Treppe ins Haus hochsteigt. Ich kenne sie von einer Zeichnung, die wohl noch den Zustand zu Berlioz’ Studienzeit zeigt: Gleich links hinter dem düsteren Durchgang führt die Treppe neben der Hauswand ins Innere hoch. Mittlerweile ist sie vergittert und abschließbar. Dabei wohnen hier keine Reichen. Man sieht es an den Briefkästen. Die Fenster zur Rue St. Jacques hin sind sanierungsbedürftig und teilweise blind, und ein zweiter Treppenaufgang im Hof, ungesichert, riecht nach Armut. Eine unfassbar enge Wendeltreppe führt hinauf, schiefgetretenes Holz, abgegriffenes Eisengeländer. Ging er hier hinauf oder über die andere Treppe? Das frage ich mich nicht, während ich hochsteige, mit Büchern, Zetteln und Tablet in der Tasche wie ein Schuljunge auf verbotenem Terrain, vorbei an den zwischen die Wände geklemmten fensterlosen Wohnungstüren und den kleinen Küchengeräuschen hinter ihnen. Es ist eine mittägliche Säule der Zeitlosigkeit, in der ich die Stufen bis vor die letzte Tür erklimme, irreal, als könne hier in kurzer Zeit lange Zeit verstreichen wie im Antiquariat von Balzacs «Chagrinleder». Als könnte ich, wenn ich wieder auf die Straße trete, wie dessen tragischer Held feststellen müssen, dass neun Monate vergangen sind, in denen eine ganze Revolution stattgefunden hat …
Noch ist die Restauration an der Macht, acht Jahre bleiben ihr. Doch wie nervös die Mächtigen sind, das wird deutlich, als Hector Berlioz pflichtschuldig und mit weiteren 500 Francs versehen sein zweites Jahr als Medizinstudent antreten soll. Seit Februar des Jahres 1822 hat es Unruhen gegeben im Universitätsviertel. Studenten, vor allem Mediziner und Juristen, haben gegen den wachsenden Einfluss der Kirche auf das Bildungssystem protestiert, die Polizei schritt ein, es gab Verletzte. Im Spätsommer verschärft sich das. Täglich versammelt sich vor dem Justizpalast auf der nahen Île de la Cité eine empörte Menge, denn dort wird vier jungen Offizieren des Königs der Prozess gemacht – sie sollen als Mitglieder der revolutionären Carbonari den Sturz Louis’ XVIII. geplant haben. Den Studenten sind sie besonders nahe – gehören sie doch zum 45. Regiment, aus dem Quartier Latin komplett nach La Rochelle versetzt, da seine Infanteristen den Ruf «Vive le Roi» verweigerten.
Alle vier Männer werden am 21. September auf der Place de Grève guillotiniert. Hector Berlioz ist nicht dabei, erst einen Monat später bricht er aus La Côte-Saint-André nach Paris auf. Aber natürlich kennt er diesen Platz, «La Grève», wie er knapp genannt wird, und diese Maschine. Bis 1830 werden hier, im Zentrum von Paris, die Todesurteile vollstreckt, stets vor großer Menge, auch vor Kindern. «Tatsächlich hat das Schafott, wenn es aufgerichtet dasteht, etwas Halluzinierendes an sich. In gewisser Weise kann man der Todesstrafe gleichgültig gegenüberstehen, sich nicht dafür oder dagegen aussprechen, solange man nicht mit eigenen Augen eine Guillotine gesehen hat», schreibt Victor Hugo. «Die Guillotine ist die Verhärtung des Gesetzes, sie heißt Sühne, sie ist nicht unparteiisch und erlaubt einem nicht, unparteiisch zu bleiben … Um dieses Beil herum setzen alle sozialen Fragen ihr Fragezeichen. Das Schafott ist kein Gerüst, das Schafott ist keine Maschine, das Schafott ist kein lebloser Mechanismus aus Holz, Eisen und Stricken. Es ist scheinbar eine Art Lebewesen, dass irgendeine düstere Initiative ergreift. Fast möchte man meinen, dieses Gerüst sehe, diese Maschine höre, dieser Mechanismus begreife, dieses Holz, dieses Eisen und diese Stricke wollten … Es verschlingt, es frisst Fleisch, es säuft Blut. Das Schafott ist so etwas wie ein Ungeheuer, das Richter und Zimmermann gezeugt haben, ein Gespenst, das ein entsetzliches Leben aus all dem Tod heraus, den es gebracht hat, zu führen scheint.» Hugo kämpft sein Leben lang gegen die Todesstrafe, schon 1829 erscheint «Der letzte Tag eines Verurteilten», ein mehrere Wochen umfassendes fiktives Tagebuch aus der Feder des Verurteilten, beklemmend, aufwühlend bis zu den letzten zwei Worten, die er im Hôtel de Ville notiert, ehe er zwischen zwei Gendarmen hinaus auf die Grève muss, um vier Uhr nachmittags: «Quatres heures». Für solches Töten, für die Albträume davon wird Berlioz Töne finden.
Nach der Hinrichtung der liberalen Offiziere wird die