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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, September 2017

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Umschlaggestaltung Anzinger und Rasp, München

Abbildungen im Innenteil mit freundlicher Genehmigung der Theodor-Storm-Gesellschaft, Husum

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ISBN Printausgabe 978-3-498-04529-6

(3. Auflage 2018)

ISBN E-Book 978-3-644-03161-6

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-03161-6

Theodor Storm, 1864

Dorothea Storm, 1870

Längst bin ich eingetreten in den Herbst des Lebens. In den Ohren lärmen Saus und Braus. Meine Nase ist nicht mehr das, was sie einmal war. Aber von der Jugend herübergerettet habe ich die Augen, nicht ganz, denn die Brille ist mein treuer Begleiter. Um mich herum Reste aus Beruf und Liebhaberei – Bilder, Bücher, Fotoapparate, das Klavier und die Fliegeruhr.

Ich: Gustav Hasse, der jüngste und letzte. Die anderen Gustavs lassen sich zurückverfolgen bis ins 19. Jahrhundert, von Solsbüll über Flensburg nach Joachimsthal am Brandenburger Werbellinsee, wo im Jahr 1828 auch schon ein Gustav Hasse geboren wurde, von dem ich in direkter Linie abstamme. Davor verschwinden sie im Dunkel der Geschichte.

Ich selber zähle mich zur Spezies der Alten und Gesunden, und ich sage mir: Bloß nicht den vielen Kranken, den Mühseligen und Beladenen zu nahe kommen oder gar hinterherlaufen! Ich rauche nicht, ich esse und trinke mäßig, ich bewege mich beim Wandern und Radfahren. Auch Gartenarbeit und andere Pflichten, die mir als Großvater obliegen, sind mir lieb und teuer und erhalten mich. Ich pflege das sogenannte Gehirnjogging. Zum Beispiel ziehe ich mir aus dem Ländernamen Georgien die vier Wörter Geo und Georg und Orgie und Orgien. Aus dem Husumer Straßennamen Hohle Gas

Den Sommer habe ich noch abgewartet. Dieser hier hatte meine alten Tage mit gewaltiger Hitze, schwachem Ostwind und aberwitzig schön von Wind und Wetter erschaffenen Haufenwolken verzaubert. Die Touristen sprechen von Nolde-Wolken und haben vom Wetter doch keine Ahnung. Sie steigen aus ihrem klimatisierten Reisebus, viel mehr ist nicht, und das war’s schon.

Abends um halb elf, kurz vorm Zubettgehen, suchte ich noch das Sommerdreieck am Himmel: Wega im Zenit, die beiden anderen Eckpunkte findet, wer sucht, im Südosten: Deneb und Atair. Sonst tat ich nichts Anstrengendes. Im Schatten meines neuen breitrandigen Tilley-Hutes, den auch die kanadische Kavallerie trägt, setzte ich tagsüber meine Schritte langsam und leise.

An der Gartengrenze fließt die Beek, ein kleiner Bach, am Ufer Erlen und Weißdorn. Im Weißdorn siedelte vor drei Jahren eine Misteldrossel; sie ist nicht wiedergekommen. Im Weißdornschatten ist es kühl. Der Bach war jetzt nur knöcheltief, trotzdem flitzten da ansehnliche Barsche mit ihren roten Flossen hin und her.

Ich hatte mir in der Fischbeobachtungszeit ein Papierschiff gefaltet, setzte es ins Wasser und ließ es losschwimmen. Es erreichte nach dreihundertfünfzig Metern die Treene, fuhr dann bei Friedrichstadt in die Eider und war schon bald hinter Tönning in der Nordsee. Mit vollen Segeln überquerte es den

Inzwischen sind die Tage kürzer, die Nächte länger. Das Sommerdreieck ist verschwunden. Trotzdem ist der Himmel von einer Sternenschönheit, in die ich mich jedes Jahr aufs Neue verkucke. Manchmal heult der Wind ums Haus, manchmal heult er nicht. Manchmal fallen Regengüsse mit so viel Wucht und Wasser, wie sie nur der Teufel fallen lassen kann; bekanntlich dreht er an der Klimaschraube. Temperaturen um null Grad liegen in der Luft. Ich lade Freunde ein und koche für sie Rübenmus, Rübenmus mit Hintergedanken, denn beim Essen erzählen sie mir Rübengeschichten aus der Kinderzeit, und ich erzähle meine. Manch einer findet vor lauter Rübenmusbegeisterung kein Ende und hört mit dem Erzählen nicht mehr auf.

Damals in der Kinderzeit haben mein Freund Siemsen und ich Steckrüben ausgehöhlt, und mit dem Taschenmesser haben wir Augen, Nase, Mund hineingeschnitten. Wir steckten eine Kerze in den Hohlkopf, und wenn sie brannte, dann leuchteten Augen, Nase, Mund zur Rübe heraus. Damit haben wir gleich nach dem Krieg die Flüchtlinge erschreckt.

Die Herbstabende teile ich mir gut ein. Ich schließe die Haustür und überprüfe, ob sie auch wirklich mit den erforderlichen zwei Schlüsseldrehungen verschlossen ist. Ich will nicht gestört werden, ich will alleine sein und mein Wissen vergrößern. Nach der Tagesschau schalte ich den Fernseher aus, dann drehe ich den Dimmer meiner Leselampe gegen

Ich stelle eine dicke Kerze mit dem Aufdruck «Unser Norden» hinter Buch und Bild. Ich nehme ein Zündholz und reiße es über die Schachtel – das Zündholz brennt, die Kerze brennt, schenk ein, den Wein, den holden! Ich setze mich in meinen grün bezogenen Ohrensessel. Wie in weiter Ferne spiegelt sich im Blumenfenster das rote Stand-by-Licht meiner Computer-Steckerleiste, und im rötlichen Halbdunkel hängt über dem Bildschirm ein Lebkuchenherz mit dem Satz aus Zuckerguss: «Opa ist der Beste.» Dieses Großvaterniveau ist zu halten, ein fester Kurs ist zu steuern, denn meine fünf Enkelkinder sollen nachhaltig bewirtschaftet werden.

Schon wahr, auch ich lege Zierrat aus und mache Mätzchen. Ich brauche aber kein Publikum, mehr noch: Publikum ist für mich schädlich. Ich brauche nur die Atmosphäre und ein wenig Theater. Das Foto, die brennende Kerze, das Buch, der Marmortisch, das ist meine Kleinkunstbühne. Große Kunst erwarte man nicht, aber ich weiß: Kunst ist das Menschenmögliche. Können wir auf diese Weise die Menschheit verbessern? Nein, aber wir lockern ihr die Fesseln, indem wir von ihr erzählen. Und damit erwecke ich Frau Do zum Leben – mal ist sie jung, mal ist sie alt – und erteile ihr das Wort.

Und wozu das Ganze? Um in den Raum einzutreten, in dem sich alles vollzog, um durch das Fenster hinauszublicken in die Landschaft, die alles umgab, um den Ort zu finden, dem alles innewohnte, und schließlich: um das Herz zu finden, in dem alles beschlossen ist. Zart wie das Kind, das der Liebe entspringt.

Frau Do, sage ich nun in Richtung Kleinkunstbühne und fühle mich dabei wie der Souffleur in seinem Kasten, wer wie Sie in Husum geboren und aufgewachsen ist, ist doch am Meer aufgewachsen. Und wer am Meer aufwächst, lernt das Phantasieren und Lieben früh. Ich habe eine Bitte! Erzählen Sie uns von Ihrer Liebe zu Storm. Wir wissen so viel wie gar nichts darüber. Da ist doch noch viel Geheimnis drumherum. Es wäre schön, wenn etwas Licht in dieses Dunkel käme.

Ich zögere, zögere mit meinem guten Gewissen. Ich liebe mein gutes Gewissen, wie ich mein schlechtes hasse. O ja, hassen kann ich auch. Ist Licht im Dunkel wirklich so wichtig? Überall unbeantwortete Fragen. Soll man alles sagen, was man weiß? Verlohnt es sich, das aufzuschreiben, was man Erinnerung nennt? Ich jedenfalls habe – nicht jeden Tag – Tagebuch geschrieben, habe es zur Sicherheit dabei. Meine Sache ist nicht unheikel, ich habe vor diesem Kapitel meines Lebens eine gewisse Scheu. Hinzu kommt: Muss man denn immer wieder in der Vergangenheit bohren? Meine Mutter sagte: Kaum ist Gras über etwas gewachsen, schon kommt ein Kamel und frisst es ab. Und ich sage mit Goethe: Das schönste Glück des denkenden Menschen ist, das Erforschliche erforscht zu haben und das Unerforschliche – ich nenne es mal Vergangenheit – ruhig zu verehren.

Das ist für mich passend. Obwohl. Die Dinge wollen auch betrachtet werden, es ist sogar ihr ausdrücklicher Wunsch, denn sie wollen ans Licht, das habe ich selber oft genug erfahren. Diese ihre Eigenschaft ist ja das Glück des Dichters. Auch das weiß ich. So sind die Dinge nun mal. Und trotzdem zögere ich – nicht ohne Grund, denn auch schwere Jahre liegen hinter mir.

Mit dem Wetter will ich nicht ausweichen und um den heißen Brei herumreden, denn gelernt habe ich von meiner Großmutter Mummy, mir einen Ruck zu geben und gegen eine Haltung ohne Mark und Knochen anzutreten. Ich weiß nicht, wie ich ohne die kleinen und großen Predigten meiner Großmutter Mummy durchgekommen wäre, wenn ich im Elend war. Sich selber bekriegen, ein wenig muss das sein. Ist nicht der Sieg über sich selber der schönste?

Apropos Wetterglas. Ich beklopfte es auch an dem Morgen des Tages, an dem wir den Geburtstag meiner Mutter feierten, draußen im Garten am 1. August 1844. Drei trockene Wochen lagen hinter uns. Das Barometer stand unverändert auf Schönwetter, Staub hing in der Luft über den Feldern. In unserem Garten war es herrlich grün und kühl. Das machten die dichtbelaubten Apfelbäume, die Schatten warfen.

Meine Mutter hatte zur ersten Festlichkeit seit dem Tod ihrer Mutter eingeladen. Ich war fünfzehn, und mir fehlte meine Großmutter Mummy, viele Kindheitserinnerungen verbanden mich mit ihr. Oft ging ich heimlich zum Friedhof und setzte mich an ihr Grab. Mir wurde dann fromm und traurig. Dabei fällt mir ein, wie oft ich in der Grabesstille ihres Wohnzimmers gesessen und außer dem Ticken der alten

Eines Sommerabends holte Storm mich vom Friedhof ab. Ich weiß gar nicht, was er da wollte, aber auch er liebte seine Toten, das war’s wohl. Levkojen- und Syringenduft lag über den Gräbern. Diesen Duft mochte er.

Komm mit, sagte er, wir müssen alle mal sterben. Bis dahin wollen wir das Leben aber genießen, ja genießen. Er zog mich mit sich fort und lieferte mich zu Hause in der Norderstraße ab. Lass dich mal beaugenscheinigen, sagte er noch und strich mir mit der Hand übers Haar. Gute Nacht.

An Mutters Geburtstag trug ich ein weißes Kleid, blass und dünn, wie ich war, denn ich hatte drei Wochen mit Fieber und Unpässlichkeit im Bett gelegen. Storms Eltern Lucie und Johann Casimir waren auch eingeladen. Die Familien des Senators Jensen und des Advokaten Storm verkehrten miteinander, man lud sich ein, man sah sich oft, man kannte sich gut. Auch Storms Großmutter Woldsen, die damals noch lebte, war gekommen. Und natürlich Storm, der sich zwei Jahre zuvor in Husum als Rechtsanwalt niedergelassen hatte, mit seiner Schwester Cäcilie. Sie wurde Cile genannt, wir beide waren befreundet, nicht unbedingt ein Herz und eine Seele, sie war oft krank, litt, wie übrigens auch ihre Mutter, an einem Brechübel, das sie immer wieder bettlägerig machte. Tagelang zog sie sich dann zurück, war damit allerdings sicher vor ihrem Vater, der jähzornig sein konnte.

Ein Sonntagnachmittag mit Kaffee und Kuchen, Schlagsahne und Erdbeerbowle. Abends gab es verlorene Vögel, also Gehacktes in Kohlrouladen, mein Lieblingsessen, das meine

Ich meine, schon erste Herbstluft in der Nase gehabt zu haben, und das mitten im Sommer. Jahreszeitenduft begreift der Mensch bereits ganz früh. Den Herbstgeruch habe ich zuerst gelernt, danach den vom Frühling, dann den vom Sommer, zuletzt den Wintergeruch. Wie seltsam ist es doch, wenn man sich nach so langer Zeit immer wieder selber begegnet mit den alten, nie vergessenen Gerüchen.

Cile und ich standen beieinander, ich lehnte meinen Rücken gegen die Hausmauer, über mir war das Küchenfenster zur Seite geklappt – unsere Perle Lili streckte ihren Kopf heraus, sie kalfaktorte schon in meinen Kindertagen als Köchin in Mutters Haushalt. Cile hielt sich an der Pumpe fest und bewegte den Schwengel langsam hin und her, Brunnenwasser floss in den Eimer; längst lief er über.

Storm hatte sich wieder mal komisch, kam und belehrte uns mit dem erhobenen Zeigefinger seiner rechten Dirigentenhand, wobei ich am Zeigefinger vorbei direkt in seine blauen Augen sehen konnte.

Kinderchens, ihr Wasserverschwender, und das jetzt, wo bei der augenblicklichen Ich-weiß-nicht-was fast alle Brunnen ausgetrocknet sind. Dann tauchte er beide Hände in den Eimer und schleuderte uns einen Schwall Wasser über die Kleider. Mein weißes wurde ganz durchsichtig.

Es ist doch zu ulkig, rief Lili von ihrer höheren Warte aus. Sowie du neues Zeug anhast, Doris, komm in die Küche, sonst schaff ich das hier mein Lebtag nicht. Und bitte, kuck mal nach, wie morgen das Wetter wird. Wir brauchen dringend Regen.

Wegen solcher Fragen hatte mir mein Vater ein Wetterglas geschenkt. Es hing damals in meinem Zimmer neben dem Fenster zur Straße. Wie oft ist mir doch die Frage gestellt worden: Wie wird das Wetter, was sagt dein Quecksilber? Wetterfragen sind uralte Fragen. Dass Laubfrosch, Blutegel oder Spinne das Wetter vorhersagen können, gehört ins Reich des Aberglaubens, es war einmal. Ich ging an mein Wetterglas, klopfte ans Brett und sah, was der Himmel mit dem Wetter vorhatte. Immer wieder prüfte ich, wohin sich das Quecksilber bewegte, wenn die Luft mal stärker, mal schwächer ins Glas drückte und nachdrückte von ganz hoch oben. Je nachdem, ob es stieg oder fiel, wurde das Wetter gut oder schlecht, gab es Sturm oder Stille.

Als ich später in mein Exil geschickt wurde, schenkte mir mein Vater ein französisches Barometer, ein rundes Instrument, eingebaut in einen schön riechenden Eichenholzkasten. Der riecht immer noch so schön, ich halte mein Barometer wie ein Heiligtum in Ehren. Jeden Morgen sehe ich, was los ist, jeden Abend sehe ich, was morgen sein wird – Variable, Tempête, Bon Temps oder Très Sec.

Schönes Wetter allüberall auf den Kirchturmspitzen, blau der Himmel, hell die Sonne, als wir Mädchen von Storms Gesangverein im Sommer 1845 Christian VIII., dem dänischen König und Herzog von Schleswig, Holstein und Lauenburg, ein Ständchen bringen sollten. Er reiste auch in diesem Jahr in die Inselsommerfrische von Föhr, wo der Dichter Hans Christian Andersen ihn im Sommer davor besucht hatte.

Am Ende der Saison ließ sich seine Majestät mit Gefolge per Dampfschiff an die Küste fahren, bereiste die Herzogtümer, und das Volk bejubelte ihn. Auch Husum stand auf dem königlichen Reiseplan, und der dänische Konsul hatte Storm gefragt, ob er anlässlich des hohen Besuchs nicht ein Lied komponieren und mit seinem Chor aufführen könne. Storm war eigentlich gegen Lobhudeleien, gerade auch gegen solche auf die Obrigkeit. Aber hier sagte er ja, denn er begriff das Ganze als künstlerische Herausforderung, endlich konnte er sein Talent im Komponieren, Dirigieren und Aufführen erproben. Neugierig auf sich selber, fragte er sich: Wird alles gelingen? Das interessierte ihn.

Wir Mädchen, so hatte er sich das ausgedacht, sollten uns als Nixen verkleiden, und auftreten sollten wir als Nixenchor. Ein paar Nixenverse ließ er sich zufliegen, eine Melodie fand

Heil dir, heil dir, hoher König,

Nimm den Gruß der Meereswogen!

Dir entgegen silbertönig

Sind wir rauschend hergezogen.

Es war zehn Tage vor seinem achtundzwanzigsten Geburtstag. In Husum wurden schon festliche Anstalten zum Empfang des geliebten Landesherrn getroffen, und wir schneiderten und bastelten unsere Nixenkleidung, wobei es zu Eifersüchteleien kam – wer würde wohl die schönste Nixe sein? Lange Schleier, die wir mit Perlen und Korallen schmückten, Haarkränze aus Schilf, Moos und Muscheln, das war unsere Nixenstaffage.

Abends um acht traf der König in der Stadt ein. Die Husumer empfingen ihn mit Hurrarufen und mit dem Glockengeläut der Marienkirche. Plötzlich musste alles schnell gehen. Wir Nixen waren noch nicht vollzählig, und Storm war auch noch nicht da. Im Schlosshof, wo das festliche Willkommen gefeiert werden sollte, hatten sich Bürger und Beamte, Alte und Junge versammelt, mit bunten Girlanden und brennenden Laternen. In letzter Sekunde kam Storm mit zwei Nixen im Wagen an, meine Schwester Friederike und ich kamen ein paar weitere Sekunden später, nur die Großkreutz fehlte noch. Kaum hatten wir oben auf der Schlosstreppe unsere Reihen gebildet, schallten schon Hurra und Blasmusik über den Schlosshof, der König fuhr vor. Nixenmeister Storm mit seiner nervös leuchtenden Nase zog rasch die Noten aus der

Nach dem schlimmen Auftritt, den die Zeitung übrigens lobend, wenn auch nur beiläufig erwähnte, saßen wir in der Wohnung der Kammerherrin Stemann. Es gab Krach unter uns Nixen. Wer hatte die Schuld an allem, war die Frage, auf die wir keine Antwort fanden. Ich weinte. Ich glaube, alle Nixen weinten. Storm verstand es, streng und liebevoll zugleich zu sein und mit klugen Worten dem Spuk ein Ende zu machen. Dafür bewunderte ich ihn. Wir alle bewunderten ihn.

Um zehn Uhr startete ein Fackelzug zu Ehren Seiner Majestät. Storm hatte mich zu seiner Begleitung auserkoren, und ich fühlte mich herausgehoben, empfand auch ein wenig Schadenfreude nach dem Schlag ins Wasser für uns Nixen. Schleier und Kranz hatte ich abgelegt. Wir standen nebeneinander, als Senator Rehder im Fackelschein laut und vernehmlich Worte der Verehrung und des Dankes sprach und daran Hoffnung auf die gnädig verheißene Hafenerweiterung und den Ausbau der Chaussee nach Flensburg knüpfte. Es lebe Seine Majestät, der König, hoch, rief er am Ende. Der

Als alle Fackeln ausgebrannt waren, zerstreuten sich die Husumer und gingen nach Hause – gute Nacht, Majestät. Der König hatte seine Gemächer im Schloss. Morgen würde er den Hafen und die Husum-Flensburger Kunststraße in Augenschein nehmen und, von der Ringreitergarde begleitet, mit seinem Tross weiter nach Friedrichstadt ziehen. Die Zeitung dichtete ihm hinterher:

Denn wo der Fuß des Königs weilet,

Muss Segen allerorten sein.

Die Wunde, blutend, wird geheilet,

Wo Jammer war, kehrt Freude ein.

Storm begleitete mich nach Hause. Er ging mit mir einen Umweg durch die Neustadt, vorbei an dem Haus, das sein Vater ihm schenken wollte, demnächst würde er da einziehen. Es war schon sommerdunkle Nacht. Wir hatten keine Laterne dabei, das war das Allerbeste. Ich war durch die Nixenwirtschaft so aufgeregt und ängstlich, dass ich mit der Linken seinen Arm festhielt und mich an ihn drückte, aber als er mich die schönste Nixe mit der schlankesten und schönsten Gestalt nannte, musste ich lachen.

Das helle Lachen und dein fröhlich-kindliches Herz hast du von deinem Vater, sagte er.

Tatsächlich lachte mein Vater gern, er hatte ein fröhliches Herz. Storm mochte das, wenn er bei uns zu Hause auf einen Tee war, dann erfreute er sich am hellen Lachen meines Va

Riechst du das Holz, Theodor?, fragte ich.

Ja, sagte er, und dich kann ich auch riechen. Er fuhr mir zum Abschied mit seiner Hand über meinen gewesenen Nixenschopf. Schleier und Kranz – wo waren sie geblieben? Lass dich noch einmal beaugenscheinigen, Kindchen. Er kam mir ganz nah, damit er mich noch erkennen konnte.

Ich ließ mir’s gefallen und war voller Glück.

Mit Cile wandelte ich durch diesen Restsommer wie im Traum und dann hinein in den Herbst. Die Eltern bereiteten uns vor auf unsere Zukunft, wir sollten keine Dienstmägde werden. Erzogen wurden wir für die Ehe und für den Tod – dass wir heiraten würden, war zu vermuten, dass wir sterben würden, war gewiss. Unbedingt musste vermieden werden, dass wir zu den Sitzengebliebenen zählten. Dann säßen wir da als Mamsell, die weder Dame noch Hausfrau sein konnte. Lesen, Schreiben, Rechnen und das rechte Christentum waren zu lernen für das Leben. Das lernte ich zuerst, wie früher auch Storm, bei Mutter Amberg in der Klippschule. Wir Mädchen mussten uns wappnen für die Entsagungen, die uns so sicher wie das Amen in der Kirche später ins Haus stünden. Diese dann mutig zu ertragen, dahingehend wurde erzieherisch gewirkt. Mit unserer Schneiderin Tante Marie sprachen wir schon in der Kinderzeit Französisch, Lehrer Sahr gab uns Privatstunden in der deutschen Sprache und in Naturkunde, und einmal in der Woche erhielt ich bei ihm Klavierunterricht. Ein Jahr vor meiner Konfirmation schickten meine Eltern mich zu Madame Frisé auf die höhere Töchterschule in Flensburg.

Augenblicklich konnten wir noch bei Lisette Israel Eng

Dazu kam es Ende September 1845. Es war während seiner Verlobungszeit mit Constanze Esmarch, der Michaelismarkt stand wieder vor der Tür, und das Quecksilber in meinem Wetterglas war so hoch geklettert wie selten. Es herrschte eine ungewöhnlich schwüle Sommerhitze, obwohl laut Kalender schon der Herbst begonnen hatte. Selbst im Schatten war kein Aushalten. Auf dem Katzenkopfpflaster schimmerte es feucht und blank, die Harlekinkostüme klebten. Ich lockerte die Schnur, die das Kostüm oben am Hals festhielt.

Storm wohnte noch bei dem Agenten Schmidt in der Großstraße, der Umzug in die Neustadt war schon geplant. Tante Brick, die ihm später auch dort den Haushalt führte, öffnete uns die Haustür.

Morgen ändert sich das Wetter, sagte ich.

Da lachte sie und rief: Hereinspaziert.

Storm hatte sein Tagewerk getan und kam uns begrüßen.

Da sind wir wie angekündigt zum Tee, sagte Cile.

Wozu ihr euch selber eingeladen habt, sagte Storm.

Den Tee haben wir uns aber verdient, sagte ich.

Ja, das habt ihr. Eure Kostüme sind so recht passend zum Wetterzauber.

Tante Brick brachte drei Tassen und den sausenden Teekessel.

Warum habt ihr euch so ganz außer der Reihe verkleidet?, fragte Storm.

Das ist unser Tee-Anzug, sagte ich.

Ja, du zarte Blondine, sagte er und sah mich lange an.

Ich war sechzehn, er achtundzwanzig. Von Sehnsucht verstand ich noch nicht viel, aber fühlen konnte ich sie schon. Storm hielt mich damals für dreizehn, wie er später seinem Freund Brinkmann schrieb, also noch für ein Kind. So steht es übrigens auch in der «Bekenntnis»-Novelle, in der er die Begegnung mit einer Dreizehnjährigen schildert, in ebenderselben Hitze wie an jenem Septembertag. Der Erzähler verzehrt sich nach diesem Kind und hätte unter dessen Augen sterben mögen, so ist da zu lesen.

Das Kind in der Novelle bin ich. Ich weiß es, Storm hat seine Sachen ja immer aus dem Leben gegriffen. Hier, mit der Begegnung an diesem Glut-Tag in seiner Wohnung in der Großstraße, fing alles mit uns an. Meine Liebe zu Storm, von der ich noch nichts wusste, und Storms Liebe zu mir, von der

Seltsam war’s, als Cile und ich gingen. Wir wollten eigentlich nicht gehen, Storm schickte uns aber fort. Kann sein, dass er mal wieder Zahnweh hatte. Beim Abschied stand er vor mir, strich über mein Haar.

Lass dich mal wieder beaugenscheinigen, Kleines. Deine schönen Augen werden mir heute Glück beim Kartenspiel bringen.

Er spielte gern. Das Blut jagte ihm dann rascher durch die Adern, ihn durchströmte dann ein prickelndes Gefühl. Beim Kartenspiel hatte er aber wenig Glück, er verlor beim L’hombre und beim Vingt-et-un immer wieder, und dann zergrübelte und zerdachte er sich den Kopf. In den Ehestand sollte er mit einem Haufen Spielschulden treten. Seine Großmutter erlöste ihn von der Last, das war ihr Hochzeitsgeschenk, gut für Constanze. Bis dahin war es aber noch ein Jahr.

Besucht mich bald wieder, sagte er und verabschiedete uns an der Haustür.

Ein paar Tage nachdem er Anfang November 1845 umgezogen war in das Haus, das ihm sein Vater in der Neustadt schuldenfrei überlassen hatte, besuchten wir ihn wieder. Cile hatte wegen ihres Brechübels gerade drei Tage das Bett gehütet und war ausgemergelt und blass. Sie war ja immer blass; ausgemergelt auch eigentlich immer. Ihre Mutter hatte uns schon bei ihrem Bruder angekündigt. Inzwischen ging ich

Ich hätte noch ewig bleiben können, aber ich musste mit. Tief inwendig spürte ich kleine, wohltuende Erschütterungen, die auch Storm erfasst haben mussten, denn in der «Bekenntnis»-Novelle heißt es: Wenn es für unser Leben etwas Ewiges geben soll, so sind es die Erschütterungen, die wir in der Jugend empfangen haben. Das ist so wunderbar gesagt, dass ich es nicht vergessen habe.

Deine Augen haben mir übrigens beim Kartenspiel kein Glück gebracht, sagte er beim Abschied an der Haustür. Aber vielleicht sind sie für was anderes gut? Vielleicht fürs Theater?

Noch am selben Abend nahm er Cile und mich mit in die Komödie; die Schauspielertruppe Huber gab eine Vorstellung im Rathaussaal, «Röschens Aussteuer». Cile und ich fanden das Stück gelungen, Storm fand es nicht gelungen. Ein abscheulich flaues Ding, meinte er. Er war richtig böse und verabschiedete sich von uns schlecht gelaunt und mit roter Nase.

Für die Neujahrsnacht hatte mein Wetterglas ruhiges Wetter versprochen. Wolkenpolster lagen abends über Husum, es war milde und still, man konnte weit hören und leise sprechen. Nur schemenhaft war der Treppengiebel des Husumer Brauereigebäudes zu sehen und oben auf dem Rathaus der kleine, von sechs Säulen getragene Tempel mit wehender

Ich hatte Cile abgeholt, wir gingen Hand in Hand bis zur Marienkirche. Dort standen die Sänger der Liedertafel schön aufgebaut unter der Leitung von Lehrer Sahr. Der sang auch in unserem Gesangverein, und Storm übte dann und wann mit den Liedertafelsängern, wenn Sahr verhindert war. Storm verstand die Liedertafel nicht als Konkurrenz. Veranstaltungen aber, die ihm zu sehr nach Politik und Männerchor rochen, lehnte er ab. Von ihm war heute Abend nichts zu sehen.

Nachdem die Glocke zwölf geschlagen hatte, ertönte aus vierzig Männerkehlen «Des Jahres letzte Stunde». Sodann wurde von allen «Ein feste Burg ist unser Gott» gesungen. Cile und ich sangen mit – ich mit meinem Alt, Cile mit ihrem dünnen Sopran, wir kannten das Lied vom Konfirmandenunterricht. Kaum war der Choral verklungen, sprach der Vereinsvorsitzende ein paar kräftige, zeitgemäße Worte in Richtung Dänemark. Den König, unseren Herzog, nahm er aber ausdrücklich in Schutz. Er sagte, dessen Gerechtigkeitsliebe wisse alle hässlichen Eingriffe von unschöner dänischer Seite zu verhindern. Und deswegen schloss er mit dem Ausruf: Es lebe Seine Majestät König Christian VIII.! Darauf sang die Liedertafel als kleine Gegengeste unser Schleswig-Holstein-Lied. Ein Hoch auf die Einwohner der Stadt folgte. Die Fackeln wurden auf einen Haufen geworfen und verbrannten, während wir alle unter den weit ausholenden Armbewegungen des Dirigenten noch einmal sangen: Freiheit, die ich meine.

Ich begleitete Cile bis vor die Haustür in der Hohlen Gasse.

Hörst du was?, fragte sie.

Stadt, Land, Luft und Meer waren still. Nein, ich hörte nichts.

In solchen Neujahrsnächten begaben sich Liebespaare auf den Deich vor Husum. Sie flüsterten sich Liebesworte zu und besuchten die Wiedergänger, die sich dort in Mausgestalt verkrochen hatten. Sie trampelten im Gleichtakt auf die Grasnarbe und riefen den alten Zauberspruch:

Lieb Mausefrau, lieb Mausemann,

Kommt heraus und lasst euch blicken.

Frau Enzian, Herr Dulzian,

Tut uns süß heut Nacht beglücken.

Wenn das Schicksal es wollte, dann ließen sich die kleinen Wühler und Nager aus ihren Löchern scheuchen. Das bedeutete günstige Fügung, und ein mit Kostbarkeiten vollgestopftes Füllhorn erwartete die Liebenden. Damit auch ja nichts verlorenging, schrieben sie darüber einen kleinen Vermerk mit Datum und Uhrzeit ins Buch des Lebens.

Die Orkanstürme der ersten Januarwochen 1846 verklangen allmählich mit Hagel, Blitz und Donner. Sie hatten furchtbar gewütet aus West-Südwest. Noch versank die Nordsee in einem Meer von Gischt, flutete heran und strömte über Schiffbrücke, Krämerstraße und Wasserreihe. Wie mochte es auf den Halligen aussehen? Wenn Brunnen und Fethinge mit Meerwasser volllaufen, sind Mensch und Vieh arm dran, und die Halligleute wissen nicht, wo sie das Trinkwasser herkriegen sollen. England jagte uns zusätzlich mächtige Sturmschauer über die Deiche und ließ es prasseln. Die Storchennester auf den Dächern flogen wer weiß wohin.

Auch Storm hatte es getroffen. Bei ihm in der Neustadt lief das Regenwasser durchs Dach und weiter durch die Wohnzimmerdecke auf die Möbel und die Bühnendekoration, die er gerade anfertigte. Er stellte Eimer auf, schleppte sein Bett ins letzte trockene Zimmer und schaufelte Wasser bis zum Umfallen. Der Arme arbeitete gerade an einem Theaterstück für die kurz bevorstehende Silberhochzeit seiner künftigen Schwiegereltern in Segeberg, dem «Freischütz».

Der Mühlenteich lief über. Der Wassermühlenmüller leitete Notmaßnahmen ein und hörte zu mahlen auf, alle Räder standen still. Dann aber beruhigte sich das Wetter mehr und

Warum hast du so wenige Tage, Februar?, fragten die Leute. Merk dir, das Leben ist kurz, riefen sie ihm zu und sammelten die Storchennester ein. Sie reparierten den Sturmschaden und legten die Nester parat, denn die mussten unbedingt auf die Dächer, bevor die Störche im April wiederkehrten. Vom Deich herunter rodelte die Jugend. Auf dem Eis des Mühlenteichs vergnügten sich Alt und Jung mit Schlitten und Schlittschuh. Der Wassermüller konnte nicht mahlen, nun standen alle Räder still, weil das Wasser gefroren war. Er hatte Rotwein und Rum, Zucker und heißes Wasser zu Punsch gemischt und seine Punschbude aufgestellt. Man wärmte sich die Hände an den Gläsern und die Kehle mit dem Punsch. Und der Februar hatte die Bitte der Leute erhört, er ließ die Sonne steiler als sonst nach oben steigen und sorgte für Licht bis in die Abendstunden. Entsprechend lange dauerte das Treiben auf dem Eis.

Um das Wintervergnügen in Husum perfekt zu machen, wurde im Rathaussaal zur Maskerade eingeladen. Musik, Dekoration, Separees und prompte Bedienung waren verspro

Allein konnte und durfte ich nicht gehen, wie gern aber wollte ich die erste Maskerade erleben. Ich ging jetzt auf die achtzehn zu. Meine Schwester Rieke war inzwischen in Flensburg bei einer befreundeten Holzhändlerfamilie untergekommen und als Kindermädchen beschäftigt. Sie hatte ihre erste Maskerade in der Harmonie schon hinter sich und war begeistert gewesen. Meine Cile war wie so oft unpässlich und lag mit ihrem Brechübel zu Bett. Wäre sie überhaupt mitgekommen? Das frage ich mich heute.

Als Storm in jenen Tagen wieder einmal bei uns zum Tee war und sich über das helle Lachen meines Vaters freute, kam auch die Maskerade aufs Tapet. Meine Eltern hatten ihn schon früher als Kavalier für meinen ersten Tanz engagiert, und ich hatte ihn in der Maske eines weißen Schmetterlings entzückt. Viel später flog ihm wohl das Bild vom Schmetterling in die Seele, als er diese Verse in sein Tagebuch schrieb:

Weh, wie so bald des Sommers Lust verging –

O komm! Wo bist du, weißer Schmetterling?

Meine Mutter bemerkte beim Tee, es sei für ein junges Mädchen immer ein großes Unglück, auf seinem ersten Ball den ersten Tanz über sitzen zu müssen, weil sich kein passender Herr finden lasse. Tanzen könne Doris doch, rief sie und meinte Storm. Ja, tanzen konnte ich, das hatte ich mit Rieke schon in der Kinderzeit bei Tanzlehrer Freysingk gelernt. Storm sagte ja. Da wurde ich ganz vergnügt und auch ein

In den Tagen darauf sang der Winter draußen sein Lied. Schwarz die Luft, weiß das Land, das ist der Liebe Unterpfand, dichtete ich, während ich oben in meinem Zimmer an meiner Kostümierung arbeitete und unten in der Tee-Ecke der Teekessel sauste. Dann war es so weit, am Abend sollte die Maskerade sein. Ich war aufgeregt und brauchte einen ganzen Nachmittag für die Verkleidung. Meine Mutter half mir dabei, ein schönes Blumenmädchen zu werden.

Mein Gott, die Aufregung, was hast du für hektische Flecken?, sagte sie.

Aber am Ende stand ich da in einem weißen langen Kleid voller bunter Papierblumen, mein Haar war besteckt mit Blumen aus bunter Seide, und auf die Maske vom Kaufhaus Topf hatte unsere Schneiderin Tante Marie ein dunkelrotes Rosenmuster gestickt. Storm liebte Rosen über alles. Zu schade, dass Großmutter Mummy das nicht mehr erleben konnte. Ich legte eine Gedenkminute für sie ein, sah aus dem Fenster in Richtung Friedhof, wo sie begraben lag.

Hoffentlich sagte er nicht ab wegen seiner häufigen Zahnschmerzen, hoffentlich hatte er mich nicht beschwindelt oder sich nur einen Spaß erlaubt. Das hätte ihm ähnlich gesehen. Oder würde er lieber Karten spielen wollen, statt mit mir zum Ball zu gehen? Hatte er ein schlechtes Gewissen wegen Constanze? Die war in Segeberg, tanzte dort auch als seine Verlobte gern und ließ sich von Kavalieren die Cour machen. Das wusste ich von Storm selber; er war eifersüchtig, aber er

Um acht Uhr holte Storm mich ab. Schnell zog ich mir die Maske vors Gesicht, damit meine hektischen Flecken nicht zu sehen waren. Nie zu früh erscheinen, aber auch nie zu spät – das war Storms Richtschnur für solche Bälle. Er war gut gelaunt, sein Theaterstück war in Segeberg gut aufgenommen worden. Dort hatte er den Max aus dem «Freischütz» gegeben, auf Stormsch und in englischer Jägeruniform.

Max Freischütz, stellte er sich vor. Ich komme geradewegs aus dem schönen England, bin beschwerlich gegangen durch Husums Auen. Bitte um Dispensation ob meiner Verspätung.

Ich gewährte ihm die Bitte, denn ich wollte gern das deutsche Blumenmädchen an seiner Seite sein. Ich zog Mutters schweren Seehundfellmantel an, warf die Kapuze über und hakte mich bei ihm ein.

Ja, drück dich nur fest an deinen Max. Er summte ein paar Noten aus dem Jägerchor, zu dessen Takt wir nur schwer Fuß fassten, sodass wir alles andere als im Gleichschritt der Maskerade zusteuerten.

Der Mond stand fast voll und warf sein Licht auf die Marienkirche am Markt und auf die Schiffe im Hafen.

Komm gern an mich heran, sagte Storm. Mondlicht habe einen schädlichen Einfluss auf den Körper. Matrosen, die auf ihrem Schiff dem Mondschein oblägen, werde der Mund krumm gezogen, und ihre Muskeln würden verdreht. Auch gehe ihr Augenlicht auf mehrere Monate verloren, und ihr

Ich zog die Maske ein Stück fester und rückte noch enger an meinen Kavalier heran. Ist das da unten so etwas wie die Wolfsschlucht?, fragte ich.

Ja, meine Lieblingsblume, flüsterte er. Komm nur heran, so ist es recht und gut.

Kutschen rasselten an uns vorbei, Knaben liefen nebenher und riefen hurra – alle Richtung Rathaus und Maskerade. Siehe da, eine Sternschnuppe zog ihren Strich in den Februarhimmel.

Denke ja nicht, Wolfsschlucht und Waldlust seien im «Freischütz» das Wesentliche, sagte Storm. Auch deutsches Gemüt, Himmelsstrafgericht, harmlose Heiterkeit und Scheibenschießen seien nicht das Eigentliche dieser Oper. Zuallererst komme die Musik, die wunderbare, alles andere folge daraus. Auch die Liebe, denn ohne Musik gebe es keine Liebe. Auch den Gesangverein nicht. Darum haben wir ihn doch, Frau Musica, liebste Doris.

Ich bewunderte seine Klugheit und Bildung, seine Beredsamkeit, Entschiedenheit und Leidenschaft für das, was ihm wichtig war. Freilich war ein Schuss Liebe meinerseits wohl auch drin, ehrlich gesagt, und ganz inwendig die Angst vor dem leidvollen Wunder Liebe, von dem ich noch keine Ahnung hatte.

Mit unserem Gesangverein wollte er demnächst Chor, Lied und Terzett aus seiner Lieblingsoper aufführen. Im Sommer gedachte er uns für ein Konzert so weit zu haben. Es werde

Wie sich manches in der Welt

Wunderbar zusammenstellt. –

Einen geistlich frommen Mann

Deutet dir mein Name an.

Und, dir’s deutlicher zu künden,

Kannst ihn in der Bibel finden.

Doch ein Zeichen ändre um,

Und er schreckt das Publikum,

Wenn in schreckender Gestalt

Er auf Bühnenbrettern wallt.

Ich überlegte. Ich kannte diese Verse von Großmutter Mummy. Zu Storm sagte ich: Nichts sagen, ich komm schon noch drauf.

Die Tanzmusik bei der Maskerade machten Johannes Franzen und sein Kompagnon aus der Süderstraße mit Fiedel und zweiter Geige. Wir hörten sie über die Saiten kratzen, als wir die Treppe zum Rathaussaal hochgingen. Mantel, Schal, Muff und Mütze gaben wir an der Garderobe ab. Dann standen wir an der Schwelle zur Saaltür und blickten in den Trubel.

Alles junge Leute, sagte Storm und fasste sich an die rote Nase. Nichts sei selbstsüchtiger und erbarmungsloser als die Jugend.

Damit betraten wir den Saal.

Zweihundert Masken wogten in buntem Gemisch. Laufmädchen ohne Maske zwängten sich mit ihren Getränketabletts da durch. Ich sah vornehme Damen in Kostümen aus

Zwei Geschäftsleute hatten ihren Betrieb am Rande der Maskerade eröffnet und warteten auf Kundschaft: ein schweigsamer Apotheker mit stechendem Blick – er verkaufte ein weißes Pulver gegen Kopfschmerzen und zyprisches Puder gegen hektische Flecken – und neben ihm ein plärrender Bandjude mit Bauchladen, in dem er für die maskierte Damenwelt Schleifen, Bänder und Seidentücher feilhielt.

Wir tanzten einen Kotillon, dann drehten wir uns in einem Ländler. Ich fühlte mich leicht und schwebte wie damals, als er mich zum ersten Tanz begleitet hatte. Während wir tanzten, lehnte ich mich zurück, so konnte ich ihn besser sehen. Er war ein beneidenswert guter Tänzer, und mit mir hatte er ein leichtes Spiel, denn Tanzen hatte ich von der Pike auf gelernt.

Du wiegst ja fast nichts, rief er.

Ja, rief ich zurück, gerade so viel, dass du mich spüren kannst.

Unter den Maskierten war noch in vorgerückter Stunde ein Troubadour aufgetaucht, ein anderer wanderte als Tannhäuser auf dem zweifelhaften Weg zum Venusberg, wie er mit lauter Stimme verkündete: Morgen schon, liebe Freunde, werdet ihr

Storms Nase war noch roter geworden. Lisette Israels letzte Bemerkung fiel mir ein: Sie könne es nicht unterlassen zu sagen, wie über alle Maßen hässlich Storm geworden sei. Sonst sei er immer der hübscheste Goi in Husum gewesen, jetzt habe er ja eine so rote Nase! Mir war, als hätte die Israel ihm das hier und heute Abend geradewegs unter die Nase gerieben.

Komm, wir gehen, sagte Storm und zog mich mit sich fort.