VANITAS

Ursula Poznanski

VANITAS

Grau wie Asche

Thriller

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Ursula Poznanski

Ursula Poznanski wurde 1968 in Wien geboren, wo sie mit ihrer Familie auch heute lebt. Die ehemalige Medizinjournalistin ist eine der erfolgreichsten Autorinnen deutscher Sprache: Mit ihren Jugendbüchern steht sie Jahr für Jahr ganz oben auf den Bestsellerlisten, ihre Thriller für Erwachsene erfreuen sich ebenso großer Beliebtheit. »Vanitas – Grau wie Asche« ist der zweite Band ihrer Serie um eine Blumenhändlerin mit dunkler Vergangenheit.

Impressum

© 2020 Knaur Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Ein Projekt der AVA International GmbH Autoren- und Verlagsagentur

www.ava-international.de

Redaktion: Regine Weisbrod

Abbildung innen: © plainpicture/Axel Killian

Covergestaltung: NETWORK! Werbeagentur, München

Coverabbildung: © plainpicture/Axel Killian; plainpicture/bobsairport/Marcus Hammerschmidt; istock/Pepgooner; shutterstock/Hanahstocks; © Peter Palm, Berlin

ISBN 978-3-426-45459-6

Prolog. Park.

Der Mann lag bäuchlings im Gras und atmete in unregelmäßigen Zügen die kühle Nachtluft ein. Durch den Mund, denn die Nase hatte die größte der drei Gestalten ihm schon mit dem ersten Schlag gebrochen. Er hatte das Knacken gehört und gespürt, wie Blut ihm über die Lippen lief; der nächste Fausthieb hatte ihn zu Boden gestreckt, seine Brille war davongeflogen, die Welt hatte ihre Konturen verloren.

Der Überfall war aus dem Nichts gekommen, kaum fünfzig Meter von seiner Haustür entfernt. Tagsüber war dieser Park von spielenden Kindern und Spaziergängern bevölkert, aber nachts war hier menschenleeres Niemandsland.

Bisher war kein Wort gefallen. Mit leisem Stöhnen hob er den Kopf, sah ein Paar schwarze Stiefel mit dicker Sohle, abgewetzt. »Bitte«, murmelte er, »meine Geldbörse steckt in der rechten Jackentasche. Mein Handy auch. Nehmen Sie es einfach.«

Der Tritt gegen die Rippen kam blitzschnell; der Mann hörte sich selbst aufkeuchen, er krümmte sich.

»Deinen Scheiß kannst du behalten«, erklärte eine tiefe Stimme über ihm.

Sie wollten ihn nicht ausrauben, das war übel. Obwohl nun jeder Atemzug schmerzte, richtete er sich ein Stück auf. »Was möchten Sie dann?«

Zwei der Angreifer wechselten einen schnellen Blick. Ohne seine Brille sah er die Welt nur als verschwommene Anordnung von Farbflecken, aber trotz dieser Tatsache und trotz der dürftigen Parkbeleuchtung war er sicher, zwei Dinge erkannt zu haben: Die drei Gestalten, die über ihm aufragten, hatten die Gesichter verhüllt; vielleicht trugen sie auch Masken. Und der Mittlere der drei, der mit der tiefen Stimme, der ihn getreten hatte, hielt etwas in den Händen, das wie eine lange Eisenstange aussah.

»Du hast ein schönes Leben, nicht wahr?«, stellte der jetzt fest. »Das Haus da drüben ist deines?«

»Ja.«

»Erstaunlich für jemanden wie dich. Aber ich glaube, wir wissen, wie du das gemacht hast.« Er ging in die Hocke, brachte das verhüllte Gesicht nah an das seines Opfers.

Skimasken, dachte der Mann. Und spiegelnde Sonnenbrillen. »Du bist einen Pakt mit dem Teufel eingegangen, und es hat sich gelohnt für dich. Dumm nur, dass die, die sich mit dem Teufel einlassen, am Ende immer in der Hölle landen.«

»Aber ich habe nicht …«

In einer einzigen raschen Bewegung hatte der andere sich aufgerichtet und ließ die Eisenstange durch die Luft zischen. Das Geräusch, mit dem sie die Schulter des Mannes zerschmetterte, war ekelerregend, der Schmerz übertraf alles, was er bisher gekannt hatte. Er heulte auf und fühlte im nächsten Moment, wie jemand sein Haar packte und ihm den Kopf in den Nacken riss.

»Du erzählst uns jetzt Details«, sagte die tiefe Stimme, »dann tut es nicht mehr lange weh.«

»Ich weiß nicht, was …«

Der nächste Schlag traf seine Hüfte, der übernächste den Rücken. Wieder schrie er auf, und der Mann mit der Skimaske drückte ihm das Gesicht ins Gras. Einer der beiden anderen, kleiner und schmaler, trat hinzu. »Ganz ruhig, Arschloch. Du weißt, was wir von dir wollen. Vielleicht weißt du sogar, wer wir sind? Erinnerst du dich nicht mehr an die alte Hilde?«

Wieder wurde sein Kopf am Haar hochgezogen. Der kleinere Mann hatte Brille und Maske abgenommen.

Nein, da war nichts Bekanntes. Nichts Vertrautes. Auch wenn er natürlich wusste, worauf sein Angreifer hinauswollte. Oh Gott, er hatte so sehr gehofft, dass das niemals passieren würde. »Ich kenne Sie nicht«, keuchte er. »Ich habe Sie noch nie gesehen.«

Die Hand ließ los, sein Kopf plumpste ins Gras. »Das ist traurig, nicht?«, sagte der Erste. »War aber zu erwarten. Und es spielt überhaupt keine Rolle. Wir unterhalten uns jetzt ein wenig über die Hölle.«

1.

Ich merke schon, dass etwas nicht stimmt, als ich um Punkt sieben Uhr morgens den Zentralfriedhof betrete. Heute durch Tor 11. Ich habe mir angewöhnt, nie zwei Tage hintereinander denselben Weg zu nehmen. Nicht mehr, seit die falschen Leute wissen, dass ich noch am Leben bin.

Normalerweise ist um diese Zeit alles ruhig, man hört höchstens die Bagger, die erste Gräber ausheben, aber heute hastet ein Friedhofsmitarbeiter im Arbeitsoverall an mir vorbei, auf den Ausgang zu. Seine Miene ist starr, er würdigt mich keines Blickes.

Alarmiert sehe ich mich um, doch der alte jüdische Friedhof, neben dem ich mich befinde, ist verlassen. Hier schmieren immer wieder mal Idioten Hakenkreuze auf die Grabsteine, doch darum scheint es heute nicht zu gehen. In einiger Entfernung kann ich Polizeisirenen hören.

Ich beschleunige meine Schritte, allmählich kann ich den Ort des Geschehens erahnen. Gruppe 16D, dort hat sich eine etwa zehnköpfige Menschentraube gebildet, alles Leute, die auf dem Friedhof arbeiten und schon vor dem Öffnen der Tore Zugang haben. Ich erkenne Albert und Milan – zwei der Totengräber – und eine Baumpflegerin, die anderen sind vermutlich Saisonarbeiter. Drei oder vier haben ihre Handys gezückt und fotografieren. Einer der anderen Totengräber schüttelt den Kopf und wendet sich ab.

Das Atmen fällt mir schwerer. Es sieht ganz so aus, als wäre etwas wirklich Ungewöhnliches passiert, und das lässt mich automatisch denken, dass es mit mir zu tun haben muss.

Ich bin jetzt fast da. Die Ursache für den Menschenauflauf befindet sich offenbar in Reihe sieben und scheint eines der Gräber dort zu betreffen. Ich sehe den Grabstein nur von hinten, aber ganz offensichtlich liegt etwas obenauf.

Ohne jede Neugierde, nur voller dunkler Vorahnungen steuere ich auf das Grab zu. »Was ist denn los?«, frage ich heiser, doch anstelle einer Antwort rücken die anderen ein Stück zur Seite, damit ich besser sehen kann.

Das Szenario ist schaurig, es hat etwas Unwirkliches. Mit Sicherheit bin ich die Einzige hier, die bei dem Anblick nicht Entsetzen, sondern Erleichterung empfindet. Was hier passiert ist, hat mit mir nichts zu tun.

Jemand hat das Grab geöffnet. Nicht nur das Grab, auch den Sarg; er wurde zertrümmert, morsche Holzteile wurden nach oben geworfen, und der Tote …

Es ist sein Kopf, der auf dem Grabstein liegt. Vollständig skelettiert, ein paar Haare kleben noch auf der Schädeldecke. Ich kann nicht gleich erkennen, was da zwischen den gelblichen Zähnen steckt, doch auf den zweiten Blick wird mir klar, dass es sich um einen abgeschnittenen Hühnerkopf handelt. Der Körper des Tieres liegt in der Grube, auf den Resten der Leiche, zwischen Stofffetzen und den verbliebenen Trümmern des Sargs.

Ich gehe ein Stück zur Seite, stelle mich neben einen Haufen ausgehobener Erde, aus dem ein Knochen herausleuchtet. Auf dem Grabstein finden sich drei Namen: Karl, Theresa und Roland Klessmann; die Inschriften sind schwer zu lesen. Nicht weil sie schon so verblasst wären, sondern weil jemand den hellgrauen Marmor des Grabsteins mit roter und schwarzer Farbe beschmiert hat. Ein Pentagramm, darunter ein Omega, zweimal die Zahl 666 und ein Symbol, dessen Bedeutung ich nicht kenne. Liegende Achten und ein Kreuz. Das, was zerquetscht daneben klebt, sind wohl die Organe des toten Huhns.

Die Polizeisirenen heulen nun in unmittelbarer Nähe, im nächsten Moment verstummen sie. Zeit für mich, zu verschwinden. Ich will nicht befragt werden, ich will in keinem Protokoll auftauchen, sondern mich in der Blumenhandlung verschanzen.

Mit gesenktem Kopf mache ich mich auf den Weg. So schauderhaft das Bild auch ist, das sich bietet, es hätte viel schlimmer kommen können. Der exhumierte Tote hat nichts mit mir oder meiner Vergangenheit zu tun; sollte die Grabschändung eine Drohung sein, richtet sie sich gegen jemand anderen. Aber wahrscheinlich haben nur ein paar besonders dämliche Jugendliche ein pseudo-satanistisches Ritual abgehalten. Ich frage mich, an welcher Stelle sie über die Friedhofsmauer geklettert sind, ohne Leiter geht das nämlich nirgends.

Das Bild des Schädels mit dem Huhn zwischen den Zähnen lässt mich nicht los, während ich den Friedhof durchquere. Logisch überlegt, muss der Tote Roland Klessmann gewesen sein. 19372004, von den drei Personen im Grab war er der Jüngste und somit der, der zuoberst lag. Die anderen beiden sind bereits über vierzig Jahre tot; von ihnen kann nichts mehr übrig sein.

Ich schließe die Blumenhandlung auf und hinter mir sofort wieder ab – wir öffnen erst um acht, und bis Eileen, Matti und vielleicht auch Paula aufkreuzen, möchte ich friedlich Kaffee trinken.

Die Espressomaschine im Hinterzimmer erwacht auf Knopfdruck zum Leben, fauchend und zischend. Durch die trüben Fensterscheiben sehe ich einen Wagen vor dem Haupteingang parken und drei Männer aussteigen. Ich würde wetten, dass es Polizisten sind. Keiner trägt Uniform, aber die Art, wie sie sich umsehen, die Zielstrebigkeit ihrer Bewegungen ist mir vertraut.

Als Nächstes werden Journalisten eintreffen.

Der Gedanke vertreibt sofort jeden Ansatz von Entspanntheit. Ich ziehe mich mit meinem Kaffee und dem Bestellbuch in den düstersten Winkel der Werkstatt zurück und blättere die heutigen Aufträge durch: Grabgestecke, Kränze, ein großes Herz aus roten Rosen. Das soll Eileen übernehmen, sie trifft sich seit zwei Wochen mit einem ganzkörpertätowierten Maschinenschlosser und ist so verliebt, dass es kaum auszuhalten ist.

Der Kaffee ist heiß und bitter. Ich frage mich, wie lange die Grabschänder gebraucht haben, bis sie auf den vermoderten Sarg plus Inhalt gestoßen sind. Sie müssen mit Spaten gearbeitet haben, also wohl mehrere Stunden. Es ist Juni, der Boden ist weich, trotzdem erfordert es Kraft und Ausdauer, ein solches Loch auszuheben, das heißt …

Die Ladentür wird aufgesperrt; Matti und Eileen treten gemeinsam ein. Sie wirken fröhlich. »Caro, du bist schon wieder so früh da? Hast du die Maschine angelassen?«

Ich deute nickend auf den Vollautomaten. »Und Wasser nachgefüllt.«

Eileen nimmt sich ihre Tasse aus dem Regal. »Weißt du, was draußen los ist? Da parken zwei Sendewagen, wird wieder irgendwas gedreht heute?«

Ihre Frage kommt nicht von ungefähr, der Zentralfriedhof ist ein beliebtes Filmset. »Nein. Jemand hat letzte Nacht ein Grab geöffnet und den Grabstein beschmiert. Ich bin zufällig vorbeigegangen, Gruppe 16D. Sieht nach satanistischem Ritual aus – Pentagramme, ein totes Huhn und verstreute Leichenteile.«

Eileens Augen sind groß geworden. »Ist ja abartig.« Sie zaust sich durchs pechschwarze Haar und nimmt den Rucksack von den Schultern. »Denkst du echt, hier sind Teufelsanbeter unterwegs?«

»Sieht ganz so aus.« Ich versuche, ein wenig mehr Erschrockenheit in meine Stimme zu legen. Weniger abgebrüht zu wirken. Tatsächlich finde ich die Inszenierung am Grab der Familie Klessmann bloß geschmacklos. Das Opfer der Aktion war bereits tot, man konnte es weder quälen noch ein zweites Mal töten. Und ein Pentagramm ist nichts weiter als ein paar Striche, die einen Stern bilden. Aber mir ist klar, dass meine gelassene Sicht der Dinge nicht normal ist.

Matti reagiert bloß mit finsterem Kopfschütteln. »Idioten«, murmelt er. »Vandalen. So einen würde ich gerne einmal erwischen …« Er drückt die Rosenschere mehrmals zusammen. Das Geräusch lässt mich schaudern, mehr als der Anblick des Totenschädels auf dem Grabstein. Ich habe nicht vergessen, dass man mit solchen Scheren Finger abtrennen kann.

Besser, ich widme mich dem ersten Kranz des heutigen Tages. Weiße Lilien und rosa Nelken über Fichtenzweigen und Palmenblättern. Am Anfang steht immer das Köpfen der Blumen und das Präparieren der Stängelreste mit Draht, damit man die Blüten später in den Kranzrohling stecken kann.

Dieser Teil der Arbeit erfüllt mich jedes Mal mit einer Mischung aus Langeweile und leisem Bedauern, ich beherrsche die Handgriffe im Schlaf, meine Gedanken schweifen ab. Geköpfte Blumen, geköpfte Hühner. Ein kunstvoll auf den Grabstein drapierter Totenschädel.

Zufall, dass es dieses Grab erwischt hat? Ich kenne mich mit Satanisten und ihren Gebräuchen nicht aus, aber ich gehe davon aus, dass Zahlen und Symbole eine große Rolle spielen. Vielleicht liegt es an der Nummer der Grabstelle oder einem der Todesdaten.

Vielleicht aber auch daran, dass die Klessmanns in einem Teil des Friedhofs beerdigt sind, von dem aus Arbeitsgeräusche nicht bis nach draußen dringen.

Theoretisch kann es tausend Gründe dafür geben, dass die Hühner schlachtenden Satansjünger ausgerechnet dieses Grab gewählt haben, aber das ist wirklich nicht mein Problem. Ich greife nach der nächsten Lilie. Ich sollte einfach nur froh sein, dass es nicht mein Kopf war, den man auf einem der Grabsteine gefunden hat.

Mit der stumpfsinnigen Vorbereitungsarbeit bin ich fertig, nun geht es ans Stecken. Ich greife nach dem Kranzrohling – Stroh mit grünem Vlies überzogen – und arbeite gegen den Uhrzeigersinn. Es ist schön, mit den Farben zu spielen, das Muster wachsen zu sehen …

»Kann jemand vorne die Kasse übernehmen?«, unterbricht Matti meine Konzentration. »Ich würde … also, ich muss kurz nach draußen. Caro? Eileen?«

Wir wechseln einen stummen Blick. »Okay.« Eileen wischt sich seufzend die Hände an der Schürze ab und betrachtet mit Bedauern ihr eben begonnenes Rosenherz. »Aber beeil dich, die Blumen müssen bald zurück ins Kühlhaus.«

Ohne ein weiteres Wort läuft Matti aus dem Laden. Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen; wie ich ihn kenne, will er zumindest einen kurzen Blick auf das geschändete Grab erhaschen, um später mitreden zu können. Vielleicht hätte ich ihm zuliebe doch ein Handyfoto schießen sollen, denn jetzt wird ihm wohl die Polizei die Sicht versperren.

Als mein Kranz fertig ist, winke ich Eileen in die Werkstatt zurück. »Ich kümmere mich um die Kunden und du dich um dein Herz, okay?«

Sie strahlt mich an. »Sehr zweideutig, Caro!« Sie macht sich sofort an die Arbeit, singt dabei etwas Undefinierbares, in dem immer wieder das Wort »Crown« vorkommt.

Während ich einer älteren Dame gelbe Rosen zu einem Strauß binde, einem bärtigen Mann zwei Biedermeiersträußchen verkaufe und telefonisch eine Bestellung für ein Trauergesteck aufnehme, behalte ich den Parkplatz und die Straße vor unserem Geschäft im Auge. Tatsächlich stehen zwei Sendewagen da, ebenso das Auto, in dem vorhin die drei Polizisten angekommen sind.

Ich wünschte, sie würden bald abziehen. Wahrscheinlich ist es Unsinn, aber sobald der Zentralfriedhof öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zieht, habe ich das Gefühl, sichtbarer zu werden. Für die falschen Leute.

Ich dränge den Gedanken sofort beiseite, weiß aber, dass er spätestens am Abend wie ein Bumerang zu mir zurückkehren wird. Immer, wenn ich alleine zu Hause sitze, rücken die Gespenster näher an mich heran. Die lebenden und die toten.

Seit über fünf Wochen bin ich nun wieder in Wien, und bisher ist alles verdächtig ruhig geblieben. Es ist die Ruhe vor dem Sturm, alles andere wäre unlogisch.

Aus Gründen, die ich nicht verstehe, hat Robert den Kontakt zu mir abgebrochen. Der Strauß Tagetes, den er mir geschickt hat, war das letzte Lebenszeichen. Ich habe sie mit einem Stück Schnur in die Küche gehängt und trocknen lassen; dort hängen sie immer noch, als tägliche Mahnung. Totenblumen. Ich habe Robert zehn E-Mails geschickt, plus drei Sträuße, die seinem aufs Haar glichen, um eine Erklärung für seine Botschaft zu bekommen. Ohne Erfolg. Vielleicht ist er ja selbst tot.

Die Zeit seither habe ich jedenfalls genutzt. In dem Bewusstsein, dass die Karpins jeden Tag hier auftauchen könnten, habe ich Vorbereitungen getroffen. Die Barrett, die ich in München zurücklassen musste, habe ich ersetzt. Ein relativ teurer Deal übers Darknet hat mir eine Cadex Kraken eingebracht, ein kanadisches Snipergewehr in Matschbraun. Als Draufgabe habe ich mir eine Pistole geleistet, eine Walther P99, mit der ich üben sollte, ich weiß bloß nicht, wo ich das ungestört tun könnte. Derzeit betrachte ich sie eher wie einen Talisman, wie ein Amulett, das durch seine bloße Existenz alle Übeltäter fernhalten soll.

Außerdem besitze ich seit zwei Wochen ein Auto. Einen Fluchtwagen für den Notfall. Er ist zwar alt, und der schwarze Lack blättert ab, aber alles funktioniert. Zudem ist es einer dieser wundervoll unauffälligen Japaner, denen keiner einen zweiten Blick schenkt.

Dieser Shopping-Anfall der anderen Art hat mich über die letzten Wochen gebracht und mir die Illusion vermittelt, ich wäre meinem Schicksal nicht hilflos ausgeliefert. Als später die Panik wieder in tsunamihohen Wellen über mich hinwegspülen wollte, war das Auto mein bester Freund. Durch die Ausfahrten über den Stadtrand hinaus habe ich etwas entdeckt, das von unschätzbarem Wert für mich ist, und ich muss es nicht mal kaufen.

 

Ich bin dabei, zwei Frühlingssträuße für einen Herrn mit Hut zusammenzustellen, als Matti zurückkehrt. Ihm ist anzusehen, dass der Ausflug nicht sehr erfolgreich gewesen sein kann. »Sie haben einen Sichtschutz aufgebaut, fast ein Zelt«, murrt er, kaum dass der Kunde wieder draußen ist. »Milan hat gesagt, das war ein Voodoo-Ritual.«

»Glaube ich nicht.« Ich lege zwei Scheine in die Kasse. »Eher so eine Art Teufelsbeschwörung. Lass es dir von Albert zeigen, der hat wie wild fotografiert.«

Matti ist sichtlich hin- und hergerissen zwischen Neugier und seinem merkwürdigen Ehrgeiz, selbst derjenige sein zu wollen, der Neuigkeiten unters Volk bringt. »Ist ja auch egal«, stellt er fest und macht sich wieder an die Arbeit.

Gegen eins verschwinden die Autos der TV-Sender, gegen drei der Polizeiwagen. Ich warte bis halb sechs, dann mache ich mich auf den Weg.

Diesmal ist es reine Neugier, die mich den Weg zu Tor 11 einschlagen lässt. Natürlich nicht direkt, ich gehe einen großen Bogen, bis ich die Stelle mit dem geöffneten Grab aus weiter Entfernung sehen kann.

Gruppe 16D liegt verlassen da, alle Handyfotos sind geschossen, alle Ermittlungsschritte erledigt. Dann kann ich eigentlich noch einen schnellen Blick auf den Grabstein werfen. Das unbekannte Symbol fotografieren. Ich würde zu gerne wissen, was es bedeutet.

Man hat die Grube zugeschüttet und den Totenschädel entweder zu Spurensicherungszwecken mitgenommen oder wieder beerdigt. Ein Fetzen rot-weißes Absperrband liegt neben der Grabeinfassung. Die Schmierereien sind noch da, die wird jemand mit Spezialreinigungsmittel entfernen müssen. Ein Pentagramm, die dreifache Sechs. Und dieses Zeichen, das ich noch nie gesehen habe. Es erinnert an ein Unendlichkeitszeichen, in dem ein Kreuz steckt – oder ein Schwert?

Ich öffne die Kameraapp meines Handys. Stelle scharf, drücke ab. Im gleichen Moment tritt jemand neben mich, so plötzlich, als hätte er sich aus dem Nichts materialisiert.

Ich springe reflexartig zur Seite, kann nur mit Mühe einen Schrei unterdrücken, das Telefon rutscht mir beinahe aus der Hand.

»Oh, tut mir leid«, sagt der Mann und bemüht sich, nicht zu lachen. »Tja, das ist meine übliche Wirkung auf Frauen.«

Meine Hände zittern, und obwohl ich eine mit der anderen festhalte, bemerkt er es. Sein Gesicht wird ernst. »Das wollte ich nicht. Entschuldigung. War ich so leise, dass Sie mich nicht kommen gehört haben? Es war nicht meine Absicht, mich anzuschleichen, ich wollte Sie wirklich nicht erschrecken.«

Ich nicke stumm, fassungslos, dass mir das passieren konnte. Ich bin normalerweise so vorsichtig, immer darauf gefasst, dass jemand mir auflauern könnte. Doch eben hat mir ein flüchtiger Rundumblick genügt, dann habe ich meine ganze Aufmerksamkeit auf den Grabstein konzentriert. Es wird mir eine Lehre sein.

Nachdem der erste Schreck verklungen ist, wird mir klar, dass ich den Mann, der immer noch schuldbewusst wirkt, heute schon einmal gesehen habe. Er gehört zu der Dreiergruppe, die vor dem Blumenladen aus dem Auto gestiegen ist. Polizisten, wenn meine Instinkte mich nicht völlig verlassen haben. Er ist der Kleinste der drei, trägt eine abgewetzte braune Lederjacke, Jeans und hat seine Sonnenbrille auf den kahlen Kopf hochgeschoben. »Wissen Sie, was hier passiert ist?«, fragt er mich.

Ich zucke mit den Schultern. »Nicht so genau.«

Sein Blick wandert von meinen Augen zu meinen Schuhen und wieder zurück, dann zückt er einen Ausweis. Polizei, bingo, habe ich es doch gewusst.

»Mein Name ist Oliver Tassani. Ermittlungsdienst.«

»Wie bitte?«

Er seufzt. »In Fernsehkrimis sagt man Mordkommission dazu.«

»Mordko…« Ich schlucke meinen Kommentar hinunter. Der Tote aus dem Grab wurde zwar gewissermaßen enthauptet, aber da war er schon so tot, wie man nur sein kann. Warum interessiert sich die Mordkommission für die Sache? Ich setze mein naivstes Gesicht auf. »Ist jemand umgebracht worden?«

Tassani antwortet nicht, betrachtet nur nachdenklich den Grabstein. »Sie sind doch nicht zufällig hier, oder?«, sagt er nach ein paar Sekunden. »Sie haben gehört, was passiert ist.«

Sogar gesehen, noch vor ihm. Aber das muss er nicht wissen. »Stimmt«, bestätige ich.

»Sie arbeiten hier?«

»In der Nähe. Und falls Sie es verwerflich finden, dass ich das Grab fotografiert habe, gebe ich Ihnen recht. Aber ich stelle das Bild nicht auf Instagram, ich wollte nur nach diesem Zeichen googeln.« Ich deute auf die liegende Acht mit dem Kreuz.

Tassani wendet mir langsam den Kopf zu. Sein Blick ist forschend; seine Augen sind auf derselben Höhe wie meine. Für einen Mann ist er wirklich nicht groß. »Nach diesem Zeichen, hm?« Er greift in seine Jackentasche und zieht eine Visitenkarte heraus. »Wenn Sie bei Ihren Recherchen erfolgreicher sind als ich, dann rufen Sie mich doch bitte an.«

 

Zu Hause lege ich tatsächlich mit Nachforschungen los. Allerdings google ich nach dem Polizisten und werde reichhaltiger fündig als erwartet. Drei Interviews zu abgeschlossenen Fällen, eines zum Personalmangel bei der Wiener Polizei. Und schließlich ein Artikel, der gerade mal zwölf Tage alt ist. Tassani wird als Ermittler in einem Mordfall genannt, von dem Matti aus der Zeitung vorgelesen hat, außerdem gab es mehrere Tage lang Meldungen in den Fernsehnachrichten: Ein siebenundsechzigjähriger Mann wurde tot in einem Park aufgefunden, nur wenige Meter von seinem Zuhause entfernt. Ein gewisser Gunther S. Erschlagen, wie die Medien am nächsten Tag berichteten. Bisher keine Spur zum Täter.

Mit diesem Fall müsste Tassani also derzeit beschäftigt sein – was kratzen ihn dann ein paar verstreute Knochen auf dem Zentralfriedhof?

Beim Weitergoogeln lande ich mindestens dreißig Treffer zu dem Mord im Park; Tassani wird allerdings nur in dem einen Artikel namentlich erwähnt. Ich schenke mir ein Glas Rotwein ein, setze mich auf die Couch und betrachte die Visitenkarte, die er mir mitgegeben hat.

Wenn ich das Symbol entschlüssle, soll ich mich melden, hat er gemeint. Wäre interessant zu wissen, warum das für ihn wichtig ist. Mir fällt nur ein plausibler Grund ein: dass bei der Leiche von Gunther S. das gleiche Zeichen gefunden wurde.

In den Nachrichten wird die Grabschändung nur kurz erwähnt, die Fernsehteams haben Bilder von möglichst pittoresken Grabreihen geschossen, keines von dem geschändeten Grab selbst und schon gar nicht von dem Schädel mit dem Hühnerkopf zwischen den Zähnen. »Die Schmierereien auf dem Grabstein lassen nicht auf politische Motive der Täter schließen«, heißt es. Was so viel bedeutet wie: keine Hakenkreuze.

Auf dem Handy öffne ich das Foto und ziehe es mit zwei Fingern größer. Kreuz oder Schwert? Es ist nahe der Mitte in der linken Schleife der liegenden Acht platziert. Ist die Asymmetrie Absicht, oder hatte der Maler es eilig?

Mit Handy und Wein setze ich mich wieder an den Computer. Gebe Unendlichkeitszeichen erst in Kombination mit dem Wort Kreuz, dann mit Schwert ein. Der erste Versuch bringt mir hauptsächlich Bilder von Schmuckanhängern ein, bei denen der Querbalken des Kreuzes die liegende Acht ist. Der zweite läuft – abgesehen von ein paar Tattooentwürfen – ins Leere. Ich ändere die Suchanfrage noch drei Mal, doch erst als ich den Teufel als Suchbegriff mit ins Spiel bringe, finde ich etwas, das dem Geschmiere auf dem Grabstein zumindest ähnelt.

Das Symbol heißt Leviathan-Kreuz, wird auch Satanskreuz genannt und ist das alchemistische Zeichen für Schwefel. Was perfekt zu Pentagramm und Hühnerkopf passen würde. Allerdings hat dieses Kreuz zwei Querbalken, und der Längsholm sitzt exakt in der Mitte der Unendlichkeitsacht.

Ich vertiefe mich noch einmal in das Foto des Grabsteins. Der fünfzackige Stern, das Omega und die Sechsen sind sehr sorgfältig gemalt, das vierte Symbol eigentlich auch. Wurde der Grabschänder beim Zeichnen überrascht und musste sein Werk unvollendet zurücklassen? Oder haben sich zwei Täter künstlerisch betätigt; der eine begabt, der andere nicht? Ich frage mich, ob Tassani schon mehr herausgefunden hat.

Ein Schluck Wein ist noch im Glas. Ich blicke nachdenklich auf das Browserfenster und kämpfe das plötzliche Bedürfnis nieder, nach den Namen aus meiner Vergangenheit zu googeln – meinem eigenen zum Beispiel. Allerdings stünde mir dann eine schlaflose Nacht bevor; ich weiß schon, warum ich das Internet sonst lieber meide.

Meine Finger verharren kurz über der Tastatur, dann gebe ich Robert Lesch ins Textfenster ein. Vielleicht finde ich in den Weiten des Netzes den Grund, warum er sich nach den Ereignissen in München nicht bei mir gemeldet hat – sieht man von dem angsteinflößenden Blumengruß ab, der mich bei meiner Rückkehr erwartet hat.

Die Suche fördert keine aktuellen Meldungen zutage. Nur Altbekanntes, darunter eine Kurzmeldung, etwas mehr als ein Jahr alt, die meine Stimmung sofort auf Grabestiefe senkt. Er wird im Zusammenhang mit Leichenfunden erwähnt, zu denen er keinen Kommentar abgeben will.

Die dürren Worte sind geradezu eine Verhöhnung dessen, was damals geschehen ist. Mit einem schnellen Mausklick schließe ich den Browser; ich wusste, es war ein Fehler, in der Vergangenheit herumzukramen. Soll Robert doch zum – ha, ha – Teufel gehen. Keine Nachrichten sind gute Nachrichten, so heißt es doch.

Allerdings würde ich ihm gerne die Meinung sagen, er soll wissen, wie ich es finde, dass er mich den Karpins wie einen Köder vor die Nase gehalten hat. Und ich wüsste gern, ob Pascha noch hinter Gittern sitzt.

Ihn anzurufen kommt nicht infrage. Nach den Ereignissen in München habe ich mir wieder ein gebrauchtes Handy zugelegt und mit gefälschtem Ausweis eine Guthabenkarte besorgt. Die Nummer kennt Robert nicht, aber er weiß, dass er mich auch auf andere Art erreichen kann.

Es wird eine lange Nacht. Ich liege im Bett, und alle paar Minuten fällt mir ein neuer Grund dafür ein, dass Robert sich nicht meldet. Mein Favorit: Er hat eine Spur nach Wien gelegt, die Karpins werden bald hier auftauchen, und er will keinesfalls, dass eine Kontaktaufnahme das Unternehmen gefährdet. Er weiß, dass ich beim kleinsten Verdacht voller Panik abhauen würde.

Ich presse das Gesicht ins Kissen und rufe mir den Moment ins Gedächtnis, zu dem ich die Zeit gern zurückdrehen würde. Den Sommerabend, an dem ich verhaftet wurde und Robert zum ersten Mal gegenübersaß.

»Haben Sie die gemacht?« Er hielt mir zwei Geburtsurkunden unter die Nase.

»Natürlich nicht«, sagte ich. »Wie kommen Sie darauf?«

Und dann stellte sich heraus, dass ich in eine Falle gegangen war. Dass man mich schon länger im Blick hatte und einer meiner letzten Auftraggeber für die Polizei tätig gewesen war.

»Sie werden ins Gefängnis gehen, Herzchen«, sagte Robert damals. »Obwohl es schade ist um so viel Talent. Es gäbe da eine Alternative …«

Ich hätte mich für den Prozess und die Strafe entscheiden sollen, denke ich jetzt nicht zum ersten Mal, während ich im Bett liege und meine Herzschläge zähle. Beides läge nun wahrscheinlich schon hinter mir. Ich hätte an diesem Abend den Kopf schütteln und mich verhaften lassen sollen. Stattdessen bin ich einen Deal eingegangen, der mir in gewisser Weise lebenslang eingebracht hat. Oder vielleicht sogar eine Art von Todesstrafe.

Um ein Uhr fünfunddreißig quäle ich mich wieder aus dem Bett und öffne auf dem Computer die Seite meines üblichen Blumenversandhandels. Iris für »Ich warte auf Nachricht«. Akelei für »Du Feigling«. Und, um dem Ganzen ein bisschen Pfeffer zu verleihen, Petunien. Die stehen für »Überraschung« und werden Robert eine harte Nuss zu knacken geben. Wer hat eine Überraschung für wen? Dann noch mit Zittergras garnieren – das wenig originell für Unruhe steht –, und der Strauß ist fertig. Er geht ans BKA in Wiesbaden, und ich lege mich wieder ins Bett.

 

Am nächsten Tag betritt kurz nach zehn Uhr Tassani den Blumenladen. Ich gieße gerade die Topfpflanzen und habe keine Chance, in Deckung zu gehen, denn er entdeckt mich schon beim Hereinkommen.

»Guten Morgen!« Matti lächelt und breitet die Arme aus. »Womit kann ich Ihnen helfen?«

»Sehr freundlich, aber ich bin nicht der Blumen wegen hier«, erwidert Tassani. »Ich wollte mich kurz mit Ihrer Mitarbeiterin unterhalten. Frau Bauer?«

Ich stelle die Kanne beiseite. Habe ich mich ihm gestern vorgestellt? Ich glaube nicht. Ganz sicher weiß ich, dass ich ihm nicht erzählt habe, wo ich arbeite. »Ja?«

»Wäre es okay, wenn wir ein paar Minuten rausgehen?«

Mir ist klar, dass Matti platzt vor Neugierde, aber er nickt mir aufmunternd zu. »Mach nur.«

Also folge ich Tassani vor den Laden. Möglicherweise hat er ja herausgefunden, was das dritte Symbol bedeutet, will es mir erzählen und hat deshalb nachgeforscht, mit wem er sich gestern unterhalten hat. Klingt sehr wahrscheinlich.

»Sie waren gestern schon ganz frühmorgens bei dem Grab.« Er zieht den Reißverschluss seiner Lederjacke etwas höher. »Noch bevor wir eingetroffen sind.«

»Ja.« Ich muss nur ein bisschen das Kreuz durchdrücken, dann bin ich größer als er. »Ist das verboten?«

»Natürlich nicht. Ich habe Sie dort allerdings nicht gesehen, im Unterschied zu ungefähr zwanzig anderen, die gar nicht genug von dem Anblick bekommen konnten.«

Ich zucke mit den Schultern. »Ich bin nicht so versessen auf zerbröselnde Leichen. Und ich verstehe noch immer nicht, was Sie von mir wollen.«

»Ach, nichts Besonderes. Mich hat das nur erstaunt. Dass Sie gehen, kurz bevor die Polizei eintrifft, aber am Abend zurückkommen und Fotos vom Tatort machen. Fast so, als wollten Sie uns nicht begegnen. Fast so, als hätten Sie etwas damit zu tun.« Er strahlt mich an. »Haben Sie?«

Ich grinse trotzig. »Ihnen ist klar, dass die Antwort auf jeden Fall Nein sein wird, oder? Jetzt müssen Sie nur noch herausfinden, ob das auch der Wahrheit entspricht.« Bin ich bescheuert? Was mache ich da? Lustiges Geplänkel mit der Polizei? Ich lasse das Lächeln in sich zusammenfallen. »Sie fragen mich das nicht ernsthaft, oder?«

Es wirkt, als würde er sich die Antwort darauf gründlich überlegen. »Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Aber etwas an Ihnen ist eigenartig. Erst habe ich Sie für eine Journalistin gehalten – oder für jemanden aus einem der nahe gelegenen Büros. Ich war ehrlich erstaunt, als einer der Totengräber mir gesagt hat, dass Sie in der Blumenhandlung arbeiten.«

Ich schweige, also fährt er fort: »Nachdem sich unsere Wege gestern getrennt haben, ist er von seinem Bagger geklettert und hat Ihnen hinterhergesehen. Da habe ich ihn gefragt, ob er Sie kennt.«

Das war vermutlich Mirko. Lieber Kerl auf der verzweifelten Suche nach einer Frau in seinem Leben. Ich seufze. »Sie ahnen gar nicht, wie gut ich hierher passe. Und jetzt sollte ich weiterarbeiten.« Durch die Scheibe sehe ich Matti die Töpfe gießen und immer wieder zu uns herblinzeln.

»Dann halte ich Sie nicht länger auf.« Tassani wirft einen Blick auf seine Uhr. »Haben Sie noch etwas zu dem Zeichen herausgefunden?«

»Es ähnelt einem Leviathan-Kreuz, aber das ist Ihnen bestimmt schon aufgefallen.« Ich verschränke die Arme vor der Brust und mustere ihn von oben bis unten. »Haben Sie eigentlich italienische Wurzeln?«

»Mein Großvater stammte aus Caserta. Er war Brigadiere bei den Carabinieri. So nahe an Neapel war das eine halsbrecherische Berufsentscheidung.«

Gleich werden wir in unserem Gespräch die Mafia streifen, die ist allerdings das Letzte, worüber ich mich unterhalten möchte. »Dann haben Sie es ja besser erwischt.«

Er blickt zum Himmel, an dem sich allmählich Wolken vor die Sonne schieben. »Wien ist ruhiger. Aber auch kühler. Und das Zeichen ist kein Leviathan-Kreuz.« Er reiht die Fakten sachlich aneinander, beinahe erwarte ich eine vierte Feststellung im gleichen Ton: Und Sie sind nicht Carolin Bauer. Aber er streckt nur die Hand aus. Ich ergreife sie. »Auf Wiedersehen«, sage ich. »Viel Glück bei Ihren Ermittlungen.«

Sein Lächeln ist schief. »Grazie. Ciao.«

 

»Was hat er erzählt? Was will er von dir?« Matti hat den Arm voller Tulpen, als ich den Laden wieder betrete.

»Nichts Besonderes. Es ging nur um eines der Symbole, die auf den Grabstein gepinselt worden sind.« Ich hätte Tassani auch ein paar Fragen stellen sollen. Nach dem Mord im Park und ob das Zeichen eine Verbindung darstellt. Nur hätte er daraufhin wohl erwidert, dass mich das nichts angeht. Was absolut stimmt; ihm wäre dann aber klar gewesen, dass ich mich über ihn schlaugemacht habe, und er hätte sich zu Recht gefragt, warum.

Im Grunde ist meine Neugierde auch bloß ein ungesunder Reflex. Je weniger ich mit alldem zu tun habe, desto besser.

2.

Nach Feierabend fahre ich mit der Straßenbahn nach Hause, aber die Vorstellung, den Abend alleine vor dem Fernseher zu verbringen, drückt mir schon die Luft ab, bevor ich die Wohnung betrete. Also checke ich nur schnell meine Mails – keine Nachricht von Robert, aber eine Bestätigung des Blumenversandshops, dass der Strauß beim Empfänger abgeliefert worden ist. Immerhin. Ich schalte den Rechner aus, nehme die Autoschlüssel vom Haken und bin schon wieder draußen.

Der kleine Mazda ersetzt mir derzeit den Therapeuten. Er vermittelt mir das Gefühl, etwas unter Kontrolle zu haben, und das beruhigt mich mehr, als ich mir hätte vorstellen können. Wenn ich damit herumfahre, fühle ich mich anonym, bin einfach nur einer von Tausenden Verkehrsteilnehmern. Trotzdem habe ich häufig den Blick im Rückspiegel, vor allem die ersten fünf Minuten lang. Ich will sicherstellen, dass niemand mir folgt.

Spätestens, nachdem ich aus der Stadt hinausgefahren bin und die Landstraße erreiche, habe ich Gewissheit. Hier würde jedes Verfolgerauto sofort auffallen, denn außer mir sind nicht viele Menschen unterwegs.

Mein Ziel liegt etwa zwanzig Kilometer östlich der Wiener Stadtgrenze, ich habe es während einer meiner ersten Ausfahrten entdeckt, als ich möglichst nah an den Wald gelangen und dort spazieren gehen wollte.

Eine Nebenstraße, von der eine schmälere Straße abzweigt, danach ein holpriger Feldweg. An einer Stelle muss man nach rechts in die Wiese ausweichen, um nicht mit dem linken Vorderreifen in ein knietiefes Schlagloch zu geraten. Doch am Ende des Wegs, halb schon im Schatten des Waldes, halb auf einer Wiese mit meterhohem Gras, liegt meine Entdeckung.

Ein geducktes, ebenerdiges Haus, ehemals wohl ein kleiner Bauernhof. Jetzt ein Abbruchobjekt, das offenbar keiner haben will. Das »Zu verkaufen«-Schild hinter einer zersprungenen Fensterscheibe ist verblasst. An der Außenwand lehnt noch verrostetes Werkzeug, in einem Schuppen liegen alte Traktorreifen. Das Dach hängt an zwei Stellen durch. Beim ersten Mal musste ich auf dem Weg zum Eingang Büsche überklettern und Ranken aus dem Weg zerren, bis ich vor einer alten Holztür stand, von der grüner Lack abblätterte.

Dort stehe ich auch jetzt. Der Wagen parkt hinter einer Gruppe junger Fichten, die Straße ist außer Sichtweite. Ich öffne die Tür und bin sofort in der Wohnküche: ein gemauerter Holzofen mit rußig schwarzer Kochplatte, grün-grau bezogene Stühle rund um einen Resopaltisch. Die habe ich dort hingestellt, zuvor lagen sie kreuz und quer im Raum, ebenso wie ein paar brüchige Ziegelsteine und ein altes Ofenrohr.

Jedes Mal, wenn ich herkomme, mache ich das Haus ein wenig wohnlicher. Natürlich ist mir klar, dass das Gemäuer jederzeit über mir einstürzen kann, aber ich vertraue darauf, dass es das nicht tun wird. Ich habe es entdeckt, ich erwecke es wieder zum Leben. Wir sind Verbündete.

Neben der Wohnküche gibt es ein Schlafzimmer mit einem schäbigen Holzbett und löchrigen Matratzen, in denen vermutlich einiges lebt.

Erstaunlicherweise verfügt das Haus über zwei Toiletten. Eine steht direkt im schwarz-weiß gekachelten Badezimmer, die andere im Keller, der zur Hälfte gemauert, zur anderen Hälfte ein Erdkeller ist. Vielleicht war er früher eine Kombination aus Weinkeller und Werkstatt, jedenfalls gibt es einen rostigen Kühlschrank, der wider Erwarten funktioniert. Und eben ein Klo, ebenfalls intakt, kaum zu glauben. An einer der Wände lehnt ein alter, verwitterter Mühlstein. Er muss mindestens eine Tonne wiegen, ich frage mich, wie er hier heruntergeschafft wurde. Vielleicht stand früher ja eine Mühle hier.

Wenn es so weit kommen sollte, wenn es wirklich passiert und die Karpins meine Spur aufnehmen, werde ich hierher flüchten. Es ist Niemandsland, kein Mensch kann mich hier finden. Ich muss nur darauf achten, dass niemand den kleinen schwarzen Mazda bemerkt, wenn er auf den Feldweg einbiegt.

Wie die letzten Male habe ich auch heute Vorräte für den Ernstfall mitgebracht. Ein paar Dosen Ravioli, die man notfalls kalt essen kann. Sechs Liter Wasser – obwohl es im Haus immer noch läuft, erstaunlicherweise; es gibt auch funktionierende Steckdosen. Eine Flasche Rotwein, die ich zu den beiden anderen stelle. Zwei Dosen mit Linsen, zwei mit Bohnen, zwei mit Sauerkraut. Beim nächsten Mal werde ich Knäckebrot mitbringen, das sollte eigentlich nicht schimmeln, auch wenn es in diesem Keller alles andere als trocken ist.

Ich betaste die feuchte Wand und lehne die Stirn dagegen. Fünf Atemzüge lang das Gefühl von Sicherheit. Sechs. Sieben.

Putzmittel wären auch eine gute Idee. Die beiden Toiletten sind nicht auf eklige Weise schmutzig, aber jahrzehntealter Staub und Feuchtigkeit haben dunkle Krusten hinterlassen. Ich mache mir innerlich Notizen, füge eine vakuumverpackte Decke und ein Kissen hinzu. Außerdem eine Isomatte, denn eine Matratze hierherzutransportieren, wird schwierig.

Dann setze ich mich auf den Boden und genieße das Verschwundensein. Lehne mich mit geschlossenen Augen gegen den alten Kühlschrank und lasse die Stille in den Ohren rauschen. Lasse die Zeit stillstehen.

Was sie in Wahrheit leider nicht tut, ich muss hier wieder weg, bevor es so dunkel ist, dass ich die Autoscheinwerfer einschalten muss. Wenn der Zufall es will, bemerkt jemand die Lichter, die aus dem Nichts auf die Straße zufahren, und kommt auf die Idee, sich die Ecke ein wenig genauer anzusehen.

Voller Bedauern steige ich die Kellertreppe hinauf, rücke noch mal die Stühle rund um den Tisch zurecht, dann bin ich draußen. Schließe die grüne Tür hinter mir und gehe zum Auto.

Auf dem Weg zurück nach Wien ergänze ich meine mentale Liste. Klopapier. Und eine Taschenlampe.

 

Als ich nach Hause komme, klebt ein Post-it an meiner Wohnungstür. Habe Quiche gemacht. Wenn du eine Portion willst, kannst du jederzeit kommen. Norbert.

Mein freundlicher Nachbar aus der unteren Wohnung. Er ist der Einzige im Haus, zu dem ich Kontakt habe, und den sollte ich gelegentlich pflegen. Ein paar Minuten später stehe ich in seinem sparsam eingerichteten Wohnzimmer. Es sieht nicht aus, als gehöre es jemandem, der bald siebzig wird – keine Kinkerlitzchen, die an vergangene Zeiten erinnern, sondern moderne Drucke an den Wänden. Und zwei hohe Bücherregale.

Norbert tischt Quiche und Weißwein auf, fragt mich nach meinem Tag, erzählt mir, was er zuletzt gelesen hat. Manchmal habe ich das Gefühl, er will in mir die Tochter sehen, die er nie hatte. Testet an, wie es sein könnte, Kinder zu haben, auch wenn sie jetzt schon erwachsen wären.

Er ist angenehme Gesellschaft, denn er fragt fast nichts; ihm genügt es, reden zu können. Ich muss nur nicken und ab und an zustimmende Geräusche von mir geben.

Doch dann, während ich gerade hingebungsvoll mit der Quiche beschäftigt bin, wechselt er das Thema. »Ich habe gehört, auf dem Zentralfriedhof sind Gräber geschändet worden, hast du davon was mitbekommen?«

Ich kaue, schlucke und seufze. »Nicht viel. War auch nur eine einzige Grabschändung, bestimmt ein paar besoffene Jugendliche, denen langweilig war.«

Norberts Blick bleibt erwartungsvoll, also fahre ich fort: »Sie haben einen Sarg ausgebuddelt und ein paar Knochen herausgeholt. Außerdem den Grabstein beschmiert. Idioten eben, die Polizei ist dran.« Unwillkürlich fällt mir Tassani ein und sein entspannter Humor. Leider auch seine scharfe Beobachtungsgabe. Etwas an Ihnen ist eigenartig.

Ich dränge die Erinnerung an das Gespräch beiseite und stecke mir den nächsten Bissen in den Mund. Totenschädel und Pentagramme sind nicht mein Problem, ebenso wenig wie Kriminalbeamte mit italienischen Großvätern und dunkelbraunen Augen. Mein Fokus sollte weiter östlich liegen. Bei stiernackigen Russen mit wasserblauen Augen und Händen wie Baggerschaufeln.

 

Am nächsten Tag binde ich gerade vier Sträußchen aus Rosen und Schleierkraut, die bei einer Beerdigung ins Grab geworfen werden sollen, als die Ladentür sich öffnet. Der junge Mann, der eintritt, trägt die Jacke eines Lieferdienstes. Er sieht sich um und lacht auf. »Da hat jemand echt Sinn für Humor.« Sein Blick bleibt an mir hängen. »Carolin Bauer?«

»Ja.«

»Ich habe etwas für Sie.«

Aus den Augenwinkeln habe ich es bereits gesehen, und ich muss ihm recht geben. Ist höchst merkwürdig, einen Blumenstrauß in einen Blumenladen zu liefern.

»Ich fürchte, Ihr Love-Interest hat nicht wirklich mitgedacht«, sagt der Bote, während ich den Empfang quittiere. »Trotzdem alles Gute. Falls Sie Geburtstag haben.«

»Habe ich nicht.« Ich drücke ihm einen Euro Trinkgeld in die Hand und wickle das Papier vom Strauß. Hyazinthen und Märzenbecher, ergänzt mit Dotterblumen – optisch eine eigenartige Kombination, die inhaltlich aber Sinn ergibt. Hyazinthen symbolisieren Abweisung, Märzenbecher Ungeduld, und Dotterblumen weisen auf eine baldige Kontaktaufnahme hin. Ich übersetze das für mich so, dass Robert kein Verständnis für mein Drängen hat und sich bald melden wird.

»Was is’n das?« Matti kommt aus der Werkstatt nach vorne und wirft einen skeptischen Blick auf den Strauß. »Das ist nicht von uns, oder?«

»Nein. Keine Sorge.« Am liebsten würde ich die Blumen wegwerfen, aber das haben sie nicht verdient. Also gebe ich sie der nächsten Kundin als Draufgabe mit und freue mich, dass sie sich freut.

Tassani lässt sich den ganzen Tag über nicht blicken, was ich halb erleichtert, halb enttäuscht zur Kenntnis nehme. Wobei die Enttäuschung mich selbst erstaunt – ich sollte froh sein, dass sein Fokus nicht so stark auf mir liegt, wie ich befürchtet habe, und die Dinge wieder ihren normalen Lauf nehmen. Der Presse ist die Grabschändung nur noch da und dort eine Kurzmeldung wert, und die Schaulustigen halten sich ebenfalls in Grenzen.

Auch der darauffolgende Tag bleibt ereignislos, was ihn für mich zu einem guten Tag macht. Je weiter die Münchner Ereignisse in die Vergangenheit rücken, ohne dass Andreis Killer auftauchen, desto größer wird meine Hoffnung, dass ich mit einem blauen Auge davongekommen bin.

Wie dünn mein Vertrauen darauf ist, zeigt sich bereits am nächsten Abend: Das kräftige Klopfen an meiner Tür lässt mich so heftig zusammenzucken, dass mir beinahe mein Glas aus der Hand rutscht.

Ich atme tief ein und aus. Starre auf die Salamischeiben, mit denen meine Pizza belegt ist. Norbert klopft nicht, er klingelt. Außer ihm kenne ich die Nachbarn nur vom Aneinander-Vorbeischauen.

Das Klopfen wiederholt sich. Lauter diesmal. Und dann beginnt jemand zu singen. »Sweet Caroline – taaataaataaa – good times never seemed so good!« Es klingt schräg und falsch, und ich kenne die Stimme. So schnell hätte ich nicht mit ihm gerechnet, aber umso besser.

Ich gehe zur Tür, öffne sie. »Hallo, Robert.«

Er schnuppert, bevor er eintritt. »Da habe ich ja den perfekten Zeitpunkt erwischt. Ich verhungere.«

Sobald wir am Küchentisch sitzen, schiebe ich ihm den Teller mit der halben Pizza hin, und er verschlingt sie innerhalb von zwei Minuten. Ich beobachte ihn dabei und staune, dass ich jedes Mal wieder vergesse, was für eine Beleidigung Robert fürs Auge ist. Es liegt nicht an seinen Genen – er könnte durchschnittlich bis okay wirken, wenn er wollte. Wenn er sein kaum noch vorhandenes Haar abrasieren würde, statt es in dünnen Strähnen bis über die Ohren hängen zu lassen. Wenn er die Fingernägel nicht zu lang werden ließe, zumal die der rechten Hand gelb vom Nikotin sind. Wenn er kein gestörtes Verhältnis zu Deodorants hätte.

»Du hattest es eilig, hier bin ich«, sagt er, kaum dass er mit Essen fertig ist. Sieht mich erwartungsvoll an, während er mit den Fingernägeln Salamireste zwischen den Zähnen hervorstochert. »Also?«

»Du bist extra deshalb hergekommen? Eine schriftliche Nachricht hätte mir genügt.«

Robert zieht eine Augenbraue hoch. »Nicht nur deshalb. Ich habe ein paar Gespräche mit Wiener Kollegen. Es gibt da einen grenzübergreifenden Fall. Was war denn meiner Diva so wichtig? Und was wolltest du mir mit den Petunien sagen? Von wegen Überraschung und so?«

Diva. Ich habe große Lust, ihm den Teller um die Ohren zu schlagen. »Du bist mir noch eine Menge Erklärungen schuldig. Das mit München war ein ziemliches Meisterstück von dir. Ich löse für dich die Baustellensache und mache dir gleichzeitig den Köder für die Karpins. Richtig?«

Roberts Augen werden groß und rund. »Köder? Aber das stimmt doch gar nicht! Wäre es nach mir gegangen, hättest du Tag und Nacht bei zugezogenen Vorhängen in der Agnesstraße sitzen können, aber du wolltest ja auf Charity-Galas gehen – und dich dort fotografieren lassen.«

Der Punkt geht an ihn, aber unsere Abmachung hat er trotzdem gebrochen. »Du hattest mir versprochen, du würdest mir Bescheid geben, sobald sich irgendwer von Andreis Truppe in meine Nähe bewegt, und das hast du nicht getan. Du warst selbst in München, weil du wusstest, du würdest vielleicht Pascha dort schnappen können. Oder den Big Boss selbst. Und du hast mich nicht gewarnt.«

Endlich, jetzt wirkt er etwas schuldbewusst. »Stimmt. Aber wie du schon sagst, ich bin extra persönlich hingefahren. Ich hätte niemals zugelassen, dass dir etwas passiert.«

Meinen Lachanfall nimmt er erst stoisch hin, dann senkt er lächelnd den Blick. Wir wissen beide, dass er Unsinn redet. Er hätte mich nicht schützen können. Ich habe Pascha töten gesehen, so schnell, dass ich erst begriffen habe, was passiert war, als das Opfer schon reglos in seinem Blut lag. Wobei das nicht Paschas bevorzugte Vorgehensweise ist. Viel lieber nimmt er sich Zeit, vor allem, wenn er Zuseher hat. Nicht umsonst fällt mir wieder die Rosenschere ein.

»Ihr habt ihn noch? Pavel?«

Robert nickt. »Ja. Ist aber nicht so einfach. Es gibt kaum Beweise gegen ihn; die Clans killen sich zwar gerne gegenseitig, aber sie schwärzen einander nicht an. Wenn wir die Leichen überhaupt zu Gesicht bekommen, hat man vorher dafür gesorgt, dass wir keine verwertbaren Spuren an ihnen finden. Weißt du ja.«

Und ob. Dafür gesorgt, mit Feuer oder Lauge. Sobald ich die Augen schließe, habe ich die großen Fässer wieder vor mir. Ich hätte auf die Pizza verzichten sollen.

Ich lehne mich über den Tisch und stelle Robert die Frage aller Fragen. »Sie wissen es, nicht wahr? Sie wissen, dass ich noch lebe.«