Vera Pein
mit Shirley Michaela Seul
60 Mal Mama
Wie ich als Pflegemutter erkannte, was Kinderseelen brauchen
Knaur e-books
Vera Pein, geboren 1957, arbeitet seit über dreißig Jahren als Pflegemutter mit dem Jugendamt zusammen. Durch einen Glücksfall fand sie in der Nähe von München einen Bauernhof, auf dem sie mit ihren eigenen zwei Kindern und den ihr anvertrauten Schützlingen lebt. 2013 erhielt sie den Integrationspreis der Regierung von Oberbayern für ihr Engagement.
© 2019 der eBook-Ausgabe Knaur eBook
© 2019 Knaur Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Ulrike Gallwitz
Covergestaltung: Isabella Materne, München
Coverabbildung: Kinder: Shutterstock.com/Rawpixel.com, Foto der Autorin: privat
ISBN 978-3-426-45632-3
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Für alle meine Kinder
Ich habe die Lebensgeschichten meiner Kinder so verändert, dass sie geschützt bleiben. Ich habe Namen, Orte, manchmal das Geschlecht eines Kindes und einige Umstände verändert. Doch das ändert nichts an ihren Schicksalen.
An meinem sechzigsten Geburtstag waren viele meiner Kinder zu Besuch. Sie brachten Freunde und Freundinnen, Familie und Kinder mit, und es wurde ziemlich eng, obwohl ich auf einem alten Bauernhof mit großem Garten lebe. Irgendwann geschah ein Wunder: Ich hatte fünf Minuten für mich allein. Draußen im Garten schaute ich in den Sternenhimmel. Ich denke dabei oft an Kinder. Manche leuchten hell, andere dunkler, viele sieht man kaum. Ich schaue immer ganz tief in den Himmel hinein, weil ich auch die sehen will, die man eigentlich nicht sieht.
Da stellte sich jemand neben mich. In der Finsternis konnte ich nicht erkennen, wer es war. Doch ich spürte sie – Christl, meine beste Freundin seit einem Vierteljahrhundert.
»Wie viele Kinder sind es eigentlich gewesen im Lauf der Jahre?«, fragte sie mich.
»Ich weiß es nicht«, sagte ich.
»Überleg doch mal!«
»Ist das jetzt der Gedächtnistest zum Geburtstag?«, schmunzelte ich und fing dann doch an nachzudenken. Meine Erinnerungen beschäftigten mich bis zum nächsten Tag. Am Ende stellte ich verblüfft fest, dass ich genauso vielen Kindern ins Leben helfen durfte, wie mein Leben Jahre zählte.
Und da beschloss ich, mit dem Zählen aufzuhören.
Mutter und eine Zahl, das verträgt sich nicht. Mutter, Mama, Mutti, Mami, auch Oma und Omi … das ist … ein Lebensgefühl. Ein Stück Erde, auf dem wir stehen. Fest? Wacklig? Sicher? Ängstlich? Verbunden? Einsam? Zuversichtlich? Unsere Herkunft können wir uns nicht aussuchen, doch wer als Kind das Glück hatte, kräftige Wurzeln auszubilden, der hat es später leichter im Leben.
Alles beginnt bei den Eltern. Wir sind ja nicht nur Mutter und Vater, jeder ist auch Tochter oder Sohn. Ich habe meine Eltern sehr geliebt und bin ihnen dankbar für den guten Boden, in dem meine Wurzeln wachsen durften.
Heute wird viel über die Bedeutung der Gene diskutiert. Mancherorts liest man, Erziehung würde total überschätzt, im Grunde könnten Eltern kaum etwas bewirken. Schon gar nicht nach den ersten drei Lebensjahren, in denen achtzig Prozent der Prägung stattfinden. Das sehe ich anders. Ich bin eine Praktikerin, keine Wissenschaftlerin, und wenn ich eines weiß, dann … was Kinderseelen brauchen. Zwanzig Prozent sind eine gute Ausgangssituation! So wie zwischen Pflastersteinen Blumen und sogar Bäume wachsen, kann auch ein älteres Kind noch Wurzeln ausbilden, sich zum Licht strecken. Es ist natürlich viel schwieriger und auch anstrengend, etwas nachzuholen, was zur rechten Zeit versäumt wurde. Doch es ist möglich, sogar im Erwachsenenalter. Die aktuelle Altersforschung hat belegt, dass wir uns bis ins hohe Alter verändern können, selbst wenn unsere Flügel in der Kindheit beschnitten wurden. Sie können nachwachsen, »nachreifen« nennt dies die Wissenschaft.
Die ältesten meiner Kinder lernte ich in ihrer Pubertät kennen. Aber oft kamen sie im Vorschulalter zu mir, manche blieben bis zur Volljährigkeit oder darüber hinaus. Egal, wer da vor der Tür steht, welchen Rucksack an Problemen das Kind mitbringt, wie viel Kummer und Tränen in dem Menschlein stecken – es ist mir eine Freude, dass es da ist. Dass ich die Chance habe, ihm und ihr zu zeigen, dass das Leben auch schön sein kann. Niemals würde ich ein Kind »abschreiben«, dazu habe ich zu viele kleine und große Wunder erlebt. Sie geschehen allerdings nicht über Nacht. Kinder brauchen Konstanz und Verlässlichkeit – Werte, an denen es immer mehr mangelt. Bei mir »landen« nur die schlimmsten Fälle. Leider muss ich feststellen, dass die Interpretation des Wortes »schlimm« sich drastisch verändert hat. Kinder müssen heute deutlich mehr aushalten als vor zehn, zwanzig Jahren, bis das Jugendamt eingreift. Pflegekinder, die ich seinerzeit aufpäppelte, würden heute oft bei ihren Familien belassen werden. Es ist so wie mit der Schadstoffbelastung: Anstatt den Missstand zu beseitigen, werden die Grenzwerte erhöht.
Ohne meine Eltern und das liebevolle Nest, das sie mir bereiteten, hätte ich nicht so viele Kinder auffangen können. Man gibt weiter, was man erfahren hat, im Guten wie im Schlechten. Es war mir schon früh klar, dass ich Kinder haben wollte. Aber ich dachte natürlich nur an eigene, sie gehörten für mich einfach zum Leben dazu. Ich wünschte mir auch ein Haus auf dem Land mit einem großen Garten, idealerweise im Süden, und war überglücklich und dankbar, als mein Wunsch Wirklichkeit wurde, weil ich mich in einen Italiener verliebte. Zwölf Jahre lang lebte ich in der Emilia Romagna, pflanzte Gemüse an, hielt Hühner und wurde Mutter von zwei Kindern. Ja, ich konnte sogar meinen Traum vom Mehrgenerationenhaus verwirklichen, indem ich meine Eltern, die ein bisschen gebrechlich geworden waren, zu mir holte. Wir freuten uns sehr auf eine gemeinsame Zukunft in diesem schönen Land. Doch das Glück währte nur kurz; neun Tage nach dem Umzug nach Italien erlitt mein Vater seinen ersten Schlaganfall, bald darauf erkrankte meine Mutter an Krebs. Die Beziehung mit meinem Mann hatte davor schon gekriselt, an der »Belastung« durch meine Eltern zerbrach sie endgültig. Es war eine Selbstverständlichkeit für mich und ein Herzensanliegen, dass ich mich um sie kümmerte. Sie haben mir das Leben geschenkt, mich großgezogen und mir so viel Gutes mit auf meinen Weg gegeben.
Ich war also 34 Jahre alt, frisch getrennt, meine Kinder waren sieben Jahre und sieben Monate alt. Neuanfang? Wo? Meine Eltern wünschten sich eine Rückkehr ins Umland von München, dort bin ich groß geworden. Doch in dieser beliebten Region eine Wohnung zu finden, schien aussichtslos. Zwei kranke Alte, zwei Kinder, zwei Hunde, zwei Katzen, keine gesicherte finanzielle Basis. Aber ich hatte ja nicht nur meine Familie, es gab auch meinen wunderbaren Freundeskreis in der alten Heimat. Ich habe meine Freundschaften immer gepflegt, auch weil ich als Einzelkind keine große Familie hatte; meine Großeltern waren alle verstorben.
Meine Freunde sind mir genauso wichtig wie meine Familie, allerdings habe ich im Lauf der Jahre immer wieder erfahren, dass viel Wahres in dem Spruch »Blut ist dicker als Wasser« steckt. Manche meiner Pflegekinder wurden von ihren Eltern entsetzlich vernachlässigt, sie erlitten körperliche und seelische Gewalt. Und doch sehnten sie sich nach ihnen, fühlten sich ihnen zugehörig, zeichneten Bilder von Mama und Papa und sich selbst in einem Haus, an einem Tisch, im Grünen. Wollten heim, sogar in eine Hölle, Hauptsache, zu Mama und Papa. Und träumten davon, dass alles gut werden würde. Wenn sie sich mehr anstrengten. Wenn sie braver würden. Denn es lag doch an ihnen. Kinder geben sich oft die Schuld, wenn Erwachsene ihnen wehtun.
Nach langer Suche, einem unglaublichen Zufall und einer Riesenportion Glück fand ich ein kleines Bauernhaus, dreißig Kilometer von München entfernt. Leider ziemlich renovierungsbedürftig und von oben bis unten voller Gerümpel. Der erste Stock war seit Jahren nicht mehr betreten worden, da die Besitzerin nur noch im Erdgeschoss gewohnt hatte. Ich war gleichzeitig überglücklich und verzweifelt. Glücklich, weil wir eine Bleibe gefunden hatten, verzweifelt, weil ich nicht wusste, wie ich sie wohnlich gestalten sollte, da mich die Betreuung meiner Eltern und Kinder von morgens bis abends auf Trab hielt. Für Handwerker hatte ich kein Geld.
»Gib mir mal den Hausschlüssel, ich schau mir das an«, sagte Benno aus München, Ex-Freund einer Freundin und handwerklicher Allrounder. Hinter meinem Rücken übernahm er die Regie, organisierte mit anderen Freunden weitere Helferinnen und Helfer, die ich zum Teil kaum kannte. Und so kam es, dass ich sechs Wochen später fassungslos in unserem neuen Zuhause stand. Einen Moment lang glaubte ich, ich hätte mich in der Tür geirrt. Das war nicht mehr die dunkle, heruntergekommene Hütte voller Gerümpel, die ich besichtigt hatte. Alles war leer und hell und sauber. Meine lieben Freunde hatten nicht bloß alle Räume entrümpelt, gestrichen und geputzt, sondern auch kleinere Reparaturen durchgeführt – ja sogar selbst genähte blau-weiß karierte Vorhänge hingen am Badezimmerfenster. In der Küche begrüßte mich ein großes Plakat »Herzlich willkommen daheim«, und der Kühlschrank, der außer den frisch bezogenen Matratzen das einzige Möbelstück im Haus war, summte freundlich. Neugierig öffnete ich ihn – Milch, Eier, Wurst, Käse, Brot. Da war es um meine Fassung geschehen. Ich hockte mich neben den Kühlschrank und heulte. Auf der Treppenstufe zum ersten Stock saß meine Tochter Gioia und heulte auch. »Eins sag ich dir!«, ließ sie mich wissen. »Ich gehöre nicht hierher. Wenn ich groß bin, gehe ich zurück nach Italien. Ich will zu Papa. Können wir ihn anrufen? Wo gibt es hier eine Telefonzelle? Wahrscheinlich haben die so was gar nicht in dem Kaff.«
Die Telefonzelle war nicht das Problem, sondern der Vater. Er wollte nichts von uns wissen. Egal, was ich versuchte, er reagierte nicht auf Briefe und Fotos seiner Kinder und später auch nicht auf Schreiben vom Amtsgericht wegen Unterhaltszahlungen. Ich war verletzt, wütend, enttäuscht. Aber ich wollte Gioias Vaterbild nicht beschädigen und verlor kein schlechtes Wort über ihn. Schließlich stammte sie zu fünfzig Prozent von ihm ab. Wenn ich auf ihn geflucht hätte – dann hätte ich auch meine Tochter beschädigt. So zahlte ich viele Jahre lang den Preis, dass Gioia mich dafür verantwortlich machte, dass sie ihren Babo verloren hatte. Als junge Erwachsene suchte sie später Kontakt zu ihm, aber er wollte nicht einmal zu ihrer Hochzeit kommen.
Nicht nur Gioia hatte Heimweh, auch ich. Doch erst in der Adventszeit, als vieles schon geregelt war – wir waren im Sommer eingezogen –, ertappte ich mich manchmal dabei, in die Vergangenheit zu rutschen. Ich vermisste meinen Garten, das südliche Abendlicht, den Blick über die Hügel und das Tal, den Salzgeruch in der Luft, meine sechsunddreißig Rosenstöcke vor dem Haus und natürlich das Meer und die Menschen, meine lieben italienischen Nachbarn und Freunde und ihre herzliche Lebensart.
Ich weinte nie, auch wenn mir zuweilen danach war. Von morgens bis abends stand ich unter Druck; ich fühlte wenig, ich funktionierte. Die Eltern, die Kinder, das Geld, die Behörden, der Haushalt, der Kummer von Gioia, gesundheitliche Verschlechterungen bei den Eltern – mein Vater bedurfte vollständiger Pflege –, Integration in die Dorfgemeinschaft, Auto kaputt, Masern, Wasserleitung eingefroren, Windpocken. Mein Traum vom autarken Leben in Italien war geplatzt, nun sammelte ich die Reste ein und versuchte, ein neues Leben für uns zu basteln.
Mein Sohn Amato war zu klein, um seinen Vater zu vermissen. Aber es quälte mich, dass er ohne männliche Bezugsperson aufwachsen würde. Nein, musste er nicht. Es gab auch ein paar Männer unter meinen Freunden, allen voran Benno, der uns sogar einen Pizzaofen in den Garten baute. Oder unseren Vermieter, der mit den Kindern Traktor fuhr, sie im Stall helfen ließ und ihnen versicherte: »Ohne euch hätten wir es nie geschafft, den Maibaum aufzustellen!«
Die Dorfgemeinschaft nahm uns herzlich auf, ganz anders, als es mir von manchen prophezeit worden war – alleinerziehend als »Zuagroaste« in einem bayerischen Dorf. Die Kinder schlossen schnell Freundschaften. Trotzdem kappte ich unsere italienischen Wurzeln nicht. Ich selbst tanke dort bis heute einmal im Jahr auf. Ich besuche meine Freunde und mittlerweile auch meine Tochter, die – wie sie angekündigt hatte – mit neunzehn zurückgekehrt ist und nun mit ihrem Mann und zwei Kindern in der Nähe unseres ehemaligen Hauses in der Emilia Romagna wohnt.
Wenn der Alltag surrte wie eine gut geölte Nähmaschine, fühlte ich mich manchmal sogar glücklich. Der große Umzug von einem ins andere Land hatte geklappt. Wir hatten ein schönes Daheim, den Kindern ging es gut, und meine Eltern waren gut versorgt. Es gab zwar kein Meer, aber mehrere Seen und die Berge. Wir waren nicht gestrandet, hatten nicht auf Sand gebaut, die Eltern, die Kinder und ich, wir alle begannen uns zu verwurzeln, sogar Gioia … »un po«, ein wenig.
Eines Tages brachte Gioia von der Schule einen Fragebogen mit nach Hause. Die Gemeinde wollte wissen, wer einen Kindergartenplatz benötigte, weil neuerdings ein Anspruch darauf bestand. Da überall Mangel an Betreuungsplätzen herrschte, diente das Formular zudem als Stellenausschreibung: »Falls Sie Ihr Kind zu Hause behalten möchten – könnten Sie sich vorstellen, Kinder von anderen Familien mitzubetreuen?« Heute würde man Tagesmütter suchen – damals war dieser Begriff noch nicht verbreitet.
Ohne mir viele Gedanken zu machen, kreuzte ich Ja an. Wegen meiner pflegebedürftigen Eltern war ich rund um die Uhr zu Hause. Und ob ich mich um ein oder zwei Kinder kümmerte, war egal, im Gegenteil: Amato würde sich über Gesellschaft freuen, zumal seine Schwester als Spielkameradin zu alt für ihn war.
Kurz darauf erhielt ich per Post die Einladung zu einer Informationsveranstaltung der Nachbarschaftshilfe. Doch am Tag der Veranstaltung ging es meinem Vater so schlecht, dass er mich an seiner Seite brauchte.
Obwohl die Nachbarschaftshilfe mein Fernbleiben als Desinteresse wertete, besuchte mich einige Zeit später eine Sachbearbeiterin vom Jugendamt. Sie inspizierte unser Haus, aß mit uns zu Mittag, erlebte den Umgang in der Familie, lobte den Garten, streichelte die Tiere, nickte oft, machte Kreuze auf einem Fragebogen und teilte mir beim Abschied mit: »Frau Pein, das hier ist ein Wohlfühlplatz.«
»Ja, wir fühlen uns alle sehr wohl hier«, bestätigte ich. Damals sah ich nur den kleinen Rahmen meiner Familie. Ich war ja ein Neuling und hatte keine Ahnung von den Maßstäben, die ein Jugendamt anlegt. Außerdem hatte ich das schon oft gehört: Bei euch fühlt man sich wie zu Hause. Wie gemütlich es hier ist, so eine warme Stimmung.
Heute noch bin ich Frau Wolf, der Sachbearbeiterin von damals, sehr dankbar, weil sie sich nicht von der Auskunft der Nachbarschaftshilfe beirren ließ. Auch die Krümel unter dem Tisch machten ihr nichts aus, oder dass Wäsche im Wohnzimmer trocknete. Selbst mein schwer kranker Vater erschreckte sie nicht, wo heute wahrscheinlich viele denken würden: Man kann ein Kind doch nicht in so einen Haushalt geben. Und wo war überhaupt der Ehemann?
Heute werden Kinder in erster Linie an verheiratete Pflegemütter vermittelt, das ist praktisch, wenn es einen Hauptverdiener gibt. Ich war alleinerziehender Single. Aber meine Mutter, der es gerade etwas besser ging, unterstützte mich. »Sie ist sozusagen die Pflegeoma«, stellte Frau Wolf fest. »Aber wir haben keinen Fernseher«, sagte meine Mutter, die nichts verheimlichen wollte. »Wir lesen vor.«
»Wunderbar!«, rief Frau Wolf und bat mich inständig, die nächste Informationsveranstaltung der Nachbarschaftshilfe zu besuchen.
»Das klappt bestimmt«, versicherte ich ihr. »Da es meiner Mutter wieder besser geht, kann sie sich auch um meinen Vater kümmern.«
Frau Wolf schaute mich lang an. Dann sagte sie: »Ich würde Ihnen gern einmal eine Kollegin vorbeischicken aus einer anderen Abteilung.«
»Und wozu?«, fragte ich.
»Wie gesagt, das hier ist ein Wohlfühlplatz. Könnten Sie sich vorstellen, nicht nur stundenweise Kinder zu betreuen, die keinen Kindergartenplatz finden, sondern ein Kind komplett bei sich aufzunehmen, als Pflegemutter? Wollen Sie darüber mal nachdenken?«
»Da muss ich nicht nachdenken«, sagte ich. »Natürlich geht das. Wenn Sie mal ein Kind in Not haben, ich helfe gern.«
»Das wird natürlich vergütet«, beeilte Frau Wolf sich zu versichern.
Drei Tage später rief eine Mitarbeiterin des Jugendamtes an. Ob sie ein zweijähriges Mädchen zu uns bringen könnte. Die Mutter hatte Zigaretten auf dem kleinen Körper ausgedrückt. Ich sollte Larissa nur kurzzeitig betreuen, dann würde sie adoptiert werden. Ihre neue Familie kannte sie bereits, die Adoption war für Ende September vorgesehen, doch nun war die Situation bei ihrer leiblichen Mutter eskaliert und die neue Familie im Urlaub. Das Jugendamt musste schnell handeln, also sollte Larissa bis zur Adoption bei uns bleiben.
»Wann soll sie denn kommen?«, fragte ich.
»In drei Stunden kann ich sie bringen.«
Das war Wahnsinn, das war eigentlich unmöglich, aber ich sah die Kippen auf der Kinderhaut vor mir, und das war noch viel wahnsinniger. »Ja«, sagte ich. Dann legte ich auf und schaute aus dem Fenster, ohne irgendetwas wahrzunehmen. Tausend Dinge schossen mir durch den Kopf. So schnell hatte ich nicht mit einem Kind gerechnet. War ich überhaupt darauf vorbereitet? Würde ich das schaffen? Was würden meine Kinder dazu sagen, ich hatte noch nicht mit ihnen gesprochen. Brauchte das Mädchen Windeln? Hatte ich alles Notwendige im Haus? Und am wichtigsten: Würde ich Zugang zu diesem Kind finden? In welcher Verfassung Larissa wohl wäre …
»Vera?«, fragte meine Mutter.
Ich hatte sie gar nicht hereinkommen hören. Langsam drehte ich mich zu ihr und erzählte ihr, dass wir in drei Stunden unser erstes Pflegekind bekommen würden.
»Warum wurde sie aus ihrer Familie herausgenommen?«, wollte meine Mutter wissen.
Ich wiederholte das wenige, das ich selbst wusste. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass alle Kinder, die ich als Pflegemutter aufnehmen würde, ein schweres Schicksal hatten. Sie kamen nicht zu Ferien auf dem Bauernhof. Das waren kleine Menschen mit einem schweren Start.
»Hast du Bedenken?«, fragte meine einfühlsame Mutter mich.
»Nicht direkt. Es ist nur …«
»Ja?«
»Wie wird das für Gioia und Amato sein, wenn plötzlich ein anderes Kind im Haus ist? Ich hatte ja keine Zeit, mit ihnen darüber zu sprechen. Ich wusste nicht, dass es so schnell geschieht.«
Meine Mutter dachte nach. Dann sagte sie: »Ich glaube, dass es Amato nichts ausmachen wird. Für Gioia könnte es schlimm sein. Zuerst wurde ihr ein kleiner Bruder vor die Nase gesetzt, dann hat sie ihren Vater verloren und musste mit nach Deutschland. Und zu guter Letzt ein neues Kind.«
»Das ist die Frage«, erwiderte ich. »Ist das ein neues Kind? Wie gehe ich damit um? Ich möchte der kleinen Larissa Nestwärme geben, ich möchte sie nicht ausschließen, aber ich möchte Gioia und Amato nicht vor den Kopf stoßen.«
Meine Mutter streichelte mir über den Arm. »Wir teilen die drei auf. Ich kümmere mich in den nächsten Tagen verstärkt um Gioia und Amato, dann hast du Freiraum, dich mit Larissa zu beschäftigen. Wir müssen abwarten, wie sie sich in die Familie integriert und wie die Kinder auf sie reagieren. Erst dann können wir beschließen, wie wir weitermachen.«
»Ich bin so froh, dass du da bist, Mama«, sagte ich. »Und hinter mir stehst.«
Sie lächelte. »Das macht mir doch selber Freude. Du weißt, wie sehr ich mir viele Kinder gewünscht habe.«
»Ja. Und mit mir hast du dich begnügen müssen.«
»Du und meine Enkel, ihr seid mein größtes Geschenk im Leben.«
Wir hatten beide nasse Augen. Aber zum Heulen hatten wir keine Zeit, es gab noch viel zu tun, ehe Larissa eintraf. War das alles nicht zu viel für meine krebskranke Mutter?
»Mama, glaubst du wirklich, du schafft das?«, fragte ich. Ihre letzte große Operation lag erst sechs Wochen zurück.
»Mit Freude schafft man alles«, erwiderte meine Mutter. Dann wollte sie wissen: »Wo schläft die Kleine?«
»Am besten, wir stellen das Gitterbettchen von Amato wieder in mein Schlafzimmer. Da bin ich nah bei ihr. Und wenn Amato möchte, kann er auch bei mir schlafen.«
»Das glaube ich nicht«, vermutete meine Mutter. »Er ist so stolz auf sein eigenes Zimmer.«
Sie hatte recht. Amato wollte in seinem eigenen Bett schlafen und Gioia sowieso.
In der ersten Nacht bei uns schlief die kleine Larissa schnell ein. Doch gegen Mitternacht schrie sie wie am Spieß. Mit klopfendem Herzen wachte ich auf, fuhr hoch, schwang die Beine aus dem Bett, das Kind zu holen, es an mein Herz zu drücken.
Stopp!, bremste ich mich.
Denn was passiert, wenn Amato in mein Zimmer kommt und Larissa in meinem Bett entdeckt? Er wachte manchmal auf, nicht jede Nacht, aber einmal in der Woche bestimmt. Und so laut wie Larissa schrie, würde er nun wahrscheinlich aufwachen.
Ich ging die zwei Schritte zu ihrem Bettchen, beugte mich zu ihr, streichelte ihre Wange. Sofort hörte sie zu schreien auf. Erleichtert kehrte ich in mein Bett zurück. Ich saß noch am Rand, da schrie Larissa erneut. Also zurück zu ihr. Länger gestreichelt, nächster Versuch. Sie schrie. Ich schob einen Stuhl an ihr Bett, streichelte und sang und kämpfte gegen den starken Impuls, die Kleine in meinem Bett an mein Herz zu legen. Nach einer Viertelstunde schlief ich im Sitzen ein. Larissa schrie. Ich fuhr hoch. Das war also der Alltag einer Pflegemutter beziehungsweise eine übliche Nacht. Schlaflos am Gitterbettchen.
Plötzlich öffnete sich die Tür, nackte Füße auf dem Boden – Amato. Bei der Begrüßung hatte er Larissa freundschaftlich ein Auto angeboten, sich dann aber nicht weiter um sie gekümmert. Meine Mutter hatte ihn ins Bett gebracht. Nun fragte er mich: »Mama, warum weint sie so?«
»Weil sie ganz neu bei uns ist und sich noch nicht auskennt.«
»Aber warum holst du sie nicht in dein Bett?«, fragte er mich erstaunt.
Mein lieber Sohn.
»Ich möchte nicht, dass sie dir deinen Platz wegnimmt. Wenn du manchmal schlecht träumst, kommst du doch zu mir ins Bett, und das soll auch so bleiben.«
Er kam näher, legte seine Hand auf meinen Arm. »Aber Mama, sie weint doch. Die muss in dein Bett!«
»Ja, da hast du recht«, flüsterte ich, einen Kloß im Hals.
Ich hob Larissa hoch. In meinen Armen entspannte sie sich vollkommen und hörte zu schreien auf. Ich legte sie in mein Bett. Amato beobachtete, wie ich die Decke über uns beide breitete, und nickte zufrieden. Dann gab er mir ein Bussi auf die Wange, Larissa eines auf die Stirn und ging in sein Zimmer. Das kleine Menschlein kuschelte sich unter meinem linken Flügel zurecht, seufzte tief und schlief ein. Ich lag noch lange wach in dieser Nacht.
Am nächsten Morgen war Larissa schon nicht mehr ganz so schüchtern, was vor allem an Amato lag. Er zeigte ihr seine Spielsachen, teilte alles mit ihr. Bis zum Abendbrot waren die beiden unzertrennlich geworden. Ich beobachtete, staunte, lernte und war sehr stolz auf ihn. Wie unkompliziert und offen er mit der Situation umging, er wertete nicht, es gab kein Gerangel um Aufmerksamkeit. Auch meine Sorgen wegen Gioia lösten sich in Luft auf. Larissa war sieben Jahre jünger als sie und somit weder Konkurrenz noch Zielgruppe für Spiele. Gioia interessierte sich kaum für Larissa. Dennoch war ihre Anwesenheit ein Gewinn für sie: Ihr kleiner Bruder nervte sie weniger; er hatte jetzt eine gleichaltrige Spielkameradin. Aber wie würden die beiden Unzertrennlichen mit dem bevorstehenden Abschied umgehen? Ich erklärte Amato jeden Tag: »Larissa bleibt nicht für immer bei uns, nur bis zum Ende der Ferien.« Und zu Larissa sagte ich: »Wenn die Sommerferien zu Ende sind, kommst du zu deiner neuen Familie.«
Immer wartete ich auf die Frage: Kann sie, kann ich nicht länger dableiben? Doch die Frage kam nicht.
In den Tagen vor der Adoption besuchten uns Larissas neue Eltern zweimal, und auch wir besuchten sie. Dann packte ich ihre Tasche für immer.
Würde Amato sie nun doch vermissen? Ja, er vermisste sie, sprach manchmal von ihr, doch immer in völliger Akzeptanz ihrer Abwesenheit. Das war eine große Erleichterung für mich und ließ mich zuversichtlich in die Zukunft blicken. »Ja, ich würde wieder ein Kind nehmen«, sagte ich am Telefon zu einer Mitarbeiterin vom Jugendamt.
Die sieben Wochen mit Larissa waren für mich der Grundstein meiner Pflegemutterschaft. Ich spürte ein tiefes Ja in mir. Sieben Wochen können einen bleibenden Eindruck bei einem Kind hinterlassen, ja manchmal genügt ein einziger Tag, an dem ein Kind wahrnehmen kann, dass nicht alles dunkel ist. Dem Kind in einer Situation, in der bedrohliche Not in seinem Herzen herrscht, zu zeigen: Du bist nicht allein. Es ist nicht alles furchteinflößend. Es gibt einen Ort, an dem bist du sicher, geschützt, lieb gehabt. Du brauchst keine Angst zu haben.
Larissa hatte keine Angst mehr, als ich dieses nun fröhliche Mädchen seiner neuen Familie übergab. Ich hätte gern gewusst, wie es ihr dort erging, doch es war vereinbart, keinen Kontakt zu halten, um dem Kind die Eingewöhnung zu erleichtern. Das war zwar schade, doch es änderte nichts an meiner Erkenntnis: Pflegemutter war meine Berufung.
Drei Jahre später war ich mit vier Kindern – meinen beiden eigenen und zwei Pflegekindern – im Schwimmbad. Ich saß am Beckenrand, die Beine im Wasser, die Nase voller Chlor, die Ohren voller Kindergeschrei – Wasserbombe, untertauchen, spritzen, kreischen, man kennt das –, und erfreute mich an der Fröhlichkeit ringsherum. Auf einmal spürte ich, dass mich jemand beobachtete. Das Mädchen lag zwei Meter entfernt im Wasser, hielt sich mit den Händen an einer Stange fest, und strahlte mich an. Schaute nicht weg. Betrachtete mich geradezu gebannt. Braune Locken, braune Augen. Sie kam mir bekannt vor. Aber woher? Ein Nachbarskind? Nein … das war doch …
»Heißt du Larissa?«
Heftiges Nicken. Die Locken bebten.
»Du kennst mich noch?«
Erweitertes Strahlen bis zu den Ohren.
»Da freue ich mich aber, dass ich dich mal wiedersehe.«
Lockenwippen.
»Bist du alleine da?«
»Nein.« Sie zeigte auf die gegenüberliegende Seite des Beckens. »Mit meiner Mama und meinem Bruder.«
»Dann begrüße ich die mal«, sagte ich und stand auf. Flugs war Larissa aus dem Wasser und hüpfte vor mir her. Ein sorgloses, fröhliches Mädchen. Da musste ich die Adoptivmutter gar nicht viel fragen. Ich sah ja selbst, wie gut es Larissa ging. Ihre Narben waren verheilt.
Wieder vergingen einige Jahre, in denen ich viele Kinder aufnahm. Das Haus wurde zu klein für bis zu sieben Kinder mit den eigenen. Meine Eltern waren gestorben. Ich suchte eine neue Bleibe. Abermals gestaltete sich das schwierig.
»Wie bitte, wie viele Kinder? Und Hund und Katz auch noch. Haben Sie einen Vogel?«
»Nein, Vögel haben wir nicht.«
Mittlerweile hatte ich einige Kontakte zur Presse. Besonders in der Adventszeit wurde gern über uns berichtet. Eine Redakteurin startete einen Wohnungssuchaufruf. Am Tag nach dem Artikel klingelte es an der Tür. Ein Mädchen mit Mütze stand da und schaute mich aus großen braunen Augen an. Ich erkannte sie nicht, wohl aber die Frau neben ihr, Larissas Adoptivmutter.
»Du bist Larissa?«, fragte ich.
»Hallo!« Jetzt strahlte sie wieder.
Die Adoptivmutter erklärte mir den Grund des Besuches. »Wir haben in der Zeitung gelesen, dass Sie umziehen wollen. Das hat Larissa ein bisschen Sorge gemacht, gell, Larissa?«
Das Mädchen nickte.
Die Mutter fuhr fort: »Sie hat gesagt: ›Aber dann weiß ich ja gar nicht mehr, wo sie ist.‹ Sie wollte unbedingt noch einmal hierher, ehe Sie wegziehen.«
Ich beugte mich zu Larissa und versicherte ihr: »Ich bin nicht aus der Welt. Ich bleibe im Landkreis, ich ziehe nur sechs Kilometer weiter.«
»Aber da war ich doch nie«, sagte das Mädchen.
Auch ohne diese Erklärung hätte ich Larissa verstanden. Dieses Haus war für sie ein Ort, an dem sie Zuflucht finden konnte. Solange es diesen Ort gab, konnte ihr nichts geschehen. Sie könnte immer wieder hierherkommen. Jetzt würde ich wegziehen. Und dann?
»Es gibt mich auch in Zukunft. Ich wechsle nur die Wohnung«, bekräftigte ich noch einmal.
Larissas Mutter beglückwünschte mich zum neuen Haus. »Das ist aber schnell gegangen! Gestern stand es doch erst in der Zeitung.«
»Das Angebot kam nicht über die Zeitung. Es hat sich überschnitten.«
»Bestimmt haben Sie lange gesucht?«
»Oh ja. Und ich kann es selbst noch kaum fassen, aber wir haben ein Traumhaus gefunden. Genügend Platz für alle und ein großer Garten.«
Wieder war jemand gestorben, diesmal ein alter Mann, vormals Landwirt. Seine Schwester suchte Mieter, die ihrem Bruder gefallen hätten. Irgendjemand erzählte ihr von uns, und sie rief an und sagte: »Des wär ganz bestimmt im Sinn von meim verstorbnen Bruada, dass des Haus a Dahoam für so a paar arme Zwergerl werd.«
Mein erstes Pflegekind hat mir gezeigt, dass schon eine kurze Zeitspanne genügt, um einem Kind eine gewisse Sicherheit und eine Art Urvertrauen zu vermitteln. Und es hat mich gelehrt, dass ich mir im Vorfeld nicht allzu viele Sorgen zu machen brauche. Lieber gelassen und vertrauensvoll abwarten, was geschehen wird. Und dann der Stimme des Herzens folgen. Die versteht jedes Kind, weil Kinder selbst noch mehr auf ihr Herz hören.
Wenn ich an meine Anfänge als Pflegemutter zurückdenke, kommt mir das alles geradezu fantastisch vor. Heute wäre ein solch unbürokratisches Vorgehen undenkbar. In vielen Fällen ist das auch gut, weil mehr Sicherheitsstufen eingebaut sind. Gelegentlich fördern all die Vorschriften das Kindeswohl jedoch nicht. Und dann kommt es mir so vor, als hätten wir das Augenmaß verloren. Wir wollen, dass alles perfekt funktioniert – aber Menschen sind keine Maschinen, und zuweilen wäre es klüger, auf das Herz zu hören. So wie es damals das Krankenhauspersonal in Italien erlaubte, dass ich mit dem Säugling Amato und meiner Mutter bei meinem Vater im Zimmer schlafen durfte. Das war sicher gegen alle Regeln. Aber es war menschlich – genauso menschlich, wie mein Vater oft handelte. Ich erinnere mich gut an die unbekannten Leute, die bei uns zu Hause mit bedrückten Mienen klingelten, eine Weile mit meinem Vater in seinem Arbeitszimmer verschwanden und sich heiter gestimmt verabschiedeten.
»Papa, wer war das?«, fragte ich.
»Ein Mensch in Not«, antwortete er. »Der braucht gerade ein bisschen Hilfe.«
Mehr erfuhr ich nie. Meine Mutter trug dieses Engagement mit. Als ich in der Pubertät war, geriet mein Vater selbst in Not, und damit unsere ganze Familie, da er Alleinverdiener war. »Wegen eines Mistkäfers«, so seine Worte, ging sein Architekturbüro pleite. Ein großes Bauvorhaben konnte wegen besagten Käfers, desses sich Naturschützer engagiert annahmen, nicht realisiert werden. Zwei Jahre lang herrschte bei uns zu Hause dicke Luft. Die Stimmung zwischen meinen Eltern war nicht mehr so harmonisch wie früher. Sie hatten große finanzielle Probleme, alle Ersparnisse waren aufgebraucht. Das war bitter, gewiss, doch meiner Meinung nach kein Grund, sich anzukeifen. Und das sagte ich meinen Eltern auch, doch ich drang nicht zu ihnen durch. Manchmal war ich geradezu empört, weil ihr Verhalten gegen alles verstieß, was sie mir beigebracht hatten: Stets achtsam und respektvoll mit anderen Menschen umgehen. Stattdessen hackten sie aufeinander herum. In dieser Zeit bekam ich sogar eine Ohrfeige von meinem Vater, die einzige meines Lebens. Heute denke ich, dass meine Eltern in einer Krise steckten. Damals war ich so entrüstet, dass ich beschloss, nach der Mittleren Reife von zu Hause auszuziehen, denn in diesem Zustand wollte ich meine Eltern nicht fortgesetzt erleben müssen. Ich hatte ja keinen Konflikt mit ihnen, sie hatten ein Problem, und das sollten sie auch lösen.
Ich wollte Krankenschwester werden, musste aber noch einige Monate auf den Beginn meiner Ausbildung warten. So landete ich in einem sehr wohlhabenden Haushalt in einem Münchner Nobelvorort, in dem ich für das Kind und die Dogge einer geschiedenen Dame verantwortlich war. Beim Vorstellungsgespräch sagte sie mir, dass sie keine Zeit hätte, sich um die beiden zu kümmern. Als ich dann im Souterrain wohnte, schwante mir, dass sie vielmehr keine Lust hatte, ihre Zeit dem Kind zu widmen. Fast jeden Abend lud sie Gäste ein, es ging hoch her, Alkohol floss in Strömen, und vielleicht wurde auch anderes konsumiert. Aber auch Tränen flossen in Strömen, denn die kleine Tochter träumte oft schlecht. Zur Mutter durfte sie nicht, wenn Gäste im Haus waren, das war das Privileg der Dogge. Also tappte sie hinunter ins Souterrain und schlüpfte mit ihren eiskalten Füßchen in mein Bett. Ich war zwar erst siebzehn Jahre alt, doch mit Kindern kannte ich mich aus. Seit ich zwölf war, jobbte ich als Babysitterin. Zuerst bei einer befreundeten Familie, die Eltern sangen im Chor. Ihre drei Kinder wollten leider nie ins Bett. Ich fragte: »Was machen eure Eltern denn, wenn ihr schlafen sollt?«
»Sie singen.«
Also sang ich. Nach der ersten Strophe fragten sie: »Kannst du auch vorlesen?«
Das war mir bedeutend lieber, und es klang auch besser.