John Scalzi

Krieg der Klone

Die Trilogie

Aus dem amerikanischen Englisch von Bernhard Kempen

FISCHER E-Books

Inhalt

Über John Scalzi

John Scalzi (*1969) gehört zu den weltweit erfolgreichsten SF-Autoren, seine Bücher wurden in über zwanzig Sprachen übersetzt. Er wurde, unter anderem, mit dem Hugo Award (USA), dem Seiun-Preis (Japan), dem Geffen Award (Israel) und dem Kurd-Laßwitz-Preis (Deutschland) ausgezeichnet.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.tor-online.de und www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Die ersten drei Romane von John Scalzis Bestsellerserie Krieg der Klone in einem Band: Krieg der Klone, Geisterbrigaden und Die letzte Kolonie.

 

An seinem 75.Geburtstag tut John Perry zwei Dinge: Erst besucht er das Grab seiner Frau. Dann tritt er in die Armee ein.

In ferner Zukunft wird der interstellare Krieg gegen Alien-Invasionen mit scheinbar bizarren Mitteln geführt: Für die Verteidigung der Kolonien weit draußen im All werden nur alte Menschen rekrutiert. So wie eben John Perry, der noch einmal einen neuen Anfang machen will. Doch bald erfährt er das wohlgehütete Geheimnis: Das Bewusstsein der Rekruten wird in jüngere Klone ihrer selbst übertragen, die als unerschöpfliches Kanonenfutter in den Kampf geschickt werden

 

John Scalzi ist der unterhaltsamste und zugänglichste SF-Autor unserer Zeit. Joe Hill

Impressum

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

Old Man’s War © 2005 John Scalzi

The Ghost Brigades © 2006 John Scalzi

The Last Colony © 2007 John Scalzi

Die deutschen Erstausgaben erschienen 2007 und 2008 im Heyne Verlag, München. Die Übersetzungen wurden für die vorliegende Neuausgaben noch einmal durchgesehen.

 

Deutsche Neuausgabe © 2020 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück, Hannover, für die Ethan Ellenberg Literary Agency, New York.

 

Covergestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung eines Motivs von shutterstock/Ana Aguirre Perez

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-491185-4

Und immer für Kristine und Athena

An meinem fünfundsiebzigsten Geburtstag tat ich zwei Dinge. Ich besuchte das Grab meiner Frau. Dann ging ich zur Armee.

Der Grabbesuch war das weniger dramatische dieser beiden Ereignisse. Kathy liegt auf dem Friedhof Harris Creek, eine knappe Meile von meinem Haus entfernt, in dem wir unsere Kinder großgezogen haben. Sie auf dem Friedhof zu begraben war schwieriger, als es vielleicht hätte sein sollen. Keiner von uns beiden hatte damit gerechnet, eine Bestattung zu benötigen, also hatten wir keine Vorkehrungen getroffen. Es kann ziemlich beschämend sein, mit einem Friedhofsverwalter darüber diskutieren zu müssen, dass die eigene Frau keine Reservierung für ihr Begräbnis gemacht hat. Schließlich hat mein Sohn Charlie, der zufällig Bürgermeister ist, ein paar Hebel in Bewegung gesetzt und die Grabstelle besorgt. Es hat seine Vorteile, der Vater eines Bürgermeisters zu sein.

Das Grab … einfach und schlicht, mit einer kleinen Tafel statt einem großen Grabstein. Der krasse Gegensatz zu Sandra Cain, die genau neben Kathy liegt. Ihr eher übergroßer Grabstein aus poliertem schwarzem Granit ist mit ihrem Schulabschlussfoto und einem sentimentalen Zitat von Keats verziert, in dem es um Tod und Jugend geht. Typisch Sandy. Kathy hätte sich darüber amüsiert, wenn sie wüsste, dass sie mit ihrem großen dramatischen Grabstein direkt neben ihr parkt. Ihr ganzes Leben lang hat Sandy in einem eifrigen Wettstreit mit Kathy gelegen. Wenn Kathy mit einer Torte zum Kuchenverkauf kam, schleppte Sandy mindestens drei an und kochte in stiller Wut, wenn Kathys Kuchen zuerst verkauft war. Kathy hätte versucht, das

Ich vermute, Sandys Grabstein ist so etwas wie das letzte Wort in der Angelegenheit, ein Abschluss, der sich nicht mehr übertreffen lässt, weil Kathy ja schon tot war. Andererseits erinnere ich mich nicht, dass irgendwer jemals Sandys Grab besucht hätte. Drei Monate nach ihrem Dahinscheiden verkaufte Steve Cain das Haus und zog nach Arizona, mit einem Lächeln, das so breit war wie die Interstate 10. Einige Zeit später schickte er mir eine Postkarte. Er war dort mit einer Frau zusammengezogen, die vor fünfzig Jahren ein Pornostar gewesen war. Nachdem ich diese Information erhalten hatte, fühlte ich mich eine Woche lang unsauber. Sandys Kinder und Enkel wohnen eine Stadt weiter, aber sie könnten genauso gut nach Arizona gezogen sein, wenn man bedenkt, wie oft sie das Grab besuchen. Seit der Beerdigung wurde Sandys Keats-Zitat vermutlich von niemand mehr gelesen, nur noch von mir, wenn ich auf dem Weg zu meiner Frau daran vorbeikam.

Auf Kathys Schild stehen ihr Name (Katherine Rebecca Perry), ihre Lebensdaten und die Worte GELIEBTE FRAU UND MUTTER. Immer wieder lese ich diese Worte, jedes Mal, wenn ich sie besuche. Ich kann nicht anders, denn diese vier Wörter fassen treffend ein ganzes Leben zusammen. Sie verraten nichts weiter über Kathy, wie sie ihre Tage zubrachte oder welcher Arbeit sie nachging, welche Interessen sie hatte oder wohin sie gerne verreiste. Man erfährt nicht, was ihre Lieblingsfarbe war oder auf welche Weise sie ihr Haar am liebsten trug, welche Partei sie wählte oder was für eine Art Humor sie hatte. Die Worte sagen nichts über sie aus, außer dass sie geliebt wurde. Und so war es. Sie selbst hätte es als völlig ausreichend empfunden.

Diese Besuche sind mir ein Gräuel. Ich verfluche die Tatsache, dass meine Frau nach zweiundvierzig Jahren Ehe gestorben ist, dass sie an jenem Samstagmorgen eben noch in der Küche stand und eine Schüssel mit Waffelteig anrührte, während sie mir von der Putzaktion des Bibliotheksausschusses am Vorabend erzählte, und im nächsten Moment lag sie am Boden, von einem Schlaganfall geschüttelt. Es ist mir ein Gräuel, dass ihre letzten Worte »Wo zum Teufel habe ich die Vanille hingetan?« lauteten.

Ich verfluche die Tatsache, dass aus mir ein alter Mann geworden

Sosehr ich den Friedhof hasse, bin ich trotzdem froh, dass es ihn gibt. Meine Frau fehlt mir. Auf dem Friedhof fällt es mir leichter, den Verlust zu empfinden, an einem Ort, wo sie immer nur tot war, leichter als an all den anderen Stellen, wo sie gelebt hat.

Ich bin nicht lange geblieben. Ich bleibe nie lange. Nur bis ich wieder die Wunde spüre, die nach fast acht Jahren immer noch frisch ist. Außerdem erinnert sie mich daran, dass ich noch andere Dinge zu tun habe, als ein alter Trottel zu sein, der auf einem Friedhof herumsteht. Sobald ich die Wunde wieder spürte, machte ich kehrt und ging, ohne mich noch einmal umzuschauen. Es sollte das letzte Mal sein, dass ich das Grab meiner Frau besuchte, aber ich wollte nicht zu viel Mühe darauf verwenden, mich daran zu erinnern. Wie gesagt war der Friedhof der Ort, wo sie immer nur tot war. Es bringt nicht allzu viel, sich daran zu erinnern.

Aber im Grunde war es auch nicht besonders dramatisch, zur Armee zu gehen.

Die Stadt, in der ich lebte, war viel zu klein für eine eigene Rekrutierungsstelle. Ich musste nach Greenville fahren, der Bezirkshauptstadt, um mich einzuschreiben. Das Büro war klein und lag an einer unscheinbaren Einkaufsstraße. Links davon gab es ein staatliches Spirituosengeschäft, rechts davon einen Tattoo-Salon. Wenn man diese Läden in der falschen Reihenfolge betrat, konnte man am nächsten Morgen in großen Schwierigkeiten stecken.

Die Einrichtung des Büros war sogar noch unscheinbarer, sofern das überhaupt möglich ist. Sie bestand aus einem Schreibtisch mit einem Computer und einem Drucker, einem Menschen hinter dem

Die Angestellte war damit beschäftigt, etwas in den Computer zu tippen, und blickte nicht auf, als ich eintrat. »Ich kümmere mich gleich um Sie«, murmelte sie. Es klang eher wie eine Pawlow’sche Reaktion auf das Öffnen der Tür.

»Lassen Sie sich Zeit«, sagte ich. »Ich sehe, wie voll es hier ist.« Dieser Versuch eines sarkastischen Scherzes wurde vollkommen ignoriert, genauso wie zehn Jahre zuvor. Es freute mich, dass ich immer noch gut in Form war. Ich setzte mich vor den Schreibtisch und wartete, dass die Rekrutierungsmitarbeiterin ihre wichtige Arbeit abschloss.

»Kommen oder gehen Sie?« Auch jetzt blickte sie nicht zu mir auf.

»Wie bitte?«

»Ob Sie kommen oder gehen?«, wiederholte sie. »Kommen Sie, um Ihre Bereitschaft zur Rekrutierung zu unterschreiben, oder gehen Sie, um Ihre Dienstzeit abzuleisten?«

»Ach so. Ich gehe.«

Diese Antwort veranlasste sie schließlich, mich anzusehen, und zwar durch eine ziemlich starke Brille. »Sie sind John Perry«, sagte sie.

»Genau. Wie haben Sie das erraten?«

Sie schaute wieder auf den Computermonitor. »Die meisten Leute, die zur Armee wollen, kommen an ihrem Geburtstag, obwohl sie danach noch dreißig Tage Zeit haben, sich offiziell einschreiben zu lassen. Heute haben wir nur drei Geburtstage. Mary Valory hat bereits angerufen, um zu sagen, dass sie nicht gehen will. Und Sie sehen nicht aus, als wären Sie Cynthia Smith.«

»Das freut mich zu hören.«

»Und da Sie nicht gekommen sind, um sich erstmals registrieren zu lassen«, fuhr sie fort, ohne auf meinen zweiten Versuch eines Scherzes einzugehen, »spricht einiges dafür, dass Sie John Perry sind.«

»So etwas passiert hier nur sehr selten«, sagte sie. »Die meisten Leute werden abgeschreckt, wenn sie nebenan die Jugendlichen mit den dämonischen Tattoos sehen.« Endlich schob sie die Tastatur zur Seite und schenkte mir ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. »Also gut. Dann weisen Sie sich bitte aus.«

»Aber Sie wissen doch schon, wer ich bin«, gab ich zu bedenken.

»Trotzdem wollen wir sichergehen.« Ihr Gesicht zeigte nicht die leiseste Spur eines Lächelns, als sie das sagte. Offenbar ging es nicht spurlos an einem vorüber, wenn man jeden Tag mit geschwätzigen alten Männern zu tun hatte.

Ich gab ihr meinen Führerschein, meine Geburtsurkunde und meinen Personalausweis. Sie nahm alles an sich, holte einen Handscanner aus einer Schreibtischschublade, schloss ihn an den Computer an und schob ihn zu mir herüber. Ich legte meine Handfläche darauf und wartete, bis der Scanvorgang abgeschlossen war. Sie nahm das Gerät wieder an sich und zog meinen Ausweis durch einen Schlitz an der Seite, um die Daten meines Handabdrucks abzugleichen. »Sie sind John Perry«, sagte sie schließlich.

»Damit wären wir wieder da, wo wir angefangen haben.«

Wieder ging sie nicht auf meine Erwiderung ein. »Als Sie vor zehn Jahren Ihre Bereitschaft zur Rekrutierung abgegeben haben, erhielten Sie Informationen über die Koloniale Verteidigungsarmee und über Ihre Pflichten im Fall eines Eintritts in die KVA.« Ihr Tonfall ließ darauf schließen, dass sie diese Worte seit Jahren mindestens einmal täglich aufsagte. »In der Zwischenzeit wurde Ihnen weiteres Auffrischungsmaterial zugeschickt, um Sie an Ihre Pflichten zu erinnern. Benötigen Sie zum jetzigen Zeitpunkt weitere Informationen oder eine Auffrischung, oder erklären Sie, dass Sie sich Ihrer künftigen Pflichten in vollem Umfang bewusst sind? Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass es nicht unter Strafe steht, wenn Sie um eine Auffrischung bitten oder sich entscheiden, der KVA zum jetzigen Zeitpunkt doch nicht beizutreten.«

Ich erinnerte mich an die Einführungsveranstaltung. Der erste Teil hatte aus einer Zusammenkunft älterer Mitbürger bestanden, die im Gemeindezentrum von Greenville auf Klappstühlen saßen, Kaffee tranken und Donuts aßen und dem KVA-Apparatschik zuhörten, der

Der zweite Teil der Einführungsveranstaltung war eine kurze medizinische Untersuchung. Ein Arzt kam herein, nahm mir Blut ab, tupfte über die Innenseite meiner Wange, um an ein paar Schleimhautzellen ranzukommen, und machte einen Gehirnscan. Offenbar hatte ich den Test bestanden. Seitdem erhielt ich jedes Jahr per Post ein neues Pamphlet – dasselbe, das schon bei der Einführungsveranstaltung ausgeteilt worden war. Ab dem zweiten Jahr warf ich sie in den Müll. Seitdem hatte ich das Pamphlet nicht mehr gelesen.

»Ich habe alles verstanden«, sagte ich.

Sie nickte, holte aus einer Schublade ein Blatt Papier und einen Stift und reichte mir beides. Auf dem Blatt standen mehrere Absätze mit genug Zwischenraum, um sie einzeln unterschreiben zu können. Ich erkannte es sofort wieder. Bereits vor zehn Jahren hatte ich ein recht ähnliches Dokument unterschrieben, die Erklärung, dass ich verstanden hatte, worauf ich mich zehn Jahre später einlassen würde.

»Ich werde Ihnen jetzt jeden Absatz vorlesen«, sagte sie. »Wenn Sie das Vorgelesene verstanden haben und einwilligen, unterschreiben Sie anschließend bitte mit Datum auf der Linie unmittelbar unter dem Absatz. Wenn Sie Fragen haben, stellen Sie sie bitte, nachdem ich den betreffenden Absatz vorgelesen habe. Wenn Sie etwas nicht verstanden haben oder nicht in das einwilligen, was Ihnen vorgelesen und erklärt wurde, unterschreiben Sie bitte nicht. Haben Sie das verstanden?«

»Das habe ich verstanden.«

»Sehr gut«, sagte sie. »Absatz eins: Ich, der Unterzeichnete, habe verstanden und bestätige, dass ich aus freiem Willen und ohne Zwang erkläre, in die Koloniale Verteidigungsarmee eintreten zu wollen für eine Dienstzeit von mindestens zwei Jahren. Zusätzlich verstehe ich, dass die Dienstzeit einseitig von der Kolonialen Verteidigungsarmee in Kriegs- und Krisenzeiten um bis zu acht weitere Jahre verlängert werden kann.«

Diese Verlängerungsklausel war mir nicht neu. Ich hatte die

Ich unterschrieb.

»Absatz zwei: Ich habe verstanden, dass mein freiwilliger Eintritt in die Koloniale Verteidigungsarmee damit verbunden ist, Waffen zu tragen und sie gegen die Feinde der Kolonialen Union einzusetzen, bei denen es sich auch um andere menschliche Streitkräfte handeln könnte. Es ist mir untersagt, während meiner Dienstzeit das Tragen von Waffen zu verweigern oder religiöse oder moralische Einwände gegen militärische Handlungen vorzubringen, um mich dem Dienst zu entziehen.«

Wie viele Leute melden sich freiwillig zum Militärdienst, um ihn anschließend aus moralischen Gründen zu verweigern? Ich unterschrieb.

»Absatz drei: Ich habe verstanden und bestätige, dass ich gewissenhaft und ohne Verzögerung alle Befehle und Anweisungen ausführen werde, die mir von vorgesetzten Offizieren erteilt werden, gemäß dem Uniformcode der Richtlinien der Kolonialen Verteidigungsarmee.«

Ich unterschrieb.

»Absatz vier: Ich habe verstanden, dass ich durch den freiwilligen Eintritt in die Koloniale Verteidigungsarmee in jegliche medizinische, chirurgische oder therapeutische Behandlung einwillige, die von der Kolonialen Verteidigungsarmee als nötig erachtet wird, um meine Kampffähigkeit zu verbessern.«

Jetzt kam es. Der Grund, warum sich zahllose Fünfundsiebzigjährige jedes Jahr freiwillig meldeten.

Vor langer Zeit hatte ich einmal zu meinem Großvater gesagt, dass man, wenn ich in seinem Alter war, eine Möglichkeit gefunden haben würde, die menschliche Lebensspanne dramatisch zu verlängern. Er hatte mich ausgelacht und erklärt, dass er in jungen Jahren dasselbe gedacht hatte. Trotzdem war er ein alter Mann geworden. Genauso

Man kann das Altern nicht aufhalten. Mit Gentherapien, Ersatzorganen und plastischer Chirurgie kann man es eine Weile zurückdrängen, aber irgendwann holt es einen trotzdem ein. Wenn du dir eine neue Lunge einsetzen lässt, macht dir als Nächstes eine Herzklappe Probleme. Wenn du ein neues Herz hast, schwillt deine Leber zu einem aufblasbaren Kinderplanschbecken an. Nachdem man deine Leber ausgetauscht hat, gibt ein Schlaganfall dir den Rest. Das ist die Trumpfkarte des Alterns, denn es gibt immer noch keine Gehirnprothesen.

Die Lebenserwartung ist vor einiger Zeit bis auf nahezu neunzig Jahre angestiegen, und dort ist sie seitdem stehengeblieben. Beinahe hätten wir die magische Schwelle von hundert Jahren überschritten, doch dann scheint Gott dem Ganzen einen Riegel vorgeschoben zu haben. Die Menschen können länger leben und tun es auch, aber sie verbringen diese zusätzlichen Jahre trotzdem als Greise. Daran hat sich kaum etwas geändert.

Mach dir Folgendes klar: Wenn du fünfundzwanzig, fünfunddreißig, fünfundvierzig oder vielleicht sogar fünfundfünfzig bist, kannst du dir immer noch gute Chancen ausrechnen, etwas im Leben zu erreichen. Wenn du fünfundsechzig bist und dein Körper anfängt, den Geist aufzugeben, klingen diese mysteriösen »medizinischen, chirurgischen oder therapeutischen Behandlungen« plötzlich sehr interessant. Dann bist du fünfundsiebzig, deine Freunde sind gestorben, und man hat dir mindestens ein lebenswichtiges Organ ausgetauscht. Du musst jede Nacht viermal zum Pinkeln aufstehen und schaffst keine Treppe mehr, ohne anschließend aus der Puste zu sein. Und dann sagt man dir, dass du für dein Alter noch ziemlich gut in Form bist.

Allmählich kommt es dir fast wie ein Schnäppchen vor, all das gegen zehn gesunde Jahre im Militärdienst einzutauschen. Vor allem, wenn du dir überlegst, dass du in zehn Jahren fünfundachtzig sein wirst. Dann besteht der einzige Unterschied zwischen einer Rosine und dir darin, dass ihr zwar beide runzlig seid und keine Prostata habt, Letzteres aber für die Rosine nichts Neues ist.

Wie bewerkstelligt es also die KVA, den Alterungsprozess umzukehren? Niemand hier weiß das. Die Wissenschaftler auf der Erde

Ab und zu entscheidet eine Regierung, ein Präsident oder ein Diktator, der KVA die Rekrutierungen zu verbieten, wenn sie ihre Geheimnisse nicht offenbart. Die KVA lässt sich nie auf einen Streit ein, sie packt einfach ihre Sachen und verschwindet. Dann unternehmen alle Fünfundsiebzigjährigen plötzlich Auslandsreisen, von denen sie nie zurückkehren. Die KVA gibt keine Erklärungen, keine Rechtfertigungen, keine Hinweise. Wer herausfinden will, wie sie alte Menschen wieder jung macht, muss sich rekrutieren lassen.

Ich unterschrieb.

»Absatz fünf: Ich habe verstanden, dass ich durch den freiwilligen Eintritt in die Koloniale Verteidigungsarmee die Staatsbürgerschaft meiner politischen Nation aufgebe, in diesem Fall die der Vereinigten Staaten von Amerika, genauso wie das Aufenthaltsrecht für den Planeten Erde. Ich habe verstanden, dass meine Staatsbürgerschaft auf die Koloniale Union übertragen wird, im Besonderen auf die Koloniale Verteidigungsarmee. Weiterhin willige ich ein und habe verstanden, dass es mir durch die Beendigung meiner Staatsbürgerschaft und meines planetaren Aufenthaltsrechts untersagt ist, im Anschluss an meine Dienstzeit zur Erde zurückzukehren. Stattdessen wird mir durch die Koloniale Union beziehungsweise die Koloniale Verteidigungsarmee ein neuer Wohnsitz in einer Kolonie zugewiesen.«

Etwas einfacher ausgedrückt: Eine Heimkehr ist ausgeschlossen. Das ist ein fester Bestandteil der Quarantänegesetze, die von der Kolonialen Union und der KVA erlassen wurden. Die offizielle Begründung lautet, dass die Erde vor weiteren xenobiologischen Katastrophen wie der Schrumpelseuche geschützt werden soll. Die Leute auf der Erde waren damals ausnahmslos dafür. Erstaunlich, wie sehr sich ein Planet abzuschotten bereit ist, wenn ein Drittel der männlichen Bevölkerung innerhalb eines Jahres die Zeugungsfähigkeit verliert.

(Und damit wird das Einverständnis, sich von der KU in irgendeiner Kolonie ansiedeln zu lassen, im Grunde überflüssig. Da sie als Einzige über Raumschiffe verfügen, kommt man nur dorthin, wohin sie einen bringen. Schließlich kann man nicht selbst mit den Raumschiffen herumfliegen.)

Eine Nebenwirkung der Quarantänegesetze und des Skip-Antriebs ist die Unmöglichkeit der Kommunikation zwischen der Erde und den Kolonien (sowie zwischen den Kolonien). Wenn man innerhalb eines sinnvollen Zeitraums eine Antwort auf eine Nachricht erhalten möchte, kann man diese nur von einem Raumschiff mit Skip-Antrieb befördern lassen. Die KVA ist widerwillig bereit, auf diese Weise Botschaften und Daten für offizielle Institutionen zu transportieren, aber allen anderen bleibt dieses Privileg verwehrt. Man könnte eine Antennenschüssel aufstellen und darauf warten, dass Funksignale von den Kolonien eintreffen, aber Alpha, die der Erde am nächsten liegt, ist dreiundachtzig Lichtjahre von hier entfernt. Damit wird ein angeregtes Zwiegespräch zwischen verschiedenen Planeten ziemlich unmöglich.

Ich habe nie danach gefragt, aber ich kann mir vorstellen, dass dieser Absatz die meisten Leute vor der Rekrutierung zurückschrecken lässt. Natürlich ist es nett, wieder jung zu sein, aber es ist etwas anderes, wenn man allen Menschen, die einem etwas bedeuten, den Rücken zukehren, wenn man alles aufgeben soll, was man in den vergangenen siebeneinhalb Jahrzehnten erlebt hat. Es ist verdammt schwer, sich von seinem ganzen bisherigen Leben zu verabschieden.

Ich unterschrieb.

»Absatz sechs, der letzte«, sagte die Rekrutierungsmitarbeiterin. »Ich habe verstanden und willige ein, dass ich zweiundsiebzig Stunden nach der letzten Unterschrift auf diesem Dokument beziehungsweise zum Zeitpunkt meiner Abholung durch die Koloniale Verteidigungsarmee für tot erklärt werde, im Sinne der Gesetze aller relevanten politischen Institutionen, in diesem Fall des Staates

Ich unterschrieb. Jetzt hatte ich nur noch zweiundsiebzig Stunden zu leben. Sozusagen.

»Was passiert, wenn ich die Erde nicht in den nächsten zweiundsiebzig Stunden verlassen habe?« Ich gab der Angestellten das Dokument zurück.

»Nichts«, sagte sie, während sie es wieder an sich nahm. »Nur dass Ihr gesamtes Vermögen, da Sie im Sinne des Gesetzes tot sind, gemäß Ihrem Testament aufgeteilt wird. Ihre Kranken- und Lebensversicherungen erlöschen oder werden an Ihre Erben ausgezahlt, und Sie stehen nicht mehr unter dem Schutz der hiesigen Gesetze, ganz gleich, ob es um Verleumdung oder Mord geht.«

»Also könnte mich einfach jemand erschießen, ohne dass es zu Strafmaßnahmen kommt?«

»Nicht ganz. Wenn jemand Sie ermorden sollte, während Sie im Sinne des Gesetzes tot sind, würde der Täter hier in Ohio vermutlich wegen Leichenschändung belangt werden.«

»Faszinierend«, sagte ich.

»Allerdings«, fuhr sie in ihrem irritierend sachlichen Tonfall fort, »kommt es normalerweise nicht so weit. Bis zum Ablauf der zweiundsiebzig Stunden können Sie jederzeit Ihre Einwilligung zur Rekrutierung zurücknehmen. Rufen Sie mich einfach hier an. Wenn ich nicht da bin, wird ein automatischer Anrufbeantworter Ihren Namen aufnehmen. Nachdem wir bestätigt haben, dass Sie tatsächlich Ihre Rekrutierung widerrufen haben, werden Sie von allen weiteren Verpflichtungen entbunden. Denken Sie jedoch daran, dass ein solcher Widerruf Sie unumstößlich von einer künftigen Rekrutierung ausschließt. Eine solche Entscheidung wäre endgültig.«

»Verstanden«, sagte ich. »Müssen Sie mich jetzt vereidigen?«

»Nein. Ich muss nur diesen Antrag weiterleiten und Ihnen Ihr

»Gut«, sagte ich. »Darf ich Ihnen eine weitere Frage stellen?«

»Ich bin verheiratet.«

»Das wollte ich gar nicht fragen«, sagte ich. »Bekommen Sie wirklich so viele Heiratsanträge?«

»Jede Menge. Allmählich nervt es.«

»Das tut mir leid«, sagte ich. »Ich wollte Sie fragen, ob Sie schon einmal wirklich einem Angehörigen der KVA begegnet sind.«

»Sie meinen, abgesehen von Rekrutierungswilligen?«

Ich nickte.

»Nein«, sagte sie. »Die KVA hat eine Firma mit der Abwicklung der Rekrutierungen beauftragt, aber keiner von uns ist ein Mitglied der KVA. Ich glaube, nicht einmal der Geschäftsführer gehört dazu. Wir erhalten das nötige Material und die Informationen nicht direkt von der KVA, sondern von der Botschaft der Kolonialen Union. Ich glaube nicht, dass Angehörige der Streitkräfte jemals einen Fuß auf die Erde setzen.«

»Stört es Sie gar nicht, für eine Organisation zu arbeiten, mit der Sie nie direkten Kontakt hatten?«

»Nein. Die Arbeit ist in Ordnung, und die Bezahlung ist überraschend gut, wenn man bedenkt, wie wenig Geld man in die Einrichtung dieses Büros gesteckt hat. Aber Sie wollen Mitglied einer Organisation werden, mit der Sie nie direkten Kontakt hatten. Stört Sie das gar nicht?«

»Nein. Ich bin alt, meine Frau ist tot, und es gibt für mich kaum noch einen Grund, warum ich hierbleiben sollte. Werden Sie eintreten, wenn die Zeit gekommen ist?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Es stört mich nicht, alt zu werden.«

»Das habe ich auch gedacht, als ich jung war«, sagte ich. »Es ist die Tatsache, jetzt alt zu sein, die mich stört.«

Der Drucker des Computers gab ein leises Summen von sich und spuckte etwas von der Größe einer Visitenkarte aus. Sie gab es an mich weiter. »Das ist Ihr Ticket. Es identifiziert Sie als John Perry und als Rekruten der KVA. Verlieren Sie es nicht. Ihr Shuttle startet genau vor diesem Büro, um Sie zum Flughafen von Dayton zu bringen,

Ich nahm das Ticket. »Was mache ich, wenn einer dieser Flüge verspätet landet?«

»Keiner dieser Flüge ist in den fünf Jahren, die ich hier arbeite, jemals verspätet eingetroffen.«

»Toll!«, sagte ich. »Ich wette, sogar die Züge der KVA treffen stets pünktlich ein.«

Sie sah mich verständnislos an.

»Ich will Ihnen erklären, was ich damit meine«, sagte ich. »Ich habe mehrfach versucht, Scherze zu machen, seit ich dieses Büro betreten habe.«

»Ich weiß«, sagte sie. »Tut mir leid. Mein Sinn für Humor wurde mir bereits im Kindesalter operativ entfernt.«

»Oh«, sagte ich.

»Das war ein Scherz.« Sie stand auf und reichte mir die Hand.

»Oh.« Ich stand auf und nahm ihre Hand.

»Herzlichen Glückwunsch zur Rekrutierung«, sagte sie. »Alles Gute da draußen zwischen den Sternen. Das meine ich übrigens ernst.«

»Vielen Dank.«

Sie nickte, setzte sich und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Computer zu. Ich war entlassen.

Auf dem Weg nach draußen sah ich eine ältere Frau, die über den Parkplatz auf das Rekrutierungsbüro zulief. Ich fing sie ab. »Cynthia Smith?«, fragte ich.

»Ja«, sagte sie. »Wie haben Sie das erraten?«

»Ich wollte Ihnen nur zum Geburtstag gratulieren.« Ich zeigte in den Himmel. »Vielleicht sehen wir uns da oben wieder.«

Sie lächelte, als sie verstanden hatte. Endlich hatte ich es geschafft, an diesem Tag jemanden zum Lächeln zu bringen. Es ging aufwärts.