Robert Pfaller
Kurze Sätze
über gutes Leben
FISCHER E-Books
Nach dem großen Erfolg von Robert Pfallers Studie »Wofür es sich zu leben lohnt« sind in dem vorliegenden Band alle Interviews versammelt, die rund um deren Themen kreisen: Genuss und Verbot, Rauchen und Neoliberalismus, Glück, Neid und – natürlich – die Liebe. Eine Vertiefung und Weiterentwicklung seiner Ideen, aber auch eine Einführung in Robert Pfallers Gedankenwelt.
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Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg
Coverabbildung: Städel Museum / Arthotek
Erschienen bei FISCHER E-Books
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2015
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402112-6
Die in diesem Band versammelten Texte sind Interviews, die nach meinem Buch »Wofür es sich zu leben lohnt. Elemente materialistischer Philosophie« (Fischer, 2011) entstanden. Dieses Buch hatte die Frage untersucht, warum in westlichen Gesellschaften plötzlich eine so auffällige Verfinsterung im Verhältnis zu unseren Genüssen aufgetreten ist: Warum also zum Beispiel das Tragen von Pelzen, das Austauschen von Höflichkeiten, Flirten, Sex, Fleischessen, Feiern, Grillen, Trinken, Rauchen, Parfümiertsein, Scherzen etc. auf einmal zu den anstößigsten Belästigungen gezählt wird. Es war kein Aufruf zum haltlosen Genießen – denn von dessen Unmöglichkeit ging es ja aus –, sondern vielmehr eine Überlegung darüber, was es bedeutet, wenn ganzen Gesellschaften die Genussfähigkeit verlorengeht. Nicht Genuss war also das Thema, sondern Genussfähigkeit (ähnlich wie für Karl Marx nicht die Arbeit, sondern die Arbeitskraft den Angelpunkt der Analyse bildete). Die leitende Vermutung war, dass Menschen willfährig und politisch wehrlos werden, wenn ihnen die Fähigkeit zum Genuss verlorengeht: Wenn man sie mit Todesfurcht einschüchtern und sie gehässig gegen das kleine Glück anderer machen kann, dann kann man wirksam die großen Reichtümer umverteilen, das Gemeineigentum privatisieren und den Staat entdemokratisieren.
Gestützt auf eine bestimmte Tradition materialistischen Denkens in der Philosophie, wollte das Buch »Wofür es sich zu leben lohnt« dazu anregen, die Fähigkeit zum Genuss wiederzugewinnen; sie als gesellschaftliche Ressource zu erkennen und wiederherzustellen. Es versuchte, den Paniken und der Regulierungsflut in Fragen der Gesundheit, Sicherheit, Umwelt, Kosteneffizienz etc. jene Techniken der vernünftigen Relativierung entgegenzusetzen, welche die Philosophie seit der griechischen Antike entwickelt hatte. Die Frage, wofür es sich zu leben lohnt, sollte dabei als entscheidender »Entkräftungsgedanke« erkennbar gemacht werden: als Hilfestellung, um sich das Leben nicht von übertriebenen, meist eingebildeten Besorgnissen ruinieren zu lassen und andererseits dafür den wirklichen politischen Fehlentwicklungen entschlossen und furchtlos entgegentreten zu können.
Dieses Buch erfuhr eine äußerst interessierte Aufnahme in der Öffentlichkeit und gab Anlass zu zahlreichen Interviews. Kluge Fragen aus den unterschiedlichsten Interessensrichtungen (u.a. von Zeitschriften über Mode, Autos, Gesundheit, Luftfahrt, Medien) regten mich an und zwangen mich nun, Antworten und Schlussfolgerungen meiner Theorie in Bezug auf Themen zu entwickeln, an die ich bis dahin mitunter kaum gedacht hatte. Darüber hinaus sah ich mich vor die Herausforderung gestellt, kurze Wege zu gehen. Weder der vorhandene Platz noch das erwartbare Leserinteresse erlaubten eine Argumentation über die ursprünglichen Strecken, etwa von Element A über B und C bis Element F. Nun musste ich mir überlegen, wie man auf dem direktesten Weg, sagen wir, von B zu Y gelangen konnte, ohne an Verständlichkeit zu verlieren.
Das so entstandene, vorliegende Interviewbuch erscheint mir brauchbar für diejenigen, die ein knappes, aber scharfes Bild meiner Theorie gewinnen möchten. Manches, das im früheren Buch noch die Züge mühevoller Rekonstruktion klassischer philosophischer Theorien tragen mag, ist nun schon mit einer gewissen Leichtigkeit präsentiert – jener Geschmeidigkeit, für deren Erwerb man selbst in Bezug auf die eigene Theorie leider oft einige Jahre der Übung benötigt.
Dass es zwischen einzelnen Interviewtexten zu Überschneidungen kommt, lässt sich bei einem solchen Vorhaben trotz aller redaktionellen Sorgfalt – für die ich Herrn Dr. Alexander Roesler vom Fischer Verlag aufrichtig dankbar bin – leider nicht vollständig vermeiden. Wenigstens lassen sich dadurch die einzelnen Texte sehr unabhängig und – hoffentlich – lustvoll stöbernd, voneinander lesen, ohne die Lektüre anderer Texte vorauszusetzen.
Vielleicht aber kann man dieser Unvermeidlichkeit der Wiederholungen noch eines zugutehalten: In der materialistischen Tradition der Philosophie sind Beispiele niemals nur Illustrationen oder informative Details. Sie sind vielmehr selbst Denkwerkzeuge, mit deren Hilfe sich andere Gegenstände analysieren lassen. Unter dieser Voraussetzung lässt sich dieses Buch auch als Versuch betrachten, die gewonnenen Werkzeuge mehrfach einzusetzen, sie an neuen Materien zu erproben, sie dabei zu schärfen und in ihrem Gebrauch Übung und Leichtigkeit zu gewinnen.
Mein Dank gilt allen Fragestellerinnen und Fragestellern, die mir durch ihre freundlichen Herausforderungen dazu Anlass gegeben haben.
KulturSPIEGEL: Herr Pfaller, wofür lohnt es sich zu leben?
Robert Pfaller: Die Antworten kennt jeder: mit Freunden ein Bier trinken, in einem zärtlichen Moment eine Aussicht genießen, beim Kaffee eine Zigarette rauchen, Ballspielen an einem Maiabend. Für verschwindend kleine Dinge.
Ist das nicht etwas wenig? Verleiht das einem Leben Sinn?
Die Sinnfrage stelle ich bewusst nicht. Unsere vornehmste Aufgabe ist es, zu leben, wie der Philosoph Montaigne gesagt hat. Nicht für bestimmte Aufgaben, Abenteuer, Projekte. Sondern einfach zu leben. Wenn Menschen nicht gelernt haben, wofür es sich zu leben lohnt, wenn sie immer nur auf die Frage geschaut haben, wozu es sich zu leben lohnt, also das Leben einem Projekt untergeordnet haben, dann fallen sie nach dem Ende dieses Projekts in jene Depressionen, wie es sie zur Zeit so verbreitet gibt. Glücklich sind wir, wenn wir mit Freunden trinken, rauchen, tanzen bis zum Umfallen.
Wie unvernünftig.
Es wäre unvernünftig, immer vernünftig zu sein. Die Vernunft würde zu etwas Irrationalem, das die Unvernunft unerbittlich verfolgt und auslöschen will – wie es zurzeit bei extremen Rauchgegnern zu beobachten ist. Sie wollen keine erträgliche Regelung für alle, sie wollen totale Reinheit.
Rauchen ist ungesund, auch für Passivraucher.
Statt zu fragen, wofür wir leben, fragen wir uns nur noch, wie wir möglichst lange leben. Wir mäßigen uns maßlos. Das ist das Merkmal unserer Epoche, ihr Krankheitssymptom. Die Leute werden dazu angehalten, ihr Leben als Sparguthaben zu betrachten und eifersüchtig darauf zu achten, dass ihnen niemand etwas abknapst. Das ist eine Vorsicht gegenüber dem Leben, die das Leben selber tötet. Sie führt zu einer vorzeitigen Leichenstarre.
Wieso wird das Rauchen seit einigen Jahren verstärkt verteufelt?
Jedenfalls nicht, weil wir schlauer sind als frühere Generationen. Dass das Rauchen schädlich ist, wussten sie auch. Mehr noch: Wenn sie das nicht gewusst hätten, hätten sie niemals geraucht – weil es nämlich gerade ihre Schädlichkeit ist, die die Zigaretten erhaben macht. Heute hingegen ziehen wir den meisten Genüssen den Stachel: Bars ohne Tabakkultur, Bier ohne Alkohol, Kaffee ohne Koffein, Schlagsahne ohne Fett, virtueller Sex ohne Körperkontakt.
Ohne den Stachel kein Genuss?
Absolut. Dinge, die uns Genuss verschaffen, sind immer mit einem Problem behaftet. Sie sind teuer wie Champagner, fett wie Sahnetorte, giftig wie Zigaretten. Das problematisch Lustvolle bricht die ökonomische Logik des Haushaltens – die Vernunft, mit unseren Kräften heute so umzugehen, dass wir morgen noch welche haben. Die unvernünftige Verausgabung beschert uns einen Triumph.
… und Kopfschmerzen am nächsten Tag. Wenn nicht gar ein kürzeres Leben.
Ja, aber ein besseres Leben. Wir sollten nicht den Tod fürchten, sondern das schlechte Leben.
Was macht uns so vernünftig?
Zum einen die Politik. Im Ziel der maßlosen Mäßigung treffen sich Neoliberale und Linke. Sie machen gemeinsame Sache, aus unterschiedlichen Motiven: Der Neoliberalismus zerstört bürgerliche Räume und die Solidarität in den Sozialversicherungen, er macht Menschen für ihre Krankheiten selbst verantwortlich. Die Linke steckt fest in einer Nach-68er-Emanzipationserzählung: Sie empfindet den Menschen als frei, wenn er nicht fremdbestimmt ist, wenn er ganz er selbst sein darf, wenn er möglichst wenig vom Anderen mitbekommt. Keinen Rauch zum Beispiel.
Viele verzichten freiwillig, nicht weil sie politisch dazu gezwungen werden.
Ja, weil bei ihnen etwas anderes an die Stelle der Lust tritt: Selbstachtung. Menschen, die asketisch sind, empfinden sich fast immer als höherwertig. Sie denken, sie seien klüger als andere und ihnen moralisch überlegen. In unserer Gesellschaft, in der die Klassendifferenzen härter werden, in der viele von Abstiegsängsten erfasst sind, ist das extrem attraktiv. Soziale Distinktion wird wichtiger. Nehmen Sie die Vegetarier, die zur Zeit so im Trend liegen: Die einen machen es, um gesünder zu sein; die anderen machen es, weil sie sich so besser fühlen als andere: Denn sie schauen, so meinen sie, nicht nur auf ihr Schnitzel, sie haben den Klimawandel und das Fortbestehen der Menschheit im Blick.
Aber doch zu Recht. Muss das schöne Leben ein verantwortungsloses Leben sein?
Es geht um die Verantwortung gegenüber dem guten Leben. Die Klimapanik passt zu unserer Todesfurcht, die größer ist als die Furcht vor dem schlechten Leben. Es wird ständig so getan, als wenn es entsetzlich wäre, wenn die Menschheit als Gattung ausstirbt. Mein Vorgänger hier am Lehrstuhl, der Philosoph Rudolf Burger, hat einmal sehr klug festgestellt: Es ist nicht trauriger, wenn wir alle zugleich sterben, als wenn wir alle nacheinander sterben.
Ist ein fetter Fleischklops wirklich der Inbegriff von Genuss? Und kann ein Biosaft nicht genauso lecker sein wie ein Jahrgangssekt?
Triumphale Freude empfinden wir nur, wenn wir ein zwiespältiges Kulturelement in ein großartiges verwandeln. Wenn wir uns das versagen, sind wir im profanen Leben gefangen. Dann können wir nicht mehr feiern. Feiern können wir nur mit Dingen, die eine ungute, nicht auf Dauer verträgliche Eigenschaft haben.
Weil sie den Alltag durchbrechen.
Genau, der Alkohol bei einem Fest schlägt eine Kerbe in die Zeitlinie. Mit Mineralwasser kann man den Tag nicht markieren, an dem das eigene Fußballteam den historischen Sieg gegen den Stadtrivalen errungen hat. Und den Geburtstag eines Erwachsenen kann man nicht mit Multivitaminsaft feiern. Es wäre unhöflich, nicht mit ihm anzustoßen, wenn gefeiert wird. Es wäre unanständig, anständig zu bleiben. Unsere Kultur zwingt uns in solchen Situationen zur Verausgabung – zu der wir von alleine nicht fähig wären.
Man muss die Feste feiern wie sie fallen, heißt es im Sprichwort.
Was aber auch bedeutet, dass man sie sonst eben nicht feiern darf. Nur ein feierndes Kollektiv kann ein Gebot an die Individuen richten, keine Spielverderber zu sein. Deshalb erscheint der Einzelne, der einem auf der Straße rauchend entgegenkommt, auch so verwahrlost. Er raucht in seinem Alltag, nicht als Unterbrechung des Alltags. Er raucht ohne Kulturgebot. Das ist trist.
Zigaretten sind verpönt, keine Frage, aber ist unsere Kultur asketisch? Was ist mit dem allgegenwärtigen Sex?
Es gibt den schönen Satz des Philosophen Max Scheler, der schreibt, wir sind umgeben von lauter lustigen Dingen, die angeschaut werden von lauter traurigen Menschen, die nichts damit anzufangen wissen. Also: Es sind nicht die Genussmittel, die knapp geworden sind, sondern die Ressourcen, die Menschen brauchen, um die Genussmittel als lustvoll zu empfinden.
Wieso bietet der Markt den Sex dann überhaupt an?
Im Spielfilm wird er uns kaum noch angeboten, er ist in Talkshows und andere Reality-Formate abgewandert. Dort wird der Sex vorgeführt, aber nicht glamourös, sondern mit einer abstoßenden Note, mit einem mahnenden Fingerzeig. Die Drohung heißt: Wenn ihr euch nicht zusammennehmt, sitzt ihr morgen selber bei den Unterschichtlern im Rudelbums-Container. Es ist heute für breite Mittelschichten immer mit der Gefahr der Deklassierung verbunden, sich freizügig zu zeigen.
Die Oberschicht lebt ihre Sexualität nach wie vor lustvoller aus?
Es gibt so etwas wie die Klasse italienischer Ministerpräsidenten, die Flavio-Briatore-Klasse auch, in der es zumindest zum guten Ton gehört, so zu tun, als habe man permanente Exzesse.
Wobei Berlusconi und Briatore auch nicht gerade glamourös sind, ebenso wenig wie Charlie Sheen. Der wird medial als Irrer vermittelt.
Charlie Sheen ist kein Typ wie Steve McQueen oder Paul Newman. Er ist zu extrem, ein Freak, ein Zerrbild. Wir haben heute generell keine Stars mehr, die als erotische Vorbilder taugen, die Sex so glamourös verkörpern, dass wir sagen können: Jetzt hatten wir einen tollen Moment, es war wie bei Michel Piccoli und Romy Schneider.
Was ist mit dem Boom der Kochshows und Kochbücher? Sind sie nicht ein Zeichen für eine genussfreundliche Gesellschaft?
Mit den Kochbüchern ist ähnliches passiert wie mit den Sextoys. Das waren früher Dinge, die man im Verborgenen gehalten hat, hinter der Bühne. Die Effekte hat man den Auserwählten geboten, die auf die Bühne kamen: den Gästen, die zum Essen eingeladen waren, oder den Sexpartnern, die wir überraschen wollten. Heute zeigen wir alles exhibitionistisch her, aber Sex haben wir eher selten, und die Küche bleibt auch kalt. Dazu passt, dass heutige Kochbücher graphisch aufwendig gestaltet und stilisiert sind, sie haben eine ganz andere Funktion als früher die nüchternen Kochbücher vom Typ »Man nehme«. Sie sind Vermittler eines Lebensgefühls, nicht so sehr Werkzeuge einer Praxis. Zumal die meisten auf Spitzenleistungen verweisen, so wie die Kochshows mit ihren Starköchen. Früher hatte man ein Repertoire an einfachen, wiederholbaren Gerichten, an denen man Freude haben konnte. So etwas wie ein gut gekochtes Rindfleisch mit einer Kohlrabi-Soße. Heute ist alles extrem verfeinert und lässt sich schwer nachkochen.
Der Spanier Ferran Adrià, der Erfinder der Molekular-Küche, ist für das Kochen, was Charlie Sheen für den Sex ist?
Der Effekt kann ähnlich sein. Weil wir unbewusst denken: Wenn’s überhaupt Sex gibt, dann gleich so was, na, dann lassen wir’s lieber bleiben. Was Michel Piccoli und Romy Schneider vorgeführt haben, das war vielleicht auch drei Stufen über dem, was Normalmenschen wollten oder konnten, aber es war noch ein nachvollziehbares Ideal. So wie der Skilehrer auch immer drei Zacken besser fährt als der Skischüler, aber er fährt doch so, dass der Skischüler hinterherfahren und sich vorstellen kann, ihm mit ein bisschen Übung nahezukommen. Solche Vorbilder fehlen uns, wir sind von Extremen umgeben.
Extrem ist auch das Phänomen der Komatrinker – und es ist alles andere als asketisch.
Wenn wir uns über Alkohol hermachen, dann wie Kinder, deren Eltern ausgegangen sind und vergessen haben, den Schnapsschrank zuzusperren. Dann saufen wir uns die Birne weg, auch weil wir es uns nicht vorstellen können, dass irgendwer uns diesen Genuss gönnt – darin besteht das Asketische. Wir müssen exzessiv genießen, weil wir trotzig genießen – und weil wir mit einem schlechten Gewissen genießen, das wir betäuben müssen.
Beobachten Sie den kulturellen Trend zur Askese auch auf dem Feld der Kunst selbst?
Die Künstler sind heute die Musterknaben der Gesellschaft. Das liegt unter anderem daran, dass man leichter zu Geld kommt, wenn man den Kuratoren und Kulturpolitikern sachliche Projekte unterbreitet, die mit Sekundärliteratur durchdacht sind und ein wichtiges Anliegen promoten.
Wie verändert das die Kunst?
In den Achtzigern sah es auf einer Documenta aus wie in einer katholischen Kirche. Es gab viel buntes Zeug, vieles war kindisch und lustig. Heute gleicht eine Documenta einer protestantischen Kirche. Es ist viel Text zu lesen, die Objekte sind sperrig und nicht besonders lustvoll. Dafür geht es bei ihnen immer um ein wichtiges Anliegen, irgendetwas wird gerettet, irgendeine Minderheit oder eine bedrohte Pflanzensorte. Die Menschen haben offenbar mehr Bedürfnis, sich moralisch gut zu fühlen, als ihren Geschmack zu verfeinern oder sich zu amüsieren.
Und wie amüsiert sich der Philosoph Pfaller? Leben Sie privat das, was Sie beruflich predigen?
Nun ja, in meiner idiotischen Privatexistenz als Bourgeois habe ich ein Nebenhöhlenproblem und darf kaum rauchen, nur in feierlichen Ausnahmemomenten. Wichtig ist mir aber, dass man sich nicht von seinem Privatinteresse leiten lässt, wenn es darum geht, ob der Staat etwas verbietet. Man muss das, da es eine politische Frage ist, als Citoyen diskutieren und darf nicht die eigene Allergie über das Allgemeinwohl stellen.
ZEIT ONLINE: Herr Pfaller, Ihrer Meinung nach gehen uns derzeit einige genussvolle Kulturtechniken verloren. Haben Sie ein paar Beispiele zur Hand, die derzeit auf der »Liste der vom Aussterben bedrohten guten Lebensmomente« stehen könnten?
Robert Pfaller: Neben dem Rauchen, das wir uns derzeit verdächtig gerne verbieten lassen, und dem zivilisierten Alkoholkonsum wird uns auch der Sex zunehmend problematisch. Wir schämen uns nicht nur vor anderen, so wie die Leute im 19. Jahrhundert. Sondern haben heute auch moralische, politische und gesundheitliche Bedenken gegen den Sex. So dass Angehörige aller Geschlechter heute kaum noch wissen, wie sie einander ansprechen sollen. Vielleicht lässt sich ja in Zweierbeziehungen, die sich immer weiter zu verfestigen scheinen, manches davon wiedergutmachen. Aber das Knisternde des Charmes, der Flirts, der Koketterie mit fremden Menschen, mit denen man vielleicht nicht unbedingt auf ein intimes Verhältnis abzielt, scheint verlorenzugehen.
Sie bescheinigen uns eine aktuelle »Maßlosigkeit im Mäßigen«. Woher kommt eigentlich die Idee dazu?
In meinem vorigen Buch »Das schmutzige Heilige und die reine Vernunft« hatte ich den Satz geschrieben »Vernunft besteht eben nicht darin, zuerst und ausschließlich dort vernünftig zu sein, wo es leicht und bequem ist.« Als ich diesem Gedanken nachging, entdeckte ich ihn bei Epikur wieder. Er sagt, mit der Mäßigung müsse man maßvoll umgehen, weil sie selbst sonst zum Exzess wird. Diese listige Forderung nach Verdoppelung der Mäßigung hat mich besonders amüsiert, da wir die antiken Philosophen sonst ja meist als öde Mäßigungsprediger kennen.
Steckt hinter einer Kritik der Mäßigung nicht aber auch ein wenig Neid auf die Disziplinierten, die Schönen, Gesunden, Schlanken, Erfolgreichen? Ist Disziplin nicht eine besonders wertvolle Leistung?
Wir sind nicht diszipliniert; wir haben nur ein gestörtes Verhältnis zum Genuss. Wir haben ein kindisches, tyrannisches Über-Ich, das uns dazu bringt, uns nichts zu gönnen und uns ständig vor allem zu fürchten. Menschen sind von sich aus alles andere als genussorientiert und hedonistisch. Erst die Kultur kann ihnen ein wenig dazu verhelfen. Freilich vermögen das nicht alle Kulturepochen im selben Maß. Die unsere bestärkt uns darin, das tyrannische Über-Ich ernst zu nehmen, anstatt uns zu helfen, seine Kindereien mit Humor zu betrachten.
Wozu sind wir nicht mehr in der Lage, wenn wir zu diszipliniert sind?
Uns Momente kindlicher Unvernunft zu gönnen, die einzigen wirklichen Freuden und Triumphe, die wir im Leben haben. Das konnten etwa die sechziger und siebziger Jahre, wie man an alten Filmen feststellen kann, noch deutlich besser.
Sie sagen, es sei ein Tabu, fetten Schweinebraten zu genießen. Auf der anderen Seite wollen alle perfekt aussehen, und zwar möglichst auch noch auf natürliche Weise. Ist es heute nicht das viel größere Tabu, zu sagen, dass man Diät hält, um besser auszusehen? Weil das besonders uncool wäre?
Das Uncoolste scheint mir heute zu sein, sich selbst nicht zu dick zu finden!
Nehmen wir ein anderes Beispiel: Ist es verpönt, sich die Brüste operieren zu lassen?
Bei den Brustoperationen dürfte eine ähnliche Umverteilung stattfinden wie beim Sex insgesamt: In den etablierten Mittelschichten wird reduziert, die Unterschichten dagegen stocken sichtbar auf, sozusagen bei gleichbleibender Busengesamtmenge.
Aber dem Traum von Makellosigkeit und Schönheit entkommt man trotzdem nicht.
Schöne Menschen sind ja eben nicht makellos. Denken Sie an die Nase der Kleopatra: Hätte sie anders ausgesehen, schreibt der Philosoph Blaise Pascal, hätte das Gesicht der Welt sich verändert. So viel Begehren konnte diese besondere Nase bei römischen Kaisern auslösen. Heute wäre sie ein typischer Fall für eine kosmetische Operation. Eine Kultur, die ständig nach Makellosigkeit strebt, hat die Fähigkeit verloren, zwiespältige Elemente in etwas Großartiges zu verwandeln. Wir versuchen sie zu unterdrücken, zu verbieten oder wegzuoperieren. Der Jazzpianist Thelonius Monk dagegen hatte gesagt: »If you ever play a false note, play it again, and play it loud!«
Also ist Genuss zwangsläufig immer um etwas Zwiespältiges aufgebaut.
Alle wirklich großartigen Momente im Leben entstehen durch die Verwandlung von etwas, das wir so nicht immer haben wollen. Der Alkohol berauscht, die Partykleidung ist teuer, der Müßiggang macht schlechtes Gewissen oder Langeweile. Die Kultur verhilft uns durch ihre Gebote des Feierns dazu, dass wir das Ungute bejahen und daraus etwas Grandioses machen können. Und genau das verschafft uns den Triumph: Wir sind begeistert über unsere Verwandlungskraft. Nur als kulturelle, das heißt als öffentliche Menschen sind wir zu diesem Genuss fähig. Auch die Liebe gelingt, wie Richard Sennett bemerkt hat, nur, wenn wir uns darin als gesellschaftliche Wesen mit bestimmten Rollen verhalten – und uns nicht einbilden, dass dies nur eine Herzensangelegenheit zwischen Privatpersonen wäre. Wir brauchen Rollen, die uns zeigen, wie etwas gemacht gehört, und die uns gebieten, es zu tun. Verbote brauchen wir nicht.
Wer aber Sicherheitsargumente ignoriert, muss im Zweifel auch die Verantwortung übernehmen. Wer sagt: »Lasst die jungen Leute doch feiern und Spaß haben!«, der ist nachher verantwortlich für ein Unglück wie eben dem nach der letzten Loveparade.
Entscheidend ist, dass wir uns nicht ständig vor dem Tod fürchten, sondern vielmehr vor schlechtem Leben. Dann kann man über alles reden und abwägen, ob man etwas mehr Sicherheit will oder lieber etwas mehr Unbeschwertheit. Aber die derzeitigen Vorschläge zur Verbesserung von Sicherheit, Gesundheit, Nachhaltigkeit und so weiter werden nicht in einer diskutierbaren, abwägenden Weise eingebracht, sondern als ständig neue Paniken, die sofort nach Verboten verlangen. Hier wird anscheinend unbewusst eine bestimmte Idee von Unsterblichkeit verfolgt, als wäre dies ein höchstes Gut, dem man alles andere selbstverständlich opfern muss.
Sie schreiben, es gäbe wieder eine wachsende Menge an Menschen, die »ihr Leben als Gabe betrachten, das sich zu geben lohnt«. Selbstmordattentäter zum Beispiel.
Der Selbstmordattentäter, der sein Leben um jeden Preis loswerden will, erscheint mir in gewisser Weise als das Spiegelbild des ängstlichen westlichen Menschen, der es um jeden Preis behalten will. Würden wir uns nicht sofort zu panischen Sicherheitsvorkehrungen und zu massiven Eingriffen in die Bürgerrechte hinreißen lassen, dann hätte es auch weniger Reiz, uns zu attackieren. »Macht, was ihr wollt, wir bleiben gelassen«, wäre ein souveränes Signal. Wenn wir zeigen, dass wir diejenigen sind, die schlechtes Leben mehr fürchten als den Tod, dann stellt sich für die Anderen die peinliche Frage, auf welchem Standpunkt sie eigentlich stehen. Freilich müssen aber auch politische Probleme gelöst werden, um diesen Tätern den Anschein von Legitimation zu entziehen, den sie zumindest in ihren eigenen Augen wohl besitzen.
Es scheint umgekehrt eine Mode zu geben, insbesondere die jüngere Generation als spießig und lustfeindlich und konservativ zu bezeichnen. Ist das nicht aber auch eine gewisse Arroganz einer älteren, abgesicherten, gut verdienenden Generation?
In einer Zeit, in der alle gezwungen sind, so hart um ihre Existenz zu kämpfen, ist es nur konsequent, sich asketisch zu verhalten. Askese war ja ursprünglich eine Vorbereitung auf das Kämpfen. Etwas anderes aber ist es, solche Zwänge zu verinnerlichen und das, wozu man gezwungen wird, auch noch als Utopie zu begrüßen und jedes andere Bild glücklichen Lebens mit spontanem Abscheu und mit Aggression abzulehnen. Man muss auch wissen, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Das haben übrigens alle Generationen von früheren gelernt.
Verschieben sich die Räume des Abgesicherten und dessen, was anarchisch und mutig sein darf? Im Internet zum Beispiel entstehen derzeit immer noch neue Freiheiten, Chancen und auch Grauzonen, während etwa der Straßenverkehr immer noch weiter geregelt wird. Nach der Anschnallpflicht kommt demnächst vermutlich die Fahrradhelmpflicht.
Man muss sich ansehen, wer mit Zwang behandelt wird, und wer dafür nicht. Unter neoliberalen Bedingungen werden die Kontrollen über mächtige Lobbyinteressen aufgehoben. So hat zum Beispiel die Aufhebung der Kontrollen über die Lebensmittelproduktion in England zum europaweiten Rinderwahn geführt. Der Staat wird geschwächt und daran gehindert, den Individuen Möglichkeiten zu eröffnen, also etwa Zugang zu Infrastruktur, Bildung, sozialer Sicherheit und ähnliches. Stattdessen wird er zunehmend als repressive Macht gegen die Individuen eingesetzt – denen man erzählt, es geschehe zu ihrem eigenen Besten. Dabei werden unter anderem auch Formen zivilgesellschaftlicher Öffentlichkeit zerstört: Pressefreiheit, der freie Austausch von Gedanken und Tabakkultur im Café waren zusammenhängende Errungenschaften bzw. Voraussetzungen der bürgerlichen Revolutionen von 1848.
Süddeutsche Zeitung: Herr Pfaller, reden wir über Geld. Wofür lohnt es sich, viel auszugeben?
Robert Pfaller: Für die wirklich großen Glücksmomente des Lebens. Wir müssen hin und wieder unsere Sparsamkeit überwinden, aus unseren Geld- und Zeitökonomien ausbrechen und großzügig sein – sonst bleiben wir nur Sachbearbeiter unseres Lebens. Wenn wir also zum Beispiel Champagner trinken, dann müssen wir damit so umgehen, als könnte er endlos fließen. Dann sind wir souverän – sozusagen als Führungskräfte auf Augenhöhe mit dem Leben. Oder wir müssen uns sehr viel Zeit nehmen, um Bücher zu lesen – auch solche Verschwendung kostet heute übrigens meist sehr viel Geld, weil es Ungestörtheit voraussetzt und weil dadurch vieles andere unerledigt bleibt.
Und das soll glücklich machen?
Und wie! Alle großen Glückserfahrungen beruhen auf etwas Ungutem, Unverträglichem oder Unbrauchbarem. Alkohol trinken ist teuer und schlecht für die Leber. Sex ist laut und sozial unverträglich. Selbst vermeintliche harmlose Beschäftigungen wie Spazierengehen und Musikhören haben das Ungute der Zeitverschwendung an sich. Klar ist jedoch, ich sterbe so oder so – ich möchte nur, dass das, was vorher passiert, ein Leben genannt werden kann. Wer einmal aufs Ganze gegangen ist und dem Tod auf diese Weise ins Auge gesehen hat, ist auch in der Lage, kleine – und oft auch wenig kostspielige – Dinge als sehr lebenswert zu empfinden.
Aber alle predigen doch immer: Man soll nicht trinken, nicht rauchen …
… jaja, und kein Fleisch essen und kein Auto fahren. Wie schrecklich! Wie könnte ich durch so einen individuellen Tugend-Purismus das Allgemeinwohl befördern?
Manche sagen: Man schützt das Klima.
Es ist sehr überheblich, zu denken: Wenn ich mich jetzt bewusst ernähre, rette ich die Welt vor dem Ozonloch.
Nicht ganz, aber vielleicht ein bisschen.
Und der Konsument soll das alles individuell beeinflussen? Nein, der Staat muss das regeln! Die Politik muss feste Klimaziele bestimmen und die Finanzmärkte regeln, nicht der Einzelne. Wir haben doch nur wahnsinnigen Stress, wenn wir immer wissen müssen, welche Turnschuhe nicht von Kindern genäht wurden und welche Daunenjacke nicht Federn gequälter Tiere enthält – und an die entscheidenden Fragen kommen wir auf diesem Weg ohnehin nicht heran.
Was machen Sie stattdessen?
Ich halte mich an ein Grundprinzip politischen Denkens: Individuelles Wohlverhalten steht in keinem direkten Verhältnis zum allgemeinen Wohl. Der Philosoph Bernard de Mandeville hat das 1705 in seiner »Bienenfabel« mit revolutionärem Sarkasmus formuliert: »Private vice is public benefit« – damit die Welt allgemein gut wird, müssen wir individuell böse sein.
Also rauchen und saufen.
Das auch. Aber vor allem das gute Allgemeine am vermeintlich individuell bösen Verhalten des anderen erkennen. Zum Beispiel: Wenn man vor 15 Jahren einen Gesprächspartner fragte, ob es ihn stört, dass man raucht, sagte der: »Bitte, nur zu, ich rauche zwar selbst nicht, aber das riecht so gut und sieht so elegant aus.« Heute erscheint das undenkbar.
Warum hat sich das verändert?
Das hat mit dem Verfall des öffentlichen Lebens zu tun, den der Soziologe Richard Sennett beschrieben hat. Wenn Menschen in europäischen Städten früher – etwa seit der Renaissance – vor die Tür traten, sprachen sie anders und kleideten sich anders als zu Hause. Sie spielten eine Rolle und hielten ihre private Person und deren Befindlichkeiten im Hintergrund. Heute ist das anders.
Seit wann geht man sich auf die Nerven?
Nach 1968 haben wir die Rolle zugunsten der privaten Person liquidiert. Nun platzen alle ständig mit ihren Befindlichkeiten heraus und empfinden das auch noch als Befreiung. Allerdings spüren sie dann alles plötzlich auf der eigenen Haut, anstatt wie früher auf der Maske ihrer Rolle. Dadurch ist die allgemeine Empfindlichkeit so sehr gestiegen.