Antje Rávik Strubel
Blaue Frau
Roman
Roman
FISCHER E-Books
Antje Rávik Strubel veröffentlichte zahlreiche Romane. »Kältere Schichten der Luft« (2007) war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert, »Sturz der Tage in die Nacht« (2011) stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Antje Rávik Strubel wurde als erste Writer in Residence an das Helsinki Collegium for Advanced Studies eingeladen, sie erhielt 2019 den Preis der Literaturhäuser. Zuletzt erschien 2016 der Episodenroman »In den Wäldern des menschlichen Herzens«. Sie lebt in Potsdam.
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Adina wuchs als letzter Teenager ihres Dorfs im tschechischen Riesengebirge auf und sehnte sich schon als Kind in der Ferne. Bei einem Sprachkurs in Berlin lernt sie die Fotografin Rickie kennen, die ihr ein Praktikum in einem neu entstehenden Kulturhaus in der Uckermark vermittelt. Von einem sexuellen Übergriff, den keiner ernst nimmt, unsichtbar gemacht, strandet Adina nach einer Irrfahrt in Helsinki. Im Hotel, in dem sie schwarzarbeitet, begegnet sie dem estnischen Professor Leonides, Abgeordneter der EU, der sich in sie verliebt. Während er sich für die Menschenrechte stark macht, sucht Adina einen Ausweg aus dem inneren Exil. »Blaue Frau« erzählt aufwühlend von den ungleichen Voraussetzungen der Liebe, den Abgründen Europas und davon, wie wir das Ungeheuerliche zur Normalität machen.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2021 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Büro KLASS, Hamburg
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ISBN 978-3-10-491448-0
Meiner Freundin und Mentorin
Silvia Bovenschen gewidmet
Ich habe gehört, daß ich die Frau bin, der er schon auf Seite sechzehn begegnet.
Inger Christensen
Jede Nacht sind die Autos zu hören. Das Rauschen der Autos auf den dreispurigen Straßen und das Rascheln der Blätter am Vogelbeerbaum.
Das sind die Geräusche.
Sie dringen durch das Fenster herein, das einen Spaltbreit geöffnet ist. Das Meer hört man nicht. Die Ostsee, die im Süden liegt, jenseits der Plattenbauten, in einer Bucht mit verschilften Ufern, die im Winter schnell zufrieren wird.
Peitschenlampen säumen die Wege. Nachts fällt ihr bleiches Licht auf den Bordstein und auf den Balkon der kleinen Wohnung, der zur Straße zeigt. Die metallenen Lampenschirme schwanken im Wind. Das Schlafzimmer zeigt zum Hof, wo es einen Spielplatz gibt, einen Verschlag für die Fahrräder und den Vogelbeerbaum.
Die Wände der Wohnung sind weiß und leer bis auf den Spiegel im Flur. In der Küche hängen zwei Postkarten über der Spüle. Auf der einen Karte fahren gelbe Taxis durch eine Straßenschlucht in New York. Auf der anderen, einer Schwarzweißaufnahme, sitzen zwei Frauen in einem Pariser Straßencafé. Sie tragen Glockenhüte aus den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts und elegante Röcke.
Das sind die Bilder.
Die Blumentöpfe im Metallregal auf dem Balkon sind unbenutzt. Spinnweben haben sich dort verbreitet. Die Spinnen leben noch. Es ist September.
Am Horizont, wo Lagerhallen und ein riesiger Sendemast die Reihen der Plattenbauten begrenzen, türmen sich Wolkenberge auf. Der Sendemast ist der einzige Orientierungspunkt in den identischen Straßen.
Niemand weiß, wo sie ist.
Die Wanduhr zeigt halb drei. Das silberne Zifferblatt stellt den Weltatlas dar. Einen Sekundenzeiger gibt es nicht, nur ein kleines rotes Flugzeug, das die silberne Welt umrundet. Jede Weltumrundung dauert bloß eine Minute, und doch sieht es langsam, fast gemächlich aus. Ein Schatten fliegt unter dem Flugzeug mit und ist ihm manchmal ein kleines Stück voraus, je nachdem, wie der Lichteinfall ihn auf die glänzende Erde wirft.
Sie könnte überall sein.
Nina. Sala. Adina.
In der Küche gibt es ein paar Töpfe, einen Wasserkocher und eine fleckige Espressokanne. Die Kanne fiept, wenn unter Druck Wasserdampf aus dem Ventil am Kessel tritt. Auf den Tassen im Schrank steht in Großbuchstaben IKEA. Die Wohnung sieht nach einer echten Wohnung aus, nach einem Menschen. Ein paar Bücher sind da, Kerzenständer, Hochglanzmagazine übers Kochen und Reisen. Im Flur liegt ein abgewetzter Läufer. Walkingstöcke stehen an der Garderobe.
Das sind die Gegenstände.
Sie stellt die Walkingstöcke in den Schrank im Flur. Aus dem Bad ist einlaufendes Wasser zu hören. Aus dem Treppenhaus dringt kein Geräusch. Die Wohnungstür ist abgeschlossen. Die Griffe an den Fenstern sind fest verschraubt. Nur ein schmales Winterfenster lässt sich einen Spalt weit öffnen. Der Spalt ist nicht groß genug, um den Kopf hinauszustrecken. Das ist ihr recht, obwohl im Moment die Sonne scheint und die Wohnung sich aufheizt.
In der Küche steht die angebrochene Plastikflasche. Sie misst einen Deckel voll Flüssigkeit ab und gießt den Schwapp in den Kaffee.
»Nur ein Schluck«, sagt sie, als wäre da jemand.
Die Wanduhr schlägt mit dem Klang einer leisen Kirchenglocke.
»Salut, Sala! Auf dich.« Mit erhobener Tasse nickt sie den schmutzigen Scheiben der Balkonverglasung zu. »Auf dich und alles Gute!«
Wind zieht durch den Fensterspalt. Auf der Wanduhr ist es kurz vor drei. Die silbernen Umrisse der Kontinente zeigen keine Städte, keine Straßen, keine Gebirgsfalten und keinen Fluss. Sie stellt den Schnaps in den Kühlschrank. Eine Flasche braucht ihren Platz, wenn sie selbst schon fremd und die Wohnung nicht ihre ist. Sie ist in einem Land, das sie nicht kennt, in einem Land im Norden, wo die Bäume andere sind und die Menschen eine andere Sprache sprechen, wo das Wasser anders schmeckt und der Horizont keine Farbe hat.
Ihr Herz setzt einen schnellen Schlag, wo er nicht hingehört. Sie lenkt sich ab. Sie denkt an Buchen und Kastanien, an Linden und Kiefern, an den Geruch nach Holz und Erde und daran, wie ruhig und scheinbar zeitlos das Leben eines Baumes verläuft, wie das des Vogelbeerbaums vor dem Schlafzimmerfenster. Sie denkt daran, wie mickrig ihr Herzrasen wird vor der gleichgültigen Pracht dieser Bäume und ihrem Ewigkeitsversprechen, ewig jedenfalls, solange sie nicht in Rodungsgebieten stehen. Aber die Bäume, die sie im Kopf hat, wachsen unversehrt vor einem Doppelhaus. Niemand wird sie fällen, weil sie aufpasst.
Aufgepasst hat.
Das ist die Vergangenheit.
In ihrer Vorstellung hat sie das Recht, in der Vergangenheit zu sein. Es fällt Schnee dort. Es ist Winter und sie noch ein Kind. In kristallklaren Nächten scheint der Mond fahl auf die Wege und beleuchtet die Tannen und Fichten und die Masten der Skilifte, die an den gerodeten und von Pistenraupen gewalzten, schneebedeckten Hängen stehen. Das Doppelhaus befindet sich in einem sanften Tal vor einem hohen Horizont. Es ist weit weg von hier. Es ist 1500 Kilometer, eine Stunde Zeitverschiebung und zwanzig Autostunden von Helsinki entfernt, in einem Gebirge an der tschechisch-polnischen Grenze. Sie liegt im Kinderzimmer unter dem Dach. Ihr Bett hat sie mit einer Lichterkette dekoriert. Wenn sie sich aufrichtet, kann sie vom Fenster aus den Čertova hora sehen. Nur der Gipfel des Berges zeichnet sich vor dem Nachthimmel ab, seine schneebeflogenen schroffen Felsen.
Wenn ihre Mutter zum Gutenachtsagen ins Dachzimmer kommt, lässt sie die Jalousie herunter und schaltet die Lichterkette aus. Sobald sie gegangen ist, macht Adina die Jalousie wieder auf. Sie will sehen, wie das Mondlicht auf ihre Haut fällt und sie verwandelt. Sie zieht das Nachthemd hoch bis zum Bauch. Die Beine sehen im bleichen Licht dünn aus, verletzlicher als am Tag. Sie legt eine Hand auf ihren Oberschenkel, sie kann den Oberschenkel zur Hälfte umfassen. Sie winkelt das Bein an, ein schimmerndes Ding, das Knie nur ein Knochen. Sie stellt sich einen Jungen vor, einen Jungen, der noch kein Gesicht hat, noch nicht einmal einen Körper, er hat nur diese Hand, die ihre ist und sich deshalb gut anfühlt, als sie mit den Fingerspitzen über ihren Oberschenkel streift.
Im Dorf gibt es keine Jungen. Es gibt nur die Barkeeper in der Cocktailbar des Viersternehotels, die den Touristen in der Saison Cubra Libre und Old Fashioned mixen und ihr manchmal einen Orangensaft auf Kosten des Hauses spendieren. Es gibt die Kinder der Touristen, die den ganzen Tag mit Snowboards auf der Piste sind und ihre Plastikanzüge auch zum Abendessen nicht ausziehen. Sie streifen nur die Ärmel ab, und die Oberteile bleiben auf der Hüfte hängen.
»Du musst morgen früh raus«, sagt ihre Mutter, wenn sie die Lichterkette ausmacht und die künstlichen Blüten mit einem Nachglühen verlöschen. »Dein Brot liegt in der Brotbüchse im Kühlschrank. Und dass du mir die Äpfel isst!«
Adina sieht das Mondlicht auf ihrem Bettzeug und auf ihren Anziehsachen, die über der Stuhllehne hängen. Sie sucht die Kleidung für den nächsten Morgen immer schon am Abend vorher heraus, gefütterte Hosen und einen grünen Wollpullover, der ihr zu groß ist. Die Ärmel schlackern über die Handgelenke. Wenn sie ihn trägt, kommt sie sich vor wie ein Naturforscher auf Expedition.
Auch die Schultasche ist fertig gepackt. Morgens ist dafür keine Zeit. Außerdem ist es dunkel, denn sie macht das Licht nicht an. Sie hat sich alles so ausgedacht, dass sie es mit Zähneputzen rechtzeitig zum Bus schafft. Der Bus wartet nicht, obwohl sie in den ersten fünfzehn Minuten die einzige Mitfahrerin ist. Abends, wenn es auf der schmalen, kurvigen Straße, die sich vom Tal ins Dorf hinaufwindet, Glätte gibt, muss sie die letzten Kilometer nach Hause laufen, weil der Busfahrer nicht extra wegen ihr Schneeketten montiert.
Das Dorf klemmt zwischen Bergmassiven. Die Gebirgszüge des Krkonoše bilden seine natürliche Grenze. Hinter dem Dorf steht der Wald an steilen Hängen. Auf den letzten Kilometern des Nachhausewegs hält Adina sich dicht an den Schneewällen am Straßenrand. Die Straße ist unbeleuchtet. Aber der Schnee schimmert. Und die Autos, die aus dem Tal hinauf nach Harrachov fahren, bestrahlen mit ihren Scheinwerfern die Wipfel der Fichten.
Sie drückt ihr Knie auf die Matratze zurück und betrachtet die Beine. Zwei Leberflecken. Eine Narbe am rechten Knie, der Rest ist glatt weiß.
Das ist der Blick.
Der Blick kommt aus der Gegenwart. Die weiße Glätte der Beine wäre ihr als Kind nicht aufgefallen. Das hätte sie nicht gekümmert. In ihrem Bett am Čertova hora gab es solche Blicke nicht. Ihre Mutter machte die Lichterkette aus, und Adina schlief ein. So ist es glaubwürdig. Alles andere ist hinzugefügt.
»Theater«, sagt sie laut und nimmt den letzten Schluck aus der Tasse.
Wind zieht durch den Fensterspalt. Aus dem Bad ist das Einlaufen des Wassers zu hören.
Theater kann sie sich nicht leisten. Wer eine Aussage macht, muss präzise sein.
Sie weiß nicht, wie man eine Aussage macht. Sie wird vor ein Gericht müssen. In Helsinki gibt es ein Gericht. Es befindet sich in der Nähe des Doms, der wie ein weißer Felsen aus der Brandung der Stadt aufragt. Aber sie kann nicht einfach zum Gerichtsgebäude gehen und anklopfen. Sie ist in einem Land, dessen Sprache sie nicht spricht. Sie weiß nicht, an wen man sich wendet, nur, dass sie einen Anwalt braucht, und Anwälte kosten Geld. Sie weiß aber, dass sie die Aussage machen muss, in einem holzgetäfelten Saal und vor Geschworenen, wie sie es im Film gesehen hat, in den amerikanischen Serien der Barkeeper. Die Richterin wird eine schwarze Robe tragen. Und die Angeklagten kommen in Handschellen herein, und werden herangezoomt von Kameras, die alles filmen, die jede Einzelheit festhalten. Jede Pore, jede Schuppe, jedes Flackern der Augen wird von nun an wiedererkennbar sein.
Und wenn die Verteidiger sagen, Einspruch Euer Ehren, weil ihre Aussage ungeheuerlich ist, wird die Richterin den Kopf heben. Sie wird sich Zeit nehmen, jeden Verteidiger zu mustern, und das wird lange dauern, weil für Männer wie diese ein einziger Verteidiger nicht reicht.
Einspruch abgelehnt, wird die Richterin sagen. Bitte, Adina Schejbal, sprechen Sie weiter.
Und die Männer werden ahnen, wen sie vor sich haben. Ihre Hände in den Handschellen werden anfangen zu zittern. Und die Geschworenen erheben sich. Der Saal wird verstummen, wenn die Geschworenen rufen: Welchen sollen wir töten? Es wird still werden vor Gericht, wenn man fragt, wer wohl sterben muss. Und sie wird sagen: alle.
Es wird sich anfühlen wie das nasse Glitzern der Birkenblätter im Morgenlicht. Ein Flirren, ein Sprühen, als hätten die Birken ihre Blätter soeben ins Meer getaucht.
»Sala?«
Das Meer. Das jenseits der Plattenbauten beginnt, und das sie von hier aus nicht sehen kann.
»Sala!«
Das ist Leonides.
»Träumst du wieder, Sala?«
Leonides mit seinem weichen Kinn. Mit seinen braunen Cordjacketts und den glänzenden Krawatten. Mit seinem Tick, drei Äpfel am Tag zu essen, niemals nackt zu schlafen und Natur nur auf Gemälden zu mögen, vor allem auf den Gemälden niederländischer Maler.
Sie wird nie wieder hören, wie Leonides diesen Namen sagt. Sala.
Auf den Felsen am Ufer, jenseits der Birken, am Ende der Bucht erscheint die blaue Frau. Sie ist so deutlich, dass ihre Gestalt alles überstrahlt.
Das Licht fällt scharf auf die Felsen.
Hinter den Felsen liegt Schotter, der zu schwarzen Wegen aufgeschüttet wurde, um das Wasser zurückzuhalten. Dort, wo kein Schotter liegt, ist der Untergrund weich und schlammig, durchwebt vom Wasser, das mit den Flussläufen aus den höhergelegenen Sümpfen und Moorwiesen des Umlands in die Stadt hineinströmt, in unzähligen Rinnsalen hin zum Meer.
Das Wasser schwemmt die Moose auf, nährt Blaubeeren, Sumpfporst und Farne, versickert im Uferschlamm, dringt durch die Risse im Stein und steht knapp unterhalb des Asphalts der Straßen. Der Regen bringt es mit. Und das Meer, das gegen die Hafenbefestigung rollt, treibt es zurück an Land. Windböen tragen das Wasser heran. Sie peitschen, vom Schärengarten kaum abgeschwächt, über die Schnellstraßen, die den Hafen begrenzen, und in die Gebäude jenseits der Schnellstraßen, die noch im Rohbau stehen.
Die blaue Frau kommt langsam näher.
Sie betritt die Einfriedung des kleinen Seglerhafens. Sie steigt über die rostigen Schienen, auf denen die Boote zum Einwintern hochgezogen werden. Sie geht an den Booten vorbei. Ihr Tuch wird vom Wind aufgeweht, und sie nimmt es ab.
Sie bleibt stehen und ordnet ihr Haar, und das Tuch in ihrer Hand flattert.
Wenn die blaue Frau auftaucht, muss die Erzählung innehalten.
Im Bad läuft das Wasser ein. Es ist ein fensterloses Bad mit einer Wanne auf Füßen. Kalk hat sich ins Linoleum gebrannt. Die Heizrohre an der Wand feuern, und ihr wird heiß, obwohl sie nackt dasteht.
Sie taucht einen Fuß in die Wanne. Beim Nachholen des anderen Beines mischt sie kaltes Wasser dazu. Langsam geht sie in die Knie. Das Wasser steigt an den Oberschenkeln hoch, die Brüste tauchen ein. Dann rutscht ihr Po an der glatten Emaillewand ab, und sie schlittert der Länge nach in die randvolle Wanne. Ihr Kopf taucht beinahe unter.
Schaum bedeckt sie wie schwereloses Gebirge, Blasen platzen am Kinn. Unter Wasser greift sie nach ihrem Bein. Sie umfasst den Oberschenkel und zieht das Bein an, ihr Knie ein Gipfel inmitten von Flocken.
Das ist der Körper.
Das Wasser glüht auf der Haut, die sich rötet. Die Poren öffnen sich, und die Hülle wird weich, beschützt und umfangen vom Schaum. Sie tastet vorsichtig die Ränder ihres Körpers ab. Sie macht es so, wie Leonides sie berühren würde, obwohl er nicht da ist, und in ihrer Vorstellung ist es nicht mehr seine Hand. Aber das ist in diesem Moment nicht wichtig. Wichtig ist, dass es sich gut anfühlt.
Nur das Herz schnellt in den Hals, wo es flattert. Sie atmet langsam, bis es herunterfährt, und denkt an die Kühle seines Apartments, an die hohen Decken, das nüchterne Mobiliar. Tisch und Stühle sind aus Holz, aus hellem Holz, das einmal gewachsen ist, das ein gemaserter Stamm war, eine Birke, Außenseiterin unter den Bäumen mit einer Biegsamkeit, um die sie nicht zu beneiden ist. Ihr weicher Stamm hat sich einmal zurück zur Erde biegen lassen und wird nun eingerahmt von Glas und Chrom und Geschirr von iittala, das Leonides auf die grüne Marmorplatte in der Küche stellt. Die Einrichtung muss den verschiedensten Geschmäckern entsprechen, hat er gesagt, weil das Apartment der Universität gehört.
Ein paar ihrer Sachen sind noch dort. Die Mütze, ein Nachthemd, das blaue Button-down-Hemd und eine Jeans hat sie in Leonides’ begehbarem Kleiderschrank zurückgelassen. Das Nachthemd ist ein Geschenk von ihm. Vielleicht hebt er es auf. Vielleicht legt er es neben seine Seidenpyjamas, solange er dieses Apartment noch benutzt.
»Geh zum Arzt«, hatte Leonides gesagt, wenn das Flattern im Hals wiederkam, das sie glauben lässt, sie ersticke.
»Das hatte ich schon als Kind.«
»Du warst ein nervöses Kind.«
»Nein.« Sie seift sich ein, schöpft Wasser unter die Achseln, zwischen die Beine und schrubbt die weiche Haut mit dem Waschlappen sauber. Vorsichtig hebt sie sich aus der Wanne. »Nicht, dass ich wüsste. Ich war nicht nervös.«
Schaum ist auf den Boden geschwappt. Sie wischt die Lauge mit Klopapier auf und wirft den Matsch ins Klo. Ins Handtuch gewickelt, betritt sie den Flur. Nasse Fußabdrücke bleiben auf dem Linoleum zurück, als sie das Wohnzimmer durchquert, um auf den Balkon zu gehen, der ringsum mit Glasfenstern verschlossen ist. Von ihrem Körperdampf beschlagen die Scheiben. Die Ostsee ist von hier aus nicht zu sehen. Der dritte Stock ist zu niedrig, um über die Dächer der Plattenbauten und die Schnellstraßen hinweg das Meer sehen zu können. Nur die Anliegerstraße vor dem Häuserblock zeichnet sich im Dunst auf den Scheiben ab und das Flachdach des Gebäudes gegenüber. Dort sind die Mülltonnen des Wohnblocks untergebracht. Drei Bäume stehen davor, zwei Linden, die noch Früchte tragen, und ein Ahorn mit rotem Laub. Auf dem Thermometer sind es zehn Grad. Die Spinnen in den Blumentöpfen bewegen sich wie im Schlaf.
Das ist der Abschied.
Sie muss kühl sein, wenn sie eine Aussage macht. Sie muss sich herunterfahren wie ein Tier im Winterschlaf. Die Kälte muss sie bis auf die Knochen erfassen. Sie muss langsamer werden, bis alles vereist, jedes Zögern, jede Schwäche, die Schuldgefühle, die Scham und alle Bedenken, bis sie ganz still ist und nur noch eines zählt: dass die Angeklagten die Höchststrafe erhalten.
»Du Meisterin im Abschiednehmen!«
»Ich?«
»Ja.«
Sie kann sich so viel Zeit mit dem Abschied lassen wie die Bäume, die sich dem Jahr entziehen, jeder mit seiner eigenen Geschwindigkeit. Den Ahorn hat die Kälte schon erfasst, während in den Linden noch der Sommer steckt.
»Oder ist noch jemand hier?«
Linden gibt es auch in Harrachov, im Schatten des Čertova hora. Eine alte Linde steht vor der Glasbläserei, und neben dem Potraviny wurden in den neunziger Jahren junge Linden gepflanzt. Eine Lärche wirft ihren Schatten auf die Treppe vor dem Doppelhaus. Am Saum der steilen Waldwege wachsen Fichten, und Tannen umkränzen den Schanzentisch der großen Sprungschanze. Im Winter liegen Äste auf den verschneiten Straßen und auf der Zufahrt zur Benzinpumpe, an der es nur zwei Tanksäulen gibt. Die Schneelast bricht regelmäßig Äste von den Bäumen.
Wenn ihre Mutter morgens von der Schicht kommt, nimmt sie, ehe sie sich schlafen legt, den Schneeschieber, um den Gehweg vorm Haus vom Schnee zu befreien. Ihre Mutter hat Angst, dass jemand ausrutschen könnte. Jeden Tag gehen Urlauber mit Skiern auf den Schultern am Haus vorbei, meistens Deutsche. In Deutschland, hat ihre Mutter gehört, wird man verklagt, wenn sich jemand vor dem Haus etwas bricht. Seitdem schippt sie im ersten Morgengrauen Schnee. Sie kann es sich nicht leisten, verklagt zu werden, weil sie keine deutsche Rechtsschutzversicherung hat. Sie hat überhaupt keine Rechtsschutzversicherung. Manchmal ist sie morgens zu müde. Dann schiebt Adina den Schnee vor der Treppe weg. Sie schwitzt, weshalb sie später in der Schule frieren wird. Aber sie hat keine Zeit, sich umzuziehen. Der Bus wartet nicht, bis der einzige Fahrgast seinen Pullover gewechselt hat.
Das Doppelhaus steht am Rand von Harrachov, am unteren Ortseingang. Es steht schon lange. Als mährische Bergleute es bauten, die in den Stollen nach Erz schürften, gab es die Sprungschanze und die Skilifte noch nicht. Später wohnten dort Deutsche. Die Deutschen zogen aus, als sie den Krieg verloren hatten, und die Sowjets zogen ein. Die Rote Armee machte ein Lazarett aus dem Haus, ehe nach dem Krieg eine Gipswand und eine zweite Haustür eingebaut wurden. Die Wand trennt die eine Hälfte des Hauses von der anderen ab, damit zwei Familien darin Platz haben. Aber nur eine Familie zog ein. In die andere Hälfte zog ihre Großmutter, Tochter eines Partisans. Der Partisan war im Krieg geblieben und wurde zum Helden des Antifaschismus. Als Tochter eines Helden musste ihre Großmutter nicht zur Untermiete wohnen wie jede andere ledige, junge Frau, sondern bekam als Anerkennung ein halbes Haus. Die Klärgrube am Schuppen gab es damals schon und den großen, mit Obstbäumen bestandenen Garten auch.
Die Deutschen kamen wieder. Jeden Winter kommen sie zum Skifahren nach Harrachov. In der Nähe des Hauses gibt es einen Übungshang. Es gibt einen Babylift, einen Zauberteppich und einen aufblasbaren Rübezahl, der an Seilen im Wind mit den Gliedmaßen wackelt.
»Daran habe ich lange nicht gedacht.«
»Woran?«
»Wie das war, als ich klein war.«
»Aber jetzt denkst du daran?«
»Ja.«
»Und wie war das?«
»Ich glaube, ich war nicht nervös. Ich war kein nervöses Kind.«
Vor dem Dachfenster in Harrachov leuchtet der Čertova hora. Wenn der Wind ungünstig steht, trägt er das Rattern der Sessel am Skilift zu ihr ins Zimmer herein. Auch bei geschlossenem Fenster ist das Rattern zu hören. Sobald ein Sessel über die Rollen an den Masten gleitet, rattern die eisernen Halterungen. Kraft ist Masse mal Geschwindigkeit. Das trägt Adina in die dünnen Hausaufgabenhefte ein. Sie hat ein kariertes Heft für Mathe und Physik und ein liniertes für Tschechisch, Geschichte und Deutsch. In Deutsch gibt es drei Möglichkeiten der Verneinung. Nein. Kein. Und nicht. Das Rattern des Sessellifts dringt zu ihr herein, auch wenn sie das nicht möchte.
Manchmal rattern die Sessel noch im Schlaf über ihre Schädeldecke. Jungs in klobigen Skischuhen bringen sie zum Schaukeln. Sie beachten die Verbotsschilder an den Liftmasten nicht. Die Piktogramme, auf denen schaukelnde Liftsessel durchgestrichen sind, haben für sie keine Gültigkeit.
Der kleine Tisch, an dem Adina ihre Hausaufgaben macht, wackelt. Sie hat ihn in jede Ecke des Zimmers geschoben. Aber das Wackeln kommt nicht von den schiefen Holzdielen. Eines der Tischbeine ist zu kurz. Früher waren die Beine am unteren Ende mit Tierköpfen verziert, mit geschnitzten Löwen, die ihre Mäuler aufrissen, als wollten sie dem Tisch die Füße abbeißen. Der Partisan sägte die Löwen ab. Bevor er in den Krieg zog, sägte er die Tischbeine oberhalb der Löwenköpfe durch. Er war überzeugt vom Sieg der Sowjetunion. Diesen Sieg zu erleben, damit rechnete er nicht. Sollte er sein Leben im Kampf verlieren, durften die Genossen keine bourgeoisen Möbel in der Wohnung finden, keinen feudalistischen Tisch. Verzierungen und Dekoration waren ein Überbleibsel des Feudalismus, und der Feudalismus gehörte ausgemerzt, besonders Löwenköpfe. Sie symbolisierten die herrschende Klasse, Fürsten und Könige. Das wusste der Partisan. Er rottete die Löwen mit Stumpf und Stiel aus, damit seine Tochter nicht als Klassenfeind in ein Umerziehungslager kam. Beim letzten Bein vertat er sich. Er setzte die Säge einige Millimeter zu weit oben an. Niemand wusste, warum, nicht einmal ihre Großmutter, die auf dem Tisch Pflaumen und Kirschen einweckte, Apfelkuchen machte und Holundersaft. Ihr diente der Tisch als Küchenbank. Als das Herz ihrer Großmutter versagte und die alten Möbel auf den Sperrmüll sollten, hat Adina die Küchenbank gerettet. Sie hat sie aus dem Möbelhaufen vor dem Haus wieder herausgeholt und in ihr Dachzimmer geschleppt, über jede der zehn Stufen.
Ihr Computer steht inmitten roter verwitterter Flecken. Unter das kurze Bein hat sie ein Stück Pappe geklemmt, so, wie ihre Großmutter das gehandhabt hat. Der Tisch wackelt trotzdem.
Zur Piste geht Adina nicht. Sie geht auch nicht zum Übungshang oder zum Auslauf des Funparks, wo sich die Snowboarder treffen. Sie ist eine gute Skifahrerin. Sie hat mit drei Jahren Ski fahren gelernt. Aber sie läuft lieber querfeldein den Berg hinauf, durch ungespurtes, unwegsames Gelände, um abseits der Pisten abzufahren, im steilen Tiefschnee zwischen den Fichten. Ihre Mutter hat ihr eine Stirnlampe geschenkt, ein Licht an einem Gummiband, das man auf Blinken einstellen kann. Von ihrer Stirn zucken geisterhafte Blitze durch den Wald. Düster leuchten die verschneiten Baumstämme vor ihr auf und gleiten zurück ins Dunkel. Adina stellt sich vor, der erste Mensch zu sein, der je hier gegangen ist. Oder nicht einmal ein Mensch, denkt sie, ein Wesen, dessen Stirn eine geheimnisvolle Leuchtkraft hat.
Wenn sie mit den Hausaufgaben fertig ist, geht sie zur Glühweinbude beim Sessellift. Sie macht das viermal in der Woche. Sie löst die Frau ab, die dort seit dem Mittag hinter dem Tresen steht. Die Frau hat früher in einer Textilfabrik des Krkonoše gearbeitet. Die Textilfabrik hat dicht gemacht, und jetzt verdient sie sich zu ihrer kleinen Rente etwas dazu. Auch Adina verdient sich etwas dazu. Sie reißt einen neuen Zettel vom Kassenblock. Für jeden verkauften Glühwein macht sie mit Kugelschreiber einen Strich. Es gibt auch Becherovka und Slibowicz, für die macht sie einen Stern. Abends herrscht viel Betrieb vor der Bude, Skifahrer mit roten Irokesenkämmen und Hasenohren auf den Helmen, Spaziergänger und Snowboarder. Die Snowboarder tragen auch Helme, aber ohne Schmuck. Ihre Helme sind schwarz oder glänzen metallisch über Gesichtern, die weich und mehlig sind wie der viele Schnee. Die Snowboarder sind älter als Adina. Das bedeutet nicht, dass sie alt genug für Glühwein sind. Adina müsste sie nach ihrem Alter fragen. Aber sie weiß, wie die Snowboarder dann gucken. Sie gucken, als gäbe es in der Bude etwas zu sehen, etwas, das einer Untersuchung unterzogen werden muss wie der Frosch, dem die Jungs in ihrer Klasse die Beine ausgerissen haben, um herauszufinden, was er ohne Beine macht.
Nur einmal hat sie einen Snowboarder gefragt, ob er schon achtzehn ist, an einem ihrer ersten Tage am Glühweinstand. Der Snowboarder hatte einen schwarzen Military-Anzug an, Pusteln auf den Wangen und einen dünnen Oberlippenbart. Seine Kumpel sagten Ronny zu ihm. Zu ihr sagte Ronny nichts. Er grinste, als sie ihm Kinderpunsch gab, und kippte den Punsch in den Schnee. Dann sagte er etwas, das Adina nicht verstand. Seine Kumpel johlten. Sie klopften mit ihren Fausthandschuhen auf seinen Helm und drängelten sich neben ihn an die Theke. Er beugte sich vor und streckte ihr langsam seine Zunge entgegen. Er ließ sie auf- und abflappen wie einen gefangenen Schmetterling, mit derselben Geschwindigkeit, nur viel nasser. Am nächsten Tag kam er wieder. Er baute sich vor ihr auf, pflanzte seine Arme auf die Theke, verlangte Glühwein und flappte mit seiner Zunge herum. Schließlich packte er ihren Arm. Die Borsten auf seiner Oberlippe glitzerten im Budenlicht, als ihr Kopf gegen seinen Helm stieß. Ein feuchter Schlag traf ihre Lippen, und der Becher fiel um. Glühwein spritzte auf Ronnys teuren Skianzug. »Blöde Fotze!«
Das hat Adina verstanden. So viel Deutsch kann sie schon. Sie weiß, dass das Wort hässlich ist, obwohl ein Körperteil, das noch niemand gesehen hat, weder schön noch hässlich sein kann.
Aber vielleicht geht es um etwas anderes. Dass jemand wie Ronny ihr einfach seine Zunge in den Mund stecken kann, hängt vielleicht mit dem zusammen, was die Barkeeper meinen, wenn sie über deutsche Frauen reden. Sie reden oft über deutsche Frauen, manchmal sogar, wenn welche in der Bar sitzen und Cuba Libre durch die Strohhalme ziehen. Die Barkeeper sprechen kein Deutsch. Und die Frauen mit den Strohhalmen wissen nicht, was es bedeutet, wenn die Barkeeper beim Servieren des Cubra Libre grinsend fragen, ob sie glauben, Tschechen seien ein bisschen dumm im Kopf. Gut genug zum Liftsitze unter den Arsch klemmen, zum Dreck wegmachen oder als Sexspielzeug, billig wie die Hörnchen im Potraviny.
Vielleicht hat Ronny gedacht, sie sei ein bisschen dumm im Kopf. Ihre Mutter kann sie nicht fragen. Ihre Mutter will nicht, dass sie Alkohol verkauft. Wer zu jung ist, welchen zu trinken, sollte auch keinen verkaufen, lautet ihre Devise. »Warum triffst du dich nicht mal mit einer Freundin«, sagt sie, wenn sie abends ins Zimmer kommt, um die Jalousie herunterzulassen. »Lad jemanden ein. In deiner Klasse gibt’s doch bestimmt nette Mitschüler.« In der Schule sitzt Adina in der hintersten Reihe. Sie hat keine Banknachbarin. Sie meldet sich selten im Unterricht. Sie findet es albern, auf Fragen zu reagieren, deren Antworten die Lehrerin kennt. Sie ist ein bisschen arrogant. Jedenfalls glaubt Adina, die anderen denken das von ihr, weil sie in den Pausen nie mit ihnen raucht. Sie macht nicht beim Jungsgucken mit und lästert nicht über die Mitschülerin, die noch keinen Busen hat. Sie gehört zu keiner Clique und ist nie für oder gegen jemanden. Sie hat einfach nicht so viel Interesse an den Schülern aus der Stadt.
Touristenkinder kriegt sie leicht herum. Adina kennt die heimlichen Pfade, die Schleichwege am Fluss und den kürzesten Weg durch den Fichtenwald zum Kamm. Sie weiß, wie man mit den Barkeepern umgehen muss, um mittags in der Bar kostenlos Orangensaft zu trinken. Touristenkinder sind für jede Abwechslung dankbar. Adina hat schon so viele kennengelernt, dass sie sie nicht mehr auseinanderhalten kann. Nur manchmal erkennt sie jemanden im nächsten Jahr wieder. Dann führt sie ihn stolz den Barkeepern vor, die eine Runde spendieren zur Feier des Tages. Aber Touristenkinder bleiben nur eine Woche. Eine Woche ist zu kurz, um Freunde zu machen.
Adinas Freunde sind aus Rio. Wenn es vor ihrem Dachfenster dunkel wird und die Umrisse des Čertova hora leuchten vom Schnee, wird es bei ihren Freunden Morgen oder Nachmittag, oder es ist tief in der Nacht. In Rio ist das nicht wichtig. In Rio ist immer jemand, sobald sie den Computer anmacht.
Ihre Mutter lässt die Jalousie herunter, gibt ihr einen Gute-Nacht-Kuss und macht sich auf den Weg ins Zlatá Vyhlídka. Dann ist niemand mehr im Haus. Adina kann ungestört mit ihren Freunden chatten. Sie zieht den Computer auf den Schoß, gibt den Link ein und wartet auf das Schnarren, das sie nach Rio bringt.
Manchmal ist die Verbindung schlecht. Nebel oder Sturm stören das Netz. Sie sitzt im Schneidersitz auf dem Bett, und bis sich der Torbogen nach Rio öffnet, schabt sie mit einem Obstmesser den Lack von den Nägeln. Sie hat den Nagellack heimlich ausprobiert. Aber mit lackierten Nägeln kann sie nicht nach Rio. Dort nennen sie sich Galadriel, ZP oder Darth Vader. Sie ist der letzte Mohikaner, und zum letzten Mohikaner passt kein Nagellack.
Mit ZP unterhält sie sich darüber, ob ein letzter Mohikaner den Stamm überhaupt retten kann. ZP schlägt vor, Kinder zu kriegen, aber sie will keine Kinder. Darth Vader findet, sie sollte alle Feinde ausrotten. Ihr Stamm würde die anderen überleben, und das wäre auch eine Rettung. Aber sie hat keine Feinde. Eine Woche ist zu kurz, um Feinde zu machen.
Außer Ronny.
Auch am vierten Tag kreuzte er vor der Glühweinbude auf. Sie hätte sich gern unsichtbar gemacht. Sie wollte sich ducken, als sie ihn kommen sah. In seinem Military-Look trat er aus dem Schatten der Fichten. Aber wer Striche auf einer Liste macht für jedes verkaufte Getränk, kann sich nicht ducken. An diesem Tag hat sie ihm heimlich Schuss in den Glühwein getan; jede Menge Slibowicz. Für ihn ging die Skisaison vorzeitig zu Ende. Er hätte nicht weiterfahren dürfen. Trotz beleuchteter Piste war er gegen einen Liftmast geknallt.
Den Freunden in Rio kann sie das erzählen. In Rio lassen sich Dinge sagen, die man sonst nicht aussprechen darf. Sie konnte nicht wissen, dass Ronny an einen Liftmast knallt. Aber wenn sie es gewusst hätte, schreibt sie an ihre Freunde, dann hätte sie das mit dem Slibowicz trotzdem getan. Aus Rio kommt ein kleines Teufelsgesicht zurück. »Bleib tapfer, kleiner Mohikaner!«
Darauf ist Adina stolz. In Rio wissen sie, was ihr Name bedeutet. In Rio ist es etwas Besonderes, der letzte Teenager von Harrachov zu sein.
Die blaue Frau ist bei den Bootsschuppen angelangt. In den Schuppen lagern Spanten und Bohlen und Werkzeug zum Reparieren der Boote. Schlösser hängen an den verwitterten Türen, die abgeschlossen sind.
Sie geht mir entgegen. Sie lächelt mich an, ihr Gesicht ist ein einziges Strahlen.
Sie kommt mir bekannt vor.
Das kann nur ein Irrtum sein.
Die Linden vor dem Balkon tragen Früchte, obwohl der Ahorn schon herbstlich bunte Blätter hat. Das ist ein Irrtum der Pflanzen, ein Orientierungsverlust, ausgelöst durch das flache nördliche Licht.
»Komm rein, Sala!«
Eine Regenfront schiebt sich vor die Spitze des Sendemasts. Der Dunst hat das Blinken der roten Warnleuchte geschluckt. An den Plattenbauten sehen die Balkone zum Verwechseln ähnlich aus. Nur die Himmelsrichtung unterscheidet sie. Aber die Wolkenfront löscht auch diesen Unterschied jetzt aus.
»Du erkältest dich!«
Das ist Leonides.
»Sala?«
Leonides mit seiner ruhigen Stimme. Mit seiner Gelassenheit. Der findet, dass Adina ein schöner Name ist. Aber Sala gefällt ihm besser. Sala klingt in seinen Ohren streng und klar, ein Kosename, der gut zu ihr passt, und so, wie er ihn ausspricht, mit stimmlosem S und der Betonung auf dem ersten A, findet sie das auch. Leonides. Der darauf dringt, dass ein Mensch sich vor Kälte schützt. Der darauf gedrungen hätte mit seiner Zimperlichkeit und seiner Fürsorge. »Du wirst noch krank von deinen Abhärtungsmethoden!« Eine Fürsorge, die schwer auszuhalten ist, jetzt, wo sie sich anschmiegen möchte wie an einer wärmenden Wand und er nicht da ist.
Die Bastmatte unter den Füßen ist eisig.
Sie geht zurück ins Warme. Sie macht die Balkontür hinter sich zu, und auf dem Weg ins Schlafzimmer löst sich das Handtuch von ihrem Körper. Nackt steht sie vor dem Kleiderschrank, der halb leer ist, nackt vor Schubladen, die sie nicht braucht. Ihre Hände streichen über ihren flachen Bauch. Sie legt sie auf die frierenden Brustspitzen. Dann zieht sie frische Unterwäsche, eine weiche Hose und einen dunklen Pullover an.
Das ist die Kleidung.
Die Espressokanne steht benutzt auf dem Herd in der Küche. Sie klopft den Kaffeesatz aus dem Sieb, füllt Wasser und neues Pulver ein und wartet auf das Fiepen, mit dem der Dampf aus dem Ventil austritt. Draußen beginnt es zu dämmern. Fahles Licht fällt in Küche und Wohnzimmer und löscht den Nachmittag langsam aus. Sie füllt den Kaffee in die Tasse mit den Großbuchstaben. Im Halbdunkel setzt sie sich an den schmalen Tisch im Wohnzimmer, den sie seitlich vor den Balkon geschoben hat. Beim Hinsetzen klappert das Polster des Stuhls. Der Stuhl ist kaputt. Aber es ist alles da, was sie braucht.
Sie sieht Motion Eye an, die schwarze Linse der Kamera. Dann fährt der Laptop hoch. Sie hat lange gebraucht, aber alles ist da. Sie wird eine Aussage machen. Es gibt eine Organisation, die ihr dabei helfen kann, eine Organisation mit Anwälten und Spendengeldern und einer Adresse im Stadtzentrum. Der Weg durchs Internet ist kürzer als der in die Stadt, dafür muss sie auch nicht die Wohnung verlassen. Die Homepage ist auf Finnisch. Aber jemand, der kein Finnisch kann, kann auf eine britische Fahne klicken, dann baut sich die Seite in Englisch auf. Nicht jemand, denkt sie. Kein Mensch klickt diese Fahne an, nur Frauen. Die Organisation richtet sich an Frauen in Not. Und wenn sie auf die Fahne klickt und die Seite hinabscrollt und unter Kontakt eine E-Mail verfasst, dann wird sie eine von ihnen. Sie wird eine Frau in Not sein. Dabei ist sie nie in ihrem Leben jemals eine Frau gewesen. Jedenfalls hat sie nie auf diese Weise an sich gedacht, kleiner Mohikaner. Sie ist auch kein Mann.
»Nur um das klarzustellen«, sagt sie laut. Aber da ist niemand, der das in Zweifel zieht.
Sie steht noch einmal auf. Im Kühlschrank in der Küche steht der Schnaps. Sie hält Tasse und Flasche im richtigen Winkel, um per Augenmaß einen shot abzumessen. In Not ist sie nicht. Das zu behaupten soll sich erst mal jemand trauen. Vielleicht ist sie das einmal gewesen. Aber da hatte sie kein Internet. Da ist sie auch nicht in einer Wohnung gewesen, für die sie die Miete im Voraus bezahlt hat, bar, mit knackigen Scheinen. Wer in Not ist, kennt keine Organisation, an die man sich wenden kann, keine Notrufnummern, keine Beratungshotlines oder E-Mail-Adressen. In Not hat man keine Zeit, sich im Internet zu informieren.
Sie gießt einen schludrigen Schluck in den Kaffee.
Für eine Organisation, die sich die Not der Menschen zur Aufgabe macht, ist sie eine von vielen. Eine, an die sich niemand erinnert. Erinnern können sich immer nur die, von denen man wünschte, sie täten es nicht.
Und ein Jahr ist eine lange Zeit. Sie hatte schon einmal Kontakt aufgenommen, im Sommer vor einem Jahr, mit dem Vorhaben, eine Aussage zu machen, die sie dann nicht gemacht hat. Weil Leonides dazwischenkam. Weil sie dachte, dass Leonides die bessere Alternative ist.
Weil Leonides die bessere Alternative war.
Leon, flüstert sie. Leo. Mein Le.
Le wie –
Leben. Life. Život.
Das hatte er nicht gemocht.
»Das ist ungesund. Da schwingt viel Selbstverleugnung mit«, hatte er gestelzt formuliert. »Jeder lebt sein eigenes Leben, du deines, ich meines. Sonst gibt es in einer Beziehung keine Gerechtigkeit. Das Pendel schlägt immer nur zugunsten des einen aus.«
Einen ganzen Vortrag hatte er daraus in seiner grünen Küche gemacht. Aber es dauerte nicht lange, und er begann, es zu vermissen. Leo, mein Leben. Er wollte es wieder hören. Er wollte hören, wie sie es sagte, flüsterte Leo, mein Le, wie sie es leise und verliebt in sein Ohr sprach. Er gewöhnte sich schnell daran. Er hatte sogar darum gebettelt, einmal, später, auf einem Ausflug in einen Nationalpark mit N.
Das ist die Erinnerung.
Sie hat das Recht, in der Erinnerung zu sein. Auch wenn sie keine Methode hat, dorthin zurückzukehren. Alles geschieht lose und lückenhaft. Schon der Name des Parks fällt ihr nicht mehr ein. Nuri. Nuxi. Nukso. Finnisch ist eine schwierige Sprache. Aber die Birken und die Nordfichten und die Moore rechts und links der aufgeschütteten Wege sieht sie noch vor sich und Leonides in seinem offenen Hemd.
Es kam nicht oft vor, dass sie zusammen Ausflüge machten. Leonides hatte seine Termine, er hatte einen strikten Arbeitsplan, und sie hatte nichts, nur Leo, und war froh, wenn ihn die anderen nicht brauchten. Er hatte einen freien Nachmittag, oder er hatte sich irgendwo losgeeist, und sie waren mit seinem alten Volvo über eine der dreispurigen Straßen gefahren, auf denen man in Kürze den Stadtrand erreicht. Während der Fahrt drehten sie die Stereoanlage auf und hörten in voller Lautstärke finnischen Pop.
Am Parkplatz vor dem Nationalpark wurden Würstchen gegrillt. In einer Blockhütte gab es Getränke und Mückennetze zu kaufen und Wanderkarten, auf denen die Wege verschiedene Schwierigkeitsgrade hatten. Sie waren mit roten oder gelben Dreiecken markiert, und Leonides entschied sich für einen roten.
Die Sonne spiegelte sich in einem kleinen See, und die offenen Feuerstellen am Ufer spiegelten sich in der Sonne im See, und das Wasser war so kalt, als wäre es gestern erst aufgetaut. Und es gab diesen Geruch, diesen frischen Duft nach Moos und feuchtem Holz und Laub. Sie hätte losrennen wollen mit ihm an der Hand, ihn tief hineinziehen zwischen die Bäume, in das Glück, hier zu sein, ganz normal, Leute, die einen Sonntagsausflug machten. Sie hatte Lust, alles zu sehen, den ganzen Park auf einmal zu erkunden, jeden Felsen, jeden See, ohne eine Abzweigung auszulassen, weil sie ganz sicher zur schönsten Aussicht führte.
Leonides hatte nicht die passenden Schuhe an. Das Leder weichte schnell durch. Dennoch kam er überall hin mit. Die Mücken machten ihm nichts aus, die sie nicht einmal bemerkte. Sie wollte weiter, immer so mit ihm gehen, aber Leonides wurde am Abend gebraucht. Die Zeit war begrenzt. Für einen Kaffee auf der Rückfahrt war es schon zu spät.
»Sag es«, hatte er gedrängt, als sie auf einem Plateau saßen, wo es Wind gab und weniger Mücken. »Nur noch einmal.«
Sie packten die Brote aus.
»Komm. Sag es zu mir.«
»Das ist verboten, Leon.«
»Bitte. Nur hier.«
»Da schwingt so viel Selbstverleugnung mit!«
»Gut. Dann werde ich deinen Namen auch nie wieder sagen.«
»Das musst du auch nicht.«
Er lehnte sich vor und nahm ein Brot aus der Folie.
»Adina, Salina, Sala«, sagte er, als handele es sich um einen Abzählreim.
Er sah aus wie ein Kind, was an der komischen Haltung liegen konnte, mit der er auf den Felsen hockte, ein Bein lang ausgestreckt, das andere angewinkelt und unter den Arm geklemmt. Mit der freien Hand führte er das Brot zum Mund.
»Adina, Salina, Sala.«
Sie hatte die Brote eingepackt. Sie hatte sie auf der grünen Marmorplatte geschmiert, erst Frischkäse, dann Schinken und Salami aufgelegt, in der gleichen Reihenfolge wie ihre Mutter beim Vorbereiten der Brotbüchse für die Schule. Und Leonides biss einfach so hinein. Er aß mit Tempo das erste und das zweite Brot, bevor er die leere Folie sorgsam faltete, als wäre es wichtig, hier nicht zu krümeln. Dabei war es viel wichtiger, etwas dagegen zu tun, dass er so beschäftigt war und ihren Ausflug abkürzte wegen irgendwelcher Leute, nicht dass sie etwas gegen Leute hatte. Aber dass sie schon zurückmussten, war nicht fair. Er hätte bleiben, er hätte sein Telefon nehmen und sagen können, er habe sich den Knöchel verstaucht oder sei ins Moor gefallen und leider sofort erkrankt, aber Leonides kam nicht auf solche Gedanken. Es ist ein Akt der Höflichkeit, hätte er gesagt, dass man sich an Verabredungen hält.
»Adina, Salina, Sala«, wiederholte er, dem Klang der Worte lauschend. »Wie findest du das?« Herausfordernd schaute er sie an. »Sala. Klingt streng und klar, finde ich. So wie du.«
Sie sah zu, wie er die Folie im Rucksack verstaute. Dann kniete sie sich hinter ihn auf den Felsen und schob ihre Hände unter sein Hemd.
»Leon«, sagte sie leise. »Leo, mein Le.«
Aber das kann sie nicht in die E-Mail schreiben.